Academia.eduAcademia.edu
Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation Soziolinguistische Reflexion des Maschinellen Übersetzens Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen 1 Einleitung1 Der Prozess des Übersetzens ändert sich derzeit grundlegend. Maschinelles Übersetzen / machine translation (MT) natürlichsprachlicher Sätze und Texte hat in den vergangenen Jahren insbesondere durch den Einsatz künstlicher Intelligenz enorme Dynamiken entfaltet. Für einen grossen Teil der Endanwender*innen in unserer Gesellschaft bedeutet dies eine starke Vereinfachung: Fremdsprachige Textelemente lassen sich dank Diensten wie google-Translate und DeepL schnell und kostengünstig in beachtlicher Qualität übersetzen. Insofern erscheint den meisten Menschen diese neue Form des Übersetzens als Ergebnis des technischen Fortschritts. Auf der anderen Seite wird rege diskutiert, was die Rolle menschlicher Übersetzung sein soll: Einerseits wird auf die qualitativen Mängel maschineller Übersetzung verwiesen und hervorgehoben, worin der Mehrwert menschlicher Übersetzungen liegt; andererseits wird argumentiert, dass Mensch und Maschine sich gegenseitig ergänzen und so zu effizienteren und besseren Übersetzungen kommen können. Diskussionen über das Übersetzen können als metasprachliche, also sprachreflexive, Diskurse angesehen werden, denn es werden Aussagen über sprachliches Handeln getroffen (Kapitel 2). Darüber hinaus kann das Übersetzen selber im Anschluss an Spitzmüller2 als Metapragmatik bezeichnet werden. Denn Übersetzen ist eine sprachliche Praxis, die die Sprachverwendung eines Ausgangstextes reflektiert und daraus neue Sprachhandlungen produziert, nämlich den übersetzten Text. Dieses metapragmatische Handeln konstruiert eine bestimmte Vorstellung von Sprache, z. B. dass ein Ausgangstext in einer Einzelsprache vorliegt und in eine andere Einzelsprache übersetzt werden kann. Das metapragmatische Handeln findet also in einem bestimmten Handlungsrahmen statt, in dem bestimmte Sprachideologien dominieren. Diese können aber sehr unterschiedlich ausfallen 1 Wir danken Andi Gredig, Larissa Schüller und Daniel Knuchel für hilfreiche Kommentare zum Text. Jürgen Spitzmüller: «‹Sprache› – ‹Metasprache› – ‹Metapragmatik›: Sprache und sprachliches Handeln als Gegenstand sozialer Reflexion», in: Handbuch Sprache im Urteil der Öffentlichkeit, hg. v. Gerd Antos, Thomas Niehr und Jürgen Spitzmüller, Berlin und Boston 2019, 11–30. 2 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation und es ist anzunehmen, dass menschliche Übersetzer*innen in einem anderen Handlungsrahmen agieren als z. B. Computerlinguist*innen, die ein maschinelles Übersetzungssystem trainieren. Im Folgenden möchten wir argumentieren, dass es lohnenswert ist, Übersetzen als metapragmatischen Diskurs aufzufassen und die zugrundeliegenden Sprachideologien freizulegen. Ein zweiter Aspekt betrifft die Wahrnehmung der sprachideologischen Veränderungen, die mit dem enormen technischen Wandel einhergehen (Kapitel 3). Denn so deutlich vernehmbar die Veränderung des Umgangs mit unterschiedlichen Sprachen im privaten und beruflichen Alltag ist, so wenig wahrnehmbar sind die Triebfedern hinter den digitalen Angeboten. Wir haben es mit dem paradoxen Fall einer sichtbaren und zugleich unsichtbaren Veränderung zu tun: Je mehr wir MT nutzen und als selbstverständlich annehmen, desto schneller verschwindet MT aus unserer Wahrnehmung. Ausgehend von dieser Beobachtung und Prognose möchten wir im Folgenden argumentieren, dass es dringend erforderlich ist, die digitale Transformation des Übersetzens linguistisch zu reflektieren (Kapitel 4). Die sprachideologischen Veränderungen hinter den Übersetzungsdiskursen in Kombination mit dem Paradox der Un- und Sichtbarkeit der Veränderung wirken sich dabei nicht nur auf die Konzeption von Übersetzen aus, sondern auf die humanistische Vorstellung von Mehrsprachigkeit ganz generell (Kapitel 5). 2 Metapragmatik Übersetzen ist eine sprachreflexive Tätigkeit par excellence: Bei der Übertragung von Ausdrücken einer Sprache in die andere muss eine – nach Silverstein3 – metasemantische Position eingenommen werden. Es wird Sprache verwendet, um die Bedeutung von Ausdrücken zu beschreiben: «Glossing speech events take language itself, in particular the semantics of language, as the referent, or object of description»4. Die Tätigkeit der Bedeutungsbeschreibung und dann Übertragung in eine andere Sprache ist für das Übersetzen zentral. Dafür gibt es verschiedene Hilfsmittel wie ein linguistisches Vokabular, um überhaupt über die Semantik eines Ausdrucks reden und sie erfassen zu können. Weiter gehört Wissen dazu, um Entsprechungen für den jeweiligen Ausdruck in einer anderen Sprache zu finden – ebenfalls verbunden mit translationswissenschaftlichen Konzepten, um «Entsprechung» überhaupt modellieren zu können. Wörterbücher, Translation Memories und andere Hilfsmittel sind Zeugen der metasemantischen Reflexion. Michael Silverstein: «Shifters, linguistic categories and cultural description», in: Meaning in Anthropology, hg. v. Keith H. Basso und Henry A. Selby, Albuquerque 1976, 16. 4 Ebd. 3 GiS 16/2019, 26–49 27 28 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen Neben dieser Reflexion über Semantik, verstanden als Referenzen von Ausdrücken auf Bedeutungen,5 muss aber eine weitere Reflexionsebene von Sprache angenommen werden, wie Spitzmüller postuliert.6 Spitzmüller bezieht sich dabei auf Silverstein, der mit «metapragmatics» die Reflexion über pragmatisch-indexikalische Zeichen meint. Während metasemantische Aussagen «dekontextualisierend [sind und] […] Aussagen über Zeichentypes (kontextabstrakte Regularitäten und Konzepte) am Beispiel konkreter Tokens [machen]»,7 umfasst die pragmatische Dimension kontextgebundene, sprachliche Handlungen generell, die «indexikalisch auf die beteiligten Akteure und deren Rollen, Beziehungsverhältnis etc. und mithin (‹präsupponierend› und/oder ‹kreativ›) direkt auf den Kontext referieren».8 Metapragmatische Funktionen sind der Sprache inhärent, was man z. B. an impliziten pragmatischen Verweisen sehen kann: Pronomen indizieren einerseits pragmatisch auf bestimmte Personen, die im Kontext des Textes gemeint sind. Metapragmatisch verweisen sie damit aber auch auf bestimmte Rollen dieser Personen und auf die Handlungsmodelle, nach denen sie sich richten. Ähnlich verweist der Ausdruck «Kanaksprach» auf eine bestimmte Varietät des Sprechens (pragmatisch), gleichzeitig metapragmatisch aber auch auf bestimmte typisierte Vorstellungen oder Ideologien derer, die diesen Ausdruck verwenden.9 Schliesslich muss eine weitere Metaebene (oder eine Ebene 2. Ordnung) angenommen werden, auf der solche metapragmatischen Funktionen thematisiert und reflektiert werden.10 So kann diskursiv verhandelt werden, ob die deutsche Sprache untergeht, weil «Anglizismen» zu Formen von «Denglisch» führen würden, oder dagegengehalten werden, dass solche Konzepte dem Gegenstand «Sprache» sowieso nicht gerecht würden und die Prognosen deshalb falsch seien.11 Diese Metaebene 2. Ordnung nennt Spitzmüller «metapragmatische Diskurse» und grenzt diese von den «metapragmatischen Funktionen» ab. Insgesamt subsumiert die neuere Forschung alle diese Formen sprachlicher Reflexivität, auch die Metasemantik, unter «Metapragmatik». Wichtig festzustellen ist nun zweierlei: 1) Metapragmatik ist notwendig, um überhaupt Kommunikation zu ermöglichen und «Sprache» fassbar zu machen: Dass wir ‹Einzelsprachen› voneinander abgrenzen und (etwa als Erstsprache, Zweitsprache oder ‹fachsprachlich› als L1, L2 usw.) zä hlen kö nnen […], dass wir Dialekte Ebd., 15. Spitzmüller: «‹Sprache› – ‹Metasprache› – ‹Metapragmatik›», 17. 7 Ebd. 8 Ebd., 18. 9 Ebd., 19. 10 Ebd., 18. 11 Vgl. dazu ausführlich Jürgen Spitzmüller: Metasprachdiskurse: Einstellungen zu Anglizismen und ihre wissenschaftliche Rezeption (= Linguistik – Impulse & Tendenzen 11), Berlin und New York 2005. 5 6 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation und Stile ‹einer› Sprache zuordnen kö nnen, dass wir (eine) Sprache als geregeltes ‹System› oder als ‹kulturelles Gut› wahrnehmen kö nnen, dass wir behaupten kö nnen, ‹eine› Sprache zu sprechen, all dies ist nur mö glich aufgrund sprachlicher Reflexion, und es ist das Ergebnis sprachlicher Reflexion.12 2) Metapragmatik wird durch bestimmte Vorstellungen von Sprache geleitet, entspricht also sprachideologischen Diskursen, «in denen soziale Werte und Positionen ausgehandelt werden, welche (meta-indexikalisch) an Sprache gekoppelt sind».13 Wir verstehen dabei «Sprachideologie» wertfrei als gesellschaftliche Positionierungspraxis – auch die Linguistik unterliegt bestimmten Sprachideologien, wenn sie z. B. eine Trennung zwischen «Sprachwissenschaft» und «Öffentlichkeit» vornimmt.14 Für die Forschung zu öffentlichen Spracheinstellungen umreisst Kroskrity ausgehend von Silverstein Sprachideologien als «beliefs, feelings, and conceptions about language structure and use, which often index the political economic interests of individual speakers, ethnic and other interest groups, and nationstates».15 Metasprachliche Aussagen referieren insofern nicht auf Sprache allein,16 sondern verweisen in der Verhandlung von Begriffen und Kategorien, Identitäten, Sagbarkeitsgrenzen und Sprachgeschichte auf kulturelle, soziale, ökonomische und im weiten Sinne politische Bedürfnisse von Gruppen. Sprachideologien bieten als gefestigte Überzeugungen sozialen Gruppen ein grosses Mass an Orientierung und helfen, neue Erfahrungen in dieses System einzuordnen, wodurch es sich festigt. Empirisch haben z. B. diskursanalytische Spracheinstellungsforschungen nachgewiesen, dass sich die öffentlichen wie privaten Einstellungen zu brisanten Wörtern,17 zum Sprachgeschichtsbewusstsein18 und zur Sprachkompetenz19 unmittelbar kommunikationssteuernd auf den Sprachwandel auswirken. Hingegen liegen kaum Forschungen hinsichtlich öffentlicher 12 Spitzmüller: «‹Sprache› – ‹Metasprache› – ‹Metapragmatik›», 21. Unmittelbar nachvollziehbar wird dies bei Überlegungen aus dem nicht-eurozentrischen Kontext: «Still, we cannot emphasize enough that ‹language› is only meaningful in geopolitical terms, lending a discrete identity, status, and power to otherwise fluctuating, hybrid, and changing linguistic practices and creating the illusion of an undifferentiated and homogeneous associated ‹community›» (Friederike Lüpke und Anne Storch: Repertoires and choices in African languages, Boston 2013, 3.) 13 Spitzmüller: «‹Sprache› – ‹Metasprache› – ‹Metapragmatik›», 25. 14 Ebd., 26. 15 Paul V. Kroskrity: «Language ideologies», in: A Companion to Linguistic Anthropology, hg. v. Alessandro Duranti, Malden 2006, 498. 16 Vgl. Roman Jakobson: «Linguistics and poetics», in: Language in Literature, hg. v. Krystyna Pomorska und Stephen Rudy, Cambridge 1987, 69. 17 Vgl. Georg Stötzel und Martin Wengeler (Hg.): Kontroverse Begriffe: Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Reprint 2013, Berlin und New York 1994. 18 Vgl. Anja Stukenbrock: Sprachnationalismus: Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945), Berlin 2005. 19 Vgl. Birte Arendt: Niederdeutschdiskurse: Spracheinstellungen im Kontext von Laien, Printmedien und Politik, Berlin 2010. GiS 16/2019, 26–49 29 30 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen Einstellung zu sprachlichen Praktiken wie dem Chatten, Mailen20 oder eben dem Übersetzen vor. Auch lassen sich aus Einstellungen zu verschiedenen Aspekten von Mehrsprachigkeit bzw. zu multilingualen Gesellschaften21 kaum Einstellungen zum Vorgang des Übersetzens an sich ermitteln. Für das Problem des «Übersetzens» ganz generell sind metasprachliche Reflexionen aber essentiell. Sie generieren überhaupt erst «das Problem des Übersetzens», denn es liegt ja eine bestimmte Sprachideologie zugrunde, wenn davon ausgegangen wird, dass Übersetzen überhaupt notwendig und möglich ist. Es fusst auf der Vorstellung, dass Texte in einer bestimmten, von anderen Sprachen abgrenzbaren Sprache verfasst und in eine andere übertragen werden können und dabei ihre semantisch-pragmatische Funktion mehr oder weniger beibehalten. Als Folge dieser Vorstellungen bilden sich verschiedene Praktiken des Übersetzens aus, die von ähnlichen oder aber von unterschiedlichen Sprachideologien ausgehen können. «Übersetzen» und Mehrsprachigkeit generell sind aber auch Gegenstand sprachreflexiver Diskurse, also von metapragmatischen Diskursen. So kann man sich über «misslungene» Übersetzungen lustig machen oder die Bedrohung oder die Chancen maschineller Übersetzung diskutieren. Wir möchten nun im Folgenden diese zwei Ebenen metapragmatischer Reflexion auseinanderhalten und einerseits von «Sprachideologien in metapragmatischen Funktionen» (im Sinne einer Metapragmatik 1. Ordnung) und anderseits von «Sprachideologien in metapragmatischen Diskursen» (im Sinne einer Metapragmatik 2. Ordnung) sprechen. Die beiden Ebenen können aber nicht trennscharf auseinandergehalten werden, wie die Beispiele zeigen werden. 2.1 Sprachideologien in metapragmatischen Funktionen In der Praxis des Übersetzens manifestieren sich Sprachideologien in grundlegenden metapragmatischen Operationen des Übersetzungsprozesses. Im Zentrum stehen Bedeutungen von Ausdrücken, Sätzen und Texten und ihre adäquate Übersetzung in eine andere Sprache. Die Komplexität dieser Aufgabe zeigt sich beispielsweise in Diskussionsforen wie auf der (kostenlos nutzbaren) Wörterbuchplattform dict.leo.org oder aber zu Diskussionen rund um Maschinelles Übersetzen. Aus diesen beiden Kontexten sollen im Folgenden metapragmatische Aussagen diskutiert werden. Vgl. Yaniv Gvili und Shalom Levy: «Antecendents of attitudes toward eWOM communication: differences across channels», in: Internet Research 26, 2016, 1030–1051. 21 Vgl. Pádraig ó Riagaín: «Multilingualism and Attitudes», in: The Encyclopedia of Applied Linguistics, hg. v. Carol A. Chapelle, Vol. VII., Chichester 2013, 3863 3869; Adrian Blackledge: «Multilingualism and Ideology», in: Ebd., 3902–3906. 20 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation 2.1.1 Beispiele zum Humanübersetzen Beispiel (1) zeigt einen Dialog im Unterforum «Übersetzung korrekt?» der Plattform dict.leo.org.22 Gegeben Richtig? Quellen Kommentar Verfasser fucked if I know keine Ahnung movie «The Commitments» and heard in NZ is it sort of a rude version of «no idea»? [1]23 Korrekturen Kommentar Verfasser fucked if I know – keinen blassen Schimmer «keine Ahnung» / «Scheisse nochmal det weet ick nich» / «Hearst, Oida, do hob i echt koa Auhnung» – Slang für keine Ahnung [2] Kommentar Verfasser na dann: herzlichen Dank für die Bestätigung :‐) [1] Beispiel (1) Person [1] fragt also nach der Bedeutung des englischen Ausdrucks «fucked if I know» und macht einen Interpretationsvorschlag (ebenfalls in Englisch). Person [2] macht ein Deutungsangebot indem Übersetzungen ins Deutsche (und deutschsprachige Varietäten) angeboten werden mit dem Kommentar «Slang für keine Ahnung», worauf sich Person [1] für die «Bestätigung» bedankt. Auf sprachideologischer Ebene zeigt sich, dass es verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten für den Ausdruck gibt und dass der Ausdruck soziolinguistisch markiert ist. Diese Markierung wird dadurch wiedergegeben, dass neben einer standardsprachlichen auch zwei dialektale / dialektal gefärbte Übersetzungen vorgeschlagen und ein Metakommentar in Form eines Fachbegriffs, «Slang», angegeben wird. Person [1] bedankt sich für die Antwort und fühlt sich bestätigt, geht also davon aus, dass die Autorität24 von Person [2] ausreicht, um die Richtigkeit einer Bedeutungsbestimmung zu beurteilen. Dies verweist auf die Annahme einer individuellen Sprachkompetenz, die ausreicht, um die Bedeutung eines Ausdrucks abschliessend zu bestimmen. Im Anschluss an diese ersten drei Postings entspinnt sich aber eine weitere Diskussion, in der Uneinigkeit darüber herrscht, ob das Verb im Partizip («fuVgl. https://dict.leo.org/forum/viewWrongentry.php?idThread=49748&idForum=3&lp=ende&l ang=de [22. 09. 2019]. 23 Die Verfasser*innen-Namen wurden anonymisiert. 24 Die Autorität ist auch an Metadaten der Userprofile sichtbar, etwa durch die Anzahl bereits verfasster Postings oder dem Anmeldedatum. 22 GiS 16/2019, 26–49 31 32 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen cked») oder als Infinitiv bzw. Imperativ («fuck») steht. Zudem wird die pragmatische Angemessenheit des Ausdrucks problematisiert: Kommentar Verfasser The phrase is actually «Fuck if I know!» Gehen Sie sparsam damit um. It implies that the person asking the question had no reason to think you would know the answer. [3] Beispiel (2) Andere kommentieren zur Verwendung des Ausdrucks «Don’t use it liberally, it may offend some people» oder mit «But, as others have said, both versions should be used sparingly, if at all». Während Einigkeit über die Vulgarität des Ausdrucks herrscht, sind sich die Kommentierenden über die Geläufigkeit der Wortform «fuck» anstelle des Partizips «fucked» nicht einig: Kommentar Verfasser I have to contradict [3]: both versions are used. But, as others have said, both versions should be used sparingly, if at all. [4] Beispiel (3) Zudem zweifelt eine*r der Kommentator*innen auch die in (1) und (2) gegebenen Bedeutungsparaphrasen an und erklärt dies ausführlich. Interessant sind aber die Begründungsmuster, die verwendet werden, um die eigene Autorität zu beweisen, etwas über die Geläufigkeit der beiden zur Diskussion stehenden Wortformen «fucked» oder «fuck» sagen zu können: «in over 18 years in NZ I’ve never heard ‹fuck if I know›, but lots of ‹fucked if I know› …» und in direkter Reaktion darauf: «I can beat that: in my 60+ years as a BE speaker, I’ve only ever heard ‹Fucked if I know› and never ‹Fuck if I know›». Auch zwei weitere Personen bezeichnen sich als «native speaker» bzw. «native AE speaker», um zu argumentieren, dies entscheiden zu können, wobei letztere den Aspekt des Sprachwandels mit einbringt: Kommentar Verfasser Beispiel (4) GiS 16/2019, 26–49 As a native AE speaker, I only ever heard «Fuck if I know» in the US, up to the early ’90 s. The «-ed» version may have caught on since then; other BE expressions have. [5] Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation Die Eigenschaft «native» in einer Sprache zu sein und einen längeren Zeitraum überblicken zu können, werden also als Autoritätsargumente angebracht und widerspiegeln wiederum die sprachideologische Annahme einer individuellen Sprachkompetenz. Bis zu Kommentar (4) wird «Sprache» jedoch implizit als statische Entität modelliert, so dass jetzt und auch in die nähere Vergangenheit zurück entschieden werden kann, welche Variante «richtig» ist (ohne dass sich die Diskutierenden freilich tatsächlich alle einigen könnten – Person [3], die die Variante «fuck» eingebracht hat, meldet sich allerdings nicht mehr zu Wort). Erst mit dem letzten Kommentar wird ein dynamisches Sprachmodell eingebracht, indem auf einen möglichen Wandel der Gebräuchlichkeit der Verbform aufmerksam gemacht wird. 2.1.2 Beispiele zu Diskussionen um DeepL Der Übersetzungsdienst DeepL nutzt neuronales Lernen und eine umfangreiche Datenbasis, um maschinelle Übersetzungen anzubieten. Das Angebot ist Gegenstand breiter Berichterstattung über Neuronales Maschinelles Lernen und es finden sich unzählige Medientexte, aber auch Blogbeiträge, Forendiskussionen etc. dazu. In Diskussionen zum Übersetzungsdienst wird immer wieder hervorgehoben, dass dafür «neuronale Netze», «neuronales Lernen» oder gar «KI» (Künstliche Intelligenz) verwendet würde: Wurden Google Translate, Bing & Co. lange Zeit belächelt, wird die KI der kostenlosen Übersetzungsprogramme nun immer besser. Und mit DeepL findet man unter ihnen nun einen weiteren Vertreter, dessen Intelligenz die Konkurrenz staunen lässt. Ist damit der professionelle Übersetzer bald hinfällig?25 Technisch gesehen handelt es sich auch bei DeepL um ein System maschinellen Lernens, bei dem neuronale Netze zur statistischen Modellierung und Übersetzung verwendet werden.26 «Künstliche Intelligenz» ist dabei aber in den computerlinguistischen Fachkreisen kein üblicher Ausdruck. Der bereits oben zitierte Text preist die Qualitäten des Übersetzungsdienstes weiter an: Auch ganze Sätze und Textblöcke rund um ein Thema, werden in den meisten Fällen korrekt und vor allem so übersetzt, dass auch das Übersetzungsergebnis sinnig und flüssig zu lesen ist. […] https://www.billomat.com/magazin/deepl-google-translate-und-co/ [26. 09. 2019]. Dzmitry Bahdanau, Kyunghun Cho und Yoshua Bengio: «Neural Machine Translation by Jointly Learning to Align and Translate», in: ArXiv:1409.0473 [cs, stat], 2014. 25 26 GiS 16/2019, 26–49 33 34 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen Da die Translation auf bisherigen Übersetzungen von echten Menschen beruht, sind auch Slang und Unterschiede in Dialekten in den meisten Fällen korrekt übersetzt, was zu einem besonders authentischen Ergebnis führt. [Herv. d. Verfasser]27 Die Qualität der Übersetzungen werden mit «korrekt» (oder nicht korrekt) angegeben, Übersetzungen «echter Menschen» sind der Vergleichsmassstab und «sinnig und flüssig zu lesen» sind Qualitätsmerkmale. Die Bedeutung von Varietäten («Slang» und «Dialekte») werden wie bereits bei den Beispielen aus dem Diskussionsforum dict.leo.org erwähnt. Die Bedeutung der «Flüssigkeit» oder «Glätte» der sprachlichen Oberfläche spielt gerade auch bei kritischen Anmerkungen zu diesem Dienst eine Rolle: DeepL, das ist der neue Star der MT-Industrie, der uns eine schöne neue Welt verspricht: idiomatische Übersetzungen, die sich angenehm lesen und weitaus professioneller aussehen als bei GoogleTranslate. Die Medien sind voll des Lobes, Unternehmen mit Übersetzungsbedarf sind begeistert und manche Übersetzer bangen um ihre Zukunft. Doch halt! Gerade unter der glatten Oberfläche finden sich bei DeepL genauso schlimme Fehler wie bei der Konkurrenz. [Herv. d. Verfasser]28 Es wird also zugestanden, dass die Übersetzungen «schön aussehen», mit einem professionellen Blick würden sich die Probleme jedoch rasch zeigen. Der Ausdruck «MT-Industrie» verweist zudem auf die Effizienzdimension des Übersetzens, die jedoch im Abschnitt «Sprachideologien in Übersetzungsdiskursen» diskutiert werden soll.29 Thema vieler Diskussionen (und auch tatsächlicher Mehrwert Neuronaler Maschineller Übersetzung) ist die bessere Berücksichtigung des Kontextes: Dass es aber recht zufriedenstellend klappt, liegt wohl vor allem daran, dass die Software einzelne Wörter in ihrem Kontext verstehen kann, während andere automatische Dienste Wörter teils eins zu eins übersetzen.30 Dabei ist allerdings oft nur der Satzkontext gemeint, denn es wird z. B. festgestellt, dass in Texten die Übersetzung bezüglich Terminologie nicht konsistent sei oder dass satzübergreifende Referenzen falsch aufgelöst würden: https://www.billomat.com/magazin/deepl-google-translate-und-co/ [26. 09. 2019]. https://dvud.de/2018/05/deepl-der-schein-truegt/ [26. 09. 2019]. 29 Vgl. zur kritischen Verwendung des Industriebegriffs Philipp Dreesen: «Rechtspopulistische Sprachstrategien: Korpuslinguistische Befunde zu PI-NEWS und COMPACT-Online», in: Sprach(kritik)kompetenz als Mittel demokratischer Willensbildung: Sprachliche In- und Exklusionsstrategien als gesellschaftliche Herausforderung, hg. v. Jürgen Schiewe, Thomas Niehr und Sandro Moraldo (= Greifswalder Beiträge zur Linguistik), Bremen 2019, 111–113. 30 https://www.spiegel.de/netzwelt/web/deepl-was-taugt-der-online-uebersetzer-im-vergleich-zubing-und-google-translate-a-1167147.html [26. 09. 2019]. 27 28 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation In unserem Test wurde beispielsweise der Informatik-Fachbegriff «Cloud» häufig als «Wolke» übersetzt, manchmal wurde aber [sic!] auch stehen gelassen.31 2.1.3 Zwischenfazit Die kleinen (und an sich nicht weiter auffälligen) Beispiele zeigen bereits eine Reihe von Annahmen über Sprache und das Vorgehen bei der Bedeutungsbestimmung und Übertragung eines Ausdrucks, Satzes oder Textes, wobei diese Annahmen potenziell auch anders ausgeprägt sein könnten: – Ein Ausdruck einer Sprache A ist übersetzbar in eine Sprache B – oder nicht. – Individuelle Kompetenz, autorisiert durch «Nativeness» und Erfahrung, kann über die Richtigkeit entscheiden – oder nicht. – Sprache zerfällt in verschiedene Varietäten/Register/Codes, die pragmatischindexikalisch auf soziale Rollen verweisen – oder nicht. – Sprache ist eine mehr oder weniger stabile Entität – oder einem laufenden Wandel unterzogen. – Bedeutung ergibt sich erst im Kontext – oder nicht (immer). – Eine Übersetzung ist gut, wenn sie «flüssig» ist oder «sich gut liest» – oder Qualität zeigt sich erst, wenn sie auch «unter» der sprachlichen Oberfläche stimmt. – Übersetzung ist möglich mit (maschineller oder menschlicher) Intelligenz – oder auch anders. Diese Annahmen haben Auswirkungen auf grundsätzliche Fragestellungen des Übersetzens, etwa: – Gibt es eine «richtige» Übersetzung eines Ausdrucks? – Wie weit muss Kontext für die Übersetzung mit einbezogen werden und was ist unter Kontext zu verstehen? – Was ist der Massstab für eine «gute» Übersetzung? – Soll eine Übersetzung als Übersetzung sichtbar sein oder nicht? – … Diese Fragen verweisen bereits auch auf Übersetzungsdiskurse, also metapragmatische Reflexionen auf einer zweiten Ebene, die Übersetzungspraktiken generell thematisieren. Sprachideologien in solchen Reflexionen werden im nächsten Abschnitt thematisiert. https://magazin.swisscom.ch/neue-technologien/maschinelle-uebersetzung-wie-gut-vergleich/ [26. 09. 2019]. 31 GiS 16/2019, 26–49 35 36 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen 2.2 Sprachideologien in metapragmatischen Diskursen Um sich den Sprachideologien in Diskursen zum Übersetzen widmen zu können, ist zunächst zu eruieren, wo diese Thematisierungen und Erörterungen stattfinden sowie an welchen Gegenständen sich Sprachideologien implizit oder explizit zeigen. Ein erster Schritt hierzu, auch um die akademische Introspektion auf «Übersetzen» ansatzweise zu überwinden, besteht im Auffinden von ähnlich verwendeten Wörtern, sogenannten funktionalen Synonymen. Mithilfe der distributionellen Semantik (Word Embeddings) lassen sich in Korpora ähnlich verwendete Wörter finden.32 Die Wörter bilden ein diskursives Paradigma, da sie aufgrund ihrer relativen Position(en) als eine Klasse von semantisch-funktional äquivalenten, also untereinander annähernd austauschbaren Zeichen aufgefasst werden können. Eine Abfrage in den deutschsprachigen Medien des Schweizer Korpus Swiss-AL (vgl. Tab. 1) ergibt für das Verb «übersetzen» und das Substantiv «Übersetzung» (neben Einzelsprachen und Erwartbarem wie «Wörterbuch» und «Text») das funktional ähnlich verwendete Wort «Untertitel». Übersetzen Übersetzung deutsch_Übersetzung deutsch_Sprache Übersetzt Geschrieben Untertitel Übersetzer ins_deutschen_übersetzen Sprache Deutsch Wörterbuch Text Übersetzt Deutsch Sprache Untertitel deutsch_Sprache Übersetzer Englische Japanisch Verb auswendig_lernen Englisch Nearest Neighbours (Trigrams) zu «übersetzen»/«Übersetzung» in Swiss-AL. Tab. 1: 2.2.1 Beispiel zu Original vs. Synchronisierung «Untertitel» wird demnach im massenmedialen Diskurs ähnlich verwendet wie die prototypische Fremdsprachübersetzung. Mit diesem Hinweis kann nun fol- Vgl. Noah Bubenhofer, Selena Calleri und Philipp Dreesen: «Politisierung in rechtspopulistischen Medien: Wortschatzanalyse und Word Embeddings», in: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 95, 2019 [im Druck]. 32 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation gendes Beispiel gefunden werden; auf der Website des SRF heisst es in einer Umfrage: Kinofilme im Original oder synchronisiert – was ist Ihnen lieber? Immer mehr Schweizer Kinos zeigen Filme nur noch synchronisiert. Zum Glück, sagen die einen: Untertitel seien nun mal anstrengend und würden den Kinogenuss vermiesen. Das Übersetzen mache die Atmosphäre des Films kaputt, ärgern sich die anderen. Was denken Sie? Machen Sie mit bei unserer Umfrage. […] Eine Kampagne des Schweizer Studiofilm Verbandes (SSV), die bald schweizweit über die Kinoleinwände flimmern wird, will das ändern. Mit kurzen Videoclips will der Verband zeigen: Keine Übersetzung kann demnach dem Fluchen auf Englisch, der Verführungskraft des Französischen und dem finnischen Weltschmerz das Wasser reichen.33 In der metadiskursiven Darstellung wird Übersetzung zur Polarisierung von zwei offensichtlich recht festen Überzeugungen in der Gesellschaft. Diese Polarisierung wird deontisch gebraucht, indem sie in eine demokratisch-spielerische34 Entscheidungsfrage eingebettet ist: Dem Aufforderungscharakter der Polarisierung nach ist man entweder für Filme im Original oder man ist für synchronisierte Filme. Auf der einen Seite steht die Rezeptionspraxis: Dass Untertitel keine leicht zu rezipierenden Übersetzungen seien, ist ähnlich gelagert wie die oben festgestellte Vorstellung, dass die beste Übersetzung unsichtbar, also als solche möglichst nicht erkennbar ist. Aufschlussreich ist, dass die Möglichkeit der ausreichenden Fremdsprachenkompetenz, den Film ohne Untertitel verstehen zu können, nicht vorkommt. Auf der anderen Seite steht die ontologische Vorstellung der sprachlichen Entität: Mit dem Verweis darauf, dass «[i]mmer mehr Schweizer Kinos Filme nur noch synchronisiert [zeigen]» wird eine Entwicklung skizziert, die die Gegenreaktion des SSV als unterlegene Position legitim und schlüssig erscheinen lässt. Die mit der Kampagne transportierten Stereotype münden in dem Argument «Atmosphäre des Films», gegen das sich dann kaum argumentieren lässt, weil es vom originären künstlerischen Wert ausgeht. 2.2.2 Beispiele DeepL als MT und als Unternehmen Im Fall der bereits oben angesprochenen Darstellung von DeepL in öffentlichen Diskursen lassen sich drei Muster nachweisen. Der F.A.Z.-Gastbeitrag «Übersetzen als Rechenkunst» des Fachdidaktikers für Englisch, Lexikograph und ÜberVgl. https://www.srf.ch/kultur/film-serien/kinofilme-im-original-oder-synchronisiert-was-istihnen-lieber [22. 09. 2019]. 34 Andreas Dörner: Politainment: Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a. M. 2001. 33 GiS 16/2019, 26–49 37 38 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen setzungswissenschaftler Dierk Siepmann mag dies exemplarisch veranschaulichen.35 (1) Im Gegensatz zur Polarisierung, wie sie im Beitrag auf SRF zur Geltung kommt, argumentiert Siepmann integrativ, indem er in der Unausweichlichkeit von MT in der hochschulischen Ausbildung zwar Probleme erkennt, allerdings auch die Wege der Reflexion und Chancen sieht: Schließlich ließe sich aus der Not eine Tugend machen: Zumindest Universitätsdozenten sollten in der Lage sein, die derzeit noch vorhandenen Schwächen von maschinellen Übersetzungsprogrammen wie DeepL mit ihren Studenten zu besprechen und damit eine Sensibilisierung dafür zu erreichen, dass es sich noch lohnt, zu einem Fremdsprachenexperten zu werden, der der Maschine zumindest noch eine Zeitlang überlegen sein wird. Für die wissenschaftliche Gemeinschaft insbesondere in den Geisteswissenschaften ergibt sich darüber hinaus mittelfristig die Chance, regionale Wissenschaftssprachen zu stärken. In zehn oder zwanzig Jahren sollte es für deutsche Wissenschaftler beispielsweise möglich sein, mit Hilfe entsprechender Apps an einer rein chinesischsprachigen Konferenz teilzunehmen.36 (2) Zugleich aktualisiert auch der Übersetzungswissenschaftler eine typische Diskurshandlung in der Auseinandersetzung mit MT, nämlich die der Beweisführung über dessen im Grunde erwartbaren Schwächen bei Polysemie, Ambiguität, Kontextualisierung etc.: Generell zeigt DeepL noch größere Schwächen bei Fach- und Wissenschaftstexten, umgangssprachlich gefärbten Texten und narrativen Passagen literarischer Texte. Bei Fach- und Wissenschaftstexten scheitert das Programm häufig an seltenen Ausdrücken oder an solchen, die zwar auch in der Alltagssprache auftreten, aber in diesen Textsorten spezifische Bedeutungen aufweisen. Heißt es beispielsweise in einem theologischen Text über die Confessiones des Augustinus, dass diese sich als Protreptikos, als ‹Werbeschrift›, auffassen lassen, so gibt DeepL dies als ‹advertising literature› statt als ‹genre intended to encourage conversion› wieder.37 DeepL wird im Diskurs immer wieder die Rolle der noch-nicht-perfekten MTApp zugewiesen, womit stets angenommen wird, dass es diese geben wird («noch eine Zeitlang überlegen sein»); dies setzt wiederum die Überzeugung voraus, dass es theoretisch annähernd perfekte Übersetzungsleistungen und entsprechende Werkzeuge geben wird. Solche Überlegungen finden jedoch unserer Einschätzung nach nicht in Richtung eines Kommunikationsmodells oder Ähn- Zum Folgenden Dirk Siepmann: «Übersetzen als Rechenkunst», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Oktober 2018, 4. Auch unter: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/uebe rsetzen-als-rechenkunst-das-sprachprogramm-deepl-und-die-zukunft-der-fremdsprachendidaktik15828221.html [25. 10. 2019]. 36 Ebd. 37 Ebd. 35 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation lichem statt, sondern fokussieren auf den Übersetzungsprozess von Ausgangsund Zieltext. (3) Das Unternehmen DeepL fällt in den öffentlichen Diskursen, ähnlich wie Google, mit seinen angebotenen Online-Dienstleistungen zusammen: Konzern und Dienstleistungsangebot werden eins, wodurch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen tatsächlichen Funktionen und Leistungen sich häufig auf Schlagwörter beschränken (bei Google der «Algorithmus», bei DeepL das «Netz»). Es herrscht zumindest in deutschen Medien ein Prinzip vor, dass DeepL fast immer als erfolgreicher Konkurrent von Google dargestellt werden muss: So lange existiert nun der frei verfügbare Übersetzungsdienst DeepL, dessen Leistungsfähigkeit selbst die Dienste von Branchenriesen wie Google und Microsoft in den Schatten stellt. Doch auch Fremdsprachenlehrer und universitäre Philologen werden Überlegungen anstellen müssen, welchen Einfluss solche Übersetzungsdienste auf Lehre und Leistungsmessung nehmen. Wie der Name bereits suggeriert, handelt es sich bei DeepL um ein sogenanntes Deep-Learning-Netzwerk. Im Gegensatz zu traditionellen Verfahren der maschinellen Übersetzung extrahieren DeepLearning-Netzwerke wie DeepL automatisch Merkmale des sprachlichen Inputs.38 Über das Schlagwort «Netz» wird als Industriegeheimnis geschrieben, was zunächst nicht ungewöhnlich ist: DeepL scheint dagegen nach Meinung von Experten konvolutionale Netze einzusetzen. Die Kölner Firma will sich dazu nicht äußern. Man kann sie derzeit weder besuchen, noch mit dem Chef telefonieren. Dass die Netze konvolutional sind, will ein Pressesprecher nicht bestätigen. Er dementiert es aber auch nicht.39 Angesichts solcher Thematisierungen von «Netz» bei DeepL darf man überlegen, ob vielleicht die erstaunlichen Übersetzungsleistungen nicht nur gern und viel genutzt werden, sondern auch einen empfindlichen anthropologischen Punkt treffen. 2.3 Zwischenfazit Die zufällig ausgewählten exemplarischen Fälle sollten veranschaulichen, dass es erstens eine Reihe von verfestigten Annahmen über Sprache gibt, die in konkreten Kontexten von Übersetzungsfunktionen in Erscheinung treten. Diese können analytisch als Ausdruck von metapragmatischen Sprachideologien von Übersetzungspraktiken klassifiziert werden. Das kann abgegrenzt werden von Aussagen, die über den Einzelfall hinausgehen und auf grössere Kontexte verweisen, d. h. 38 https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/uebersetzen-als-rechenkunst-das-sprachpro gramm-deepl-und-die-zukunft-der-fremdsprachendidaktik-15828221.html [25. 10. 2019]. 39 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/digital/google-deepl-uebersetzungen-software-machine-lear ning-1.4302602 [22. 09. 2019]. GiS 16/2019, 26–49 39 40 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen analytisch als Ausdruck von metapragmatischen Diskursen klassifiziert werden. Zweitens sollte dies veranschaulicht werden in der Intervention und Reflexion zum Übersetzen in der Gesellschaft, etwa in Bezug auf Kultur, Bildung und Wirtschaft. Unbeantwortet muss zunächst bleiben, wie die Verbindung zwischen den praktischen und den diskursiven Ausprägungen von metapragmatischen Sprachideologien beschaffen ist. 3 Paradox der gleichzeitigen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Weil die Nutzung maschineller Übersetzungssysteme immer alltäglicher wird, tendieren sie gleichzeitig dazu, unsichtbar zu werden. Oder genauer: Die eigentliche Übersetzungsfähigkeit wird als Leistung eines Tools betrachtet, dessen Funktionsweise in vielen Kontexten nicht weiter von Belang ist. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass DeepL nicht nur als übersetzungstechnisch interessanter Service beschrieben wird, sondern oft auch als ein Helfertool wie viele andere im Computeralltag: Die kostenlose Online-Anwendung ‹DeepL Übersetzer› übersetzt deutsch- und fremdsprachige Texte sowie Word- und PowerPoint-Dokumente direkt in Ihrem Browser. Die eingefügte Sprache (möglich sind Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch und Polnisch) wird automatisch erkannt und in Echtzeit übersetzt. Bei einem Doppelklick auf ein Wort erscheint eine Erklärung inklusive Übersetzung, Variationen und Beispielsätzen. Ein Klick auf einen Begriff im Übersetzungstext öffnet ein Dropdown-Menü mit verschiedenen Synonymen, die Sie direkt austauschen können. Mit dem ‹DeepL Übersetzer› lassen sich Texte bis zu 5.000 Zeichen bearbeiten. [Herv. d. Verfasser]40 Das Beispiel aus einer Besprechung in der Computerbild stellt den Dienst in eine Reihe mit anderen Programmen und betont dessen Funktionalität auch abseits der eigentlichen Übersetzungsfunktion («Word- und Powerpoint-Dokumente können direkt im Browser übersetzt werden», «in Echtzeit», «bis zu 5000 Zeichen» etc.). Ludwig Jägers Transkriptivitätsbegriff, den er im Rahmen seiner Mediensemiotik entwickelt hat, bietet eine gute Grundlage, um dieses Phänomen theoretisch zu fassen.41 Unter Transkription versteht Jäger https://www.computerbild.de/download/DeepL-Online-uebersetzer-18892985.html [30. 9. 2019]. Ludwig Jäger: «Transkriptive Verhältnisse: Zur Logik intra- und intermedialer Bezugnahmen in ästhetischen Diskursen», in: Transkription und Fassung in der Musik des 20. Jahrhunderts. Beiträge des Kolloquiums in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, vom 5. bis 6. März 2004, hg. v. Gabriele Buschmeier, Ulrich Konrad und Albrecht Riethmüller, Stuttgart 2008, 103–134. 40 41 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation ein grundlegendes sinninszenierendes Verfahren der kulturellen Semantik […], das einmal die intramediale rekursive Selbstbezüglichkeit von Medien und zum andern die intermediale Kopplung differenter medialer Skripturen nutzt, um den symbolischen Welterzeugungsapparat in Gang zu halten.42 «Übersetzen» ist ein Beispiel einer Transkription, mit dem ein Text (in einer anderen Sprache) paraphrasiert und damit zu einem «Script» wird, das gleichzeitig den paraphrasierten Text als «Präscript» konstituiert. Erst mit der Paraphrasierung, also dem Übersetzen, entsteht der sogenannte Ausgangstext als «Präscript». Jäger sieht in diesem Verfahren das zentrale Mittel von Kulturen, «unlesbares Wissen lesbar [zu machen] […] bzw. lesbares Wissen zu arkanisieren, […] und neue Semantiken und Ästhetiken zu generieren».43 Dem Medium Sprache weist Jäger eine spezielle Funktion zu, da es «rekursive Transkriptionen» erlaubt: Sprache verweist in transkriptiven Verfahren immer auf sich selbst, ist also ein «eigensinniges Verfahren […], weil die Sprache bei diesem semantischen Geschäft auf keine Quellen zugreifen kann, die nicht ihrerseits symbolischer Natur sind»:44 Die Fähigkeit nämlich der Sprecher einer natürlichen Sprache, sprachliche Zeichen zu paraphrasieren, zu explizieren und zu erläutern, um auf diese Weise den Verwendungssinn von Zeichen transformierend oder affirmierend fortzuschreiben, muss als ein für das sprachliche Wissen konstitutives Vermögen angesehen werden, ein Vermögen, in dem die für sprachliche Zeichensysteme basale transkriptive Logik der Sprache zur Erscheinung kommt.45 Übersetzen ist ohne Zweifel ein Paradebeispiel für ein eigensinniges Verfahren, mit dem der Verwendungssinn der transkribierenden Zeichen (Text) in verschiedenster Art, aber immer wiederum mit sprachlichen Zeichen, fortgeschrieben wird. Transkriptive Verfahren laufen meistens «transparent» ab, d. h., das Medium verschwindet hinter dem Repräsentierten.46 Die Übersetzung ist nicht mehr als Übersetzung sichtbar. Trotzdem: Nach Jäger ist allen Medien ein «StörungsPrinzip» eingeschrieben, mit dem das «Zeichen/Medium (operativ) seine Trans- Ebd., 122. Ebd., 125. 44 Ludwig Jäger: «Vom Eigensinn des Mediums Sprache», in: Brisante Semantik: Neuere Konzepte und Forschungsergebnisse einer kulturwissenschaftlichen Linguistik, hg. v. Dietrich Busse, Thomas Niehr und Martin Wengeler (=Reihe Germanistische Linguistik), Tübingen 2005, 59. 45 Ebd. 46 Ludwig Jäger: «Intermedialität – Intramedialität – Transkriptivität: Überlegungen zu einigen Prinzipien der kulturellen Semiosis», in: Sprache intermedial: Stimme und Schrift, Bild und Ton, hg. v. Arnulf Deppermann und Angelika Linke, Berlin 2010, 317. 42 43 GiS 16/2019, 26–49 41 42 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen parenz verliert und in seiner Medialität wahrgenommen wird».47 Dies geschieht etwa bei ungewohnten Konstruktionen oder semantischen Inkonsistenzen, die durch eine Fehlübersetzung entstanden sind. Für den Zusammenhang der oben genannten Hypothese, dass die Medialität maschineller Übersetzungssysteme mit häufigerem Gebrauch immer weniger sichtbar bzw. sogar unsichtbar werden, sind nun zwei Aspekte relevant: 1) MT-Systeme für Endnutzer*innen tendieren dazu, so weit wie möglich medial unsichtbar zu sein und eine störungsfreie Transkriptivität zu ermöglichen. Es sind Maschinen, die einen Service kostenlos, möglichst nahtlos integriert in bestehende Praktiken (vgl. Zitat zu Beginn des Abschnitts: Integration in den Browser), anbieten – und zunehmend auch genau so als «Tool» wahrgenommen werden, so unsere Vermutung. Ähnliches gilt zwar auch für viele Bereiche von Humanübersetzungen, wo auch der Anspruch vorherrscht, dass die Übersetzung so perfekt ist, dass sie gar nicht im Sinne Jägers als Script eines Präscripts wahrgenommen wird. Die Herstellung der Übersetzung macht die Medialität des transkriptiven Verfahrens jedoch immer wieder sichtbar, da diese Leistung organisiert und entlöhnt werden muss. 2) Nur anstossen können wir die Überlegungen in diesem Kontext aber dazu, welche Auswirkungen auf das transkriptive Verfahren der Übersetzung der Einsatz der Maschine überhaupt hat: Mit in Programmcode implementierten Algorithmen und den statistischen Modellen und der dafür nötigen Hardware sind Medien im Einsatz, die unterschiedliche semiotische Systeme verwenden. Inwieweit eine so entstandene Übersetzung noch ein rekursives, eigensinniges Verfahren von Sprache ist und ob und wie sie kulturellen Prägungen unterworfen ist, bleibt zunächst unklar.48 Auf jeden Fall sind verschiedene Medien im Spiel und welche davon transparent oder sichtbar sind, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Bei den häufigen Witzen über Fehlübersetzungen von MT sind offensichtlich andere Aspekte der daran beteiligten transkriptiven Verfahren sichtbar als bei automatisch übersetzten Webseiten, bei denen die Nutzerin/der Nutzer die Übersetzung gar nicht bemerkt. 4 Desiderata Der umfassende Transformationsprozess vom Denken und Handeln zum Übersetzen findet zurzeit weitgehend unbegleitet von den zuständigen Wissenschaften statt. Über die Gründe disziplinärer Eigenlogiken und das Ausbleiben interEbd.; vgl. dazu auch die «transparent immediacy» bei Jay David Bolter und Richard Grusin: Remediation: Understanding New Media, Revised, Cambridge 2000. 48 Vgl. in diesem Zusammenhang die Überlegungen zu «Coding Cultures» in Noah Bubenhofer: Visuelle Linguistik: Zur Genese, Funktion und Kategorisierung von Diagrammen in der Linguistik (Habilitationsschrift) [in Vorbereitung]. 47 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation und transdisziplinärer Forschungen möchten wir hier nicht spekulieren, vielmehr diesen Umstand als Desiderat benennen und mögliche Fragestellungen aufwerfen, die unseres Erachtens dringend empirisch beantwortet werden müssten. 4.1 Fachdiskurse und Öffentlichkeit Öffentlich präsente sprachideologische Dispositionen prägen die Einstellung gegenüber sprachbezogenen Innovationen in einer Gesellschaft.49 Die zukünftige Art und Weise, wie der Wandel zu MT wahrgenommen wird (u. a. Akzeptanz und Vorbehalte gegenüber MT), hängt unter anderem von bereits heute wahrnehmbaren Positionen ab. Längere Berichte oder Debatten zu Übersetzungstechniken gibt es in deutschsprachigen und englischsprachigen Massenmedien oder in Social Media-Kanälen nicht, lediglich vereinzelte Meldungen,50 entsprechend gibt es auch keine Debatten- oder Diskursanalysen zum Thema «Übersetzung». Es lassen sich aber allgemein Spracheinstellungen nachweisen, die direkt oder indirekt auch auf Einstellungen zu MT übertragbar sind. Insofern sind sie als «Metasprachdiskurse», d. h. «Diskurse über sprachliche Themen» zu bewerten,51 die u. a. folgende Dimensionen umfassen: Normative Vorstellungen über die eigene Sprache (z. B. als Kulturgut, Identität), ihre «Gestalt» (z. B. statische Struktur, fragiler Organismus), Sprachfunktionen und -wirkweisen sowie ihr Verhältnis zwischen Sprachen (z. B. Verdrängungskampf, Unübersetzbarkeitstopos). Nachweise solcher einzelner medialer sprachideologischer Dispositionen sind dokumentiert.52 Jedoch fehlt eine dezidiert synchrone Sprachideologieforschung für die Übersetzungspraktiken und -diskurse. Um zu verstehen, was derzeit geschieht, ist es erforderlich, sprachideologische Positionen in so unterschiedlichen Bereichen wie der Computerlinguistik, der Übersetzungswissenschaft, den öffentlichen Massenmedien, Special Interest Medien sowie zu von MT betroffenen Berufspraktiker*innen zu erheben. Dies ist auch deswegen drängend, weil zu erwarten ist, dass Software, Trainingsdaten und Rechnerleistung diese Dynamik mit neuen Übersetzungsleistungen in den kommenden Jahren nochmals beschleunigen. Dann werden Funktionen wie Vgl. Sally Johnson und Astrid Ensslin: «Language in the Media: Theory and Practice», in: Language in the Media: Representations, Identities, Ideologies, hg. v. Sally Johnson und Astrid Ensslin, London und New York 2007, 3–15. 50 Vgl. z. B Silke Bigalke: «Tosa tygum føroyskt? Sprechen Sie Färöisch? Die Inseln versuchen, Google dazu zu bringen, ihre Sprach in den Translator aufzunehmen», in: Süddeutsche Zeitung vom 21. September 2018, 8. 51 Jürgen Spitzmüller: Metasprachdiskurse, 54. 52 Vgl. Sally Johnson und Tommaso M. Milani (Hg.): Language Ideologies and Media Discourse: Texts, Practices, Politics, London und New York 2010; Sally Johnson und Astrid Ensslin: Language in the Media: Representations, Identities, Ideologies, London und New York 2007. 49 GiS 16/2019, 26–49 43 44 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen autocomplete / Google Suggest (auch) bei der Eingabe von zu Übersetzendem die kommunikativen Intentionen steuern und die nicht als solche erkennbaren Übersetzungen von fremdsprachigen Websites deren Rezeption prägen. 4.2 Neubestimmung vom Wert des Übersetzens Die Fortschritte in MT und die potenziell vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten lassen darauf schliessen, dass tiefgreifende globale Veränderungen in der interkulturellen Kommunikation von Sprecher*innen unterschiedlicher Sprachen eintreten werden. Zum Beispiel wird MT womöglich den Status des Englischen als lingua franca verändern und Auswirkungen auf den Stellenwert des L2Spracherwerbs haben, gegebenenfalls wird das Verschwinden von Sprachen oder zumindest die Gleichwertigkeit von Sprachen angesichts unterschiedlich umfangreicher Trainingsdaten erheblich beschleunigt. Neben allgemeinbildenden Institutionen, Verlagen und Redaktionen werden von diesem Wandel unter anderem auch die Übersetzungswissenschaft in Ausbildung und Forschung und somit Disziplinen wie die Angewandte Linguistik53 betroffen sein. Übersetzen hat mithin in der westlichen Welt einen hohen kulturellen und bildungsbezogenen Stellenwert, was sich auch in der Selbstverständlichkeit zeigt, mit der Übersetzungen z. B. von Literatur erwartet wird. Gerade im Bildungsbereich sind die Auswirkungen des MT derzeit noch nicht abzusehen. Angesichts aktueller Entwicklungen ist aber davon auszugehen, dass der digitale Wandel in der europäischen Bildungspolitik beim Fremdspracherwerb ein Spannungsverhältnis zwischen Bildungsziel und Realität bewirkt: Bestimmte Forderungen werden von neuen technischen Möglichkeiten und veränderten Praktiken des Übersetzens unterlaufen. Zum Beispiel: Seit der aktuellen Fassung des Common European Framework of Reference for Languages (CEFR) stellt Mediation (u. a. «Mediating a text») unter Einsatz von Übersetzungskompetenz die höchste Sprachkompetenzstufe dar;54 für die unteren Sprachstufen (Pre-A1 bis A2) wird der Einsatz von «online translation tools» als charakteristisch benannt.55 Vor dem Hintergrund dieser Auswirkungen auf Bildungsideale, -inhalte und -formen erscheint es uns erforderlich, die ursächlichen Einstellungen und den mit der MT einhergehenden Paradigmenwechsel insbesondere in der Computerlinguistik und in der Übersetzungswissenschaft zu eruieren: Unerlässlich zum Verständnis und zur Bewertung der aktuellen Transformation des Übersetzens im Zuge der Durchsetzung von MT sind die darin enthaltenen KonzeptioVgl. Gary Massey und Maureen Ehrensberger-Dow: «Machine learning: implications for translator education», in: Lebende Sprachen 62(2), 2017, 300–312. 54 Vgl. Council of Europe: Common European Framework of Reference for Languages: Learning, Teaching, Assessment, Council of Europe 2018. 55 Ebd., 97, 187. 53 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation nen für unser Sprach- und Übersetzungsverständnis. Ohne dieses Wissen um sprachideologische Positionen liesse sich lediglich ein recht offensichtlicher technischer Wandel feststellen: Es gilt aber zu eruieren, in welchem Verhältnis MT zu dem sich seit Jahrhunderten fortentwickelnden Wissen um Probleme und ihre bisherigen Lösungen steht: Zentrale Aspekte des Übersetzens wie Intentionalität, Ambiguität, (funktionale) Äquivalenz, Prinzip des Ausgleiches und Kontextualisierung sind Teil und Ausdruck unserer Vorstellungen von Denken und Kommunikation. Fach- und Kulturwissen sind im professionellen (Fach‐)Übersetzen unabdingbar, spielen im MT aber kaum eine Rolle.56 Mit der Infragestellung der Relevanz dieser Aspekte durch MT geht u. a. die Frage einher, nach welchen Parametern (z. B. Kosten, Verfügbarkeit, Geschwindigkeit, Transparenz, Qualität) das Übersetzen künftig bestimmt und bewertet werden soll. Massstäbe, nach denen Zieltexte bewertet werden, könnten künftig ebenfalls statistisch erhoben werden.57 Neben der Auswirkung von MT auf die Bildung gibt es handfeste und eher spekulative Auswirkungen im ökonomischen Sinne: Innerhalb der Übersetzungswissenschaft werden betriebs- und volkswirtschaftliche Reflexionen zum Übersetzen und zu den Übersetzer*innen in der digitalen Revolution angestellt, z. B. zum Übersetzen als Industrie mit Outsourcing und Preisdruck58 und zur Preisgestaltung des Übersetzens im Markt.59 In einem weiteren Verständnis betrifft die Verschiebung von nicht-maschinellem und maschinengestütztem Übersetzen zu MT die Fragen nach dem «Wert» des Übersetzens als Praktik. Damit sind zum einen die Kosten des Übersetzens selbst gemeint: In eine Übersetzungsleistung fliessen Kosten der Ausbildung zum Erlernen des Übersetzens sowie Arbeitsstunden, technische Hilfsmittel und gegebenenfalls Entwicklungskosten für MT ein. Mit MT sinken die Kosten des Übersetzens. Zum anderen meint «Wert des Übersetzens» das Übersetzen als Kapital: Mit Bourdieus Theorie der Kapitalsorten in sozialen Feldern, speziell hinsichtlich des Sprachgebrauchs,60 ist der geldwerte Vorteil des MT gegenüber dem Humanübersetzen dem ökonomischen Kapital zuzuordnen. Hingegen sind Fremdsprachen- und Übersetzungskompetenz als inkorporiertes kulturelles Kapital der Einzelnen/des Vgl. Helle V. Dam, Jan Engberg und Heidrun Gerzymisch-Arbogast: Knowledge Systems and Translation, Berlin und New York 2011. 57 Vgl. Yvette Graham, Timothy Baldwin, Alistair Moffat und Justin Zobel: «Can machine translation systems be evaluated by the crowd alone», in: Natural Language Engineering 23, 2017, 3–30. 58 Vgl. Keiran J. Dunne: «The industrialization of translation: Causes, consequences and challenges», in: Translation Spaces 1, 2012, 143–168. 59 Vgl. Andy Lung Jan Chan: «Moving up the value chain? The economic theory of factor price equalization and its implications for the translation profession», in: Translation Spaces 3, 2014, 151– 165. 60 Vgl. Pierre Bourdieu: Was heisst Sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, mit einer Einführung von John B. Thompson, 2., erweiterte und überarbeitete Auflage, Wien 2015, 41– 97. 56 GiS 16/2019, 26–49 45 46 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen Einzelnen aufzufassen, die wiederum vor allem durch den Einsatz von Zeit erworben werden und nicht delegiert werden können.61 Mit dem MT wird dieses kulturelle Kapital insofern entwertet als es sich weniger leicht in ökonomisches Kapital umwandeln lässt (Humanübersetzen als Dienstleistung); als habituelles Distinktionsmerkmal62 wirkt es weiterhin. An die Stelle des inkorporierten tritt das objektivierte kulturelle Kapital, das im Fall des Übersetzens in Form von Computer, Smartphone, Software (Webbrowser, Apps) besteht. Der Unterschied zum inkorporierten Kapital liegt darin, dass Übersetzen nicht mehr allein durch Zeit (d. h. Einsatz von Lebenszeit), sondern durch ökonomisches Kapital erworben wird, das weitaus weniger zeitintensiv ist bzw. auch anderweitig erworben werden kann. Dies hat mindestens zwei gesellschaftliche Konsequenzen. Erstens: Der Wandel vom eher langsamen Bildungsprozess zur Anwendung ad hoc erkaufter Techniken als Teil der technisch-kommunikativen «Beschleunigung» drängt die Einzelne/dem Einzelnen zu mehr kommunikativen Handlungen pro Zeiteinheit.63 Zweitens: Die Abhängigkeit von Technikangeboten steigt zeitgleich mit der potenziellen Möglichkeit, mit satz- und textbezogen Übersetzungen in kommunikativen Austausch treten zu können. Mit dem vermutlich schwindenden inkorporierten Kapital der Mehrsprachigkeit und des Übersetzens verringern sich auch bisher kaum bezifferte Ressourcen von Bildungs- und Wertvorstellungen sowie Kritik- und Kontrollfunktionen (z. B. Überprüfung von Übersetzungen). Dies wird wiederum beschleunigt durch das Schwinden von Spracheinstellungspluralität. Erschwerend kommt hinzu, dass es auch so gut wie keinen Austausch zwischen den professionellen Akteur*innen gibt, die auf den digitalen Wandel reagieren müssen, z. B. Expert*innen aus Sprach- und Bildungspolitik, Übersetzungssoftware, Wörterbuchverlag, Informatiker*innen, (Hochschul‐) Lehrer*innen, Übersetzer*innen, Dozierenden für Übersetzungswissenschaft, Jurist*innen. Es braucht nachhaltige Versuche, diese «Akteure des Übersetzens» miteinander in Kontakt zu bringen, um zu gesicherten Erkenntnissen über vorherrschende Einstellungen zum Übersetzen zu gelangen und argumentative Muster zu erkennen. Insbesondere sind Versuche sehr selten, die Humanübersetzungen und das MT nicht als Gegensätze zu sehen, sondern komplementärintegrativ aufzufassen.64 Zwar wird in der Computerlinguistik die LeistungsfäVgl. Pierre Bourdieu: «Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital», in: Soziale Ungleichheiten, hg. v. Reinhard Kreckel (= Soziale Welt Sonderband 2), Göttingen 1983, 186–188. 62 Vgl. ebd., 187; Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982. 63 Vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. 64 Vgl. für eine grundlegende Überlegung z. B. Noah Bubenhofer und Philipp Dreesen: «Linguistik als antifragile Disziplin? Optionen in der digitalen Transformation», in: Digital Classics Online 4/ 1, 2018. 61 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation higkeit65 und die soziale Konsequenz von MT inzwischen differenziert betrachtet und dabei vor dem Hintergrund von Spracheinstellungen aus der Übersetzungswissenschaft kritisch reflektiert. Läubli und Orrego-Carmonas Analyse von Postings von Übersetzerinnen und Übersetzern in sozialen Medien zeigt aber massive Vorbehalte gegenüber maschineller Übersetzung. Die beiden Autoren fordern deshalb einen verstärkten Dialog zwischen professionellen Übersetzer*innen und MT-Forscher*innen: The issues presented above show that professional translators and researchers hold different positions, not due to a lack of information or skills, but rather poor communication. […] For translators to have an active role in the development of the technologies they (have to) use, it is necessary for both sides, professional translators and researchers, to meet halfway and cooperate.66 5 Fazit Wie die europäische Geschichte der Übersetzung zeigt, wandeln sich Vorstellungen und Einstellungen zu Funktionen, Leistungen und Werten der Übersetzungspraktik.67 Die globalgeschichtliche Wirkmächtigkeit der Praktik des Übersetzens ist für Europa vor dem Hintergrund von globaler und europäischer Mehrsprachigkeit immens.68 Aus dieser historischen Perspektive stellt sich die Frage, warum die tiefgreifende und irreversible digitale Transformation trotz der historischen Wirkmächtigkeit der Praktiken des Übersetzens weitgehend unreflektiert von statten geht. Weil derzeit eine Antwort auf diese Frage noch aussteht, halten wir es für erkenntnisfördernd, von der Pluralität der Übersetzenskonzeptionen auszugehen: Übersetzen als Kulturtechnik, als eingeübte nicht-, semi- oder professionelle Praktik, als in der Schule erworbene Kompetenz, als Black-box-Prozess, als Kapital, als Programm-Code etc. Gerade angesichts der Vielfalt und der grundsätzlichen Kontingenz der digitalen Transformation plädieren wir dafür, nicht zu vernachlässigen, dass der derzeitige Wandel des Übersetzens primär auf verVgl. Samuel Läubli, Rico Sennrich und Martin Volk: «Has Machine Translation Achieved Human Parity? A Case for Document-level Evaluation», in: arXiv:1808.07048 [cs], 2018. 66 Samuel Läubli und David Orrego-Carmona: «When Google Translate is better than Some Human Colleagues, those People are no longer Colleagues», in: Proceedings of the 39th Conference on Translating and the Computer, London 2017, 68, verfügbar unter: https://wlv.openrepository.com/ bitstream/handle/2436/621167/TC39-london2017.pdf ;jsessio nid=7662175B9AD809904B973D578E332573?sequence=1#page=67 [30.09.2019]. 67 Vgl. Mary Snell-Hornby und Jürgen Schopp: «Übersetzung», in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), 2012, verfügbar unter: http://iegego.eu/de/threads/hintergruende/uebersetzung/mary-snell-hornby-juergen-f-schopp-uebersetzung [30. 09. 2019]. 68 Vgl. Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, 3. Aufl., München 2016, 30. 65 GiS 16/2019, 26–49 47 48 Noah Bubenhofer, Philipp Dreesen änderten Vorstellungen darüber beruht, was Einzelsprachen sind und wie sie funktionieren, und nur sekundär auf technischen Neuerungen: Mit den Angeboten des MT setzen sich bestimmte Vorstellungen des Übersetzens durch und werden dominant gegenüber einer Vielzahl von Übersetzungstechniken, wie sie insbesondere in Europa über Jahrhunderte entwickelt, angewandt und tradiert worden sind. Die veränderte Vorstellung vom Übersetzen und ihre technische Implementierung haben denn auch weitreichende Auswirkungen nicht nur auf Endanwender*innen, sondern auch auf zentrale Aspekte in den Bereichen Bildung und Ökonomie und auf die interkulturelle Kommunikation in der globalisierten Welt. Die sprachideologischen Prämissen hinter MT führen vermutlich in mehrfacher Hinsicht zu Singularitäts- und Vereindeutigungseffekten: MT suggeriert den Endanwender*innen, dass es für Übersetzungen eines Quelltextes eine eindeutige Übersetzung in Form eines ausgegebenen Zieltextes gibt.69 Damit wird nicht nur ein zentraler Aspekt der Sprachauffassung in der Übersetzungswissenschaft negiert; das gesellschaftliche Problem eines Angebots für ein «ambiguitätsfreies Leben» liegt vor allem darin,70 dass den Endanwender*innen die Aufgabe, im Übersetzungsprozess eine Entscheidung treffen zu müssen, durch die Technik abgenommen wird: Der Mensch wird zweifach neu positioniert. Zum einen in ontologischer Hinsicht, da die Vorstellung des Menschen von seinesgleichen neu definiert wird: Er gilt nicht mehr als das einzige mit Urteilsfähigkeit begabte Wesen, sondern wird durch eine neue, als überlegen angesehene Wahrheitsinstanz verdrängt. Zum anderen anthropologisch, denn nicht mehr der Mensch übt mithilfe seines Geistes, seiner Sinne und seines Wissens Gestaltungsmacht aus, sondern eine als leistungsfähiger angesehene Interpretations- und Entscheidungsgewalt, die ihn aus immer weiteren Lebensbereichen ausschließen soll, nicht zuletzt aus dem Arbeitsleben.71 Solche Überlegungen sind gesellschaftlich deshalb von besonderer Relevanz, weil sie Aspekte unsere Vorstellung vom Wert des Übersetzens als Teil unserer europäischen humanistischen Vorstellung des Sprachgebrauchs betreffen.72 Diese Überzeugung wird in der Übersetzungswissenschaft durchaus anthropologisch Vgl. dazu bereits Orman Van Willard Quine: Word and object, Cambridge 2001 (= The MIT Press paperback series 4), 66. 70 Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, 3., erneut durchgesehene Auflage, Ditzingen 2018, 92. 71 Éric Sadin: «Künstliche Intelligenz: Das geht zu weit!», in: Zeit Online, 2017, verfügbar unter: https://www.zeit.de/2017/24/kuenstliche-intelligenz-digitalisierung-machine-learning-mensch [30. 09. 2019]. 72 Vgl. Wilhelm von Humboldt: «Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues», in: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1963, 225. 69 GiS 16/2019, 26–49 Das Konzept «Übersetzen» in der digitalen Transformation vorausgesetzt; «translation as conditio humana [Herv. i. Orig.]».73 Eine solche Überlegung greift Saussures faculté de langage bzw. Chomskys Kompetenz auf, dass jeder (gesunde) Mensch in der Lage ist, jede Sprache zu erlernen. Die durch die Entwicklungen im Bereich der MT ausgelöste Veränderung dieser Sprachkonzeption bedeutet ansatzweise auch eine andere normative Vorstellung vom Menschsein: «A definition of language is always, implicitly or explicitly, a definition of human beings in the world».74 George Steiner: Translation as conditio humana, in: Übersetzung. Translation. Transduction: Internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung, hg. v. Harald Kittel et al., Berlin und Boston 2004 (= HSK 26), 1. 74 Raymond Williams: Marxism and Literature, Oxford 1977, 21. 73 GiS 16/2019, 26–49 49