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Das HÖLDERLIN-JAHRBUCH -34, 2004-2005, dokumentiert mit Vorträgen und ausführlichen Berichten aus den Arbeitsgruppen die Jahresversammlung in Leipzig, die unter dem Thema „Brief" stand. Aus der in jüngerer Zeit auflebenden Briefforschung konriten wichtige Aufschlüsse zum Brief · überhaupt und zu Hölderlins Briefwerk gewonnen werden. Arbeiten zum pietistischen Hintergrund von Hölderlins erstem überlieferten Brief,· die Beziehung Rosenzweigs zu Hölderlin, das Pindar-Fragment 'Das Belebende', Miszellen, Rezensionen und eine Dokumentation vervollständigen den Band. J:: \U ' ....._ •• ~' N"') ', Q !~"'""" ' 1~ i ~ ::r: z <· ~q V') 1---, 1 0 1Z ...... oi C°"l . ' i .....:l 1 ~ 1~ ! µ.::i Cl oi 01 HOLDERLIN JAHRBUCH 2004-2005 .....:l C°"l I' ':Q ii / ::r: ,1 1 'I • 1 1 1 1 ·i • ·, 1 IG 1 - c..., c..., r.r:. - Hölderlin-Jahrbuch Begründet von Friedrich Beißner und Paul Kluckhohn Im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft herausgegeben von Michael Franz, Ulrich Gaier und Martin Vöhler Vierunddreißigster Band 2004-2005 Edition Isele Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Regierungspräsidiums Tübingen Inhalt Hölderlins Briefe und die Briefkultur um 1800: Hauptvorträge Redaktion: Valerie Lawitschka Angelika Lochmann „Für das überschikte dank' ich gehorsamst." Hölderlins Briefe an die Mutter. Von Ute Oelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Hölderlins Briefe. Persönliche Bemerkungen zur Überlieferung Von Paul Raabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 'La Nouvelle Heloi:se' und 'Hyperion'. Zwei Briefromane aus dem Jahrhundert der Aufklärung. Von Jacques Berchtold ........ Aus dem Französischen von Bernhard Böschenstein 46 Der Tod in Friedrich Hölderlins Briefen und Gedichten Von Günter Mieth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Parusie, Mauern. Mittelbarkeit und Zeitlichkeit, später Hölderlin .............................. Von Werner Hamacher 93 Vorträge, Berichte aus den Arbeitsgruppen „Mit wahrster Verehrung". Hölderlins Rechenschaftsbriefe an Schiller. Von Luigi Reitani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Die Briefe Susette Gontards an Friedrich Hölderlin aus brieftheoretischer und briefgeschichtlicher Sicht. Von Anita Runge Hölderlins Freundschaftsbriefe. Von Charlie Der philosophische Brief. Von Ulrich Edition Isele, Eggingen2006 ISBN 3-86142-389-8 ISSN 0340 6849 . . . . . . . . . . 175 180 Gaier Utopisches Denken in Hölderlins Briefen . ..... Von Kerstin Keller-Loibl © Hölderlin-Gesellschaft,Tübingen und Louth 161 . ...... 203 ,Das Zeichen zwischen mir und dir'. Schriftlichkeit und Modeme im 'Hyperion'. Von Hansjörg Bay ................ 215 „Vaterländisch und natürlich, eigentlich originell": Hölderlins Briefe an Böhlendorff. Von Lawrence Ryan ................ 246 Die Berufe der Dichter. Literatur und Alltag bei Hölderlin und . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Novalis. Von Dirk von Petersdorff 7 ,,Für das überschikte dank' ich gehorsamst." Abhandlungen und Dokumentationen „Der Mensch prüfe sich selbst". Eine Predigt Nathanael Köstlins als Kontext für Hölderlins ersten erhaltenen Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Von Priscilla A. Hayden-Roy Das Irren der Ströme Von Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Rosenzweig und Hölderlin. Von Stephane Moses Guzzoni .... Von 330 Ute Oelmann . . . . . . . . . . . 353 Edition und Interpretation moderner Lyrik seit Hölderlin. Eine internationale Fachkonferenz im Hölderlinturm Von Dieter Burdorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Miszellen Der dichtende Stiftler im Schlafrock. Von Michael Hölderlins Briefe an die Mutter Franz . . . . . . 372 „mit Waffenklang". Eine Metapher in Hölderlins Feiertagshymne Von Michael Franz und Martin Vöhler . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Rezensionen Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni: Analecta Hölder.. liniana II. Die Aufgabe des Vaterlands. Von Marco Castellari Winfried Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik. Von John T. Hamilton ................. Ich gieng hinein. Da saß die edle Frau und strekte mir die schöne Hand entgegen - kommst du, rief sie, kommst du, mein Sohn! Ich sollte dir zürnen, du hast[ ...] alle Vernunft mir ausgeredet, und thust, was dich gelüstet und gehest davon; aber vergebt es ihm, ihr himmlischen Mächte! wenn er Unrecht vorhat, und hat er Recht, o so zögert nicht mit eurer Hülfe dem Lieben! (StA III, 99) 381 388 Berichte Grußwort zur Eröffnung der Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft am 4. Juni 2004 in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Von Marion Eckertz-Höfer Bericht des Präsidenten über die 29. Jahresversammlung vom 3. bis 6. Juni 2004 in Leipzig. Von Peter Härtling Sie alle kennen jenen Brief, in dem die Mutter ein „denkend zärtlich Wesen" genannt wird, der Bruder „ein schlichter, fröhlicher Junge" (StA III, 53), und ebenso erinnern Sie vielleicht jenen anrührenden, ja herzergreifenden, im Rückblick verfaßten, epistolaren Bericht einer Abschiedsszene: . . . . . . . 397 Die Hölderlin-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Vorstand und Beirat der Hölderlin-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Abschied von seiner Mutter hat Friedrich Hölderlin häufig genommen, ist aufgebrochen, zu tun „was ihn gelüstet", oder was er als Notwendigkeit sah: nach Waltershausen, Frankfurt, Hauptwil und Bordeaux, und in den Augen der Mutter war es eher „Unrecht" als „Recht". So aber hat sie ihn wohl nie verabschiedet. Es ist ein Traum, eine imaginierte Muttergestalt, die Literatur wurde. Diese Mutter ist „edel", „schön", ein „denkend zärtlich Wesen", ist zugewandt, gewährend und - es sei besonders betont - freilassend - sie gibt das von ihr hervorgebrachte Leben in die Verantwortung des erwachsenen Sohnes und empfiehlt ihn göttlicher Gnade. Friedrich Hölderlin hat seiner Mutter, seiner Familie kein Sterbenswort von seiner Liebe zu Susette Gontard verraten, nicht von Erfüllung gesprochen, nicht von Verlust bei Verlassen des Hauses Gontard, wohl Anschriften der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Redaktion des Hölderlin-Jahrbuchs und Internetseite . . . . . . . . . . . 415 HÖLDERLIN-JAHRBUCH 34, 2004-2005, Tübingen 2006, 7-20. 142 143 Werner Hamacher seine Unmitteilbarkeit. Aber diese Unmitteilbarkeit wird in ihm doch mitgeteilt, und daß er nichts sagt, wird in ihm noch gesagt. Wie die ~prac~e nicht aus der Möglichkeit, sondern aus der verwehrten Möglichkeit der Sprache spricht, so ist die Zeit dieser Sprache Zeit nur aus dem kruden Faktum, daß sie stockt. Die Unmitteilbarkeit ist der stumme Widerstand in der Sprache, gegen den sie anspricht, die Zäsur nicht als „ Vorstellung selber", sondern als „Stehn" -, ist die Verwehrung der Zeit, in der sie sich aufhält. In der Parusie bleibt das Para- als der leere und deshalb verborgene Grund jeder ousia. In der Parusie stehn die Mauern. Hölderlin hatte in seinem Brief an Johann Gottfried Ebel über die Mitteilungen, die den Geistern nötig sind, um sich zu vereinigen und „das große Kind der Zeit", den „Tag aller Tage" hervorzubringen, von der „Zukunft des Herrn", der parousia tou kyriou, gesprochen und damit den Endzweck aller Mitteilungen genannt. Unmittelbar nach diesen Worten bricht er seinen Brief ab mit dem Satz: ,,Ich muß aufhören, sonst hör' ich gar nicht auf." (StA VI, 185) Dieses Aufhören gehört zur Struktur der Mitteilung und zur Struktur der Parusie. Sigle F I = Johann Gottlieb Fichte's särnmtliche Werke, hrsg. von Immanuel H. Fichte, 8 Bde., Berlin 1845-1846. In Bd. 1: Grundlage der gesarnmten Wissenschaftslehre. ,,Mit wahrster Verehrung" Hölderlins Rechenschaftsbriefe an Schiller Von Luigi Reitani Im Zentrum der Arbeitsgruppel standen die Briefe Hölderlins an Friedrich Schiller. Erhalten haben sich insgesamt elf Schriftstücke, darunter der unvollendete Entwurf eines sicherlich abgegangenen, aber nicht überlieferten Schreibens.2 Möglicherweise hat Hölderlin noch weitere Briefe an Schiller geschrieben, deren Anzahl jedoch begrenzt gewesen sein dürfte. Verlorengegangen ist mit Sicherheit nur ein Schriftstück.3 Dagegen sind lediglich drei Briefe Schillers an Hölderlin überliefert. Man kann also nicht von einem richtigen Briefwechsel sprechen, eher von einer etwas einseitigen Korrespondenz. Die folgende Konkordanztabelle soll einen raschen Zugang zu den verschiedenen Ausgaben ermöglichen (die Band- und Seitenangaben der FHA beziehen sich auf die fotografischen Reproduktionen der Manuskripte, da der entsprechende Band mit dem edierten Text noch nicht erschienen ist). 34, 2004-2005, Tübingen 2006, 143-160. HÖLDERLIN-JAHRBUCH t Der vorliegende Beitrag geht auf eine Arbeitsgruppe zurück, die ich im Rahmen der 29. Jahresversammlung der Hölderlin-Gesellschaft in Leipzig am 4. Juni 2004 geleitet habe. Grundsätzlich werden hier die Ergebnisse einer Diskussion vorgestellt, die sich aufgrund meines Impulsreferats entwickelt hat. Auf Wunsch der Herausgeber des 'Hölderlin-Jahrbuchs' habe ich jedoch den Beitrag erweitert und einige Aspekte der Briefe Hölderlins an Schiller einer genaueren Betrachtung unterzogen. Für Hinweise und Anregungen bin ich Michael Franz sehr dankbar. 2 Schillerverzeichnete den Briefempfang am 20. September 1799 in seinem Kalender.Vgl. StA VI, 976. 3 Bezeugt ist dieser Brief durch eine Erwähnung in einem Schreiben an Neuffer vorn 10. Oktober 1794 sowie durch einen Brief Charlotte von Kalbs an Charlotte Schiller im September 1794. Die handschriftliche Lage der Korrespondenz wird im 'Katalog der Hölderlin-Handschriften'. Auf Grund der Vorarbeiten von Irene Koschlig-Wiembearbeitet von Johanne Autenrieth und Alfred Keiletat, Stuttgart 1961, 17-18 historisch rekonstruiert. Hölderlin an Schiller StA MA KA FHA BA 1 [Waltershausen, um den 20. März 17944] VI, 111-113; 664-668 (Nr. 76) 11,524-526 III, 127-129; 808 f. (Nr. 76) 19, 166f. 4, 16-18 2 Nürtingen, 23. Juli 1795 VI, 175f.; 748-750 (Nr. 102) 11,589-591 III, 197 f.; 828 (Nr.103) 19, 207f. 4, 179f. 3 Nürtingen, 4. September 1795 VI, 180f.; 755-757 (Nr.104) II, 595 f. III, 203f.; 830f. (Nr. 105) 19, 212f. 4, 191f. 4 Cassel, 24. Juli 1796 VI, 214f.; 801f. (Nr.124) VI, 223f.; 817f. (Nr.129) II, 625f. III, 236f.; 846 f. (Nr. 125) 19, 236f. 5, 43f. II, 636f. III, 245 f.; 850 (Nr.130) * 5, 69 f. 6 Frankfurt, 20. Juni 1797 VI, 241f.; 838-841 (Nr.139) 11,655-657 III, 264-266; 854 (Nr.140) 19, 255f. 5, 205f. 7 [15.-20. August 1797] VI, 249-251; 848-851 (Nr.144) II 663-665 III, 272-274; 855f. (Nr.145) 19, 263f. 5,225-227 8 Frankfurt, 30. Juni [?] 17985 VI, 273; 878f. (Nr.159) II, 690f. III, 297f.; 861 (Nr.160) 19, 288f. 6, 89f. 9 [Homburg,] 5. Juli 1799 VI, 342f.; 949-951 (Nr. 184) II, 784-786 III, 370-372; 879 (Nr. 185) 19, 361 f. 7, 153-155 10 [Homburg, September 1799. Entwurf] VI, 363-365; 976-980 (Nr.194) II, 819f. III, 393-395; 885 (Nr. 195) 19, 384f. 8,22-24 11 Nürtingen, 2. Juni 1801 VI, 421-423; 1070 f. (Nr. 232) 11,903-905 III, 452-455; 906 f. (Nr. 233) 19,452-455 9, 157-159 StA MA KA FHA BA VII, 40f. (Nr. 21) II, 559 - 19,188 4, 84 III, 531f. * 5, 74f. Ort, Datum 5 Frankfurt, 20. November 1796 Schiller an Hölderlin Ort, Datum 1 Jena, Jahreswende 1794/95 2 Jena, 24. November 1796 VII, 46-48 3 Jena, 24. August 1799 (Nr. 28) II, 641 f. VII, 137f. (Nr. 65) II, 804f. III, 533 f. ·~ 8, 8f. * Handschrift nicht überliefert 4 Im Gegensatz zu der Datierung vom April, die in früheren Ausgaben und auch im Inhaltsverzeichnis zum Textband der Stuttgarter Ausgabe vorgenommen wird, hat Adolf Beck mit überzeugenden Argumenten den Brief auf die Zeit um den 20. März verlegt (StA VI, 664). Diese Datierung wird von Schmidt in seinem Kommentar (KA III, 808) übernommen. Nach Knaupp hingegen hat Hölderlin den Brief „Ende März oder Anfang April 1794 geschrieben" (MA III, 473). In seiner jüngsten Ausgabe (Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, hrsg. von D.E. Sattler, Frankfurt a.M. 2005 [Bremer Ausgabe= BA]) bemerkt Sattler: ,,Vmtl. in der ersten Märzhälfte" (BA 4, 16). s Da Schiller aber den Eingang des Briefes erst am 6. August vermerkt, könnte es sich um eine Fehlangabe handeln. Denkbar ist auch ein „lapsus calami" für den 30. Juli. So Sattler (BA 6, 89). 146 Luigi Reitani Diese Briefe wurden und werden oft ausschließlich als Dokumente der persönlichen Beziehung Hölderlins zu Schiller betrachtet.6 In der Arbeitsgruppe wurde versucht, sie in erster Linie als literarisches Produkt wahrzunehmen, obwohl sich Bemerkungen und Fragen zu der psychologischen Konstellation als unvermeidlich und auch als durchaus berechtigt erwiesen. In fast jeder Phase seines Lebens hat Hölderlin seinen elf Jahre älteren und berühmten Landsmann verehrt. Begeistert las schon der Klosterschüler Schillers Dramen und schwärmte für seine Verse. Die erste Reise Hölderlins außerhalb Schwabens wurde zu einer Pilgerwanderung nach den Orten, an denen sich der Autor der 'Räuber' während seiner ,Flucht' aus Stuttgart aufgehalten hatte. Die Bedeutung der Schillerschen Reimhymnik für die lyrische Produktion Hölderlins in den Tübinger Stiftsjahren läßt sich kaum überschätzen. Bezeugt ist, wie der junge Hölderlin zusammen mit Neuffer und Magenau begeistert und tränenvoll das 'Lied an die Freude' gesungen hat. 'Don Carlos' war später für den Dichter ein prägendes Leseerlebnis, das noch lange wirkte. Daß Hölderlin seine Hofmeisterstelle bei der Familie von Kalb seinem mächtigen Landsmann verdankte, verstärkte sein Gefühl der Zugehörigkeit, aber auch der Abhängigkeit gegenüber dem bewunderten Autor. Schiller wurde zum Modell, zur absoluten Instanz, mit der sich der junge Autor zu messen hatte. Die ersehnte Anerkennung des berühmten Dichters erschien als Wertmaß des eigenen Schaffens. So entstand ein Komplex, dessen konfliktreiche Folgen sjch aber bald zeigten. In Jena, wo Hölderlin 1795 einige Monate in der Nähe des „Meisters" verbrachte, gelang es ihm zwar, durch dessen Vermittlung in der 'Neuen Thalia' als vielversprechender Autor zu erscheinen und die Veröffentlichung des 'Hyperion' beim renommierten Cotta-Verlag zustandezubringen, durch dieses Verhältnis war aber der Dichter einer so gravierenden psychischen Belastung ausgesetzt, daß er sich nur durch die Flucht ret6 Ausgenommen seien die Arbeiten von Paul Raabe: Die BriefeHölderlins. Studien zur Entwicklung und Persönlichkeit des Dichters, Stuttgart 1963, 106-115 und Charlie Louth: The Question of Influence: Hölderlin's Dealing with Schiller and Pindar. In: Modem Language Review 95, 2000, 1039-1052. In seinem Aufsatz, den ich erst im Zuge der Revision des vorliegendenBeitrags gelesen habe, ist Louth zu Ergebnissengekommen, die sich teilweise mit meinen decken. Rechenschaftsbriefe an Schiller 147 ten konnte. Was danach folgte - abgelehnte Auftragsarbeiten, zugeschickte und nicht aufgenommene Texte, durch Schweigen oder Ablenkungsmanöver zurückgewiesene Bitten - läßt sich mit wenigen und drastischen Worten umschreiben: Ein Außenseiter wendet sich an einen etablierten Schriftsteller, der ihn nach einem gewissen Zögern abweist. Dennoch blieb die Verehrung. Noch im Turm soll der greise Hölderlin ,,seinen" Schiller beschworen haben. Diese Geschichte ist nur teilweise durch den erhaltenen Briefwechsel mit Schiller nachgewiesen. Wer sie rekonstruieren will, der sollte noch andere Dokumente heranziehen: Zeugnisse, die über diese persönlich sehr unausgewogene Beziehung berichten, weit verstreute Spuren, die die Signaturen der Zeit tragen. Noch wichtiger als diese biographische, in ihrer Dramatik für die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts symptomatische Konstellation erscheint jedoch das Gewicht, das Hölderlin den Schriften Schillers zuschrieb. Gewiß hat Hölderlin sie fortdauernd gelesen und auf sie reagiert. Diese Reaktionen waren aber nicht immer zustimmend. Es läßt sich sogar behaupten, daß Hölderlin oft versuchte, Schillers Poetik zu widerlegen. Auf eine Untersuchung dieser komplexen Thematik, welche die Grenzen der Arbeitsgruppe weit überschritten hätte, wurde aber absichtlich verzichtet.7 Festzuhalten war also im Rahmen einer literaturspezifischen und kulturhistorischen Analyse des erhaltenen Briefkorpus grundsätzlich die 7 Vgl. Schiller und die Romantiker. Briefe und Dokumente, hrsg. und eingeleitet von Hans Heinrich Borcherdt, Stuttgart 1948, 111-144, 654-742. Adolf Beck: Das neueste Hölderlin-Schrifttum 1947-1948. In: HJb 4, 1950, 147-178; 154-162. - Momme Mommsen: Hölderlins Lösung von Schiller.Zu Hölderlins Gedichten 'An Herkules' und 'Die Eichbäume' und den Übersetzungen aus Ovid, Vergilund Euripides. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 9, 1965, 203-244. - Götz-Lothar Darsow: ,,... aber von Ihnen dependier' ich unüberwindlich ... ". Friedrich Hölderlins ferne Leidenschaft,Stuttgart 1995. - Günter Mieth: Friedrich Hölderlin und Friedrich Schiller- Die Tragik einer literaturgeschichtlichenKonstellation. In: HJb 28, 1992-1993, 68-79. Ulrich Gaier, Valerie Lawitschka, Wolfgang Rapp, Violetta Waibel: Hölderlin Texturen 2. ,,Das Jenaische Project". Wintersemester 1794/95, Tübingen 1995, 231-240. - Luigi Reitani: Hölderlins 'Nänie'. 'Menons Klagen um Diotima' als ästhetische Replik auf Schiller,Udine 2003. - Ute Oelmann: ,,Seit ein Gespräch wir sind ...". Friedrich Schiller und Friedrich Hölderlin. In: GeistesSpuren. Friedrich Schiller in der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart 2005, 91-121. 148 Rechenschaftsbriefean Schiller Luigi Reitani mehrfache Besetzung der Adressatenrolle: als älterer und erfolgreicher Landsmann im literarischen Leben, innerhalb dessen er eine enorme Machtfunktion ausübte (die Hölderlin als Person betraf), und als strittiges Modell, das zu literarischen und philosophischen Auseinandersetzungen führte. Diese Doppelrolle scheint ferner mit dermaßen intensiven psychischen Affekten beladen, daß noch andere Komponenten mitzubedenken wären. Vor allem liegt der Gedanke nahe, daß Hölderlin in Schiller eine Vaterfigur wahrgenommen haben dürfte. Im Laufe der Diskussion wurde bei diesem Punkt auf die psychoanalytischen Forschungen von Laplanche hingewiesen sowie auf die Thesen von Harold Bloom, der beim literarischen Schaffensprozeß immer eine „Einflußangst" am Werk sehen will, d. h. den Versuch, sich von vorhandenen literarischen (Vater-)Modellen zu befreien.s Seinen ersten Brief an Schiller schrieb Hölderlin wahrscheinlich im März 1794 aus Waltershausen. Das letzte überlieferte Schriftstück datiert vom 2. Juni 1801 aus Nürtingen. Dazwischen liegen also ungefähr sieben Jahre, was zu dem Schluß führt, daß Hölderlin an Schiller höchstens ein- oder zweimal im Jahr geschrieben haben dürfte, übrigens fast immer im Sommer oder im früheren Herbst, wofür es einen einfachen Grund gibt: Dies war auch die Zeit, in der die Musenalmanache vorbereitet wurden. Das Datum verweist somit auf den unmittelbaren Schreibanlaß. Trotz der geringen Anzahl der Dokumente in einem relativ großen Zeitraum läßt sich dennoch eine erstaunliche Kontinuität der Motive und Themen, ja selbst des Stils der Korrespondenz feststellen.9 Man kann also von einem homogenen Textkorpus sprechen, von einer Kompaktheit, die sich über die Zeitspanne der Entstehung hinwegzusetzen vermag: ein Phänomen, das bei Briefwechseln nicht selten vorkommt und dennoch als besonders gelten kann. Zunächst fällt auf, daß Hölderlin bis auf eine Ausnahme (Brief vom 20. November 1796) auf die Voranstellung der Anrede verzieh- tet.10 Die Briefe gehen gleich in medias res. In sechs Fällen wird die Anrede in den ersten Satz eingeschoben. Das ist bei Hölderlin nicht die Regel. Die überwiegende Mehrheit der Briefe an die Mutter, an den Bruder und an die Freunde fangen traditionell mit einer Anrede an. Zwar ist dieses incipit in medias res kein Spezifikum der Briefe an Schiller - auch in den Briefen an Neuffer verzichtet Hölderlin oft (fünfzehnmal in 36 erhaltenen Briefen) auf die traditionelle Anrede-, aber in den Briefen an Schiller ist das wiederholte und fast systematische Fehlen der vorangestellten Anrede besonders auffallend. Das kann als Schwierigkeit gedeutet werden, sich direkt an den Adressaten zu wenden, wobei aber auch stilistische Gründe eine Rolle gespielt haben dürften. Es ist denkbar, daß Hölderlin in der Korrespondenz mit dem berühmten Schriftsteller eine traditionelle Schreibweise vermeiden wollte. Vielleicht war hier auch ein mimetischer Impuls am Werk, denn die im ersten Satz eingeschobene Anrede scheint ein stilistisches Merkmal der Briefe Schillers zu sein. Wie Paul Raabe bemerkt hat, hat Hölderlin nämlich wiederholt versucht, sich an den Stil seines jeweiligen Briefpartners anzupassen.lt Auf diese Weise erhalten die im Text eingefügten Anreden einen gesteigerten Wert. Schiller wird konsequent als ,verehrungswürdiger großer Mann' bezeichnet. Nur zweimal wird er mit seinem Hofrat-Titel angeredet. So betont der Absender die subjektive Stellung, die der Adressat für ihn besitzt. Dem entsprechen die Schlußformeln, in denen sich Hölderlin als Schillers Verehrer bezeichnet. Ein weiteres Merkmal der gesamten Korrespondenz ist, daß Ortsund Zeitangabe nicht immer vorhanden sind. In dem Brief, der wahrscheinlich zwischen dem 15. und 20. August 1797 in Frankfurt geschrieben wurde, fehlen sogar Datum, Anrede und Schlußformel. Der Brief hat sozusagen keinen konventionellen und zeitlichen Rahmen mehr. Um eine rasche Orientierung zu bieten, wurden die wichtigsten Merkmale der Briefe in einer zweiten Tabelle zusammengestellt. 10 s Jean Laplanche: Hölderlin und die Suche nach dem Vater. Deutsch von Karl Heinz Schmitz,Stuttgart-BadCannstatt 1975 [FranzösischeOriginalausgabe 1961], 51-75; Harold Bloom: Einflußangst:eine Theorie der Dichtung. Deutsch von AngelikaSchweikhart,Frankfurt a.M. 1995. 9 Vgl. Paul Raabe [Anm. 6], 109. 149 Vgl. die Anmerkungen von Adolf Beck in seinem Kommentar, StA VI, 666 u. 749. 11 Paul Raabe [Anm. 6], 114. Das gilt auch für andere stilistischeAspekte der Briefe.Vgl. dazu auch Charlie Louth [Anm.6], 1047: ,,Curiously,some of the particularities of Hölderlin's style in these letters seem to derive from Schiller's own." Ort, Datum 1 2 Incipit [Waltershausen, In medias res um den 20. März 1794] Nürtingen, In medias res 23. Juli 1795 Anrede / Bezeichnungen des Adressaten ,,edler groser Man!" Anlaß „von einem großen Manne[ ... ] einen freundliehen Blik" [zu erbetteln] ,Flucht' aus Jena Zusendung der Übersetzung von Ovids 'Phaethon' Zusendung der Gedichte 'Der Gott der Jugend' und 'An die Natur' Erziehung von Fritz von Kalb 3 Nürtingen, 4. September 1795 In medias res (Anrede wird im ersten Satz eingeschoben) „ verehrungswürdiger Herr Hofrath!" 4 Cassel, 24. Juli 1796 In medias res (Anrede wird im ersten Satz eingeschoben) „ verehrungswürdiger Herr Hofrath" 5 Frankfurt, 20. November 1796 Anrede ,,Verehrungswürdigster!" 6 Frankfurt, 20. Juni 1797 In medias res ,,ich schäme mich nicht, der Aufmunterung eines edeln Geistes zu bedürfen" 7 [15.-20. August 1797] am 24. August eingegangen In medias res (Anrede wird im ersten Satz eingeschoben) 8 In medias res Frankfurt, 30. Juni [?] 1798 Antwort / Zusendung einer englischen Übersetzung von Schillers 'Kabale und Liebe' Zusendung einiger „Sie wissen es selbst, daß Gedichte ('Dem jeder große Mann den Sonnengott', 'Der andern, die es nicht sind, Mensch', 'An unsre die Ruhe nimmt" großen Dichter', 'Vanini', 'Sokrates und Alcibiades'l Einladung zu ,,Verehrungswürdigster!" ,,[ich] kann [...]die Autorität 'lduna' eines bewährten großen Mannes nicht entbehren" Antwort ,,Verehrungswürdigster!" „Der Seegen eines großen Mannes ist [...] die beste Hülfe" ,,edler Meister!" Bewerbung um eine ,,Verehrtester!" Professur in Jena In medias res (Anrede wird im ersten Satz eingeschoben) In medias res 10 [Homburg, September 1799. (Anrede wird im ersten Satz Unvollendeter eingeschoben) Entwurf] 9 [Homburg] 5. Juli 1799 11 Nürtingen, 2.Juni 1801 In medias res (Anrede wird im ersten Satz eingeschoben) ,,edler Man!" Zusendung der Gedichte 'An die Unerkannte', <An Herkules>, 'Diotima' (Mittlere Fassung), 'An die klugen Rathgeber' Rückgabe eines Manuskripts Zusendung des 'Hyperion' (erster Band) und der Gedichte 'An den Aether', 'Der Wanderer' Inhaltliche Schwerpunkte Erzieherische Grundsätze Verhältnis zum Empfänger Verhältnis zum Empfänger Philosophie Eigene Befindlichkeit Eigene Befindlichkeit Verhältnis zum Empfänger Schlußformel „Ihr ergebenster Verehrer M. Hölderlin." „Ihr Verehrer M. Hölderlin." „Ihr Verehrer Hölderlin." „ Ganz der Ihrige M. Hölderlin." Verhältnis zum Empfänger „Ihr wahrer Verehrer Hölderlin." „Ihr Ergebenster M. Hölderlin" Überwindung der Metaphysik Fehlt! ,,Hölderlin." Verhältnis zum Empfänger „Ihr wahrer Verehrer Hölderlin." Verhältnis zum Empfänger Dankbarkeit ihm gegenüber 'Tod des Empedokles' „Ich bin mit wahrster Verehrung der Ihrige M. Hölderlin." Griechentum - „Wahrhaft der Ihrige Hölderlin." 152 Luigi Reitani Wie schon erwähnt, ist der äußere Anlaß fast jeden Schreibens eine Bitte in literarischen Angelegenheiten, oft die Zusendung eines Beitrags für eine von Schiller herausgegebene Publikation. Der Inhalt geht aber in nahezu allen Fällen weit über den Anlaß hinaus, der eher als Vorwand zu bezeichnen ist.12 Inhaltliche Schwerpunkte sind erzieherische Grundsätze, philosophische Gedanken, Hölderlins Befindlichkeit, literarische Projekte. Zentral erscheint aber vor allem die Beziehung zu Schiller.13 Die Briefe thematisieren somit das Verhältnis zwischen dem Absender und dem Empfänger. Ich würde behaupten, daß eben diese Thematisierung das Charakteristische der Briefe ist. Auch wenn der Schreibende über konkrete Ereignisse berichtet - was eigentlich selten vorkommt-, so geschieht dies, weil er die „Pflicht" empfindet, von sich „Rechenschaft zu geben" (Nr.104, StA VI, 181, Z. 34f.). Am Anfang des Briefwechsels wird Schiller sogar als Zeuge angerufen, der Hölderlins Willen attestieren soll, ,,der Menschheit Ehre zu machen". Damit bezieht sich Hölderlin emphatisch auf seine pädagogischen Pläne, als Hofmeister den jungen Fritz von Kalb zu erziehen. ,,Ich lege Ihnen Rechenschaft ab.", beteuert er (Nr. 76, StA VI, 111, Z.2 u. 4). Dieser Gestus ist für die ganze Korrespondenz programmatisch. Nicht das Mitgeteilte, sondern das Mitteilen wird relevant, der Kontakt zu dem Briefpartner. In dieser Hinsicht sind diese Briefe noch ein Beispiel einer pietistisch geprägten Kultur, in der dem offenen Geständnis - vor einer moralisch höheren Autorität - die Bedeutung einer Legitimation des eigenen Handelns zukommt. Immer wieder betont Hölderlin seine Abhängigkeit von dem berühmten Schriftsteller: ,,von Ihnen dependir' ich unüberwindlich", schreibt er am 20. Juni 1797 (Nr.139, StA VI, 241, Z. 6f.), und bei einer anderen Gelegenheit gesteht er, daß Schiller „der einzige Mann" ist, ,,an den ich meine Freiheit so verloren habe" (Nr.129, StA VI, 224, Z. 27f.). Explizit spricht der Autor mehrmals von seiner „Anhänglichkeit" (Nr.102, StA VI, 176, Z.34; Nr.129, StA VI, 223, Z.23 u. 25), die 12 Hölderlin scheint sich dessen bewußt zu sein. Explizit heißt es: ,,ich muß immer wenigstens irgend eine Kleinigkeitvorschüzen können, wenn ich mich dazu bringen soll, meinen Nahmen Ihnen wieder zu nennen." (Nr. 129, StAVI, 223, Z.5-8) 13 Vgl. Paul Raabe [Anm. 6], 109. Rechenschaftsbriefe an Schiller 153 nach dem Wörterbuch von Adelung - wohl als „die herrschende, unverrückte Neigung zu einer Person oder Sache" zu verstehen ist.14 Es handelt sich dabei um ein Wort, das auch in den Briefen Hölderlins an die Mutter, an die Schwester und an den Bruder vorkommt. Damit wird die affektbeladene Beziehung zur Familie bezeichnet. So z.B. in einem Brief vom 22. Februar 1795: ,,0 meine Mutter! Sie fragen, ob ich Sie lieb habe, könnten Sie in mein Herz sehen! Ich bin gewis, daß mir diese innige Anhänglichkeit an Sie bleiben wird, so lang ich das Gute lieben werde." (Nr. 95, StA VI, 158, Z. 60-63). Es ist also eine tiefempfundene Zuneigung, die durch dieses Wort zutage tritt, eine psychologisch wahrgenommene Nähe, welche sich in erster Linie auf die Verwandten bezieht.15 Interessanterweise wird Hölderlin sich noch in den Briefen aus dem Turm desselben Ausdrucks bedienen: ,,Ich ergreife die von Herrn Zimmern mir gütigst angebotene Gelegenheit, mich in Gedanken an Sie zu wenden, und Sie noch immer von der Bezeugung meiner Ergebenheit und der Redlichkeit meiner Anhänglichkeit zu unterhalten." (Nr. 248, StA VI, 443, Z. 2-5; Brief an die Mutter. Datum ungewiß). Im Fall der Briefe an Schiller gründet diese „Anhänglichkeit" auf der immensen Verehrung für den Adressaten, die aber oft in eine Erniedrigung des Schreibenden umschlägt: ,,Ich gehöre ja - wenigstens als res nullius - Ihnen an" (Nr.104, StA VI, 181, Z. 7f.). Hölderlin verwendet hier metaphorisch einen juristischen Terminus, der ein Objekt bezeichnet, das niemandem als Eigentum angehört (wie z.B. ein freies Wild) und deshalb von demjenigen in Besitz genommen werden kann, der als Erster von ihm Gebrauch macht, ohne daß Dritte einen Anspruch darauf erheben können.16 Daraus konstituiert sich ein ausschließliches 14 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 1, Leipzig 1793, Sp. 315 [Stichwort: Anhänglich]. 15 Im ganzen erhaltenen Briefkorpus gibt es nur eine Stelle, in der sich Anhänglichkeit auf ein Abstraktum bezieht (,,Anhänglichkeit ans Gute" Nr. 92, StA VI, 146, Z.25; Brief an die Mutter vom 16. Januar 1795). Sonst erscheint der Begriffnur im Zusammenhang mit der Familie (sechsmal)oder mit Schiller (dreimal). Vgl. Konkordanz zu Friedrich Hölderlins Briefen. Substantive. Auf der Textgrundlage des sechsten Bandes der Großen Stuttgarter Ausgabe bearbeitet von Akihiko Tanase, Fukuoka 2003. 16 Ich verdanke Michael Franz diesen Hinweis. 154 Luigi Reitani Rechtsverhältnis zwischen dem Briefabsender und dem Briefempfänger. Gehört Hölderlin als „res nullius" Schiller an, so beansprucht er das Recht, von seiner „Herrschaft" gehört zu werden. Diese Erwartung liegt schon bei der Vorstellung, von sich und von seiner Tätigkeit „Rechenschaft zu geben". Es versteht sich, daß eine solche Erwartung leicht enttäuscht werden kann. So schlagen die Briefe nicht selten dramatische Töne an, z.B. wenn Hölderlin (nicht zu Unrecht) glaubt, von seinem „Meister" im Stich gelassen worden zu sein: ,,Ihr gänzlich Verstummen gegen mich macht mich wirklich blöde[ ...] Haben Sie Ihre Meinung von mir geändert? Haben Sie mich aufgegeben?" (Nr.129, StA VI, 223, Z.4f. u. 21 f.) Ist nämlich die Anhänglichkeit oder Abhängigkeit eine Abhängigkeit von dem Urteil des Briefpartners, so bedeutet dies gleichzeitig eine fortwährende vernichtend wirkende Angst, negativ beurteilt zu werden. Eine solche Angst war nicht unberechtigt. Wie Schiller zu Hölderlin stand, geht am deutlichsten aus den Briefen hervor, die er im Sommer 1797 mit Goethe wechselte. Zunächst wurde Goethe um ein Urteil über zwei für die Publikation in den 'Horen' bestimmte Gedichte Hölderlins gebeten. Schiller zeigt sich hier sicher, daß sein „Rath und Wink auf den Verfasser" (dessen Namen er aber nicht erwähnt) ,,Einfluß haben wird" (StA VII 2, 95; Brief Schillers an Goethe vom 27. Juni 1797). Als Goethe sich darüber trotz einiger Reserve positiv äußert, scheint Schiller zufrieden und nennt Hölderlin seinen „Freund und Schutzbefohlenen". Gleichwohl wird seine „heftige Subjectivität" getadelt. ,,Sein Zustand", schreibt Schiller, ,,ist gefährlich, da solchen Naturen so gar schwer beyzukommen ist." Schiller sieht also seine Aufgabe darin, Hölderlin zu einer neuen (poetischen) Lebenshaltung zu lenken, welche die philosophischen Abstraktionen vermeiden und sich an das Empirische der Welt annähern soll, wobei er an dem Gelingen dieser Aufgabe zweifelt: ,,Ich würde ihn nicht aufgeben, wenn ich nur eine Möglichkeit wüßte, ihn aus seiner eignen Gesellschaft zu bringen, und einem wohlthätigen und fortdauernden Einfluß von außen zu öfnen" (StA VII 2, 98; Brief Schillers an Goethe voin 30. Juni 1797). Noch eindeutiger wird Schiller, nachdem Goethe ihn über einen Besuch Siegfried Schmids informiert, der beiden Weimarern als ein geistiger Bruder Hölderlins erscheint. Die Lebenshaltung, die Schmid und Hölderlin zeigen, wird als negatives Zeitsymptom betrachtet und obwohl er sein definitives Urteil noch Rechenschaftsbriefean Schiller 155 nicht ausspricht, läßt Schiller verstehen, daß er sich gezwu~gen sieht, seine Bemühungen aufzugeben, wenn auch „so spät als möglich": Ich bin einmal in dem verzweifelten Fall, daß mir daran liegen muß, ob andere Leute etwas taugen, und ob etwas aus ihnen werden kann; daher werde ich diese Hölderlin und Schmidt so spät als möglich aufgeben. !~ möchte wissen, ob diese Schmidt, diese Richter, diese Hölderlins absolut und unter allen Umständen so subjectivisch, so überspannt, so einseitiggeblieben wären, ob es an etwas primitivem liegt, oder ob nur der Mangel einer aesthetischen Nahrung und Einwirkung von_auße~ un? die Opposition der empirischen Welt in der sie leben gegen ihren tdea~tschen Hang diese unglückliche Wirkung hervorgebracht hat. Ich bm sehr geneigt das letztere zu glauben, und wenn gleich ein mächtiges und glücklichesNaturell über alles siegt, so däucht mir doch, daß manches brave Talent auf diese Art verloren geht. (StA VII 2, 107; Brief Schillers an Goethe vom 17. August 1797) Obwohl Hölderlin solche Urteile nicht zu lesen bekam und im Gegenteil von Schiller einige Versicherungen des Interesses an seiner Person erhielt,17müßte ihm dennoch durch verschiedene Signale (Nichtbeantwortung der Briefe, Ablehnungen seiner Publikationsvorschläge~ allmählich klar geworden sein, wie sehr er den Hoffnungen des Meisters nicht entsprochen hatte. Das führte schließlich zu?1' Abbruch d:r Korrespondenz, nachdem Schiller das Ansuchen um eme Professur m Jena nicht einmal beantwortet hatte. Es muß allerdings festgestellt werden, daß das insistierende Verlangen nach einem Zeichen der Anerkennung auf eine ~iefe Unsicher~eit Hölderlins hinweist der seine Dichterrolle in der Beziehung zu Schiller zugleich bestätigt u~d bedroht fühlte, noch lange bevor der Meister ihn ,,aufgab". . Paradigmatisch erscheint in dieser Hinsicht der Anfang des Bnefes vom 23. Juli 1795, in dem Hölderlin versucht, seine ,Flucht' aus Jena zu rechtfertigen. Dabei sei daran erinnert, daß der Dichter Jena zu einem Zeitpunkt verließ, als er die besten Möglichkeiten hatte, Schillers engster Mitarbeiter zu werden. 17 Vgl. den BriefSchillersvom 24. November 1796 (StAVII 1, 46-48). 156 Rechenschaftsbriefean Schiller Luigi Reitani Ich wußte wohl, daß ich mich nicht, ohne meinem Innern merklichen Abbruch zu thun, aus Ihrer Nähe würde entfernen können. Ich erfahr' es izt mit jedem Tage lebendiger. Es ist sonderbar, daß man sich sehr glüklich finden kann unter dem Einfluß eines Geistes, auch wenn er nicht durch mündliche Mittheilung auf einen wirkt, blos durch seine Nähe, und daß man ihn mit jeder Meile, die von ihm entfernt, mehr entbehren muß. Ich hiitt' es auch schwerlich mit all' meinen Motiven über mich gewonnen, zu gehen, wenn nicht eben diese Nähe mich von der andern Seite so oft beunruhiget hätte. Ich war immer in Versuchung, Sie zu sehn, und sah Sie immer nur, um zu fühlen, daß ich Ihnen nichts seyn konnte. {Nr.102, StA VI, 175, Z.3-14) 157 Vergleiche gehören übrigens zu den auffallendsten stilistischen Merkmalen dieser Briefe. Es ist so, als ob Hölderlin nur indirekt über seine eigene Befindlichkeit sprechen könnte. Eine ähnliche Strategie verfolgen die vielen, komplexen Konditionalsätze, welche die syntaktische Struktur der gesamten Korrespondenz kennzeichnen. Bevorzugt wird der Irrealitätsmodus. Dafür nur zwei Beispiele: Ich würde mich über mein Geschwäz vieleicht damit vor Ihnen entschuldigen, daß ich es einigermaßen für Pflicht hielte, Ihnen von mir Rechenschaft zu geben; aber so würd' ich mein Herz verläugnen. (Nr. 104, StA VI, 181, Z. 33-35) Mein Brief und, was er enthält, käme nicht so spät, wenn ich gewisser wäre, von dem Empfang, dessen Sie mich würdigen werden. {Nr.139, StA VI, 241, Z.2f.) Die Dialektik zwischen Nähe und Ferne ist ein Motiv, das das ganze dichterische Werk Hölderlins durchzieht.18 Wird die Nähe als Bedrohung empfunden, so erscheint die Ferne als Verlust. Noch in den späteren Gedichten wird z.B. die Nähe zu den Göttern als Gefahr wahrgenommen. Die Unmittelbarkeit des Absoluten könnte der Mensch nicht ertragen. Daß die Götter die Welt verlassen haben, wird aber bitter beklagt. Hinter der psychologischen Thematisierung des Verhältnisses zum Briefempfänger steht in dieser Korrespondenz also ein Problem, das für Hölderlins Denken entscheidend ist. In den Briefen ist es jedoch der Rückbezug auf die persönliche Situation des Schreibers, der inhaltlich relevant ist. Die hohe Stellung, die der Adressat genießt, zwingt nämlich den Schreibenden zu einer Gegenüberstellung und verursacht eine psychologische Krise: ,,Ich fühle nur zu oft, daß ich eben kein seltner Mensch bin." (Nr.104, StA VI, 181, Z. 28} Am deutlichsten wird diese Angstempfindung in einem Gleichnis zum Ausdruck gebracht: „Ich bin vor Ihnen, wie eine Pflanze, die man erst in den Boden gesezt hat. Man muß sie zudeken um Mittag." (Nr.144, StA VI, 251, Z.62f.} Auffallend ist hier, daß Hölderlin eine Stelle variiert, die schon im 'Fragment von Hyperion' vorkommt. Von sich selbst behauptet nämlich Hyperion: ,,Ich bin, wie eine kranke Pflanze, die die Sonne nicht ertragen kann." {StAIII, 181, Z.18f.} In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, daß solche Strukturen im Schwäbischen häufig vorkommen. Gewiß sind sie aber in erster Linie das Signal einer Schwierigkeit, sich direkt zu äußern. Hölderlins Briefe an Schiller gehen auf Umwegen. Genau zu berücksichtigen wären in diesem Zusammenhang auch die vielen Fremdwörter, die in diesen Briefen zu finden sind. So z.B., wenn Hölderlin von einer „Apologie" im Sinne von einer Entschuldigung (Nr.102, StA VI, 176, Z. 33} spricht oder sich als „Exulanten" (d.h. Verbannten; Nr.104, StA VI, 181, Z. 21) bezeichnet. Auch wenn die Funktion, die diesen Fremdwörtern zukommt, nicht genau zu bestimmen ist, so läßt sich dennoch behaupten, daß sie wieder Umschreibungen für etwas sind, das sich auf unmittelbare und einfachere Weise hätte sagen lassen. Dagegen gibt es in der gesamten Korrespondenz nur wenige Stellen, die eindeutig als Zitat erkennbar wären. Eine solche ist nach den Kommentatoren die Redewendung sich „am Eise wärmen", die auch in Anführungszeichen erscheint (Nr.104, StA VI, 181, Z.26f.) und die-wie im Grimmschen Wörterbuch bezeugt ist - im 11. Kapitel des 2. Buchs von 'Wilhelm Meisters Lehrjahre' vorkommt,19 wobei aber der Verweis auf Goethe nicht unbedingt zwingend erscheint. Ein anderer Fall ist im 18 Vgl. den Kommentarzu diesemBriefvon Laplanche[Anm. 8], 86. Zur Motivik der Nähe und Entfernungvgl.David Constantine:FriedrichHölderlin, München 1992, 13f. „Ja, sagte Philine,es müßte eine recht angenehmeEmpfindungsein, sich am Eisezu wärmen." 19 158 selben Brief der berühmte Satz (wieder ein Gleichnis), mit dem Hölderlin seine psychische Situation nach der Flucht aus Jena umschreibt: ,,Ich friere und starre in dem Winter, der mich umgiebt. So eisern mein Himmel ist, so steinern bin ich." (Nr. 104, StA VI, 181, Z. 28-30). Nach Wilhelm Michel2Ddürfte es sich hier um eine biblische Anspielung handeln, denn im 5. Buch Mose 28, 23 ist zu lesen: ,,Dein Himmel, der über deinem Haupt ist, wird ehern sein und die Erde unter dir eisern". Dieser Hinweis ist insofern interessant, als die zitierte Bibelstelle zu einem Passus gehört, der die Flüche Gottes gegen die Sünder wiedergibt. Der Satz wäre also als Fluch zu verstehen. Man könnte also meinen, Hölderlin fühle sich von einem Fluch getroffen. Er ist ein Flüchtling (ein ,,Exulant") in einem etymologisch falschen Sinn: er mußte flüchten, weil ein Fluch über ihn verhängt wurde.21 Zu bemerken ist jedoch, daß diese Zitate, wenn sie tatsächlich solche sind, sich in keiner Weise auf einen Code beziehen, den der Schreibende mit dem Briefempfänger teilt, wie dies oft bei Briefwechselzitaten der Fall ist. Ein Netz von Verweisen, das als gemeinsames Terrain der Beziehung hätte dienen können, läßt sich bei dieser Korrespondenz nicht auffinden. Vielmehr scheinen die vermeintlichen Zitate kryptisch und nur auf die Situation des Absenders beziehbar. Dies gilt auch für mögliche intertextuelle Bezüge, die es wahrscheinlich zwischen den Briefen an Schiller und anderen Texten Hölderlins gibt. Sehr fruchtbar wäre diesbezüglich ein Vergleich mit jenen Texten, die in einer mehr oder weniger direkten Auseinandersetzung mit dem Werk Schillers entstanden sind, wie die Übersetzung des Phaeton aus den 'Metamorphosen' Ovids, die Momme Momsen meisterhaft untersucht hat.22 Auffällig ist z.B., daß sich einige Schlüsselworte dieser Übersetzung auch in den Briefen an Schiller finden.23 Selbst der implizite Vergleich des bewunderten Dichters mit der Sonne, der im Gleichnis der Pflanze mitWilhelm Michel: Das Leben Friedrich Hölderlins, Bremen 1940, 220. Vgl. auch 'Menons Klagen um Diotima': ,,es lähmet ein Fluch mir/ Darum die Sehnen,und wirft, wo ich beginne, mich hin, / Daß ich fühllos sizeden Tag, und stumm wie die Kinder;/[ ...] Ach! und nichtig und leer, wie Gefängnißwände der Himmel / Eine beugende Last über dem Haupte mir hängt!" (FHA 6, 171, V. 59-61 u. 67f.). 22 Vgl. Anm. 7. 23 Vgl. Charlie Louth [Anm. 6], 1043. 2 0 21 Rechenschaftsbriefean Schiller Luigi Reitani 159 schwingt, erhält eine allegorische Dimension, wenn man sich die Geschichte des Phaeton (der gegen seinen Vater Apoll rebelliert und seinen Sonnenwagen führen will) vor Augen hält. Auch in diesen verborgenen Andeutungen erscheint die Korrespondenz einseitig. Hölderlin thematisiert darin seine ,Einflußangst', die er aber in dem brieflichen Austausch nicht zu überwinden vermag. Es ist beklemmend zu sehen, wie er sich indirekter Formulierungen und komplizierter rhetorischer Strategien bedient, die dem direkten Kontakt mit dem Empfänger ausweichen und selbst als Symptom der empfundenen Angst erscheinen. Bemerkenswert ist aber, daß sich Hölderlin dieser Konstellation bewußt ist und sie exakt zu bestimmen weiß. In dem Brief vom 20. Juni 1797 aus Frankfurt betrachtet er seinen eigenen Zustand als Beispiel einer allgemeinen „Ängstigkeit", die entsteht, wenn sich ein Künstler nicht unmittelbar mit der Welt, sondern mit anderen Kunstwerken auseinandersetzen muß. und weil ich fühle, wie viel ein Wort von Ihnen über mich entscheidet, such' ich manchmal, Sie zu vergessen, um während einer Arbeit nicht ängstig zu werden. Denn ich bin gewiß, daß gerade diese Ängstigkeit und Befangenheit der Tod der Kunst ist, und begreife deßwegen sehr gut, warum es schwerer ist, die Natur zur rechten Äußerung zu bringen, in einer Periode, wo schon Meisterwerke nah um einen liegen, als in einer andern, wo der Künstler fast allein ist mit der lebendigen Welt. Von dieser unterscheidet er sich zu wenig, mit dieser ist er zu vertraut, als daß er sich stemmen müßte gegen ihre Autorität, oder sich ihr gefangen geben. Aber diese schlimme Alternative ist fast unvermeidlich, wo gewaltiger und verständlicher, als die Natur, aber ebendeßwegen auch unterjochender und positiver der reife Genius der Meister auf den jüngern Künstler wirkt. (Nr.139, StA VI, 241, Z. 7-20) Diesem Künstler bleibt also nur die Wahl, ,,eigensinnig oder unterwürfig [zu] werden" (Nr.139, StA VI, 242, Z. 24). Das gilt nicht nur für das Verhältnis des Schreibenden zu dem Briefadressaten, sondern auch für das im 19.Jahrhunderts immer wieder debattierte Verhältnis der Moderne zur Antike. Wie Charlie Louth bemerkt hat,24 entwirft Hölderlin hier Gedanken, die er in seinem Aufsatz 'Der Gesichtspunct aus dem wir 24 Charlie Louth [Anm. 6], 1048. 160 161 Luigi Reitani das Altertum anzusehen haben' (MA II, 62-64) entwickeln wird. Entscheidend ist aber, daß in diesem Brief die persönliche Auseinandersetzung mit Schiller eine Überwindung des Klassizismus impliziert, die später im Werk Hölderlins von zentraler Bedeutung sein wird.25 Die Briefe Susette Gontards an Friedrich Hölderlin aus brieftheoretischer und briefgeschichtlicher Sicht Fehlen der Anrede und der anderen konventionellen Briefmerkmale, Überschreitung des Schreibanlasses, Gleichnisse und irreale Konditionalsätze als bevorzugte stilistische und syntaktische Ausdrucksformen, Häufigkeit von umschreibenden Fremdwörtern, kryptische Zitate und Andeutungen, offenes Geständnis der eigenen Abhängigkeit und insistierendes Werben um Anerkennung, Thematisierung und Verallgemeinerung des Verhältnisses zum Briefempfänger, welche eine poetische Reflexion implizieren - all dies führte in der Diskussion der Arbeitsgruppe zum vorläufigen Schluß, daß die Briefe Hölderlins an Schiller prinzipiell nicht dem Zweck der direkten Mitteilung dienten. Eher sind sie als ein Gespräch des Autors mit sich selbst zu bezeichnen. Sie entwerfen Positionen, die anderswo im Werk ihre Früchte bringen werden. Sie zeigen rhetorische Denkfiguren und Motive (wie die Dialektik Nähe - Feme), die in Hölderlins Werk oft vorkommen. Sie zeigen vor allem das Dilemma einer psychischen Abhängigkeit, die für den Autor zugleich produktiv und destabilisierend war. Was sie nicht zeigen, das ist der Kampf, den Hölderlin führte, um eine solche Abhängigkeit zu überwinden. Dieser Kampf fand auf einer anderen Ebene statt, auf der der Dichtung. Die Briefe kündigen ihn an, aber sie können ihn nicht ausführen. Hier bleibt Hölderlin der „ wahrste Verehrer", unfähig, gegen den „Meister" zu rebellieren: Anita Runge Deßwegen darf ich Ihnen wohl gestehen, daß ich zuweilen in geheimem Kampfe mit Ihrem Genius bin, um meine Freiheit gegen ihn zu retten, und daß die Furcht, von Ihnen durch und durch beherrscht zu werden, mich schon oft verhindert hat, mit Heiterkeit mich Ihnen zu nähern. Aber nie kann ich mich ganz aus ihrer Sphäre entfernen; (Brief vom 30. Juni 1798, Nr.159, StA VI, 273, Z.16-21) 25 Vgl. dazu Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Antike und Modeme in der Ästhetik der Goethezeit, hrsg. von Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt, Frankfurt a.M. 1974, 193. Von Briefe sind aufgrund ihres zwischen Literatur und Alltagskommunikation changierenden Charakters eine literaturwissenschaftliche Herausforderung. Einerseits traditionell als Quelle für den Entstehungsund Rezeptionskontext literarischer Werke oder für biographische Informationen nutzbar, ist der Brief andererseits aufgrund seiner in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden beispiellosen Karriere als „literarisches Faktum"l Gegenstand gattungsgeschichtlicher und -theoretischer Studien.2 Für die Beschäftigung mit der Grenze bzw. dem HÖLDERLIN-JAHRBUCH 34, 2004-2005, Tübingen 2006, 161-174. 1 Jurij Tynjanow: Das literarische Faktum. In: Texte der russischen Formalisten, hrsg. und mit einer einleitenden Abhandlung vers. von Jurij Striedter, München 1969, Bd.1, 392-431. Der Begriff „literarisches Faktum" verweist auf Tynjanows Überzeugung, daß es fraglose Übereinkünfte über literarische Tatsachen gibt, die sich jedoch permanent verändern und evolutionär entwickeln. Dabei können auch Erscheinungen, die im literarischen Leben eher randständig waren, ins Zentrum rücken. Zu den Phänomenen, an denen sich die „außerordentliche Dynamik" in der Evolution literarischer Gattungen zeigt, gehört nach Tynjanow insbesondere die Konjunktur der Briefliteratur seit 1800 (vgl. die Seiten 402f., 419-423). 2 In der Briefforschung dominierten bis in die1980er Jahre Definitionsbemühungen um die „Textsorte" Brief, Abgrenzungsversuche zwischen literarischem und „Privatbrief" sowie ein positivistischer Umgang mit dem Brief als biographischer und werkgeschichtlicher Quelle. (Vgl. den Überblick bei Reinhard M.G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991, 1-9. - Außerdem die online verfügbare umfassende Bibliographie zur Briefliteratur und -forschung: http://www.textkritik.de/briefkasten/forschungsbibl_a_f.htm [letztes Zugriffsdatum: 20.12.04]). - Eine veränderte Perspektive entwickelte sich im Zusammenhang mit der literaturwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung in Auseinandersetzung mit der als Initialzündung wirkenden Untersuchung von SilviaBovenschen:Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplari-