BERND MÜLLER-JACQUIER
Missverstehen
Zur Analyse von Gesprächen unter der Bedingung
von Interkulturalität
1. Psychologisierung und Kulturalisierung kommunikativer Phänomene
Im Unterricht teile ich manchmal die Lernenden in zwei Gruppen, verteile ein halbseitiges
Transkript eines Gesprächs zwischen Personen aus verschiedenen Sprachgemeinschaften und bitten sie, im Wettstreit möglichst
viele grammatische Termini zu nennen, mit
denen sprachliche Ausdrucksformen kategorisiert werden können. Umgehend kommen
pro Gruppe mindestens 20 verschiedene korrekte Benennungen zusammen. Im nächsten
Schritt werden die Lernenden gebeten, die
Handlungen der Interagierenden, wechselseitige Bezugnahmen oder andere interaktionsrelevante Phänomene zu beschreiben. An
diesem Punkt offenbart sich regelmäßig, dass
der ausgeprägten grammatischen Kategorisierungskompetenz ein armselig anmutendes
Inventar an Beschreibungsmitteln interpersonalen Handelns gegenübersteht. Insbesondere regelwidrige Äußerungen von Nicht-Muttersprachlern werden systematisch mit Bezug
auf kulturelle Zugehörigkeit „erklärt“, bevor
sie als Ausdrucksform (gesprächs-)linguistisch funktional betrachtet werden.
Dieser Befund mangelnder pragmalinguistischer Differenzierung und die Tendenz
zur Kulturalisierung fremdsprachlicher Erscheinungsformen findet sich auch in fachwissenschaftlichen Beiträgen zur Erklärung von Auffälligkeiten in Gesprächen
unter der Bedingung von Interkulturalität,
u. a. im Umfeld der Kommunikationspsychologie (z. B. Kumbier/von Thun 2006)
und der Kulturstandardmethodiken (z. B.
Thomas et al. 2003).1 Hier wird dagegen
die These vertreten, dass die Pragmalinguistik insofern ein Primat im Analyseprozess
zwischenmenschlicher Kommunikation innehat, als sie erlaubt, sprachliche Handlungen im lokalen Gesprächskontext erst genau
zu bestimmen, bevor diese dann als Bewertungsgrundlage für Handlungsintentionen,
-bewertungen und kulturelle Einordnungen
gelten können. Dieser methodische Doppelschritt wird anhand der unten angeführten Beispiele illustriert: Eine Auswahl von
Interaktionssituatonen zeigt, welche pragmalinguistischen Bereiche in Gesprächen
zwischen Personen aus verschiedenen Kulturen relevant werden können, wie diese terminologisch gefasst und bewusst gemacht
werden können (um die o.g. Defizite auszugleichen) und welche psychologisierenden
sowie kulturalisierenden Schlüsse nahe liegen.2 Die folgenden Überlegungen verstehen sich also als Illustration eines Missver-
(1) Selbst in pragmalinguistisch angelegten Publikationen (z.B. Heringer 20172) werden deren Erklärungspotenziale für hot spots, also kritische interkulturelle Interaktionen, methodisch nicht deutlich von ‚Kultur‘ als Erklärungsressource getrennt ausgewiesen. Zur interdisziplinären Kritik an kulturalisierenden Ansätzen verweise ich auf die Beiträge im Themenheft „Interkulturelle Kompetenz“ (2003) oder Müller-Jacquier 2004.
(2) Der Begriff „Kulturen“ wird hier zum Einen als Referenz-Kategorie gebraucht, die Personen beim Berichten ihrer
interkulturellen Erfahrungen heranziehen (s. Kap. 5) und zum Anderen in ihrer Bedeutung als sozialisatorische Instanzen („Apparate zur Prozessierung der gesellschaftlichen Zwecke“, s. Ehlich 1996, 194). Jeder Kulturbegriff muss nicht
nur spezifische Gemeinsamkeiten ihrer Mitglieder, sondern dazu die gruppierungsrelevanten Widersprüche umfassend
beschreiben, die im Zusammenleben erzeugt werden und zu deren Eindämmung bzw. Überwindung interne Verfahren
entstanden sind. So ist beispielsweise Deutschland als Nation eine (sich ständig wandelnde) Kultur mit ganz spezifischen Gemeinsamkeiten, einschließlich der besonderen gemeinsamen gesellschaftlichen Widersprüche.
Der Deutschunterricht 1/2019
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ständnisses über die Natur interaktionaler
Missverständnisse: Nicht jedes Missverstehen beruht auf kulturell ausgeprägter
„Mentalität“.3 Lösungen bieten gesprächslinguistische Rekonstruktionen des kommunikativen Geschehens.
2 Linguistische Analysen von
Gesprächen
Die Analyse interpersonaler Interaktion ist zentraler Fokus der Gesprächsforschung. Sie gliedert sich in verschiedene
Forschungsströmungen und entsprechende
Methodiken.4 Deren Gemeinsamkeit ist,
dass Sprechphänomene grundsätzlich beschreibbar, erklärbar (accountable) sind,
und zwar u.a. dadurch, dass sich die CoPartizipanten gegenseitig zu verstehen
geben, was sie warum (miteinander) tun
(Papantoniou 2012, 9f), d.h. wie sie sprachliche Phänomene verstehen und verstehen
lassen (möchten). Ziel der Gesprächsforschung ist es, diesen umfassenden Prozess
der Bedeutungsaushandlung zu rekonstruieren. Fester methodischer Bestandteil sind
dabei Analysen in Form von Datensitzungen, in denen Gruppen von Analytikern
ein Transkript analysieren und versuchen,
die Ordnung, die sich die Beteiligten geben, also wiederkehrende sprachliche Muster und andere Eigenheiten des Gesprächs
herauszuarbeiten. Dies geschieht auf der
Grundlage der Maxime order at all points
(Sacks 1984,2lff.):
Jedes Detail eines Interaktionsablaufs - sei
es ein leises Räuspern, eine kleine Dehnung,
ein kurzes Ausatmen – muß als Beitrag zu
einer und als Bestandteil einer Ordnung betrachtet werden, und keines darf apriori als
insignifikant, als ungeordnet, zufällig oder
irrelevant abgetan werden.
EBERLE 1997, 259
Welcher Art diese Details sind, wie sie im
Gesprächsverlauf „emergieren“, welche
Funktion sie im Ablaufgefüge erfüllen mö-
gen und wie sie begrifflich definiert werden
können, ist Gegenstand der pragmalinguistisch ausgerichteten, hypothetischen Rekonstruktionen eines Gesprächs. Dabei werden
psychologisch-kulturelle Attributionen bewusst suspendiert, und mögliche Bezugnahmen auf Fremdsprachlichkeit, Fremdkultur
oder Interkulturalität (s.u.) gelten als Erweiterungen innerhalb des gesprächslinguistischen Erklärungsparadigmas.
2.1 Kommunikation interkulturell
Beteiligte machen in interkulturellen Kommunikationssituationen oftmals sprachliche
Einheiten und Besonderheiten expliziter, als
dies in Gesprächen unter Muttersprachlern
geschieht (beispielsweise durch prononciertes Sprechen, Häufung von Paraphrasen, Reparatur- und Klarifizierungssequenzen oder
Verstehensdokumentationen; vgl. Reitemeier 2010). Dies macht vorausgesetzte Kommunikationsregeln zugänglicher und die sequenzielle Co-Konstruktion sichtbarer. Ein
solcher analytischer Mehrwert entsteht dadurch, dass in Situationen mit Nicht-Muttersprachlern sprachliche Verwendungsregeln
deutlicher ausgehandelt werden als dies unter Muttersprachlern der Fall ist.
Wie oben angezeigt, ist die Trennung linguistischer Bestimmungen sprachlicher
Phänomenen, ihrer Funktionen (also die
Handlungsanalyse) auf der Grundlage transkribierter Daten einerseits und möglicher
psychologischer-kultureller Attributionen
andererseits die Grundlage für die folgenden Darlegungen zum Missverstehen:
Gesprächsausschnitt 1: Casablanca
Situation: Abdelmalek (Abd) aus Marokko
bei der Mitarbeiterin (M) eines Reisebüros
in Marseille (Roberts 1996, 12-13 mit Bezug auf Deulofeu/Taranger 1984):
1 Abd Je partir a casablanca, maroc
[ich nach casablanca fahren, marokko]
2M
par quoi vous voulez partir
[womit wollen Sie dorthin fahren]
3 Abd beaucoup de problèmes là-bas papa malade
(3) Einen Rückblick auf Forschungsansätze über Missverstehen erstellt Busch 2003, 55f.
(4) In den Beispielen werden interaktive Phänomene nicht streng induktiv aus rekurrenten Mustern hergeleitet, und daher verwende ich den unspezifischen Begriff ‚Gesprächsforschung‘ (vgl. Schmitt 2005, 20).
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Der Deutschunterricht 1/2019
[viele probleme da unten, papa
krank]
4
je partir tout de suite
[ich fahren sofort]
5M
je comprends pas là
[ich verstehe nicht hier]
6
qu‘est ce que vous voulez, où vous
voulez aller
[was wollen Sie, wo wollen Sie hin]
Ein Kommunikationsproblem wird von M
explizit gemacht. Bezüglich einer Problemquelle initiiert sie metakommunikativ eine Reparatur in Form eines open class repair initiator (Z.5) und fühlt sich durch eine
Doppelfrage (Z.6) zu einem reset der institutionellen Anliegensbearbeitung veranlasst.
Das Missverstehen bezieht sich sicherlich
auf As erwartungswidrige und kontextuell
unangemessene Begründung seines ReiseAnliegens (Z.3). Letztere könnte M linguistisch als unangemessene Form der Anliegensdarlegung, psychologisch als Naivität
oder kulturalisierend als unbotmäßige Trennung von Lebensbereichen (Schroll-Machl
4
2013, 141f) attribuieren (was hier Spekulation bleibt).
Doch warum hat Abd ein privates Motiv
preisgegeben? Als erste Hypothese kann
gelten, dass er als offensichtlicher NichtMuttersprachler das Interrogativpronomen
par qoi (womit?) als pourquoi (warum?)
gehört und sequenziell korrekt mit einer
Begründung reagiert hat. Somit wären
lautliche Affinität und mögliche fehlende
Kenntnisse in der Fremdsprache (L2) die
Ursache des Missverstehens. Doch warum hat Abd eine intime Frage im institutionellen Kontext überhaupt beantwortet
und nicht zurückgewiesen oder zumindest
seinerseits als Problemquelle markiert? –
Wenn im gesprächslinguistischen Vorgehen
mögliche Motive nicht im Gespräch selbst
deutlich werden, können fokussierte feedback-Interviews Aufschluss geben. So erläuterte Abd im Nachgespräch, dass er
– in Frankreich auch in formellen Situationen alle möglichen Fragen erwarte,
– davon ausging, dass die Reisebüro-Mitarbeiterin N das Recht hätte, persönliche
Fragen zu stellen und
– sich bewusst höflich und kooperativ zeigen wollte, „um selbst bei Rassisten gut
anzukommen“. (Roberts 1996 mit Bezug
auf Deulofeu/Taranger 1984, 107)
Der Deutschunterricht 1/2019
Wenn der Kommunikationsablauf also
auf den ersten Blick wenig Hinweise auf
Interkulturalität birgt, so ergibt sich ein
möglicher Erklärungsrekurs auf ‚Kultur‘
methodisch im metakommunikativen Feedback-Interview, in dem der Betroffene Abd
fremdkulturelle Interpretationen von Kommunikationserfahrungen und entsprechende Re-Aktionen anführt und kontrastiv sich
selbst und indirekt auch M als „kulturell
Handelnde“ (s.u. Kap 5) ansieht.
Gesprächsausschnitt 2: Konzeptbesprechung
Der folgende Ausschnitt zeigt ebenfalls keine psychologischen oder kulturellen Attribuierungen. Er stammt aus einem Trainingsfilm („Fahrtgemeinschaft“ 2002), in dem
diejenigen Kommunikationsprobleme zwischen deutschen und französischen Partnern zusammengefasst wurden, die aus der
Praxis der Wirtschaftskooperation berichtet (vgl. die Beispiele in Breuer/de Bartha
1996), jedoch nicht als solche – nämlich
Probleme der interpersonalen Interaktion
– analysiert, sondern als Mentalitäts- oder
Kulturunterschiede umgedeutet und tradiert
werden.
Situation: Frau Charrier (Char) und Herr
Perraud (Per) aus Frankreich treffen sich
zu einem Abgleich von Kooperationsmöglichkeiten mit Firmenvertretern in Deutschland, Herrn Berthold (Ber) und seinem Mitarbeiter, Herrn Herbertz (Her). Beide Seiten
haben ein Konzept darüber vorbereitet, wie
eine mögliche Kooperation aussehen könnte. Nach Begrüßung und Smalltalk steuern
sie in die Besprechungsphase:
1 BerD
ich dachte, · wir gehen · gleich
um zwölf schnell was
2
essen, · in ein kleines bistro,
ganz in der Nähe- ·
3
ein bisschen französische kültür4 ChaF
wenn sie wollen´
5 PerF
[nickt]
6 BerD
ja- wir können natürlich auch
woANders hingehen`
7
[schaut HeH an]
7 HerD
[an Ber] äh- der tisch ist schon
bestELLt8
wir würden sonst VIEL zu viel
ZEIt verlieren
9 BerD
ich glaube-. wir bleiben dabeiund planen um 16h30-.
67
10
was wir heute abend unternehmen` · LEIpzig ist bekannt
11
für KNEIpen KIRchen und KAbaretts` [lächelt]
12 [Per macht Stielaugen, Char tritt ihm
auf den Fuß] …
13 BerD dann können wir ja loslegen…
Sie haben mir gestern
14
schon Ihr konzEPT gegeben[hebt Mappe hoch, lässt
15
sie auf den Tisch fallen]. vielen dank`·
16
das habe ich mir heute früh
angesehen·
17 [Per und Char schauen sich an]
18 BerD aber · ich habe da noch · viele
fragen- auch ganz
19
grundsätzliche`· also, hier geben Sie SCHON mehr
20
informaTIONEN als auf ihrer
WEBseite- · aber WIE sie
21
sich UNsere kooperation im
leasingbereich vorstellen22
das kann ich aus den vielen
einzelpunkten NICHT erKENNEN.
23
die stehen ja erst mal nur so
nebeneinANder.
24 ChaF na für die präsi- · präsisionen
25 HerD
präzisierungen
26 ChaF ja` präsisierungen- · dankesind wir hier gekommen
27 PerF
das können wir zuSAMmen
machen`
28 BerD vielleicht fasse ich erst mal das
grundSÄTZliche zusammen`5
Auch in diesem Ausschnitt wird Interkulturalität im Sinne der Verwendung unterschiedlicher Sprechkonventionen, Einstellungen oder Wertorientierungen nicht
direkt sichtbar. Doch zeigen sich die CoPartizipanten Erwartungswidrigkeiten an,
wenn nicht so kommuniziert wird, wie sie
es aufgrund gewohnter Konventionen (ein-
schließlich Partnerhypothesen, s.u.) als angemessen annehmen.6 Im Ausschnitt oben
ist dies an mehreren Stellen der Fall. Mit der
Problemquellen-Äußerung wenn sie wollen´ (Z.4) ratifiziert ChaF den Vorschlag des
Gastgebers BerD (Z.1-3)7 in einer für französische Sprachgemeinschaften üblichen,
positiv zustimmenden Form. Die Co-Zustimmung durch PerF (Z.5) und damit die
Annahme der französischen Seite erfolgt
nonverbal. Doch fasst BerD die Reaktion
als indirekte Ablehnung auf und macht einen offenen Alternativ-Vorschlag. Diesen
weist sein Mitarbeiter HerrD mit einer Begründung (Z.7–8) zurück. Die Irritation
von BerD erfolgt möglicherweise deshalb,
weil die Äußerungsform wenn sie wollen´
im Deutschen konventioneller Weise eine
eingeschränkte Zustimmung, nämlich ‚ohne Eigenpositionierung‘ darstellt, während
sie im frankophonen Raum als positiv konnotierte Zustimmung verwendet wird. BerD
möchte möglicherweise erreichen, dass seinem Vorschlag uneingeschränkte Geltung
zukommt und zieht ihn zurück. Hier kann
man also gleiche Realisierungsformen eines Sprechakts konstatieren, der in Fremd-/
Muttersprache L1 und in Fremd-/Muttersprache L2 unterschiedliche Intentionen
ausdrückt. Bei einem einmaligen Auftreten dieser Interpretationsdiskrepanz gehen
die Interagierenden sicherlich von einem
lokal einmaligen Kommunikationsproblem
aus, z.B. einer missverständlichen Intonation oder Einflüssen von Nebengeräuschen.
Bei mehrfachen Erfahrungen entsteht dann
der Eindruck, ein Gegenüber sei zögerlich
(Psychologisierung) oder Franzosen würden Vorschlägen generell nicht eindeutig zustimmen (Zögerlichkeit als Kulturalisierung). Belege für den oben genannten
erfahrungsbedingten Lösungsvorschlag mit
Verweis auf unterschiedliche Interpretationen wörtlich gleicher Sprechakt-Struktu-
(5) Die Transkription verdeutlicht, an welchem Punkt des Redebeitrags eines Sprechers sich ein weiterer einschaltet
(einschl. Überlappungen). Notationen: Mikropause: •; erhöhte Lautstärke: GROSSbuchstaben; Stimmhebung: ´; Stimmsenkung: `; gleichbleibende Stimmlage: – Die Muttersprachen der Beteiligten sind mit tiefgestelltem D (=deutsch) und
F (=Französisch) angegeben.
(6) Dies geschieht natürlich auch unter Muttersprachlern, sodass in der Analyse ein Wissen um die andere Kultur und vor
allem ein pragmalinguistisches Wissen dort aktiviert werden muss, wo die Reaktionen ein Verstehensproblem anzeigen.
(7) Kontextualisiert bedeutet er für viele Franzosen eine „Einladung“, und zwar in dem Sinn, dass der Einladende die
Rechnung übernimmt. Auch wenn viele französische Geschäftsleute einen unternehmerischen Erstkontakt eher mit einem Restaurantbesuch in Verbindung bringen, ergibt sich – auch durch grundlegende Konsens-Orientierung in dieser
Gattung – kein Grund zur Infragestellung des Vorschlags.
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Der Deutschunterricht 1/2019
ren ergeben sich jedoch erst aus der Analyse weiterer gesprächslinguistischer Daten
(Transkripte) deutsch-französischer Besprechungssituationen, die über die Pionierstudie von Helmolt (1997) hinausgehen.
Ungewöhnlich kann auch PerFs Stielaugen-Reaktion (Z.12) erscheinen. Er versteht dt. ‚Kabarett‘ (Kleinkunstbühne mit
politischer Satire) möglicherweise als frz.
cabaret (Variété, u.a. mit Shows leicht
bekleideter Damen) und manifestiert seine Überraschung in übertriebener Form,
um auf eine unernste Gesprächsebene zu
wechseln (was CharF dezent unterbindet,
Z.12). Hier geht es also um quasi homophone Wörter, die im Deutschen und Französischen auf unterschiedliche FreizeitInstitutionen verweisen, also ein Problem
unterschiedlicher Gebrauchsregeln (Keller
2018, 90f.). Der Modalitätswechsel auf die
scherzhaft-beziehungsorientierte Ebene (v.
Helmolt 1997, 143) bleibt hier folgenlos.
Doch initiiert PerF im vollständigen Gespräch mehrere, von BerD und HerD als interaktiv durch Nicht-Beteiligung „negierte“ Wechsel in eine Scherzkommunikation.
Solche exaltierenden Aktivitäten werden
von Partnern aus Deutschland regelmäßig
als unangemessene Unterbrechung angesehen (s. dazu v. Helmolt 1997, 112f.) und
französischen Partnern als kulturelle Eigenheit der Unseriosität oder Flatterhaftigkeit attribuiert (Kulturalisierung).
In Z.17 manifestieren CharF und PerF nonverbal ihre Überraschung darüber, dass BerD
ihr Konzept bereits vor der Sitzung „angesehen“ hat. Diese wird lokal nicht weiter
expliziert.
Die Problemkategorie ‚unterschiedliche Gebrauchsregeln für Wörter‘ kann auch zur Lösung der folgenden Irritation herangezogen
werden. BerD formuliert, dass die überreichte Konzeptvorlage erwartungswidrig unzureichend sei, denn: er habe noch viele fragen- auch ganz grundsätzliche` (Z.18 –19)
und er bekäme SCHON mehr informaTIONEN als auf ihrer WEBseite- · aber …
(Z.19 – 20), was ein indirekter Vorwurf mit
Verweis auf die Relevanzmaxime (s. Beitrag
XX in diesem Heft) sein kann. Vor allem
diese Handlung macht sein Resümee plausibel, er könne nicht recht erkennen, wie sich
die Gegenseite UNsere kooperation im leasingbereich (Z. 20 – 22) vorstellt und fügt an,
Der Deutschunterricht 1/2019
dass die präsentierten Informationen nicht
geordnet seien – wie es einem ‚Konzept‘
entsprechen würde –, sondern erst mal nur
so nebeneinANder (Z.23) stünden. Diesen
Vorwurf weist ChaF mit dem Verweis darauf
zurück, dass sie doch zwecks Detaillierung
nach Leipzig gereist seien (Z.204 – 206),
assistiert von einer paraphrasierenden Bestätigung mit Aufforderungscharakter seitens ihres Mitarbeiters (Z.27). Sicherlich
beruft sich die französische Seite auf die
Bedeutung von frz. concept, das als vorläufige Zusammenstellung von Sachinformationen konventionalisiert ist. So formulieren
beide Seiten (in Z.18 – 23 und Z.24 – 27) ihre Normalitätserwartungen, ihren jeweiligen
Gebrauch des Begriffs ‚Konzept/concept‘,
ohne dass es zu einer Klärung der Irritationen kommt (s. der Themenwechsel im anschließenden Beitrag von BerD, Z.28). Auch
wird an dieser Stelle rückblickend klar, dass
der erwähnte Blickkontakt in Z.17 bereits
ein Missverstehen anzeigt; denn aus Sicht
der Frankophonen ist es außergewöhnlich,
dass BerD eine überschaubare Vorlage, die
im Gespräch erst entwickelt werden soll,
vor dem um 8h morgens angesetzten Treffen
prüft. Dies zeigt, dass Problemmanifestationen für Manifestationen der Erwartungswidrigkeit nicht umgehend in Problembearbeitungen münden müssen (Papantoniou
2012, 26 – 27). Einige werden im weiteren
Verlauf des Gesprächs verstehbar, meistens
wird jedoch keine neue Klärung angestrebt.
3 Missverstehen
Missverstehen erweist sich als kontinuierliche, gesprächsbegleitende Allerweltserfahrung, und zwar deshalb
– weil Co-Partizipanten prinzipiell keine
Eindeutigkeit anstreben (können), und
– weil Kommunikationsmittel „… nicht einer Realität, die selbst voller Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten ist“
(Hinnenkamp 1998, 9) entsprechen können.
Für die interkulturelle Kommunikation, in
die mehrere gesellschaftliche Realitäten mit
ihren Widersprüchen (s. u. Kulturbegriff)
und mehrere konventionalisierte Systeme
an Sprech-Konventionen eingebracht werden, ist eine ständige, latente Bearbeitung
69
bitte Abbildung
einsetzen
Abb. 1: Handlungsmöglichkeiten bei
Nichtverstehen
(Liedtke 2002, 204)
von Verstehensproblemen charakteristisch.
Liedke (2002, 204) fasst sie als „Schwanken zwischen den beiden Polen Reparaturdurchführung und –verzicht“:
Während in Gesprächen unter Muttersprachlern – so meine Hypothese – mentale Reparaturen (etwas offensichtlich irrtümlich Gesagtes wird richtig verstanden,
ohne es zu thematisieren) häufig anzutreffen sind, sind in der interkulturellen Kommunikation die Reparaturdurchführungen
häufiger, und auch der Verzicht im engeren
Sinn: L2-Sprecher und Sprecherinnen wissen, dass sie etwas nicht verstehen, verzichten aber auf eine Klärung, wohl ebenfalls
deshalb, um die Begegnung aus gesprächsökonomischen Gründen nicht mit zu vielen
Nebensequenzen zu belasten. Diese einseitige Tendenz zugunsten der Muttersprachler
ist bedauerlich, denn der Interaktion liegen
zwar unterschiedliche, doch grundsätzlich
gleichwertige und gleich gültige Sprechkonventionen zugrunde.
Resümierend kann festgehalten werden: Kategorial können Missverständnisse an allen,
sowohl an kleinsten (z.B. Blick, RückmeldeSignal oder Ein-Wort-Äußerung) als auch
an komplexen zeichenhaften Veräußerungen
(z.B. Paarsequenz, Gesprächsabschnitt oder
Dialog) und Abläufen festgemacht werden.
Unter didaktischen Gesichtspunkten müssten nun gesprächslinguistische Kategorien
für ihre Erarbeitung im Unterricht erstellt
werden, und zwar durch
– das Beschreiben interaktiver Reparaturdurchführungen als lokale Aufdeckungsabläufe von Missverständnissen (s.o.
Transkript-Kommentare) und feedbackInterviews (s.o. Gesprächsausschnitt 1)
– das Beschreiben offensichtlich falsch
zugeordneter Problemquellen (s.o. Ge70
sprächsausschnitt 2) und/oder entsprechender feedback-Kommentare
– das Heranziehen hypothetischer gesprächslinguistischer Kategorisierungen bezüglich nicht durchgeführter Reparaturen.
Sie lassen gesprächslinguistische Kategorien entstehen, die typische unterschiedliche
Regelverwendungen und -interpretationen
ausweisen: Wortbedeutungen, Ausdrucksformen von Sprechhandlungen, nonverbalen und paraverbalen Zeichen, Anzeigen von
In-/Direktheit, Verfahren der Gesprächsorganisation (Sprecherwechsel; Gestaltung
und Platzierung von Smalltalk), oder der
Einsatz verfestigter sprachlicher Formen/
Rituale (vgl. Rost-Roth 1994; Müller-Jacquier 2000). Ihre Bewusstmachung zur
Analyse aktueller interkulturelle Kommunikationsprobleme kann zur Kompetenzerweiterung von Lernenden genutzt werden,
auch um bessere Ergebnisse zu erzielen, als
sie im einleitenden Unterrichtsbeispiel genannt wurden. Ziel ist die Entwicklung einer
‚Sprachsensibilisierung‘ (Müller-Jacquier
2000) bzw. einer ‚analytischen Mentalität‘
(Gülich/Mondada 2008, 17 f.), und zwar im
ersten Schritt für die vielfältigen Praktiken
des Anzeigens von Erwartungswidrigkeit
mit Bezug auf potenzieller Problemquellen
und darüber hinaus auf die kategorisierende Beschreibung des Missverstehens selbst,
einschließlich hypothetischer Angaben zu
inkompatiblen Konventionen (s.o.).
4 Interkulturalität
Die geschilderten Probleme beim Beschreiben fremdkultureller Interaktionen
wirken sich auch auf den Begriff ‚Interkul-
Der Deutschunterricht 1/2019
turalität‘ aus. Bezüglich möglicher Erklärungen unterschiedlichen Sprechens und
Handelns in verschiedenen Kulturen werden – vor allem in der Beratungsliteratur –
ausgewählte, kontrastiv dargelegte sprachliche Differenzen als ‚Beleg‘ für zugrunde
liegende kulturspezifische Einstellungen
und damit als Ausdruck vorliegender Interkulturalität angesehen. Hier wird zum Einen systematisch das o.g. Primat der pragmalinguistischen Handlungsbestimmung
vor potenziellen kulturellen Attribuierungen verletzt. Zum Anderen ergeben dargestellte Kontraste keine Inter-Kultur. Richtig
ist jedoch, dass es nach Differenzerfahrungen interaktiv zu Anpassungen sowie zur
Schaffung neuer Bedeutungs- und Interaktionskonventionen kommt. Dieses Phänomen ‚diskursiver Interkulturen‘ entsteht
vor allem bei längeren Kontakten (Koole/
ten Thije 1994). Es macht deutlich, dass der
Gegenstand der Analyse interkultureller
Kommunikation sich eben nicht nur kontrastiv auf differente Konventionen in L1
und L2 etc. oder Kultur K1, K2 etc., sondern auf die Effekte interpersonaler Begegnung, d.h. wechselseitige Anpassungen, Inszenierungen von Differenz, Modifizierung
von Konventionen und Neuschöpfungen
beziehen muss.
Somit ergibt sich als Definition: Der originäre Gegenstand der Analyse interkulturelle
Kommunikation ist die interpersonale Gesprächssituation, an der Co-Partizipanten
mit unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Sozialisationen teilhaben; diese bringen sie als Produktions- und Deutungsmuster von sprachlichen Zeichen ein. Entstehen
Verstehensprobleme, werden diese gemeinsam bearbeitet (jedoch oft nur teilweise für
beide Seiten zufriedenstellend gelöst), und
sie lösen wechselseitige Anpassungsprozesse sowie Neuschöpfungen aus. Wissenschaftliche Analysen müssen sich also
nicht nur kontrastiv mit Verwendungen unterschiedlicher Sprechkonventionen in L1
und in L2 etc. befassen, sondern mit deren
Folgen, also mit allen systematisch auftretenden Handlungseffekten im Verlauf interpersonaler Kontakte.
5 Sprechen über Fremdes
Bezüglich der Verfahren, Missverstehen in
interkulturellen Situationen analytisch aufzudecken, werden also mindestens drei verschiedene Regelsysteme relevant: Fremd-/
Muttersprache L1, Fremd-/Muttersprache
L2 und die konventionalisierten Anpassungen bzw. Neuschöpfungen der ‚diskursiven
Interkultur‘. Eine Beschreibung der Interaktionen stellt hohe Anforderungen an Analysierende, und zwar nicht nur bezüglich
gesprächslinguistischer Differenzierungen,
sondern auch mit Blick auf die Bezeichnung der Interagierenden. Allein die Praxis
der sozialen Kategorisierung initiiert durch
die notwendige Benennung von Personengruppen mögliche Kulturalisierungen (vgl.
die Versprachlichungen kultureller Zugehörigkeit in v. Helmolt 2016, 35f.). Wie wirkt
sich also die im Titel genannte „Bedingung
von Interkulturalität“ auf die Beschreibung
eines möglichen ‚interkulturellen Missverstehens‘ aus?
In Dokumentationen authentischer Gesprächsdaten und auch in Trainingsfilmen
erscheinen die Interagierenden erst einmal
als Personen. Vor allem in Video-Szenen
werden sie als multimodal agierende Individuen fassbar, dazu ihr Umfeld, das situativ ausgerichtete Handlungsmuster erklären
hilft und letztendlich der kulturelle Gesprächsrahmen. Wie oben illustriert, kann
sich in diesen Vorlagen bei der Analyse interkultureller Interaktionen induktiv, also
aus den Daten heraus, ein entsprechender
Reflexionsprozess mit verschiedenen Erklärungspotenzialen entfalten. An dessen
Abschluss können – warum nicht? – hypothetische Aussagen über typisches kommunikatives Handeln von Menschen aus einer
bestimmten Kultur entstehen.
Anders sieht es bei tausenden privater
Fremdkulturerfahrungen aus, die monatlich
geschrieben, gepostet, mündlich berichtet
werden.8 Als Rekonstruktionen des eigenen
und fremden Handelns erfüllen diese Narrationen zwar auch individuelle oder gruppenbezogene Funktionen, nämlich um über
Motivationen, Reichweite und Folgen des
(8) Eine umfassende Darstellung schriftlicher und mündlicher Gattungen zum Transfer von Lebenserfahrungen aus der
Fremde (mit Schwerpunkt ‚Reiseberichte‘) sowie erste Quantifizierungen erstellte Bauer (2017, 89f.).
Der Deutschunterricht 1/2019
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eigenen Handelns Rechenschaft abzulegen
(Bauer 2017, 36), aber sie bedienen auch
eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe,
nämlich das Tradieren kultureller Praktiken.
Als Einwand gegen solche manchmal naiv erscheinenden Fremdkultur-Erzählungen
kann vorgebracht werden, dass
(a) die Berichtenden – wie oben kritisiert
– co-konstruierte Handlungsabläufe
nicht als solche, sondern als von den
fremdkulturellen Beteiligten einseitig
als erwartungswidrig gestaltet darbieten; ohne Dokumentationen von Gesprächsabläufen werden lokale Interaktionspartner als Fremde konstruiert,
deren Kommunikationspraktiken „abweichen“, während die Erzähler als
Vertreter universaler kommunikativer
„Normalität“ erscheinen;
(b) beobachtete gesellschaftliche Praktiken, Institutionen oder künstlerische
Ausdrucksformen als „typisch kulturell“ attribuiert werden, selbst wenn
diese aus der fremdkulturellen Perspektive nicht als kulturell prägend gelten. Letzteres entgeht in der Regel den
Rezipienten der Narrationen, und so erhalten sie keine Grundlage für eine notwendige Perspektiven-Koordinierung;
(c) fremdkulturelle Co-Interagierende systematisch als kulturell Handelnde, oft
als Vertreter des national-kulturellen
Umfelds kategorisiert werden; dadurch
wird jede Interaktion zu einer Auseinandersetzung zwischen kulturell Unterschiedlichem.
Ob Berichte über Missverständnisse diesen
Kritikpunkten entgehen, die in verschiedendisziplinären Forschungsfeldern mit pädagogischen Zielen zusammengestellt wurden
(z. B. Vermittlung interkultureller Kompetenzen), lasse ich hier offen. Dort geht es
um systematisch erhobene Erfahrungsberichte in interkulturellen Handlungsfeldern
(’critical incidents’‘; vgl. u. a. das MUMISTeilprojekt oder die Berichte in Kulturassimilatoren aus dem Umfeld von A. Thomas),
die als ausgewählte Beleg-Erzählungen im
interkulturellen Lernen eingesetzt werden.9
Doch nicht nur bezüglich des Kritikpunkts
(a) entwickeln sich differenziertere Erklärungen. So haben sich Bosse (2011) und
Nazarkiewicz (2010) mit der Frage befasst,
– ob und wie die oben kritisierten Narrationen geändert, wie also Darstellungen
von Missverständnissen so gestaltet werden können, dass sie der berichteten Situation und den fremdkulturellen Beteiligten gerechter werden;
– ob und wie Einzelvorfälle so gefasst werden können, dass sie als Problemkategorie auf andere kulturelle Kontexte übertragen werden können.
Sie heben hervor, dass solche sprachsensibilisierenden und attributionsbezogenen Abstraktionsleistungen das eigentliche Lernziel interkultureller Trainings seien. Dazu
ein Ausschnitt (Nazarkiewicz 2010, 143):
Gesprächsausschnitt 3: Noch Fragen zum
Inder
Situation: Training für Mitarbeiter einer europäischen Fluggesellschaft
Beteiligte: Trainerin (=Tr); Barbara und Peter (=Ba, Pe) sind Trainees
97 Tr was übrigens AUch im bezug auf
zEI:T manchmal lästig sein
98
könnte, also in der indischen höflichkeit is ähm: Usus
99
dass man mehrfach ABlehnt bevor
man dann doch (.) zUsagt
100 Ba mh
101 Tr das gibt’s schon in mANchen auch
in bELgien ist das üblich
102
in england ist das ¡auch ziemlich
üblich;
103 Pe ach= ja.
104 Tr ä:hm (.) das ist (.) die INdirektere
kommunikation
105
nich, would you like a cup of
tea;=oh no. ¡och go on,
106
have a cup of tea. (.) sO. (.) nich?
Also man lässt sich
107
dann dazu überrEden es ist so ein
spIEL hin und her10
(9) In den Berichten über kulturelle Überschneidungen (Winter 1996), in denen eine Kulturspezifik des interpersonalen Handelns als generelle Voraussetzung angenommen wird, wird ‚Kultur‘ das systematisch verwendete Erklärungsattribut für alles, was als erwartungswidrig wahrgenommen wird. Eine solche Kulturalisierung des Kulturellen ist wissenschaftlich untragbar.
(10) Notationen: Mikropause: ( . ); erhöhte Lautstärke: GROSSbuchstaben; schneller Anschluss: =; Stimmliche Qualität: Dehnung: : ; End-Intonationen: , = leicht ansteigend; ; = leicht fallend; . = stark ansteigend; ¡ = Tonhöhensprung
nach oben.
72
Der Deutschunterricht 1/2019
Allein anhand des kurzen Abschnitts illustriert Nazarkiewicz (2010, 147) die folgenden perspektiven-reflexiven Aktivitäten:
– „Sie thematisieren und benennen unterschiedliche kulturelle Normen, Werte
oder Orientierungen (hier: Höflichkeit) in
mehr oder weniger kategorischem Format;
– sie geben dem herauszuhebenden ‚Muster‘ eine Bezeichnung 2. Ordnung (Konzept oder Fachbegriff) und formulieren
ein kulturelles Konzept, ggf. in einer anderen Sprache oder aus der wissenschaftlichen Literatur als neue Deutungsperspektive (indirektere Kommunikation,
Z. 104) …;
– sie stellen gegenüber oder vergleichen,
Z.101–102);
– sie arbeiten mit abgeschwächten Generalisierungen, d. h. sie verallgemeinern und
schränken zugleich ein (ziemlich üblich,
Z.102);
– sie veranschaulichen oder animieren die
Unterschiede in den kulturgebundenen
Perspektiven beispielhaft mit einer Geschichte oder einer kulturerschließenden
Szene (would you like a cup of tea;=oh
no. ¡och go on, Z.105f.);
– sie benennen (Verhaltens)muster, an denen diese Orientierung ablesbar wird (so
ein Spiel hin und her, Z.107);
– sie vollziehen Perspektivenwechsel und
Perspektivenreflexionen (man lässt sich
dann dazu überreden, Z.106f.);
– sie benennen die Interpretationen, Attributionen oder Perspektiven derjenigen Person(en), welche diese Orientierung nicht teilen bis hin zu Stereotypen
(könnte lästig sein, Z.97f.);
– sie beschreiben Sichtweisen und das ‚Innenleben‘ (Gefühle, Gedanken) der beteiligten Personen und explizieren sie
(man lässt sich dann dazu überreden,
Z.106f.).“ (Nazarkiewicz 2010, 145)
Ein solch differenziertes Sprechen über
Fremdes, das bei Nazarkiewicz als „Tanskulturelles Sprechen“ (2010, 140f.), bei
Bosse/Müller-Jacquier als „Kulturreflexive Deutungsarbeit“ (2014, 74f.) oder bei v.
Helmolt als „perspektivenreflexives Sprechen“ (2016, 39f.) entwickelt wird, ist für
Analysen von Missverstehen, das unter oder
durch Fremdheitsbedingungen entsteht –
genau dies ist alternativ zu klären – ent-
Der Deutschunterricht 1/2019
scheidend. Es stellt eine mittelfristig anzulegende pädagogische Herausforderung dar
und muss von Lehrkräften in Unterrichtssituationen initiiert und angeleitet werden.
Gelegenheiten bieten sich im Deutschunterricht bei der Thematisierung und Analyse von dialogischem Sprechen (Stichwort:
Sprechhandlung, vgl. XX in diesem Heft),
bei der Besprechung literarischer Texte,
die deutsche Erzähler im Ausland ansiedeln oder bei der sog. Migranten- bzw. Chamisso-Literatur (vgl. Blum-Barth 2013), in
der Erzähler systematisch Fremdperspektiven auf gesellschaftliche Verhältnisse in
Deutschland einnehmen. Angesichts der
vielfältigen kulturellen Überschneidungen
in unserer Gesellschaft, die sich in der Regel
tagtäglich im Unterricht widerspiegeln, ist
eine Reflexion darüber, wie man über Fremdes allgemein oder über Beispiel-Erzählungen spricht, eine notwendige und lohnende
j
Aufgabe.
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