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Quo vadis, Frühgeschichtliche Archäologie? Tagungsbeiträge der Arbeitsgemeinschaft Spätantike und Frühmittelalter 9. Quo vadis, Frühgeschichtliche Archäologie? Standpunkte und Perspektiven (Berlin, 6.–8. Oktober 2014) Herausgegeben von Roland Prien und Jörg Drauschke Verlag Dr. Kovač Hamburg 2020 Vorwort Anlässlich der 9. Sitzung der AG Spätantike und Frühmittelalter auf dem 8. Deutschen Archäologiekongress in Berlin vom 6. bis 8. Oktober 2014 hat der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft ein eher ungewöhnliches Thema gewählt: Unter dem Titel „Quo vadis, frühgeschichtliche Archäologie?“ stand nicht ein einzelnes archäologisches Thema oder ein einzelner Themenkomplex auf der Agenda, sondern nicht weniger als der Versuch einer Standortbestimmung für unsere Teildisziplin im größeren Rahmen des archäologischen und historischen Fächerkanon. Wo steht die frühgeschichtliche Archäologie heute? Welche Relevanz hat sie im engeren fachlichen und weiteren gesellschaftlichen Rahmen? Welche inhaltlichen, aber auch strukturellen Veränderungen hat sie in den letzten zwei Jahrzehnten durchlaufen? In welchen Bereichen liegen zukünftige Fragestellungen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Tagung, deren räumlicher Fokus nicht allein auf der mitteleuropäischen oder gar nur deutschsprachigen Forschung lag, sondern die eine pan-europäische Perspektive erschließen sollte. Zahlreiche Beträge von Vortragenden aus dem In- und Ausland und das bisher zahlenmäßig größte Auditorium einer AG-Sitzung haben überdeutlich gemacht, dass das gewählte Thema am Puls der Zeit liegt. Die große Resonanz erfolgte trotz des Umstandes, dass die große Königsdisziplin der frühgeschichtlichen Archäologie – die Gräberarchäologie – thematisch nur am Rande eine Rolle spielte. Diese „Lücke“ war programmatisch gewollt, denn zeitlich benachbart fand eine weitere „Grundsatztagung“ vom 17. bis 19. Februar 2015 in Mannheim statt, deren Fokus unter dem Titel „Reihengräber des frühen Mittelalters – nutzen wir doch die Quellenfülle!“ deutlich auf dem Bereich der Gräber lag. Beide Tagungen – die 9. Sitzung der AG Spätantike und Frühmittelalter in 2014 Berlin und das 104. Kolloquium der AG Frühgeschichtliche Archäologie des Mannheimer Altertumsvereins 2015 in Mannheim – sind inhaltlich und programmatisch miteinander verknüpft und als gemeinsame Veranstaltungen beider Arbeitsgemeinschaften durchgeführt worden. Verschiedene Umstände haben die ursprünglich angedachte gemeinsame Publikation beider Tagungen leider verhindert, so dass die Beiträge 2 Vorwort des Mannheimer Kolloquiums in einem separaten Buch nachzulesen sind1. Der vorliegende Band 9 der Studien zu Spätantike und Frühmittelalter hingegen beinhaltet einen größeren Teil der Vortragsbeiträge aus Berlin und folgt in seinem Aufbau thematisch der Tagungsgliederung: Am Anfang stehen dabei drei Beiträge zur allgemeinen Standortbestimmung der frühgeschichtlichen Archäologie (Die Situation an den deutschen Universitäten, das Potential der Reihengräberarchäologie, Perspektivänderungen der frühmittelalterlichen Archäologie), gefolgt von Standortbestimmungen zu einem einzelnen Teilbereich (Chronologie) und zur wichtigen Nachbardisziplin der Christlichen Archäologie, so dann Überblicke zur Situation in benachbarten Ländern und darüber hinaus (Schweiz, Österreich, Polen, Russland) und abschließend Vorstellungen einzelner Forschungsvorhaben (CARE, Steinplattengräber, aDNA in der Frühmittelalterarchäologie). Trotz der weiten Spanne der Beiträge fällt deutlich auf, dass im Vergleich zum ursprünglichen Tagungsprogramm in Berlin eine Reihe schmerzlicher Lücken klaffen – nur die Hälfte der Referenten war bereit, etwas für diesen Band beizutragen. Umso mehr gebührt der Dank der Herausgeber all jenen, die ihren Beitrag geleistet haben! Gemeinsam mit dem Mannheimer Kolloquiumsband wurde dadurch das angestrebte Ziel erreicht: Für das Ende der 2010er-Jahre liegt nun ein umfangreicher Fundus an Beiträgen vor, der den Ist-Zustand der frühgeschichtlichen Archäologie Mitteleuropas und darüber hinaus dokumentiert und es ermöglicht, eine Standortbestimmung für unser Fach vorzunehmen. Unser Dank gilt Jelena Radosavljević für Satz und Layout sowie dem Verlag Dr. Kovač, mit dessen bewährter Unterstützung auch der 9. Band der Reihe „Studien zu Spätantike und Frühmittelalter“ vorgelegt werden konnte. Die Herausgeber, im Herbst 2019 1 U. Koch (Hrsg.), Reihengräber des frühen Mittelalters – nutzen wir doch die Quellenfülle! Mannheimer Geschichtsblätter Sonderveröffentlichung 8 (Mannheim 2016). Inhalt Bernd Päffgen Von einer Königsdisziplin ins Abseits? Frühgeschichte an deutschen Universitäten seit 1980. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Timm Weski Abgefieselt und ausgelutscht – Haben Reihengräber kein wissenschaftliches Potential mehr?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Sebastian Brather Von Alteritäten zu Identitäten. Veränderte Perspektiven der Frühmittelalterarchäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Matthias Friedrich Chronologie und Ereignisgeschichte in der frühgeschichtlichen Archäologie. Das 5. und 6. Jahrhundert in Süddeutschland . . . . . . . . . . . . . . . 95 Ute Verstegen Christliche Archäologie – quo vadis? Perspektiven transdisziplinärer Forschung in gewandelten Bezugssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Antonie Bassing-Kontopidis Frühmittelalterliche Archäologie in der Schweiz – der Status quo. . . . . . . . . . 151 Stefan Eichert / Nina Brundke Ostalpenraum Revisited. Stand und Perspektiven der Forschung zum frühmittelalterlichen Ostalpenraum im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4 Inhalt Marcin Wołoszyn Wie betreibt man Archäologie in einem Land, in dem es nur um „warmes Wasser aus dem Wasserhahn“ geht? Zur frühgeschichtlichen Archäologie in Polen nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Aleksandr Musin North-Western Russia in the 1st Millennium AD: New challenges for a traditional archaeological panorama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Sebastian Ristow Kirchenarchäologie zwischen alten und neuen Interpretationsmustern . . . . . 309 Ulrike Scholz Tuffplattengräber revisited. C-14 und Co. – neue vielversprechende Wege? Ein Vorbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Alexandra Ulisch Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Zu den Problematiken der molekulargenetischen Identifikation der Justinianischen Pest am Beispiel ausgewählter Skelette des Gräberfeldes Aschheim-Bajuwarenring. . . . . . . . . . 331 Timm Weski Abgefieselt und ausgelutscht – Haben Reihengräber kein wissenschaftliches Potential mehr? Schlagworte: Forschungsgeschichte, Publikation von Reihengräberfeldern, andere Fragestellungen Keywords: History of research, publication of row grave cemeteries, different research questions Um die Argumentation besser zu verdeutlichen, werden im Folgenden verschiedene Beispiele aus Publikationen genannt werden. Es handelt sich dabei in der Regel um Zitate oder Abbildungen, die nicht typisch für die jeweilige Arbeit sind. Deshalb muss ausdrücklich betont werden, dass dies nicht als generelle Kritik am jeweiligen Autor zu verstehen ist, sondern eher allgemeine Mängel verdeutlichen soll. Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung wird nur die männliche Form verwendet. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen gemeint. Bei den Publikationen von Reihengräberfeldern handelt sich vorwiegend um Promotionen oder Magister-/Masterarbeiten. Deshalb muss man berücksichtigen, dass neben dem Autor weitere Personen und Institutionen beteiligt sind: Jemand erachtet das Material als würdig für eine eigenständige Bearbeitung. Ein anderer, der sog. Doktorvater bei Promotionen, akzeptiert das Thema als universitäre Abschlussarbeit und übernimmt die Betreuung. Nach Abschluss der Arbeit agiert ein weiterer Wissenschaftler als Zweitgutachter. Vor dem Druck wird die Arbeit vom Herausgeber bzw. von der Redaktion inhaltlich auf Publizierfähigkeit überprüft, auch wenn es sich nicht immer um einen „Peer Review“ handelt. Mit anderen Worten: Der Autor ist nicht ausschließlich alleine für den Inhalt verantwortlich, sondern eine ganze Reihe anderer Personen und Institutionen ist mit beteiligt und übt während des gesamten Prozesses Kontrollfunktionen aus. Die Sitte, die Toten in Reihengräberfeldern zu bestatten, umfasst grob gesprochen 250 Jahre. Damit handelt es sich um eine der kürzesten 54 Timm Weski Epochen der vor- und frühgeschichtlichen Archäologie. Ähnlich kurz sind noch die Hallstattzeit und bis zu einem gewissen Grad die Urnenfelderkultur, die jedoch beide fließend in die vorhergehende und nachfolgende Epoche übergehen, sodass zwangsläufig diese anderen Zeiten in die wissenschaftliche Betrachtung einbezogen werden müssen. Weiterhin spielen in diesen Kulturen Siedlungen eine wesentlich größere Rolle. Obwohl Siedlungen inzwischen auch aus der Reihengräberzeit bekannt sind, stützt sich die Erforschung der Merowingerzeit immer noch weitgehend auf eine Quellengattung und kann deshalb auch als Gräberarchäologie bezeichnet werden. In Anbetracht dieser kurzen Zeitdauer und einer über 80 jährigen intensiven Forschung seit dem Erscheinen der ersten systematischen regionalen Aufarbeitung1, wäre es erstaunlich, wenn nicht inzwischen jede Fibel mindestens dreimal umgedreht worden wäre und die Zeitstellung sowie Verbreitung von fast allen Fundgruppen nicht bestens bekannt wäre. Trotz der langen Forschungsgeschichte folgt die Bearbeitung fast immer dem gleichen Schema, wie ein Vergleich zweier Inhaltsverzeichnisse aus der Frühzeit der Reihengräberarchäologie und einer kürzlich erschienenen Dissertation zeigt2. Zwischen den beiden besteht kein wesentlicher Unterschied, obwohl zwischen dem Erscheinen der Arbeiten über ein halbes Jahrhundert vergangen ist. Der Schwerpunkt liegt noch immer auf der antiquarischen Analyse. Andere Themen werden zwar auch behandelt, teilweise aber nur randlich, wie etwa das zweiseitige Kapitel zum Thema „Anthropologie“. Zur traditionellen Auswertung gehört die Kartierung von bestimmten Funden, Zeitstufen usw. auf dem Gräberfeldplan, die im Idealfall Aussagen über Belegungsabfolgen, Familiengruppen oder Zuwanderung erlauben. Es soll nicht verschwiegen werden, dass in jüngster Zeit einige Tendenzen zu beobachten sind, in denen von diesem Schema abgewichen wird: „Alle Datierungen stützen sich auf bekannte Vergleichsbeispiele. Auf computergestützte Korrespondenzanalysen wurde verzichtet, da mittlerweile 1 W. Veek, Die Alamannen in Württemberg. Germ. Denkmäler Völkerwanderungszeit 1 (Berlin, Leipzig 1931). 2 Z. B. J. Werner, Das alamannische Gräberfeld von Bülach. Monogr. Ur- u. Frühgesch. Schweiz 9 (Basel 1953) o. p. – B. Höke, Der spätmerowingerzeitliche Bestattungsplatz von Neuburg a. d. Donau, St. Wolfgang. Materialh. Bayer. Vorgesch. 97 (Kallmünz/Opf. 2013) 12. Abgefieselt und ausgelutscht 55 Datierung einschlägiger Objekte in großer Menge vorliegen“3. Oder: „Der Text folgt auch nicht dem herkömmlichen Schema von Gräberfeldpublikationen: Der größte Teil der formenkundlich-antiquarischen Analyse der Funde findet sich im kommentierten Katalog“4. Doch in den meisten Fällen erfolgt die Vorlage eines Reihengräberfeldes dem bekannten Schema, d. h. weitgehend ohne eigene Idee oder Forschungsansätze5. Ein Grund ist sicherlich die starke Ausrichtung auf die antiquarische Auswertung der Funde. Diese hat schon vor Jahren dazu geführt, dass der Gegenpapst der Frühgeschichtsforschung, den Papst der Reihengräbererforschung als „hypertrophen Kleinfundfetischisten“ bezeichnet haben soll6. Doch ist die wissenschaftliche Auswertung von Reihengräbern wirklich zu einer Fleißarbeit verkommen, nach dem Motto von Wilhelm Busch „Er setzt sich an eines Tisches Mitte, nimmt zwei Bücher – und schreibt das Dritte“? Sicherlich nein, es müssen nur alle potentiellen Quellen einbezogen werden. Solche Beobachtungen und Analysen werden teilweise schon seit Jahren erstellt, jedoch nur selten berücksichtigt oder nur in Nebensätzen erwähnt. Die Auswertung eines Reihengräberfelds im Rahmen einer Dissertation oder Magisterarbeit muss innerhalb eines zeitlich vertretbaren Rahmens erfolgen. Einen großen Teil der Zeit nimmt die Beschreibung und die bildliche Dokumentation der Funde ein. Dies ist mehr als gerechtfertigt, da die Fundvorlage die Grundlage für alle weiteren Forschungen bildet, selbst dann noch, wenn Funde und Grabungsdokumentation verloren gegangen sein sollten. So verdanken wir es nur der Veröffentlichung des Childerichgrabes aus dem Jahr 16557, dass diese Bestattung noch immer in der Fachdiskussion eine Rolle 3 N. Lohwasser, Das frühmittelalterliche Reihengräberfeld von Pfakofen. Materialh. Bayer. Vorgesch. 98 (Kallmünz/Opf. 2013) 18. 4 D. Gutsmiedl-Schümann, Das frühmittelalterliche Gräberfeld Aschheim-Bajuwarenring. Materialh. Bayer. Vorgesch. 94 (Kallmünz/Opf. 2010) 12. 5 Dagegen anders z. B.: B. Sasse, Ein frühmittelalterliches Reihengräberfeld bei Eichstetten am Kaiserstuhl. Forsch. u. Ber. Vor.- u. Frühgesch. Baden-Württemberg 75 (Stuttgart 2001) 113–120. 6 Mündl. Mitteilung von Jochen Giesler im Jahre 1975, damals München. 7 P. Périn/M. Kazanski, Das Grab Childerichs I. In: A. Wieczorek/P. Périn/K. V. Welck/W. Menghin (Hrsg.), Die Franken – Wegbereiter Europas. Ausstellungskat. Mannheim (Mannheim, Mainz 1996) 173–182 Abb. 121–133 mit weiterer Lit. – U. Koch/K. V. Welck/A. Wieczorek, Das Grab des Frankenkönigs Childerich I. In: Ebd. 879 f. – D. Quast, Das Grab des fränkischen Königs Childerich in Tournai und die Anastasis Childerici von Jean-Jaques Chifflet aus dem Jahre 1655. Monogr. RGZM 129 (Mainz 2015). 56 Timm Weski Abb. 1 Kinding-Enkering, Lkr. Eichstätt, Mauergarten Grab 6. 2 Sindelsdorf, Lkr. Weilheim-Schongau Grab 43. 3 Neuburg a. d. Donau, Lkr Neuburg-Schrobenhausen Grab 113. Quelle: Gairhos 2010 (Anm. 8) Taf. 42, 4. Menke 2013 (Anm. 9) Taf. 14, 1, Röntgenbild: Arch. Staatslg. München. Höke 2013 (Anm. 2) Taf. 35,1. spielt, obwohl ein Großteil der Funde verschollen ist. Doch existieren inzwischen nicht andere, zeitsparende Möglichkeiten der Fundvorlage? Das alte Argument der höheren Druckkosten für Fotografien gegenüber Strichzeichnungen ist durch die moderne Drucktechnik und digitale Veröffentlichungsmöglichkeiten nicht mehr stichhaltig. Weiterhin wird oft noch angeführt, dass nur mit Zeichnungen exakte Maße für den Vergleich mit anderen Objekten abgenommen werden könnten. Doch gilt dies für alle Fundgruppen? Der Sax aus Enkering „Mauergarten“ Grab 6 wurde dem Restaurierungsstandard der Auffindungszeit entsprechend bis auf den Eisenkern abgearbeitet (Abb. 1,1), d. h. die ursprüngliche Oberfläche ist nicht mehr vorhanden8. 8 A. Gairhos, Späte Merowingerzeit im Ingolstädter Raum. Beitr. Gesch. Ingolstadt 6 (Ingolstadt 2010) Taf. 42,4. Abgefieselt und ausgelutscht 57 Abb. 2 Germering, Lkr. Fürstenfeldbruck Grab 129. Dreiteilige Gürtelgarnitur. Quelle: I. Wiesner, Bayer. Landesamt für Denkmalpflege. Warum müssen bei solchen Funden noch die Abplatzungen und andere Schäden sorgfältig gezeichnet werden, die nichts mit dem ursprünglichen Aussehen zu tun haben? Welche Originalmaße kann man noch abnehmen? In anderen Fällen, z. B. Sindelsdorf Grab 43, wurden die Funde mit Kunstharz ergänzt9, sodass ihr Aussehen einem Idealbild entspricht (Abb. 1,2a). Wozu müssen Unterschiede in der Oberfläche oder beginnende Abplatzungen von Schollen dokumentiert werden? Im Röntgenbild sieht man, was tatsächlich vorhanden und was mehr oder weniger fantasievolle Ergänzung ist (Abb. 1,2b). Der Sax aus Neuburg Grab 113 wurde nur fotografiert und einige Schnitte gezeichnet (Abb. 1,3)10. Erlaubt diese Darstellung weniger Aussagen, als die anderen gezeigten Beispiele? Oft überdeckt die Korrosion die Tauschierungen von Eisenobjekten, wie bei der dreiteiligen Gürtelgarnitur aus Germering Grab 129. Das Verzierungsmuster kann man auf dem Röntgenbild sehr deutlich sehen (Abb. 2). Wozu muss man dieses Röntgenbild noch umzeichnen bzw. die Oberflächen der Funde ganz freilegen und anschließend zeichnen? Einige Wissenschaftler H. u. M. Menke, Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Sindolvesdorf/Sindelsdorf, Lkr. Weilheim-Schongau. Materialh. Bayer. Vorgesch. 99 (Kallmünz/Opf. 2013) Taf. 14,1. 10 Höke 2013 (Anm. 2) Taf. 35,1. 9 58 Timm Weski Abb. 3 Moosining, Lkr. Erding Grab 101. Vielteilige Gürtelgarnitur. Quelle: T. Weski, Bayer. Landesamt für Denkmalpflege. nutzen schon seit einigen Jahren Scanner zur Aufnahme von Perlen. Doch diese Möglichkeit lässt sich auch für einige andere Fundgruppen nutzen, wie die nicht weiter bearbeiteten Scans einer vielteiligen Gürtelgarnitur aus Moosinning Grab 101 bereits zeigen (Abb. 3). Auch schon früher kamen bei Strichzeichnungen nachgearbeitete Fotokopien zum Zuge, wie bei der vielteiligen Gürtelgarnitur aus Bruckmühl Grab 34, ohne dass dies im Druck zu bemerken wäre11. Nur wenn man die Schnalle in der Druckvorlage genau ansieht, erkennt man am Schatten, dass eine Kopie in die Zeichnung hineingeklebt wurde (Abb. 4). Dem erwähnten hohen antiquarischen Forschungsstand stehen teilweise oberflächliche Ausführungen zu anderen Themen gegenüber, deren methodische Schwächen aber kaum diskutiert werden. Bei manchen Arbeiten hat man den Eindruck, als ob es sich um einen ausgekippten Zettelkasten handelte, bei dem Themen, über die der Autor vielleicht mal ein Referat gehalten hat, aufgegriffen werden, ohne dass etwas Neues gesagt oder zum Verständnis der Fundvorlage beitragen würde. So wird beispielsweise in einer Publikation der Funktion und Kampfweise des Saxes nachgegangen12. 11 G. Suhr/H. Fehr, Goldohrring und Bajuwarenschwert: Bruckmühl am Ende der Merowingerzeit (Bruckmühl 2007) Taf. 14,4. – H. Fehr u. a., Das jüngermerowingerzeitliche Gräberfeld von Bruckmühl, Lkr. Rosenheim. Ber. Bayer. Bodendenkmalpfl. in Vorbereitung. 12 A. M. Groove, Das alamannische Gräberfeld von Munzingen/Stadt Freiburg. Materialh. Arch. Baden-Württemberg 54 (Stuttgart 2001) 74 f. Abgefieselt und ausgelutscht 59 Abb. 4 Bruckmühl, Lkr. Rosenheim Grab 34. a zeichnerische Vorlage. b nachgearbeitete Photokopie. c publizierte Zeichnung. Quelle: H. Stölzl, Bayer. Landesamt für Denkmalpflege. Suhr 2007 (Anm. 11) Taf. 14, 4. In der gleichen Arbeit wird die Spatha an einer anderen Stelle ganz kurz abgehandelt13, während vergleichbare Kapitel zu Lanze und Schild fehlen. Zu beiden Hiebwaffen werden die Einzelmeinungen wiedergeben, ohne diese kritisch zu hinterfragen, etwa ob die Schlüsse auf umfangreichen Überlegungen beruhen oder es sich nur um Vermutungen handelt. Auch wird nicht diskutiert, ob die Handhabung eines Breitsaxes mit langer Griffangel sich mit der eines Schmal- oder Langsaxes vergleichen lässt, da diese vermutlich innerhalb der Kampfverbände ganz unterschiedlich eingesetzt wurden. Außer Acht gelassen wurde auch, dass die Zuordnung zur gleichen Fundgruppe „Sax“ eine rein archäologische ist, die sich nur an der einschneidigen Klinge orientiert, aber alle anderen Merkmale unberücksichtigt lässt. Die Frage nach der Kampfweise ist mehr als berechtigt, jedoch kann sie sich nicht nur auf eine Waffenart beschränken, sondern muss alle Kampfgeräte einbeziehen. Im vorliegenden Fall hätte auch ein Satz wie „Die 13 Ebd. 124. 60 Timm Weski Abb. 5 Pfakofen, Lkr. Regensburg, Grab 251. Rechter Unterarm mit Scheingelenk. Quelle: Staskiewicz 2004 (Anm. 14) Abb. 3. Handhabung des Saxes wird kontrovers diskutiert“ mit entsprechenden Literaturhinweisen gereicht. Es ist bereits seit Jahrzehnten üblich, die Skelette anthropologisch zu bestimmen, doch meistens stehen diese Untersuchungen alleine und Verbindungen zur Archäologie werden nur selten hergestellt. Der Bruch des rechten Unterarms des Verstorbenen aus Pfakofen Grab 251 war nicht richtig verheilt, sodass sich ein Scheingelenk bildete (Abb. 5)14. Mit dieser Verletzung konnte er den im Grab beigegebenen Sax, den er nach seiner Lage im Grab in der rechten Hand hielt, im Kampf sicherlich nicht mehr als vollwertiger Kämpfer führen. Solche Beobachtungen, in denen Personen als Krieger mit Waffen beigesetzt werden, die sie aufgrund ihrer Verletzungen oder Degenerationserscheinungen nicht mehr richtig gebrauchen konnten, werden immer wieder gemacht, aber in der Diskussion über die Rolle und den Zweck von Gegenständen im Grab findet dieser Umstand keinen nennenswerten Niederschlag. Auf vielen Gräberfeldern liegt die Hauptsterblichkeit bei Frauen im früh- bis mitteladulten Alter, während die Männer ein höheres Lebensalter erreichen (Abb. 6)15. Darauf wird zwar immer wieder hingewiesen, doch warum werden nie Fragen nach den Konsequenzen daraus 14 A. Staskiewicz, Anthropologische (makroskopisch-morphologische) Untersuchungen der Skelette aus dem bajuwarischen Reihengräberfeld in Pfakofen, Lkr. Regensburg – ein Vorbericht. Beitr. Arch. Oberpfalz u. Regensburg 6, 2004, 251–260. – Lohwasser 2013 (Anm. 3) 230 Taf. 13,6. 15 Z. B. D. Lehmann, Anthropologie und Paläographie. In: U. v. Freeden/D. Lehmann, Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Peigen, Gem. Pilsting, Lkr. Dingolfing-Landau. Schriftenr. Niederbayer. Archmus. Landau 2 (Landau a. d. Isar 2005) Abb. 189. Abgefieselt und ausgelutscht 61 Abb. 6 Pilsting-Peigen, Lkr. Dingolfing-Landau. Sterbekurve. Quelle: Lehmann 2005 (Anm. 15) Abb. 189. aufgeworfen? Zum einen fehlt eine zeitliche Differenzierung der Sterbekurven, die Hinweise auf eine Verbesserung oder Verschlechterung der hygienischen und gesundheitlichen Bedingungen während der Belegungszeit geben könnte, wie abweichende Sterbekurven von anderen Bestattungsplätzen nahelegen. Oder bestand ein Frauenüberschuss, der es Witwern erlaubt hätte schnell wieder zu heiraten – die berühmte Stiefmutter aus Grimms Märchen? Falls nein, wer übernahm die Versorgung der kleineren Kinder? Kann man überhaupt mit einer Familienstruktur „Großeltern – Eltern – Kinder“ rechnen oder waren andere Modelle die Regel, wie etwa Bigamie, von der christliche Quellen, wie die Briefe des Bonifatius, berichten16? Die Aussage, dass auch Diakone (diacones) mit mehreren Konkubinen (concubinae) verkehrten, scheint dafür zu sprechen, dass Polygamie sich nicht auf den Hochadel beschränkt hat17. Zur Beantwortung solcher Fragen 16 G. Krutzler, Kult und Tabu. Wahrnehmung der Germania bei Bonifatius. Anthropologie des Mittelalters 2 (Wien 2011) 315–397 mit weit. Lit. 17 M. Tangl (Hrsg.), Die Briefe des heiligen Bonifatius und Lullus. Epistulae selectae in usum scholarum ex monumentis germaniae historicis. Separatim editae (Berlin 1916) Brief Nr. 50; 82. – S. a. ebd. Brief Nr. 51 (Antwort von Papst Zacharias) 87. 62 Timm Weski reichen zugegebenermaßen unsere archäologischen Quellen nur bedingt aus, so dass Ethnologie und Volkskunde mit einbezogen werden müssen. In den letzten Jahren hat sich die Forschung verstärkt der Frage des antiken Grabraubs zugewandt. In diesem Zusammenhang wird die durchaus berechtigte Frage nach möglicherweise geraubten Gegenständen gestellt, wie beispielsweise in der Zusammenstellung für fehlende Waffen in Lanzengräbern18. Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass zu einer Lanze regelhaft eine Langwaffe und ein Schild sowie ein Gürtel im Grab mitgegeben wurden. Diese Annahme wird aber schon durch das unberaubte, in der Tabelle nicht aufgeführte Grab 260 in Frage gestellt, da in diesem nur eine Spatha lag19. Zusätzlich geht aus einer anderen dort zitierten Auflistung hervor20, dass auch in un- oder wenig beraubten Gräberfeldern nie alle Gräber mit einem Sax auch eine Lanze und einen Schild enthielten 21. Dies zeigt außerdem eine vorläufige Auswertung der Waffenkombinationen aus Erding-Altenerding (Abb. 7)22. In diesem Bestattungsplatz stellen Gräber, in denen sich sog. Vollbewaffnung befand, die absolute Ausnahme dar. Selbst wenn man die regionalen Unterschiede zwischen dem Raum der Münchener Schotterebene und dem Donaugebiet, in dem die Sitte der Waffenbeigabe weiter verbreitet war23, berücksichtigt, ist doch das willkürliche Postulieren geraubter Beigaben ohne eindeutige archäologische Hinweise, wie einzelne Bestandteile des Spathagurtes, Fragmente von Schildbeschlägen usw., methodisch fragwürdig. Eine ähnliche Beweisführung in einem anderen Zusammenhang, z. B. bei der Typenansprache einer Fibel, hätte vermutlich sofort den Protest der erwähnten Kette aus Doktorvater, Zweitgutachter und Herausgeber/Redakteur hervorgerufen. 18 19 20 21 Lohwasser 2013 (Anm. 3) 73 Tab. 9. Ebd. 72. Ebd. Anm. 236. A. Rettner, Baiuaria romana. Neues zu den Anfängen Bayerns aus archäologischer und namenskundlicher Sicht. In: G. Graenert/R. Marti/A. Motschi/R. Windler (Hrsg.), Hüben und Drüben – Räume und Grenzen in der Archäologie des Frühmittelalters [Festschr. M. Martin]. Arch. u. Mus. 48 (Liestal 2004) 279–281 Anhang 1. 22 W. Sage, Das Reihengräberfeld von Altenerding in Oberbayern 1. Germ. Denkmäler Völkerwanderungszeit A 14 (Berlin 1984). 23 D. Gutsmiedl-Schümann, Social differences between Bavarian borderland and Bavarian mainland in Merovingian times: a case study. Vortrag in der Session „The end of Empire: the archaeology of borderlands in the early Medieval Period”. 15th Annual Meeting of the European Association of Archaeologists 2009, Riva del Garda. Abgefieselt und ausgelutscht Alter infans infans I II juvenil adult matur 63 senil unbe. Summe Sax 2 1 5 18 11 3 3 43 Pf(eil) 6 7 15 13 6 8 7 62 Pf Sax 2 14 3 1 3 23 L Pf 1 1 L Pf Sax 1 2 1 Pf Schi Axt L 1 1 1 1 1 1 1 Sax L Sax Sp 1 1 2 L Sp 3 Pf Sp 1 Schi Sp 2 L Sax Sp 2 1 3 L Schi Sp 1 1 2 L Schi Pf 1 1 2 1 Sax Schi Sp 1 1 Pf Sax Sp 1 1 L Sax Schi Sp 1 1 L Pf Sax Sp 2 L Pf Schi Sp 1 1 59 26 Summe 8 8 24 2 2 16 13 154 Abb. 7 Erding-Altenerding, Lkr. Erding,. Lebensalter und Waffenkombinationen. Hellgrau unterlegt: sogn. Vollbewaffnung. Entwurf: T. Weski. Die Einteilung des Fundmaterials in verschiedene Ausstattungsgruppen, um Aussagen zur Sozialstruktur machen zu können, ist zweifelsohne ein großer Wurf, der trotz immer wieder geäußerter Kritik erst nach vierzig Jahren zumindest in Teilen eine Revision erfuhr24. Auch in diesem Schema 24 R. Christlein, Besitzabstufungen zur Merowingerzeit im Spiegel reicher Grabfunde aus West- und Süddeutschland. Jahrb. RGZM 20, 1973, 147–180. – C. Döhrer, Komplexe Identitäten. Studien zur Gesellschaft des frühen Mittelalters in Südwestdeutschland. Eine weitergehende Analyse zu Christleins Qualitätsgruppen A und B. Diss. Univ. Wien 2011. Onlinepublikation: http://othes.univie.ac.at/17316/1/2011-08-01_0748574. pdf (letzter Zugriff 19.10.2015). 64 Timm Weski macht sich die antiquarische Betrachtungsweise bemerkbar. Pfeile werden nur der untersten Ausstattungsstufe zugeordnet, ohne dass auf die häufige Altersbezogenheit der Pfeilbeigabe hingewiesen wird, die zu Verzerrungen führen kann. Ferner wird die Frage, ob es sich bei sehr kleinen Kindern nicht eher um einen Lanzenersatz handelt, sofern die Pfeilspitze neben dem Kopf liegt, nicht berücksichtigt. Zwar ist der Materialwert einer Pfeilspitze nicht sehr groß, aber sie muss, um eine gleichmäßige Flugbahn einzuhalten, genau geschmiedet werden. Zusätzlich müssen die Pfeilschäfte aus ausgewählten Hölzern gefertigt werden, damit sie sich nicht verziehen. Gleiches gilt auch für den Bogen. Sollte es sich sogar um einen Kompositbogen gehandelt haben, wie er aus reiternomadischen Gräbern bekannt ist25, so hätte er einen beträchtlichen Wert besessen, da neben entsprechend hochwertigen Materialien auch die Herstellungszeit berücksichtigt werden muss, d. h. der tatsächlich „Wert“ einer Pfeilbeigabe wäre sehr viel höher anzusiedeln. Ähnliche Überlegungen, die zu einer Umbewertung führen könnten, ließen sich auch bei anderen Fundgattungen anstellen, z. B. hinsichtlich des Unterschied zwischen einfachen und komplizierten Tauschierungen. Im Gräberfeld von Marktoberdorf, das eine wesentliche Grundlage zur Entwicklung der Qualitätsgruppen bildete, konnten an verschiedenen Metallbeigaben organische Überreste nachgewiesen werden 26. Zusätzlich wies der Bearbeiter der Textilien auf seltene Gewebearten wie Rippenköper 25 Z. B. U. Brosseder/B. K. Miller, Reiterkrieger der Xiongnu. In: J. Bemmann (Hrsg.) Steppenkrieger. Reiternomaden des 7.–14. Jahrhunderts aus der Mongolei. Ausstellungskat. Bonn, Amsterdam, Manching 2012–2013. Schr. Kelten-Römer-Mus. Manching 5 (Bonn 2012) 121 f. – H. Riesch/J. Rutschke/U. Stehli, Nachgebaut und Ausprobiert. Rekonstruktionen des Reflexbogens, der Pfeile und des Köchers aus den Žargalant Charjrachan Bergen, Chovd ajmag, Mongolei. In: Ebd. 181–197, bes. 184–189. 26 H.-J. Hundt, Die Textilien aus den Gräbern. In: R. Christlein, Das alamannische Reihengräberfeld von Marktoberdorf im Allgäu. Materialh. Bayer. Vorgesch. 21 (Kallmünz/Opf. 1966) 93–102 Taf. 90–101. – Neuere Literatur zum Rippenköper: J. Banck-Burgess, Ein alamannischer Kleiderstoff. In: L. Bender Jørgensen/J. BanckBurgess/A. Rast-Eicher (Hrsg.), Textilien aus Archäologie und Geschichte [Festschr. K. Tidow] (Neumünster 2003) 125–129. – A. Rast-Eicher, Römische und frühmittelalterliche Gewebebindungen. In: R. Windler/M. Fuchs (Hrsg.), De l’Antiquité Tardive au Haut Moyen Age (300–800). Kontinuität und Neubeginn. Antiqua 35 (Basel 2002) 115–124. – A. Rast-Eicher, Textilfunde. In: A. Burzler/M. Höheisen/J. Leicht/B. Ruckstuhl, Das frühmittelalterliche Schleitheim – Siedlung, Gräberfeld und Kirche. Schaffhauser Arch. 5 (Schaffhausen 2002) 211–227. – A. Rast-Eicher/A. Burzler, Beobachtungen zur Tracht und Kleidung. In: Ebd. 372–298, bes. 383f. Abgefieselt und ausgelutscht 65 oder einen handeingezogenen Musterschuss hin 27. In der Publikation werden ausführlich einzelne Gräber den Qualitätsgruppen zugeordnet und die Definition der Gruppen diskutiert, allerdings bleiben dabei die Textilien trotz des genannten Hinweises auf Besonderheiten völlig unberücksichtigt. Obwohl die Textilarchäologie in den letzten Jahren einen erheblichen Aufschwung genommen hat, konnte man noch kürzlich bei Gesprächen hören, dass Gräber, in denen sich mit Goldfäden durchwirkte Gewänder befanden, nicht zur gehobenen Ausstattung gerechnet werden könnten, da sie in dem Qualitätsstufenschema fehlten. Auch in der erwähnten Revision der Qualitätsgruppen wird in der Einleitung zwar die Bedeutung von Textilien erkannt, doch in die weitere Argumentation nicht mit einbezogen 28. Der Hinweis auf die Schwierigkeiten einer statistischen Aufnahme kann nur teilweise nachvollzogen werden. Selbst bei einer nur listenmäßigen Beschreibung der Textilien, wie z. B. in Sindelsdorf29, lässt sich ohne Schwierigkeiten zwischen Leinwandbindung, einfachem Köper und Sondergeweben als Qualitätsmerkmal unterscheiden. Ein weiteres Kriterium wäre die Dichte des Gewebes, die ebenfalls angegeben ist und sich in Gruppen unterteilen lässt. Die Frage, inwieweit die Arbeitszeit für die Herstellung eines Produktes ein Kriterium für dessen Wert darstellt, ist in einer vorindustriellen Gesellschaft nicht einfach zu beantworten, besonders wenn es sich um im sog. Hausfleiß hergestellte Gegenstände zum Eigenbedarf handelt. Dies betrifft auch Textilien. Kleidung wie ein Umhang soll den Träger gegen Kälte, Regen und andere Witterungsunbilligkeiten schützen. Zusätzlich kann er noch weitere Funktionen wie die einer Decke besitzen. Zu diesem Zweck reicht eine einfache Gewebebindung von entsprechender Dichte. Wird nun aber eine besondere Webtechnik verwendet, wie der Diamantköper aus Zorneding Grab 18 (Abb. 8)30, dessen Herstellung auf einem modernen Trittwebstuhl doppelt so lange dauert wie bei einer Leinwandbindung31, 27 28 29 30 Hundt 1966 (Anm. 26) 98 Abb. 28 Taf. 104; 101 Abb. 27 Taf. 92,2. Döhrer 2011 (Anm. 24) 39. Menke 2013 (Anm. 13) 98 f. N. Schneider, Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Zorneding, Lkr. Ebersberg. Masterarbeit Univ. München 2014. 31 Geschätzter Aufwand Diamantköper: Aufketten des Webstuhls: 1 Tag. Weben einer Fläche von 90 x 90 cm mit einfacher Spule: 2 Tage. Weben einer gleichgroßen Fläche mit Schiffchen: 1,5–2 Tage. Geschätzter Aufwand Leinwandbindung: Aufketten des 66 Timm Weski Abb. 8 Zorneding, Lkr. Ebersberg, Grab 18. Diamantköper. Quelle: O. Emgrund. Bayer. Landesamt für Denkmalpflege. kann diesem Stoff ein höherer Wert zugerechnet werden, da der Weber während der Herstellung des Textils an anderen Haus- oder Feldarbeiten nicht teilnehmen konnte. Hinzu kommt noch das Färben des Garns, da ein einfarbiger Diamantköper kaum sichtbar ist (Abb. 9). Deshalb stellen Textilien einen wichtigen Indikator für die soziale Stellung des Verstorbenen dar, wie in einigen jüngeren Publikationen zumindest ansatzweise bereits berücksichtig wurde32. Zusätzlich wurde auch schon herausgearbeitet, dass in reich ausgestatteten Beisetzungen gelegentlich nur einfache Gewebetypen anzutreffen sind, während in anderen Fällen in Gräbern mit einer eher durchschnittlichen Ausstattung aufwändig gefertigte Textilien angetroffen wurden33. Bei Ausstellungen oder Führungen wird immer wieder die Frage nach Rekonstruktionen von Kleidung usw. gestellt. Sucht man in der Literatur nach Antworten, so offenbart sich ein erschreckendes Defizit. Obwohl bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert die Vorgehensweise demonstriert wurde, wie sich solche Fragen anhand der Lage im Grab klären lassen Webstuhls: 0,5 Tage. Weben einer Fläche von 90 x 90 cm mit einfacher Spule: 1 Tag. Weben der gleichen Fläche mit Schiffchen: 0,75–1 Tag. Mitteilung S. Kilb M. A., Fischer- und Webermuseum Steinhude, E-Mail v. 11.09.2014. 32 Z. B. D. Beilharz, Das frühmerowingerzeitliche Gräberfeld von Horb-Altheim. Forsch. u. Ber. Vor- u. Frühgesch. Baden-Württemberg 121 (Stuttgart 2011) 90. 33 S. Walter, Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Mengen (Kr. BreisgauHochschwarzwald). Materialh. Arch. Baden-Württemberg 82 (Stuttgart 2008) 196–198; 209 f. Abgefieselt und ausgelutscht 67 Abb. 9 Moderner, auf Trittwebstuhl gewebter Diamantköper. Quelle: S. Kilb, Fischerund Webermuseum Steinhude. können34,ist erstaunlicherweise diese Auswertungsmethode trotzdem noch längst nicht Proseminarwissen. Eine von vielen offenen Fragen betrifft die Trageweise und Verwendung von Schnallen, Riemenzungen und anderen Beschlägen, die am Knie oder an den Füßen gefunden werden. Diese Fundgattung wurde in einer umfangreichen Dissertation bearbeitet und im Inhaltsverzeichnis wird immer wieder auf die Trageweise verwiesen35. Etwas seltsam mutet allerdings an, dass dieses Thema nach Herstellungstechniken der Beschläge, also nach Pressblechriemenzungen, unverzierten Beingarnituren oder Kerbschnittgarnituren getrennt vorgestellt wird, ohne dass ersichtlich wird, ob ein Zusammenhang zwischen Technik und Trageweise besteht. Die einzelnen Kapitel dazu sind sehr allgemein und liefern keine konkreten Hinweise. Deshalb wird in der Literatur immer wieder auf einen Aufsatz zum gleichen Thema zurückgegriffen36. Ein kurzer Blick auf die Beispiele für bestimmte Varianten zeigt, dass sich diese nur bedingt aus dem Befund ableiten lassen. So weist fast jeder Bearbeiter auf Widersprüche hin, aber kaum jemand hat bisher versucht, die Trageweise von Schuh34 E. Vogt, Interpretation und museale Auswertung alamannischer Grabfunde. Zeitschr. Schweiz. Arch. u. Kunstgesch. 20, 1960, 70–90. 35 D. Reimann, Untersuchungen zur merowingerzeitlichen Beintracht. Diss. Univ. Freiburg 1982. 36 G. Clauss, Strumpfbänder: Ein Beitrag zur Frauentracht des 6. und 7. Jahrhunderts n. Chr. Jahrb. RGZM 23/24,3 [Festschr. Hundt], 1976/77 (1982) 54–88. 68 Timm Weski Abb. 10 München-Aubing. Grab 608. Ausschnitt aus Originalzeichnung mit Angaben über die Orientierung der Beschläge und Schnallen. Quelle: Grabungsdokumentation, Arch. Staatsslg. und Wadenbindengarnituren auf Grund des Grabungsbefundes seines Gräberfelds zu rekonstruieren37. Als Beispiel für die Rekonstruktion auf der Grundlage eines konkreten Befundes kann die Spathaaufhängung aus Germering Grab 101 gelten38. Auf der Rückseite des Pyramidenknopfes waren noch zwei sich kreuzende 37 Ausnahmen: S. Moeslein, Ein einzigartiger Goldtextil-Befund der späten Merowingerzeit aus Straubing-Alburg (Niederbayern) – Vorbericht. Ber. Bayer. Bodendenkmalpfl. 43/44, 2002/03, 253–259. – A. Bartel, Die Goldbänder aus Straubing-Alburg. Untersuchungen einer Beinkleidung aus dem frühen Mittelalter. Ber. Bayer. Bodendenkmalpfl. 43/44, 2002/03, 261–272. 38 Bisher nur unzureichend in Vor- und Tätigkeitsberichten publiziert: V. Dröber/B. Nowak-Böck/I. Wiesner, Von der Ausgrabung zur Auswertung: Restaurierung frühmittelalterlicher Grabinventare aus Germering. Arch. Jahr Bayern 2007, 99–101. – Dies., Von der Ausgrabung zur Auswertung – Erkenntnisse aus dem Restaurierungsprojekt Germering. Jahrb. Bayer. Denkmalpfl. 60/61, 2006/07, 206–208. Abgefieselt und ausgelutscht 69 Abb. 11 Arbeitsmodell einer vielteiligen Gürtelgarnitur aus Küchentüchern (Lederteile), Stecknadeln, Briefumschlagklammern (Niete) und Umrißzeichnungen (Beschläge und Schnalle). Modell: Britt Nowak-Böck, Bayer. Landesamt für Denkmalpflege. Lederstreifen zu erkennen, während unter dem Diagonalbeschlag ein Lederstreifen durchlief und der andere dort endete, d. h., der zweite Riemen zweigte dort ab. Auf der Grabung war die Lage der Beschläge und Schnallen einschließlich der Position der Oberseite vermerkt worden. Mittels eines kleinen Funktionsmodells und der Lage der Metallteile konnte nun die Art, wie der Spathagurt um die Waffe im Grab gewickelt worden war, nachvollzogen werden, und daraus ließ sich die Tragweise an einem Schultergurt mit Schleppriemen rekonstruieren. Eine Durchsicht älterer Grabungsdokumentationen ergab, dass bereits vor 50 Jahren die Lage von Schnallen und Beschlägen sehr genau festgehalten wurde, wie bei München-Aubing Grab 608 (Abb. 10)39. Auch der Bau eines Funktionsmodells liegt innerhalb der zu erwartenden Fähigkeiten eines Doktoranden (Abb. 11). Schließlich wird auch erwartet, dass selbst komplizierte Funde gezeichnet werden. Die Einbeziehung des Befundes wirft aber auch neue Fragen auf, die bislang nicht beachtet wurden. Beispielsweise befand sich in Greding-Großhöbing Grab 138 der Armring unter dem Stulpen des Handschuhs, war also für einen Fremden nicht sichtbar, und in Greding-Großhöbing Grab 160 war die Zierscheibe und eine Riemenzunge, zumindest im Grabzusammenhang, 39 H. Dannheimer, Das baiuwarische Reihengräberfeld von Aubing, Stadt München. Veröff. Prähist. Staatsslg. 1 (Stuttgart 1988). 70 Timm Weski Abb. 12 Pleidelsheim, Lkr. Ludwigsburg. Grab 177. Grabungsbefund und Rekonstruktion. Quelle: Martin 1997 (Anm. 43) Abb. 388. in einem Futteral verborgen40. Gleiches gilt auch für Fibeln aus MünchenPerlach Grab 18 oder Aschheim Grab 166/167 41. In der archäologischen Forschung nehmen die metallenen Bestandteile der Kleidung einen breiten Raum ein. Dabei wird übersehen, dass vermutlich diese Gegenstände früher gar nicht so sehr wahrgenommen wurden, sondern eher die Farbe und vielleicht auch der Schnitt der Kleidung. Doch wo sind die wissenschaftlichen Publikationen zur ursprünglichen Farblichkeit, z. B. zu der musealen Rekonstruktion des Grabes KipfenbergKemathen42? Warum wird darüber nicht diskutiert, sondern höchsten hinter 40 A. Bartel/C. Ebhart-Beinhorn, Beobachtungen zur Tragweise merowingerzeitlicher Zierscheibengehänge. Beitr. Arch. Mittelfranken 6, 2001, 179–204, bes. 197–204. – A. Bartel, Organische Reste aus dem merowingerzeitlichen Frauengrab 160 von Greding-Großhöbing. Beitr. Arch. Mittelfranken 8, 2008, 49–60. – Ch. Peek, Beobachtungen an organischen Resten der Strumpfbandgarnitur aus Grab 160 von GredingGroßhöbing, Lkr. Roth. Beitr. Arch. Mittelfranken 8, 2008, 61–68. 41 A. Bartel, Schutzverpackung oder Zier? Schutzvorrichtungen an metallenen Trachtbestandteilen und Beigaben. Beobachtungen – Befunde – Rekonstruktionen. In: Bender Jørgensen/Banck-Burgess/Rast-Eicher 2003 (Anm. 26) 132–141. 42 B. Steidl, Zeitgenosse der Nibelungen – Der Krieger von Kemathen. In: Gesellschaft für Archäologie in Bayern e. V. in Verbindung mit dem Bayerischen Landesamt für Abgefieselt und ausgelutscht 71 Abb. 13 1 Erding-Altenerding, Lkr. Erding Grab 607. Grabungsbefund und Rekonstruktion. 2 Basel-Kleinhüningen, Kanton Basel-Stadt, Grab 1226. Grabungsbefund und Rekonstruktion. Quelle: Martin 1997 (Anm. 44) Abb. 24; 25. vorgehaltener Hand gelästert? Aber auch schon die Rekonstruktion der Kleidung ohne die Farben wirft viele Fragen auf. Warum hängen Schere und Messer der Rekonstruktion von Pleidelsheim Grab 177 am Gürtel (Abb. 12)43? Im Grab lagen sie unter den Füßen bzw. bei der Speisebeigabe. Hingen sie offen, steckte das Messer in einer Scheide oder befanden sich vielleicht beide in einer Tasche? Ist ein langärmliches Untergewand oder die Länge des Umhangs archäologisch nachgewiesen? War der Umhang wirklich in der Mitte geschlossen oder nicht vielleicht doch auf der Seite, wie die Lage der Scheibenfibel andeutet? Bei den beiden Rekonstruktionen der Kleidung aus Erding-Altenerding Grab 607 und Basel-Kleinhüningen Grab 1226 tragen die Frauen kurze Mäntel (Abb. 13)44. Bei der Dame aus Erding-Altenerding ist ein Untergewand zu erkennen, das bei der aus BaselKleinhüningen fehlt. Reine Fantasie oder gibt es dafür Hinweise? War das Kleid der Verstorbenen aus Erding-Altenerding tatsächlich so lang, dass die Schnallen der Wadenbindengarnitur im Stehen nicht zu sehen waren? Warum tragen beide Mützen? Auf der Grabzeichnung aus Erding-Altenerding liegen die beiden Fibeln mit der Kopfplatte gegenüber, auf der Rekonstruktion sind beide mit der Platte nach unten – warum? Bei der Frau aus Denkmalpflege (Hrsg.), Archäologie in Bayern. Fenster zur Vergangenheit. Zusammengest. v. C. S. Sommer (Regensburg 2006) 234 Abb. 17. 43 M. Martin, Kleider machen Leute. Tracht und Bewaffnung in fränkischer Zeit. In: Die Alamannen. Ausstellungskat. Stuttgart (Stuttgart 1997) 349–358, hier Abb. 388. 44 M. Martin, Gürtel, Schärpe und Fibelpaar. In: Gesellschaft für Archäologie in Bayern 2006 (Anm. 42) 255 Abb. 24–25. 72 Timm Weski Abb. 14 Kleinlangheim, Lkr. Kitzingen. Grab 37. Grabungsbefund und Rekonstruktion. Quelle: Pescheck 1993 (Anm. 45) Taf. 79 A; E. Basel-Kleinhüningen wird der Gürtel von zwei Fibeln geschlossen. Warum dienten sie nicht als Verschluss eines vorne offenen Kleides oder Kaftans? Hingen Tasche, Amulett und Zierscheibe in Kleinlangheim Grab 37 wirklich jeweils an einem eigenen Riemen (Abb. 14)45? Warum ist die Scheibenfibel, die im Grab noch oberhalb der Bügelfibel lag, reiner Zierrat? Warum wurde die Schwertaufhängung bei dem Idealbild eines bajuwarischen Kriegers so rekonstruiert, dass der Schleppriemen eigentlich keinen Sinn ergibt (Abb. 15)46? Eine Dame soll die Idealrekonstruktion einer Bajuwarin darstellen (Abb. 16)47. Ist die Tragweise ihrer Scheibenfibel, die durch beide Stoffe gesteckt ist, durch den Befund gesichert? Warum befindet sich das Gehänge auf der rechten Körperseite und nicht auf der linken, wie es durch 45 Ch. Pescheck, Archäologiereport Kleinlangheim. Mainfränk. Stud. 53 (Würzburg 1993) Taf. 79 A; E. 46 K. Zeller, Tracht, Bewaffnung und Schmuck. In: H. Dannheimer/H. Dopsch (Hrsg.), Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488–788. Ausstellungskat. Rosenheim u. Mattsee (München, Salzburg 1988) 237–248, hier Abb. 167. 47 Ebd. Abb. 170. Abgefieselt und ausgelutscht Abb. 15 Idealrekonstruktion eines bajuwarischen Kriegers. Quelle: Zeller 1988 (Anm. 46) Abb. 167. 73 Abb. 16 Idealrekonstruktion einer bajuwarischen Dame. Quelle: Zeller 1988 (Anm. 46) Abb. 170. die Befundlage aus zahlreichen Gräbern belegt ist48? Trotz dieser offenen Fragen und idealtypischen Rekonstruktion wurde diese Darstellung auch in einer Publikation eines fränkischen Reihengräberfeldes und noch einmal in der eines alamannischen Bestattungsplatzes abgebildet49. Warum gelten für die Rekonstruktion der Kleidung und Bewaffnung nicht die gleichen wissenschaftlichen Maßstäbe wie beispielsweise für die Bestimmung von Fibeln? Warum ist das eine Wissenschaft, das andere nur museumsdidaktische Spielerei? Warum wird das Feld weitgehend der experimentellen Archäologie überlassen, die durch Auftritte bei Museumstagen usw. und in scheinbar wissenschaftlich fundierten Fernsehfilmen das Bild der damaligen Realität entscheidend in der breiten Öffentlichkeit prägt? 48 B. Dübner-Manthey, Gürtelgehänge als Träger von Kleingeräten, Amuletten und Anhängern symbolischer Bedeutung im Rahmen der frühmittelalterlichen Frauentracht. Archäologische Untersuchungen zu einem charakteristischen Bestandteil der weiblichen Tracht. Diss. Freie Univ. Berlin 1985, 96–99. 49 Pescheck 1993 (Anm. 45) Taf. 78. 74 Timm Weski Obwohl, wie schon ausgeführt, auf vielen Gebieten der frühmittelalterlichen Archäologie ein sehr hoher Forschungsstand erreicht ist, besteht eine Art Minderwertigkeitsgefühl den eigenen Quellen gegenüber. So werden beispielsweise bildliche Darstellungen als Beleg herangezogen, ohne zu berücksichtigen, dass diese oft auf ältere Vorlagen zurückgehen und erst durch die Archäologie geklärt werden kann, welche Gegenstände realistisch wiedergegeben wurden50. Ähnlich sieht es mit archäologisch gut begründeten Aussagen zu verschiedenen Themen aus, z. B. zu unterschiedlich ausgestatteten Gräbern (= Sozialstrukturen), Bestattungsgruppen (= Familienverbänden), Verlagerungen von Siedlungsschwerpunkten, Fernhandelsbeziehungen oder Bewaffnung (= Kampfweise). Trotz belastbarer Forschungslage werden keine Anforderungen an Historiker gestellt, die schriftlichen Quellen auf der Basis dieser Ergebnisse neu zu interpretieren. Stattdessen wird seit über einem Jahrhundert noch immer versucht, die Fragen von Historikern zu beantworten, wie z. B. nach der Herkunft der Bajuwaren, wobei kein Historiker definieren kann, was ein Bajuware ist und wie er sich vom einen Alamannen oder Franken unterscheidet. Durch die traditionell starke Fixierung auf die antiquarische Auswertung, dem in Abwandlung des erwähnten mündlichen Zitats „hypertrophen Kleinfundfetischismus“, fallen viele Interpretationspotentiale von Reihengräbern unter den Tisch und führen zu einer Verarmung der Archäologie. Ich frage mich, in Anlehnung an die angry young men der englischen Literatur der 1950er Jahre, wo sind die angry young archaeologists, in deren Köpfen ein Feuerwerk brillanter Ideen schwirrt und die auch bereit sind, diese umzusetzen? Wenn dies nicht passiert, wird auch in Zukunft nur „Der alte Kack im neuen Frack“ produziert werden51. Zusammenfassung Die Vorlage von Reihengräberfeldern, meist im Rahmen von universitären Examensarbeiten, folgt seit Jahrzehnten dem gleichen Schema mit dem Schwerpunkt auf der antiquarischen Auswertung. Daher werden andere 50 T. Weski, Der Stuttgarter Psalter. (K)eine Quelle für die Archäologie des Frühmittelalters? Jahrb. RGZM (im Druck). 51 Prof. Dr. Ingeborg Weber-Kellermann (1918–1993), Institut für Europäische Ethnologie der Universität Marburg. Ständig vorgebrachte, abschließende Bemerkung, vom Munde wegzitiert. Abgefieselt und ausgelutscht 75 Fragestellungen, für die häufig schon seit langer Zeit die Grundlagen vorhanden sind, meist nur randlich behandelt. Oft stehen, wie z. B. bei anthropologischen Auswertungen, die Ergebnisse der verschiedenen Fachdisziplinen nur nebeneinander ohne gemeinsame archäologisch/historische Interpretation. Daher ist es dringend geboten, alle Aspekte, die ein Reihengräberfeld bietet, in die Bearbeitung einzubeziehen und auch bei scheinbaren Randthemen, wie beispielsweise der Rekonstruktion der Kleidung, die gleichen wissenschaftlichen Maßstäbe anzulegen. Summary The publication of Early Medieval cemeteries, often as part of a final university examination, is following the same pattern since decades. Usually the main stress lays on the antiquarian discussion of the artefacts. As a result, other topics are only mentioned marginally, though some of them like anthropological studies are already researched since years. In most cases, the results of the various disciplines are presented individually without a common archaeological/ historic discussion or analysis. Therefore, it is necessary to consider all aspects in the academic research of Early Medieval cemeteries. Further, the same academic standard has to be applied to all topics even to secondary issues like the reconstruction of garments. Dr. Timm Weski Mauerkircherstr. 26 81679 München KL911ae@MAIL.lrz-muenchen.de