Zeitschrift für
Altorientalische und Biblische
Rechtsgeschichte
Journal for Ancient Near Eastern and Biblical Law
Herausgegeben von Reinhard Achenbach,
Hans Neumann und Eckart Otto
18 · 2012
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
ZAR erscheint einmal jährlich als refereed journal.
Anschriften der Herausgeber:
Prof. Dr. Reinhard Achenbach, Westfälische Wilhelms-Universität Münster,
Institut für Alttestamentliche Theologie, Evangelisch-Theologische Fakultät,
Universitätsstraße 13–17, 48143 Münster, E-mail: Reinhard.Achenbach@uni-muenster.de
Prof. Dr. Hans Neumann, Institut für Altorientalische Philologie und
Vorderasiatische Altertumskunde, Universität Münster, Rosenstraße 9, 48143 Münster,
E-mail: neumannh@uni-muenster.de
Prof. Dr. Dr. h.c. Eckart Otto (Ludwig-Maximilians-Universität München)
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Beratendes Herausgebergremium:
Bob Becking, Joseph Fleishman, Samuel Greengus, Bernard S. Jackson, Michael Jursa,
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und David P. Wright
© Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2013
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ISSN 0948-0587
Vorwort
Inhaltliche Ausrichtung und redaktionelle Betreuung des vorliegenden Bandes, der
dem Andenken des Keilschriftrechtshistorikers Herbert Petschow gewidmet ist,
werden von den beiden Unterzeichnern des Vorworts verantwortet.
Bei den Beiträgen von Joachim Oelsner, Johannes Renger, Martin Lang, Guido
Pfeifer, Gerhard Ries, Klaas R. Veenhof, Sophie Démare-Lafont und Heinz Barta
handelt es sich um die Schriftfassung von Vorträgen, die auf der vom Institut für
Altorientalische Philologie und Vorderasiatische Altertumskunde der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster vom 10.-12. Februar 2010 veranstalteten Tagung
„Neue Forschungen zur Altorientalischen Rechtsgeschichte. Traditionen – Probleme
– Perspektiven“ gehalten wurden. Anlass der Tagung war der 100. Geburtstag von
Herbert Petschow am 26.12.2009, was sich mit einer Würdigung der Leipziger keilschriftrechtlichen Tradition – der sich die gegenwärtige Altorientalistik in Münster
in ihrer Einheit von Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichtsforschung in besonderer Weise verpflichtet fühlt – verband. Die Tagung führte Altorientalisten, Juristen
und Alttestamentler aus dem In- und Ausland vor allem mit dem Ziel zusammen,
neue Forschungsergebnisse im Bereich der sog. Keilschriftrechte und der damit
verbundenen dreitausendjährigen altorientalischen Gesellschaftsgeschichte zu präsentieren und auf interdisziplinärer Basis zu diskutieren.
Die Tagungsbeiträge werden ergänzt durch Aufsätze, die von den jeweiligen
Autoren – darunter auch Teilnehmer der Münsteraner Tagung – gleichfalls dem
Andenken Herbert Petschows gewidmet wurden. Darüber hinaus fanden entsprechend dem Profil der ZAR noch einige Rezensionsartikel und Rezensionen Aufnahme in den vorliegenden Band.
Münster, Dezember 2012
Hans Neumann / Susanne Paulus
Herbert P. H. Petschow
26. Dezember 1909 – 28. Juni 1991
Inhaltsverzeichnis
JOACHIM OELSNER
Herbert Petschow als Forscher, Lehrer und Mensch .............................................
1
JOHANNES RENGER
Persönliche Erinnerungen an Herbert Petschow und Auszüge
aus einem unveröffentlichten Manuskript von Benno Landsberger
mit Erinnerungen an seine Zusammenarbeit mit Paul Koschaker
und Martin David und Gedanken zur altorientalischen Rechtsgeschichte.............. 13
GEORG NEUMANN
Paul Koschaker in Tübingen (1941–1946) ............................................................ 23
MARTIN LANG
Von der Unordnung der Zauberei und von der Ordnung des Rechts:
ratio legis und „Sitz im Leben“ eines lange bezeugten Tatbestandes ................... 37
ECKART OTTO
Nach welchen Gesichtspunkten wurden Rechtssätze in keilschriftlichen und
biblischen Rechtssammlungen zusammengestellt? Zur Redaktionsgeschichte
keilschriftlicher und biblischer Rechtssatzsammlungen ........................................ 63
JOACHIM OELSNER
Zur Einteilung des Kodex Ḫammu-rāpi im Altertum ............................................ 79
GUIDO PFEIFER
Gewohnheitsrecht oder Rechtsgewohnheit(en) in altbabylonischer Zeit
oder: Was war die Grundlage des „Codex“ Ḫammurapi? ..................................... 127
GERHARD RIES
Strafrecht in altbabylonischen Gerichtsurkunden .................................................. 133
KLAAS R. VEENHOF
Old Assyrian and Old Babylonian Law. Some comparative observations ............ 141
SOPHIE DEMARE-LAFONT
Le mariage babylonien – une approche historiographique .................................... 175
JOSUÉ J. JUSTEL
The Involvement of a Woman in her Husband’s Second Marriage
and the Historicity of the Patriarchal Narratives ................................................... 191
VI
Inhaltsverzeichnis
BETINA FAIST
Der neuassyrische Kaufvertrag im Spannungsfeld
zwischen Formular und konkretem Fall ................................................................ 209
KRISTIN KLEBER
Rhetorical strategies in letters of Babylonian officials .......................................... 221
RONNIE GOLDSTEIN
A Neo-Babylonian Administrative Term in Isaiah 23:18 ...................................... 239
HEINZ BARTA
Antike Rechtsgeschichte – Heute? ........................................................................ 249
REINHARD ACHENBACH
The Transformation of Measures for Social Justice into Measures
for International Law in the Book of Habakkuk .................................................... 263
DOMINIK MARKL
The Decalogue in History
A Preliminary Survey of the Fields and Genres of its Reception .......................... 279
JOSEPH FLEISHMAN
Spreading the Cloth in Deuteronomy 22:17b
Conclusive Evidence or the Beginning of the Evidential Procedure? .................... 295
JOHANN MAIER
Voraussetzungen und Ausformung eines jüdischen Rechts
im antiken Judentum .............................................................................................. 309
Rezensionsartikel
JOACHIM OELSNER
Tontafeln aus drei Jahrtausenden –
die Leipziger Sammlung von Keilschrifttexten ..................................................... 341
ECKART OTTO
Recht in der Erzählung und Erzählung im Recht
Neue Forschungen zu „Recht und Erzählung/
Law and Narrative“ in altorientalischer und biblischer Literatur .......................... 355
ECKART OTTO
Jenseits der Suche nach dem „ursprünglichen Text“ in der Textkritik
Fortschreibungen und Textautorität in der nachexilischen Zeit ............................. 365
Inhaltsverzeichnis
VII
WOLFGANG MESSERSCHMIDT
Ktesias’ Welt – Ctesias’ World
Zum ersten Band der neuen Reihe Classica et Orientalia ...................................... 373
Rezensionen ........................................................................................................... 379
Stellenregister ........................................................................................................ 397
Autoren .................................................................................................................. 403
Gewohnheitsrecht oder Rechtsgewohnheit(en)
in altbabylonischer Zeit
oder: Was war die Grundlage des „Codex“ Ḫammurapi?
Guido Pfeifer (Frankfurt a. M.)
Herbert Petschow, der durch diesen Band der ZAR geehrt wird, hat mehrfach und gestützt
auf für ihn so typische und ihn auszeichnende akribische Detailuntersuchungen Stellung
bezogen in der Diskussion um die Natur des so genannten „Codex“ Ḫammurapi1. Ohne
Petschows Leistung in dieser Hinsicht zu relativieren, ist darüber hinaus feststellbar, dass es
den Keilschriftrechtshistoriker – sei er oder sie nun juristischer oder philologischer Provenienz –, der sich nicht zu dieser Frage geäußert hat, praktisch nicht gibt. Dem Thema eignet
insoweit ein verbindender Charakter über alle Fächergrenzen hinweg – und würde sich
gerade deshalb im Hinblick auf den Bezug zur Person Herbert Petschows geradezu aufdrängen. Gleichwohl stellt diese Fragestellung nicht den Gegenstand des folgenden Beitrags dar.
Sie bildet aber natürlich den Ausgangs- und Anknüpfungspunkt zu der anderen hier
untersuchten Fragestellung nach der Grundlage eben des „Codex“ Ḫammurapi, respektive
nach Gewohnheitsrecht oder Rechtsgewohnheit(en)2 in altbabylonischer Zeit. Denn der
„Codex“ Ḫammurapi stand seit seiner Entdeckung gleichsam im Fokus der altorientalischen Rechtsgeschichte. Der Verlauf der Diskussion um seine Natur muss an dieser Stelle
nicht im Einzelnen nachvollzogen werden.3 Die wichtigsten Erklärungsmodelle lassen sich
stichwortartig mit dem Charakter eines Gesetzes einschließlich eines entsprechenden Geltungsanspruchs in der Realität der Rechtspraxis einerseits sowie der Funktion einer Kommemorativinschrift zur Selbstdarstellung des Herrschers andererseits zusammenfassen.
Beide Modelle überschneiden sich in der heute wohl unumstrittenen Annahme, dass der
1
Siehe nur H. Petschow, Art. „Gesetze A. Babylonien“, RlA Bd. 3, Berlin – New York 1957-1971, (255–
269), 256; insbesondere aber ders., Zur Systematik und Gesetzestechnik im Codex Hammurapi, ZA 57,
1965, 146–172, ders., Die §§ 45 und 46 des Codex Hammurapi. Ein Beitrag zum altbabylonischen Bodenpachtrecht und zum Problem: Was ist der Codex Ḫammurapi?, ZA 74, 1984, 181–212 sowie ders.,
Beiträge zum Codex Ḫammurapi, ZA 76, 1986, 17–75.
2 Zum Begriff der Rechtsgewohnheiten und zur Perspektive der altorientalischen Rechtsgeschichte hierauf im Anschluss an die Tagung „Mittelalterliche Rechtsgewohnheit als rechtshistorisches und rechtstheoretisches Problem“ der International Max Planck Research School for Comparative Legal History
am 15. und 16. Januar 2010 siehe G. Pfeifer, Rechtsgewohnheiten in der Perspektive der altorientalischen Rechtsgeschichte, Rechtsgeschichte 17, 2010, 81–83 sowie ders., Antwort auf Philipp Scheibelreiter, in: G. Thür u.a. (Hg.), Symposion 2009, Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte, Wien 2010, (377–382), 380 f.
3 Überblick bei S. A. Jackson, A Comparison of Ancient Near Eastern Law Collections Prior to the First
Millenium B.C., New Jersey 2008, 69–113 sowie die Bibliographie ebd. 257–276.
128
Guido Pfeifer
Text als solcher in der literarischen Tradition der Schreiberausbildung zu verorten ist.4
Besondere Erwähnung verdient allenfalls die Tatsache, dass bei Zubilligung eines gesetzlichen Charakters auch aus juristischer Perspektive der Begriff des Gesetzes natürlich nicht
in seinem technischen modernen Sinn des formellen bzw. materiellen Gesetzes gebraucht
wird, sondern in einem allgemeinen und weiten Verständnis einer autoritativen Rechtssetzung. Abgesehen davon lässt sich vielleicht resümierend konstatieren, dass sowohl die
autoritative Rechtssetzung (oder das Gesetz) wie auch die kommemorative Funktion der
Inschrift und der überlieferungsgeschichtliche Kontext der Schreiberschulen für sich genommen jeweils einen derart hohen Grad der Plausibilität aufweisen, dass eine alternative
Annahme der einzelnen Modelle sich schlechterdings verbietet, sondern sie vielmehr als
Nebeneinander bzw. als Kombinationsmodell gedacht werden müssen.
Im Zusammenhang mit der Diskussion um den Gesetzescharakter, aber nicht nur dort,
ist indes ein Aspekt von Bedeutung, der hier etwas eingehender betrachtet werden soll:
Ähnlich wie andere frühe Beispiele der Rechtsetzung bzw. Rechtssammlung im Altertum5
zeigen auch der „Codex“ Hammurapi sowie die anderen überlieferten altorientalischen
Rechtssammlungen im Hinblick auf die erfassten Rechtsmaterien deutliche Lücken auf.6
Mit dem Befund des fragmentarischen Charakters der altorientalischen und anderer früher
Rechtsetzungen geht häufig die Annahme einher, dass die betreffenden frühen Rechtsordnungen im wesentlichen gerade nicht durch schriftlich fixiertes Recht, sondern vielmehr
durch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht geprägt seien. Dies mutet auf den ersten Blick
schlüssig an und kann auch, jedenfalls über weite Strecken, das Verhältnis zwischen den
Rechtssammlungen und der in ungleich größerer Quantität überlieferten Vertragspraxis
erläutern. Soweit diese Rechtspraxis nämlich zu den Rechtssammlungen inhaltlich im Widerspruch steht, lässt sich dies mit der mangelnden Befolgung des reformatorisch-gesetzgeberischen Willens erklären und damit sogar die Annahme eines autoritativen Geltungsanspruchs stützen.7
Allerdings birgt die Prämisse eines gewohnheitsrechtlichen Fundaments der Rechtssammlungen die Gefahr terminologischer Unschärfe: Der Begriff des Gewohnheitsrechts
setzt selbst bei einem weiten Sprachgebrauch seinerseits die Existenz geschriebenen Rechts
voraus und leitet sich aus der Gegensätzlichkeit hierzu geradezu ab, wie es uns etwa im
römischen Recht der spätklassischen Zeit bei Ulpian im ersten Buch seiner Institutionen,
überliefert in D. 1, 1, 6, 1, mit der Differenzierung zwischen ius ex scripto und ius sine
scripto berichtet wird. Geschriebenes Recht im Sinne positiv gesetzten Rechts als notwendiger Gegenbegriff steht für die altbabylonische Zeit als solches aber zumindest in der
Diskussion. Zudem lassen sich die weiters erforderlichen und allgemein anerkannten Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts, wie die lang andauernde Übung (longus usus) und
4 H. Neumann, Recht im antiken Mesopotamien, in: U. Manthe (Hg.), Die Rechtskulturen der Antike,
München 2003, (55–122), 65.
5 Als Beispiele seien hier nur genannt etwa die Rechtssammlung von Gortyn für das griechische oder das
Zwölftafelgesetz für das römische Recht.
6 Dazu mit Beispielen Pfeifer, Rechtsgewohnheiten (o. Anm. 2), 81. Gerade dieser Befund macht deutlich, wie wichtig terminologische Sorgfalt im Umgang mit den Quellen ist, und etwa der Begriff der
„Kodifikation“ im modernen Sinne, der nachgerade mittels des Anspruchs einer planmäßigen und lückenlosen Rechtsetzung definiert wird, schlechterdings nicht verwendet werden kann.
7 Pfeifer, Rechtsgewohnheiten (o. Anm. 2), 81.
Gewohnheitsrecht oder Rechtsgewohnheit(en) in altbabylonischer Zeit
129
vor allem die allgemeine Billigung der Rechtsverbindlichkeit (opinio iuris), wenn überhaupt, nur extrem schwer nachweisen,8 von der Gefahr, mittels derartiger, an der römischrechtlichen Dogmatik ausgerichteten Strukturen ungewollte Vorverständnisse beim Blick
auf die altorientalischen Rechtsordnungen in Kauf zu nehmen, ganz abgesehen.
An diese Probleme schließt sich mehr oder minder unmittelbar die Frage an, ob sich
durch eine Variation in der Terminologie zumindest ein Teil der Probleme vermeiden und
sich vielleicht sogar zugleich ein Erkenntnisgewinn erzielen lässt.9 Dass eine theoretische
Reflexion des sprachlichen Instrumentariums zur Beschreibung der Rechtsordnungen des
Alten Orients als solche geboten ist, ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass uns die Primärquellen – anders als im römischen Recht mit einer eigenen Rechtswissenschaft und
Dogmatik – gerade keine theoretische Metaebene zur Verfügung stellen.10 Dieser Befund
begünstigt indes einen Vergleich mit Rechtsordnungen, bei denen dies in ähnlicher Weise
der Fall ist, etwa denen des deutschen Mittelalters.
In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat innerhalb der damals noch so
genannten „Deutschen Rechtsgeschichte“11 eine Diskussion des Rechtsbegriffs stattgefunden, die geprägt war von Fragestellungen nach der Funktionsweise von Recht im Rahmen
vormoderner Staatlichkeit, dem Gegensatz bzw. der Parallelität von Oralität und Schriftlichkeit oder eben dem Fehlen gelehrter juristischer Professionalität, um nur einige zu nennen.12 In den Kontext dieser Diskussion fällt auch die „Erfindung“ oder besser
Wiederentdeckung des Begriffs der „Rechtsgewohnheit“, der bereits im neunzehnten
Jahrhundert durch den Germanisten Wilhelm Arnold Verwendung gefunden hatte.13 Mit
dem Wechsel von „Gewohnheitsrecht“ zu „Rechtsgewohnheit“ waren nicht zuletzt eine
Abkehr von der normativen Ebene sowie zugleich eine Hinwendung zu einer empirischen
8 Dazu G. Cardascia, La coutume dans les droits cuneíforms, in: La Coutume – Societé Jean Bodin,
Brüssel 1990, (61–69), 65.
9 Genauso gut lässt sich natürlich die Gegenfrage formulieren, ob terminologische Variation bzw.
Präzisierung überhaupt erforderlich sind. Denn man könnte den genannten Problemen durchaus auch
dadurch begegnen, dass man sich auf einen möglichst weiten und untechnischen Begriff des Gewohnheitsrechts verständigt, ähnlich wie es sich auch beim Gesetzesbegriff durchaus bewährt hat. Dieser
methodische Ansatz wird allerdings dem Bedürfnis theoretischer Reflexion der Sprache als dem eigenen
Handwerkszeug lediglich mäßig gerecht.
10 Dazu auch G. Pfeifer, Vom Wissen und Schaffen des Rechts im Alten Orient, Rechtsgeschichte 19,
2011, (263–266), 263.
11 Heute ist fast ausnahmslos entweder von regional geprägter, also etwa bayrischer oder westfälischer,
oder aber von europäischer Rechtsgeschichte die Rede.
12 Dazu vor allem die Beiträge in G.Dilcher, Normen zwischen Oralität und Schriftkultur. Studien zum
mittelalterlichen Rechtsbegriff und zum langobardischen Recht, B. Kannowski / S. Lepsius / R.
Schulze, Köln u.a. 2008, ders. / E.-M. Distler (Hg.), Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen
Rechtskultur, Berlin 2006, sowie ders. / H. Lück / R. Schulze / E. Wadle / J. Weitzel / U. Wolter (Hg.),
Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, Berlin 1992; ferner A. Cordes / B.
Kannowski (Hg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter, Frankfurt am Main u.a. 2002. Die genannte Diskussion
erfüllte unter anderem auch insoweit eine zeit(geist)bedingte Funktion, als sie einer seinerzeit jüngeren
Generation von Rechtshistorikern erlaubte, sich von der politisch und ideologisch belasteten Beschäftigung mit dem „germanischen“ Recht in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts abzugrenzen.
13 Dazu K. Kroeschell, „Rechtsgewohnheiten“ – und wie es dazu kam, Rechtsgeschichte 17, 2010, (58–
61), 60. Siehe aber bereits die Vorrede bei J. Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Göttingen 1828, IX.
130
Guido Pfeifer
und soziologisch-anthropologischen Betrachtungsweise verbunden.14 Der Anschauung
halber seien hier zwei Definitionsvorschläge wiedergegeben, auch wenn sie erkennbar zwei
unterschiedliche Begriffsebenen betreffen, was sich nicht zuletzt in der differenzierenden
Verwendung des Terminus im Singular und Plural zeigt: „Rechtsgewohnheiten waren eingeübte, vielfach wiederholte Verhaltensweisen auf dem Gebiet des Rechts, zu denen man
nicht verpflichtet war, deren Verbindlichkeit erst durch Konsens und freiwillige Unterwerfung entstand und die über die konkrete Verabredung hinaus keine bindende Wirkung für
die Zukunft entfalteten“15 sowie „Rechtsgewohnheit ist die Erhebung des ‚normalen‘
gesellschaftlichen Seins zur Norm. Recht im Sinne der Rechtsgewohnheit gilt, weil es
‚normal‘ ist“16. Während hier also die Rechtsgeltung im Allgemeinen angesprochen ist,17
geht es bei der ersten Definition um konkrete Erscheinungsformen bzw. eine Phänomenologie. Beispiele der „Deutschen Rechtsgeschichte“ für konkrete Rechtsgewohnheiten in
diesem Sinne waren und sind etwa Verhaltensweisen im Rahmen der kaufmännischen Vertragspraxis bzw. der lex mercatoria oder der iura mercatorum, bis hin zu Wechselrecht und
Preisbildung. Ähnliches ließe sich wohl ohne weiteres auch im Bereich der Keilschriftrechte verifizieren.18 Im Folgenden soll das Augenmerk auf ein Phänomen der keilschriftlichen Rechtspraxis gelenkt werden, das sich möglicherweise durch den Begriff der Rechtsgewohnheit erfassen und vielleicht sogar erklären lässt, nämlich das der sog.
Klagverzichtsklauseln bzw. eigenständiger Klagverzichtsurkunden, vor allem im altbabylonischen Recht.
Wirkungsweise und Bedeutung der Klagverzichtsklauseln, wie sie uns sowohl in Vertragsurkunden wie auch in Prozessprotokollen der altbabylonischen Zeit begegnen, sowie
der Klagverzichtsurkunden, die uns aus dem prozessualen Kontext bekannt sind, scheinen
auch nach mehreren eingehenden Untersuchungen nach wie vor noch nicht vollständig
geklärt zu sein.19 Will man die bislang erzielten Forschungsergebnisse resümieren, wird
man festhalten müssen, dass die Idee Julius Lautners vom Schiedsvertrag20 zwar unter
entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkten nicht einer gewissen Attraktivität entbehrt,
14 Kroeschell, „Rechtsgewohnheiten“ (o. Anm. 13), 61; zur aktuellen Debatte siehe die Beiträge der in
Anm. 2 genannten Tagung in Rechtsgeschichte 17 (2010), 15–90.
15 A. Cordes, Rechtsgewohnheiten in lübischen Gesellschaftsverträgen, in: ders. / Kannowski (Hg.),
Rechtsbegriffe (o. Anm. 12), (29–41), 37.
16 G. Dilcher, Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle normativer Traditionen germanischer Völkerschaften bei
der Ausbildung der mittelalterlichen Rechtskultur: Frage und Probleme, in: ders. / Distler (Hg.), Leges –
Gentes – Regna (o. Anm. 12), (15–42), 40 f.
17 Das assoziiert aber auch Fragen nach dem Verhältnis von Norm und Schrift und nach
gedächtnisgebundenen Formen im Sinne oraler Rechtskultur, siehe Pfeifer, Rechtsgewohnheiten (o.
Anm. 2), 82.
18 Zu denken wäre etwa an Ordal und Reinigungseid, aber auch an Rechtssymbole wie den bukānum; dazu
D. O. Edzard, Die bukānum-Formel der altbabylonischen Kaufverträge und ihre sumerische Entsprechung, ZA 60, 1970, 8–53.
19 Überblick bei J. Oelsner, Art. „Klageverzicht(sklausel), RlA Bd. 6, Berlin – New York 1980–1983, 6–
15. Zum Teilprojekt „Klageverzichtsklauseln in altorientalischen Vertrags- und Prozessurkunden“ d.
Verf. im Rahmen des LOEWE-Forschungsschwerpunkts „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ in Frankfurt am Main siehe unter www.konfliktloesung.eu.
20 J. Lautner, Die richterliche Entscheidung und die Streitbeendigung im altbabylonischen Prozessrechte,
Leipzig 1922, bes. 35–67.
Gewohnheitsrecht oder Rechtsgewohnheit(en) in altbabylonischer Zeit
131
heute aber, insbesondere durch die Untersuchung Éva Dombradis,21 als widerlegt gelten
darf. Allerdings ist im Gegenzug dazu Dombradis Erklärungsvorschlag, dass die Klagverzichtsklauseln mittels einer Präklusionswirkung das richterliche Urteil in seinem Geltungsanspruch gleichsam geschützt hätten,22 für sich allein genommen wohl auch zu kurz gegriffen.23 Abgesehen vom damit nicht vereinbaren Befund, dass Prozessurkunden existieren,
die zeigen, dass die Präklusionswirkung offenbar nicht beachtet wurde, erläutert dieser
Ansatz lediglich die betreffenden Klauseln eben in den Prozessurkunden, nicht aber den des
Klagverzichts in Vertragsurkunden. Ungeachtet der Tatsache, dass letzteres jedenfalls für
den Bereich des Kaufrechts bereits von Mariano San Nicolò ausführlich im Sinne der Bedeutsamkeit für den Übergang des Eigentums erörtert wurde,24 stellt sich die Frage, ob
nicht dem Klagverzicht sowohl in Prozess- wie auch in Vertragsurkunden eine Gemeinsamkeit im Sinne einer Rechtsgewohnheit zugrunde liegt.
Ein konkretes Textbeispiel für Klagverzichtsklauseln sowohl im vertraglichen wie im
prozessualen Kontext bietet die Urkunde TCL 1, 15725. Der Text ist in vielerlei Hinsicht
interessant und aufschlussreich und wurde bereits mehrfach bearbeitet.26 Hier interessieren
allein die Zeilen 47 bis 6527; sie dokumentieren zum einen, dass die Richter der im Rechtsstreit unterlegenen Vindikantin eines Hausgrundstücks namens Iluša- egal eine Strafe
(arnum) auferlegt haben, weil sie ihr Siegel abgeleugnet hat. Das deutet darauf hin, dass die
Vindikantin im Zusammenhang mit dem Verkauf des streitbefangenen Grundstücks bereits
die Erklärung eines Klagverzichts abgegeben hatte, die wiederum in der betreffenden
Kaufurkunde festgehalten war, wie es dem Formular des Immobiliarkaufs in altbabylonischer Zeit standardmäßig entsprach.28 Über die Art der Sanktion wird hier nichts weiter
21 É. Dombradi, Die Darstellung des Rechtsaustrags in den altbabylonischen Prozessurkunden, FAOS 20,
1 und 2, Stuttgart 1996, Bd. 1, §§ 485–508.
22 Dombradi, Darstellung des Rechtsaustrags (o. Anm. 21), § 508 sowie dies., Das altbabylonische Urteil.
Mediation oder res iudicata? Zur Stellung des Keilschriftrechts zwischen Rechtsanthropologie und
Rechtsgeschichte, in: C. Wilcke (Hg.), Das geistige Erfassen der Welt im Alten Orient. Sprache, Religion, Kultur und Gesellschaft, Wiesbaden 2007, (245–279), 267.
23 Siehe dazu die Besprechung von G. Ries, SZ 116, 1999, (313–318), bes. 315 f.
24 Siehe M. San Nicolò, Die Schlußklauseln der altbabylonischen Kauf- und Tauschverträge, 2. Aufl.
München 1974, 107 f., wo in Anm. 41 eine Vertragsgestaltung ohne Verzichtsklauseln treffend mit der
Wirkung eines Eigentumsvorbehalts (jetzt § 449 Abs. 1 BGB) verglichen wird.
25 = VAB 5, 280, siehe ebd. auch den Kommentar zur Datierung; vgl. auch die Transkription und Übersetzung bei F. Thureau-Dangin, Un jugement sous Ammi-ditana, RA 7, 1909, 121–127.
26 Zum juristischen Kontext der Urkunde insgesamt siehe É. Cuq, Commentaire juridique d’un jugement
sous Ammi-ditana, RA 7, 1909, 129–138.
27 TCL 1, 157, Z. 47-65: d i . k u 5 meš a-wa-ti-šu-nu i-mu-ru-ma / I d i n g i r -ša- é . g á l n u . g i g d u m u - m í
d
é-a-i l l a t -sú / aš-šum na4k i š i b k i -ša ú-pá-aq-qí-ru / ar-nam i-mi-du-ši / ù tup-pi la ra-ga-mi-im / an-nia-am ú-še-zi-bu-ši / u 4 . k u r . š è tim 1 s a r é . d ù . a / (Lagebeschreibung) / aš-ša-at ad-di-li-ib-lu-ut /
I
d i n g i r -ša- é . g á l d u m u m e š -ša aḫ-ḫu-ša / ù ki-im-ta-ša a-na be-li-sú-nu / ù ad-di-li-ib-lu-ut mu-ti-ša
/ ú-ul i-[r]a-ag-ga-mu / m u d a m a r . u t u ù am-mi-di-ta-na šar-ri / i n . p à . d è m e š (Die Richter haben
ihre Angelegenheit geprüft und / der Iluša- egal, der qadištu, der Tochter des Éa-ellassu, / weil sie ihr
Siegel abgeleugnet hat, / ihr eine Strafe auferlegt / und diese Urkunde des Nichtklagens / haben sie sie
ausstellen lassen: / Dass in Zukunft bezüglich 1 Sar bebautes Hausgrundstück, / (Lagebeschreibung) /
gekauftes Gut der Bēlissunu, der nadītu des Marduk, / Ehefrau des Addi-liblut, / die Iluša- egal, ihre
Söhne, ihre Brüder, / oder ihre Familie gegen die Bēlissunu / und Addi-liblut, ihren Ehemann, / nicht
klagen werden, bei Marduk und Ammi-ditana, dem König, / haben sie geschworen.).
28 Siehe etwa CT 2, 37 (= VAB 5, 95), Z. 19–25.
132
Guido Pfeifer
mitgeteilt; aus anderen Quellen (etwa CT 2, 47 und CT 45, 18) wissen wir aber, dass in
diesem Zusammenhang sowohl Geldbußen, wie auch Körper- bzw. Ehrstrafen verhängt
wurden. Zum anderen gibt das Protokoll den Wortlaut einer „Urkunde des Nichtklagens“
(tuppi la ragāmim) wieder, welche die Richter die unterlegene Klägerin ausstellen lassen.
Hier wird mit deren Familie der Kreis der ausgeschlossenen potentiellen Anspruchsteller
zusätzlich erweitert.
Gerade letzteren Tatbestand hat Paul Koschaker bereits 1911 als Erweiterung der
Rechtsgeltung über den Kreis der Parteien hinaus verstanden29. Unter anderem hieran
anknüpfend, aber auch unter Berücksichtigung etwa der papyrologischen Arbeiten von
Josef Partsch30, hat Gerhart Husserl31 im Rahmen seiner rechtsdogmatischen und
rechtstheoretischen Untersuchung zu Rechtskraft und Rechtsgeltung aus dem Jahr 192532
die Vorstellung entwickelt, dass Rechtskraft und Rechtsgeltung überhaupt erst durch den
von ihm so bezeichneten Prätentionsverzicht zwischen privaten Rechtssubjekten generiert
werden. Dies unterstellt, käme den Klagverzichtsklauseln möglicherweise eine weitaus
fundamentalere Rolle zu, als bislang angenommen. Versucht man zudem, sie im Sinne des
oben vorgestellten Begriffs der Rechtsgewohnheiten zu erfassen, wäre in Betracht zu ziehen, dass es sich bei dem überlieferten Klauselbestand um ein verschriftetes Relikt aus
einer oralen Tradition handelt33.
Dieser Schluss lässt sich nicht im eigentlichen Sinne belegen oder falsifizieren. Insoweit
mag auch der damit verbundene Erkenntnisgewinn eher gering ausfallen, was ein abschließendes Fazit erschwert. Zweck der vorstehenden Überlegungen war es zunächst und vor
allem, zur gedanklichen Auseinandersetzung mit unserem eigenen Sprachgebrauch im
Hinblick auf rechtlich relevante Terminologie anzuregen. Begriffswahl allein löst selbstverständlich nicht per se alle Probleme, die nach wie vor bei der Erfassung der mesopotamischen Rechtsordnungen bestehen, so auch nicht der Begriff der Rechtsgewohnheit. Vielleicht ist er aufgrund seiner empirisch-soziologischen Konnotation aber zumindest etwas
besser geeignet als der dogmatisch verengte Begriff des Gewohnheitsrechts, um das weit
reichende rechtsphänomenologische Spektrum zu ermessen, das der fragmentarische Charakter der Rechtssammlungen als ihre Grundlage erahnen lässt34.
29
30
31
32
33
P. Koschaker, Babylonisch-assyrisches Bürgschaftsrecht, Leipzig 1911, 204 ff. mit Anm. 17.
Insbesondere J. Partsch, Griechisches Bürgschaftsrecht, Leipzig 1909.
Es handelt sich nicht um den bekannten Phänomenologen, sondern um dessen Sohn.
G. Husserl, Rechtskraft und Rechtsgeltung, Berlin 1925, 173 ff.
Zur Verschriftung bzw. Vertextung des ursprünglichen Sprechakts siehe auch Dombradi, Das
altbabylonische Urteil (o. Anm. 22), 268.
34 Leider war es mir nicht vergönnt, Herbert Petschow persönlich kennen zu lernen. Was mir über ihn
erzählt worden ist, legt den Schluss nahe, dass er über einen Beitrag wie den vorliegenden mindestens
die Stirn gerunzelt hätte, nachdem er so gut wie nie das wissenschaftliche Publikum mit Halbfertigem
oder nur unzulänglich zu Ende Gedachtem konfrontiert hat. Wenn sich unsereins diesen hohen Anspruch Petschows auch nicht ohne weiteres zu eigen machen kann, bleiben wir jedoch stets aufgefordert, ihn uns zumindest als Vorbild vor Augen zu halten.