VERKÜNDIGUNG
UND
FORSCHUNG
60. Jahrgang
Kirchengeschichte
Außereuropäische
Christentumsgeschichte
Antike und Mittelalter
Asien
Afrika
Lateinamerika
USA
Transkontinentale Interaktionen
Chr. Kaiser
2-2015
Verkündigung und Forschung
60. Jahrgang 2015
Herausgegeben von Heinrich Assel in Gemeinschaft mit Reiner Anselm, Christfried
Böttrich, Irene Dingel, Beate Ego, Friedhelm Hartenstein, Anne Koch, Andreas Nehring,
Klaus Raschzok, Bernd Schröder, Samuel Vollenweider, Martin Wallraff und
Michael Welker
Begründet von Ernst Wolf. Weitergeführt von Gerhard Sauter
Redaktion: Henning Theißen, Am Rubenowplatz 2–3, 17489 Greifswald
Heft 2-2015: Kirchengeschichte. Außereuropäische Christentumsgeschichte
Herausgegeben von Klaus Koschorke und Martin Wallraff
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zung des Geschichtlichen etc. Entscheidend ist jedoch, dass wir es tatsächlich mit
einer afrikanischen Historiographie zu tun haben, die europäischen Entwürfen
auf gleicher Augenhöhe begegnen kann. Der nächste Schritt bestünde darin, gemeinsam der Verwobenheit „westlicher“, afrikanischer und globaler Christentumsgeschichte nachzuspüren und nach den Möglichkeiten einer globalen Kirchengeschichtsschreibung zu fragen. Eine Einheitlichkeit wird sich dabei
sicherlich nicht ausfindig machen lassen. Das Konzept der „polyzentrischen
Strukturen“ in der Geschichte des Weltchristentums kann bei den anstehenden
Debatten in dieser Sache aber eine hilfreiche Orientierung geben.
Lateinamerika in der deutschsprachigen Kirchengeschichte. „Nachholende Entwicklung“ Roland Spliesgart
Jean-Pierre Bastian/Ulrich Fanger/Ingrid Wehr/Nikolaus Werz (Hg.), Religiöser Wandel in
Costa Rica. Eine sozialwissenschaftliche Interpretation (Forum Weltkirche 10), Grünewald
Mainz 2000, 322 S. – Daniel Carlos Beros, Heimat für Heimatlose. Die Sprache des Glaubens
und die Suche nach Bodenständigkeit bei russlanddeutschen Migranten in der La Plata-Region
zwischen 1925 und 1955 (Missionswissenschaftliche Forschungen N.F. 22), Erlanger Verlag für
Mission und Ökumene Neuendettelsau 2007, 383 S. – Silvia Brennwald, Die Kirche und der
Maya-Katholizismus. Die katholische Kirche und die indianischen Dorfgemeinschaften in
Guatemala 1750–1821 und 1945–1970 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 81), Steiner Stuttgart 2001, 287 S. – Johannes Meier (Hg.), Jesuiten aus Zentraleuropa in Portugiesischund Spanisch-Amerika. Ein bio-bibliographisches Handbuch mit einem Überblick über das
außereuropäische Wirken der Gesellschaft Jesu in der frühen Neuzeit, I: Brasilien (1618–1760),
bearbeitet v. Fernando Amado Aymoré, Aschendorff Münster 2005, XXXIX + 356 S.; Johannes Meier/Veit Straßner (Hg.), Lateinamerika und Karibik (Kirche und Katholizismus seit
1945 VI), Schöningh Paderborn 2009, XXXIII + 559 S. – Hans-Jürgen Prien, Das Christentum
in Lateinamerika (KiE IV/6), Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2007, 448 S. – Ulrike Purrer
Guardado, Pastorale Diplomatie. Die Rolle der Katholischen Kirche und des Erzbischofs Arturo Rivera y Damas im Friedensprozess in El Salvador (1980–1992) (Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte 22). Harrassowitz Wiesbaden 2012, XII + 279 S. – João Carlos Schmidt, Wohlstand, Gesundheit und Glück im Reich Gottes. Eine Studie zur Deutung der
brasilianischen neupfingstlerischen Kirche Igreja Universal do Reino de Deus (Kirchen in der
Weltgesellschaft 1), Lit Berlin 2007, XII + 269 S.
Weitere Literatur
Jean Pierre Bastian, Die Geschichte des Protestantismus in Lateinamerika, Edition Exodus
Luzern 1995, 287 S. – Enrique Dussel, Die Geschichte der Kirche in Lateinamerika, Grünewald
Mainz 1988, 435 S. – Bernhard Lindner, „Somos pueblo – somos iglesia“. Die Erfahrung der
Südandenkirche Perus (Wahrnehmende Theologie 3), Lit Wien 2010, 521 S. – Johannes Meier
(Hg.), Jesuiten aus Zentraleuropa in Portugiesisch- und Spanisch-Amerika. Ein bio-bibliographisches Handbuch mit einem Überblick über das außereuropäische Wirken der Gesellschaft
Jesu in der frühen Neuzeit, II: Chile (1618–1771), bearbeitet v. Michael Müller, Aschendorff
Münster 2011, L + 458 S.; III: Neugranada (1618–1771), bearbeitet v. Christoph Nebgen, 2008,
120
Verkündigung und Forschung 60. Jg., Heft 2, S. 120–136
ISSN 0342-2410 © Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, 2015
XXXVI + 244 S.; V: Peru (1617–1768), bearbeitet v. Uwe Glüsenkamp, 2013, XLII + 350 S. –
Hans-Jürgen Prien, Die Geschichte des Christentums in Lateinamerika, Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1978, 1302 S. – Roland Spliesgart, „Verbrasilianerung“ und Akkulturation.
Deutsche Protestanten im brasilianischen Kaiserreich am Beispiel der Gemeinden in Rio de
Janeiro und Minas Gerais (1822–1889) (Studien zur Außereuropäischen Christentumsgeschichte 12), Harrassowitz Wiesbaden 2006, 608 S.
1. Die Entdeckung Lateinamerikas als Thema der Kirchengeschichte
Mit dem Jahr 1992 ist der entscheidende Einschnitt in der Kirchengeschichtsschreibung Lateinamerikas der Moderne markiert, denn mit dem Gedenken an
die ‚Entdeckung Amerikas‘ durch Columbus 500 Jahre zuvor war ein intensiver
Reflexionsprozess über dieses für die Weltgeschichte so bedeutsame Ereignis in
Gang gesetzt worden. Vor allem waren es Historiker und Theologen aus Lateinamerika, die auf eine Neubewertung der Geschichte drängten und die hispanistisch-triumphalistische Perspektive der Entdecker durch die der ‚entdeckten‘ indigenen Bevölkerung ergänzten und in vielen Fällen auch abzulösen suchten. In
einer sozialgeschichtlichen Sicht wollte man erstmals Leben und Leid der unterworfenen Bevölkerung, der Indios und der schwarzen Sklaven sowie der einfachen Menschen in den Blick nehmen.
Wichtige Impulse für diese Neubewertung kamen aus der Arbeit der „Kommission für die Erforschung der Geschichte der Kirche Lateinamerikas“ CEHILA (Comisión de Estudios de la Historia de la Iglesia de América Latina). Diese
war 1973 als ökumenische Forschergruppe in Quito gegründet worden und von
der seit etwa 1970 in Lateinamerika vorherrschenden Strömung der sog. Theologie der Befreiung inspiriert. Im Kontext von CEHILA entstand eine beachtliche Anzahl an Studien überwiegend auf Spanisch oder Portugiesisch. Die in
Salamanca und Petrópolis zwischen 1977 und 1995 erschienene „Gesamtgeschichte der Kirche Lateinamerikas“ (Historia General de la Iglesia de América Latina) war der Versuch, die Geschichte des Christentums nach dem Konzept der „histoire totale“ mit der Sozial-, Wirtschafts- und Politikgeschichte
Lateinamerikas zu verbinden.
Im Umfeld des 500-Jahr-Gedenkens wurden im deutschsprachigen Raum,
meist von katholischen Kirchenhistorikern, einige Sammelbände zur „Conquista“ (dt.: Eroberung) sowie wichtige Quellensammlungen zur Kolonialgeschichte
herausgegeben. Einzelstudien behandelten neue Themen wie die Sklaverei, die
Begegnung des Christentums mit indianischen und afroamerikanischen Religionen und die daraus resultierenden religiösen Transformationsprozesse in der
Volksreligiosität, die bislang meist als ‚synkretistisch‘ abgewertet worden war.
Theoretisch und methodisch orientierten sich viele Autoren an dem französischen Konzept der „histoire religieuse“.
Während die Ergebnisse der Arbeit von CEHILA von einigen an Lateinamerika interessierten deutschen Kirchenhistorikern – überwiegend auf katholischer,
aber auch auf protestantischer Seite – positiv aufgenommen wurden, vollzog sich
121
deren Rezeption durch die Mehrheit der deutschsprachigen Kirchengeschichte
eher langsam. Typisch für den Diskussionsstand des letzten Jahrhunderts ist,
dass die lateinamerikanische Christenheit in vielen Standardwerken nur knappe
oder gar keine Erwähnung findet. Wer sich also einen Überblick in deutscher
Sprache über die lateinamerikanische Christentumsgeschichte verschaffen wollte, war bis vor wenigen Jahren auf die Gesamtdarstellungen von H.-J. Prien
(1978) und E. Dussel (1988) sowie die „Geschichte des Protestantismus in Lateinamerika“ von J.-P. Bastian (1992) angewiesen. Innerhalb der protestantischen
Forschung war der Blick überwiegend auf einzelne protestantische Kirchen gerichtet, vor allem auf Pfingstkirchen und die Kirchen europäischer Einwanderer.
In den letzten 20 Jahren hat nun ein grundsätzlicher Bewusstseinswandel stattgefunden. Die in allen Wissenschaftsdisziplinen intensiv geführten Debatten um
die Prozesse der Globalisierung führten notwendigerweise zu der Erkenntnis,
dass auch Kirchengeschichte global gedacht werden müsse. Neben Asien und
Afrika geriet nun Lateinamerika wieder stärker in den Fokus. Sichtbar wird dies
etwa daran, dass in die vierte Auflage der RGG zahlreiche Artikel zur Christentums- und Religionsgeschichte Lateinamerikas aufgenommen wurden.
Anders als in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft, in der ausgewiesene
Lehrstühle, Studiengänge und Forschungseinrichtungen für Lateinamerikanische Geschichte existieren, gibt es für die Christentumsgeschichte des Kontinents keinen festen Ort an den theologischen Fakultäten. Vielmehr bleibt sie
als Forschungsgegenstand den – zufälligen – Privatinteressen einzelner Wissenschaftler vorbehalten. Die Folge der mangelnden Institutionalisierung ist, dass
mit der Emeritierung der lateinamerikainteressierten Professoren das Forschungsgebiet wieder verwaiste.
Wer nun erwartet hat, dass der historiographische Hype um das Jahr 1992 und
die erfolgte Sensibilisierung für das globale Christentum eine neue Welle von
Arbeiten zur lateinamerikanischen Christentumsgeschichte ausgelöst hätten,
sieht sich enttäuscht. Die Durchsicht einschlägiger Publikationen im deutschsprachigen Raum seit 2000 – auf die sich der vorliegende Beitrag beschränkt –
brachte auch für den Autor das erstaunliche Ergebnis, dass nur wenige neue
Studien veröffentlicht wurden. Lateinamerika fristet also innerhalb der deutschsprachigen Kirchengeschichte weiterhin ein Dasein als quantité négligeable.
Im internationalen Kontext stellt die geringe akademische Beschäftigung mit
dem Thema allerdings eine Ausnahme dar. Neben vielen Universitäten in Lateinamerika finden sich zahlreiche Institute in Großbritannien und den USA, die
sich intensiv der Erforschung des globalen und im Besonderen des lateinamerikanischen Christentums widmen. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt hier deutlich in der Gegenwart, wobei die Erforschung des pentekostalen charismatischen
Christentums noch einmal herausragt.
Viele Arbeiten zu Lateinamerika haben ein stark systematisch-theologisches
Interesse und wollen zum interkulturellen Dialog mit klassischer westlicher
Theologie einladen. Als Beispiel sei hier die Arbeit von B. Lindner, der sieben
122
Jahr lang als theologischer Mitarbeiter in der Diözese Puno tätig war, vorgestellt.
Ziel seiner als Dissertation an der Universität Luzern eingereichten Arbeit ist,
einer westlichen Leserschaft die „Erfahrung der Südandenkirche Perus“ zu erschließen. Dazu stellt Lindner die pastorale Arbeit der Kirche der Südanden ganz
aus der Perspektive der Verantwortung tragenden Mitarbeiter dar, u. a. auf der
Basis zahlreicher Interviews (85–271). Deren Leitlinie ist das Projekt einer „integralen und befreienden Inkulturation“ (185) des Evangeliums. Die „Teología
Andina“ (Andine Theologie) folgt einer induktiven Methode. Folglich ist sie
ganz der andinen Weltsicht verbunden und nur schwer an die abendländische
Theologietradition anschlussfähig (230). Der Beitrag der Südandenkirche zur
theologischen Diskussion (273–368) lasse sich in den Begriffen Volk Gottes und
Communio zusammenfassen: „Somos pueblo – somos iglesia“ („Wir sind Volk –
wir sind Kirche“). Nicht zuletzt ließen sich – so das Plädoyer Lindners – aus der
peruanischen Volk-Gottes-Theologie und -Praxis zukunftsfähige Impulse für
das Christentum in Mitteleuropa gewinnen.
2. Differenzierungen und Grenzüberschreitungen
Die Relevanz und Wahrnehmung eines Themenbereichs zeigen sich immer auch
an dessen Aufnahme in die Standard- und Überblickswerke einer Fachdisziplin.
Wichtige Meilensteine in der Erschließung der Geschichte des Christentums in
Lateinamerika für eine größere Öffentlichkeit sind daher zwei jüngst erschienene Teilbände kirchengeschichtlicher Gesamtdarstellungen. Während der von
J. Meier/V. Straßner herausgegebene Band „Lateinamerika und Karibik“ in der
Reihe „Kirche und Katholizismus seit 1945“ jüngere Entwicklungen behandelt,
legt H.-J. Prien eine umfassende historische Einführung in „Das Christentum in
Lateinamerika“ für die Reihe „Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen“ vor.
Jede Gesamtdarstellung lateinamerikanischer Christentumsgeschichte steht
vor der Herausforderung, einerseits der Vielzahl und Komplexität sehr verschiedener Lokalgeschichten gerecht zu werden, andererseits aber über eine Addition
von Einzelfällen hinausgehend die wesentlichen Strukturen der geschichtlichen
Entwicklung aufzuzeigen. Prien löst das Problem, indem er die Geschichte des
Christentums in Lateinamerika zunächst in die Kolonialzeit (16.–18. Jh.) und die
Zeit der Unabhängigkeit (19./20. Jh.) unterteilt. In den Unterabschnitten dieser
beiden Großkapitel behandelt er jeweils ein Thema, zu dessen Erläuterung er
Beispiele aus einzelnen Ländern anführt.
Auf viele inhaltliche Aspekte kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden. Jedoch sollen drei Punkte, die für eine lateinamerikanische Christentumsgeschichte zentrale Bedeutung besitzen, angesprochen werden.
1. Zu Recht ordnet Prien in seinem ersten Abschnitt des Kapitels zur Kolonialzeit die ‚Conquista‘ in einen größeren historischen Kontext ein, der der Ankunft des Columbus in Amerika 1492 vorausgeht. Dies ist zum einen der „europäische Hintergrund“ (65), zu dem neben politischen und ökonomischen
123
Motiven der Glaube der Spanier gehört, dazu erwählt zu sein, die Welt von den
gottlosen Sarazenen und allen Häresien zu befreien (= iberischer Messianismus).
Zum anderen ist es der ‚altamerikanische Hintergrund‘ (74), der ebenfalls beleuchtet werden muss, denn im Zusammenhang der Eroberung und Christianisierung kam es nicht ausschließlich zur Zerstörung der bestehenden Kulturen,
sondern vielmehr zu einem Prozess der Anpassung und Transformation beider
Kulturen, der aufnehmenden indigenen ebenso wie der eindringenden iberischen. Wenig hilfreich zu deren Beschreibung ist das Modell eines evolutionären
Prozesses der Kulturen. Gleichwohl bleibt die Erkenntnis Priens, dass es notwendig sei, „einer Missionsgeschichte [– und damit auch einer Christentumsgeschichte –] einen ethnographischen Überblick voranzustellen“ (75), ein Desiderat und Aufgabe für nachfolgende Arbeiten.
2. Die iberischen Missionare begründeten ihre zivilisatorische und evangelisatorische Arbeit u. a. mit der Inferiorität der Indios. Da sie deren Religiosität als
Götzendienst und Ausdruck des Teufels sahen (120), war ihr theologisches Denken und Handeln ganz von der Dämonologie bestimmt. Während der Begriff
‚Volksreligiosität‘ positiv konnotiert ist und den Prozess der erfolgreichen Inkulturation des Christentums bezeichnet, steht ‚Synkretismus‘ eher für eine negative Bewertung eines nur oberflächlichen Glaubens, in dem die indianischen religiösen Vorstellungen dominieren. In der Debatte um den peruanischen
Volkskatholizismus positioniert sich Prien ganz eindeutig auf der Seite derjenigen, die ein ‚synkretistisches Christentum‘ theologisch negativ bewerten, da es
„kein errettender Heilsglaube“ (218) sei.
3. Die letzte und aktuelle Phase des Christentums fasst Prien unter dem Begriff
des „Ökumenismus“ (369) zusammen. In der Tat kam es im Zusammenhang der
Entwicklungskrisen in vielen Ländern Lateinamerikas zu überkonfessioneller
Zusammenarbeit. Diese war ganz wesentlich durch die gemeinsame Gegnerschaft zu Militärdiktaturen und korrupten Eliten motiviert. Seit der letzten Demokratisierungswelle in den 1980er Jahren sind auch die lateinamerikanischen
Gesellschaften deutlich pluraler geworden. Es scheint daher fraglich, inwieweit
die unterschiedlichen Entwicklungen im Christentum tatsächlich mit dem Begriff des Ökumenismus treffend beschrieben werden können oder ob nicht gerade der Antikatholizismus eine wesentliche Triebfeder der Ausbreitung protestantischer Kirchen ist. So ist es eine sehr kontrovers diskutierte Frage in der
Forschung, wie das rasante Wachstum charismatischer und (neo-)pentekostaler
Gruppierungen zu erklären sei. Die heilsgeschichtliche Deutung Priens, nach der
man bei dem „Vordringen der verschiedensten ‚Protestantismen‘ […] in der
longue durée der reinigenden Kraft des Heiligen Geistes vertrauen und verstehen
[sollte], dass es keine kirchlichen Monopole mehr gibt“ (437), scheint dagegen
für eine kritische Betrachtung lateinamerikansicher Christentumsgeschichte
wenig hilfreich zu sein.
Insgesamt ist Prien mit seinem Band eine detailreiche Einführung in die lateinamerikanische Christentumsgeschichte gelungen, die Grundstrukturen und Pro124
bleme aufzeigt, jedoch mitunter zu Generalisierungen tendiert. Dabei hat die
institutionen- und ideengeschichtliche Darstellung Vorrang vor einer sozialgeschichtlichen Perspektive, die allenfalls indirekt zum Zuge kommt. Nicht zuletzt bleibt es die nicht zu unterschätzende Leistung Priens, dem interessierten
Leser mit seinem Band viele Anregungen – nicht zuletzt durch die umfangreichen Quellen- und Literaturverweise – zu weiteren Fragestellungen und eigenen
Forschungen zu geben.
Zum besseren Verständnis der Situation der Kirchen in „Lateinamerika und
Karibik“ und ihrer jüngeren historischen Entwicklung will der sechste Band
der von E. Gatz herausgegebenen Reihe „Kirche und Katholizismus seit 1945“
beitragen. Die für den Band verantwortlichen Herausgeber J. Meier und
V. Straßner haben sich dafür entschieden, die Entwicklungen und Situationen
des Christentums in Lateinamerika in eigenen Länderartikeln darzustellen, die
von ausgewiesenen ‚Länderspezialisten‘ verfasst sind. Deren Aufriss folgt keinem einheitlichen Schema, sondern richtet sich nach den lokalen Besonderheiten.
Auf diese Weise erhält der Leser einen vorzüglichen und gut lesbaren Überblick
über Entwicklungen, Diskussionen und Herausforderungen der katholischen
Ortskirchen der einzelnen lateinamerikanischen Länder in einem überschaubaren Format. Dazu enthält der Band ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis zu jedem Land, Karten sowie ein Namens- und Sachregister. Zwei einleitende Kapitel zeigen länderübergreifende Entwicklungen und Tendenzen auf
und skizzieren so – bei aller Unschärfe im Einzelfall – eine gemeinsame Struktur.
Kap. 1 stellt die kirchliche Entwicklung, vorwiegend aus amtskirchlicher Perspektive, dar. Dies ist insofern bemerkenswert, als es zeigt, dass auch die basisgemeindliche Bewegung in die pastorale Ausrichtung der Diözesen eingebunden
war. Anders als in Europa ist 1945 in Lateinamerika kein Epochenjahr. Gleichwohl markieren die 1940/50er Jahre einen Übergang: von einer nationalstaatlichen, an Rom orientierten Kirche hin zu einer selbstbewussten Kirche mit eigenem lateinamerikanischen Profil.
Wichtige Eckpunkte der Profilierung des lateinamerikanischen Katholizismus
waren die Gründung des ‚Lateinamerikanischen Bischofsrates‘ CELAM 1955,
der Beitrag der lateinamerikanischen Bischöfe zum II. Vaticanum sowie dessen
Rezeption und Konkretisierung auf der Konferenz in Medellín 1968. Die hier
beschlossenen Leitlinien prägten die Entwicklung in den Diözesen entscheidend,
allen voran die Hinwendung zu Christus und seinem Auftrag zum Dienst in der
Welt sowie die Suche der Verbindung von Glauben und Leben.
Eine konkrete Herausforderung für die Christen waren die Militärregierungen, die sukzessive in fast allen Ländern Lateinamerikas an die Macht gekommen
waren. Die kirchlichen Reaktionen waren – trotz Medellín – keineswegs einheitlich, neben Opposition gab es auch Schweigen und Kooperation wie in Argentinien.
Der Übergang zur Demokratie in ganz Lateinamerika sowie das Ende des
Kalten Krieges änderten zwar nichts an der sozial-politisch engagierten Linie
125
des Episkopats, führte jedoch zu Differenzierungen. So rückten die kulturelle
Vielfalt des „armen Volkes“ und die Notwendigkeit der Inkulturation des Evangeliums stärker in den Blick. Andererseits wurden konservative Bewegungen wie
Opus Dei gezielt von Rom gefördert und bewusst konservative Theologen zu
Bischöfen ernannt. Zugleich musste sich die katholische Kirche durch das starke
Wachstum protestantischer Kirchen der Frage stellen, ob diese möglicherweise
die Bedürfnisse der Menschen besser befriedigten.
Kap. 2 enthält einen luziden Abriss lateinamerikanischer Theologiegeschichte
nach 1945. Der chilenische Theologe S. Silva konzentriert sich v. a. auf die in den
1960er Jahren entstandene Befreiungstheologie. Deren Wesensmerkmal ist, dass
sie nicht nur im akademisch-universitären Rahmen betrieben wird, sondern auch
pastoral – von den Mitarbeitern in den Ortsgemeinden – sowie vom Volk. Dabei
ist es die Aufgabe der pastoralen Theologie, zwischen der sog. „volkstümlichen
Theologie“ (teologia popular), die das theologische Denken und Fühlen des Kirchenvolkes ausdrückt, und der professionellen Theologie zu vermitteln.
Der kreative Beitrag der lateinamerikanischen Befreiungstheologie – so Silva –
bestehe darin, die Kontextualität sowie den Zusammenhang von Theorie und
Praxis herausgestellt und die Welt der Armen bewusst zum hermeneutischen
Ort erklärt zu haben. Gegenwärtig sieht er die Aufgabe der Befreiungstheologie
als kritische Stimme gegen die Entwicklungen der modernen Welt, und er
schließt sich hier der Forderung J. Moltmanns nach einer weltweiten Zusammenarbeit aller kritischen Theologen an (Meier/Straßner, 54).
Zu den wichtigsten deutschen Publikationen der letzten Jahre zählt ohne
Zweifel die von J. Meier herausgegebene Reihe „Jesuiten aus Zentraleuropa in
Portugiesisch- und Spanisch-Amerika“, die als bio-bibliographisches Handbuch
angelegt ist und auf der Grundlage der vorliegenden gedruckten Quellen und
einer sehr breiten archivalischen Überlieferung alle Personen aus den fünf Ordensprovinzen der deutschen Assistenz der Gesellschaft Jesu verzeichnet, die in
die unter portugiesischem und spanischem Patronat stehenden Missionen zwischen 1540 und 1773 entsandt wurden. Alle Bände folgen einem einheitlichen
Aufriss, nach dem die jeweiligen Ordensprovinzen und die Entwicklung der
Missionsgebiete, die deutschsprachigen Missionare ebenso wie die indigene Bevölkerung und deren Perspektive auf das Missionsprojekt behandelt werden. Zuletzt folgen die Betrachtung der Ausweisung der Jesuiten aus Lateinamerika, die
heutige Sicht der Epoche und ein umfangreiches bio-bibliographisches Verzeichnis. – Die Bände geben nicht nur einen profunden und detailreichen Überblick
über das außereuropäische Wirken der Gesellschaft Jesu in der frühen Neuzeit,
sondern setzen auch in konzeptioneller Hinsicht einen neuen Standard, indem
sie die Aktionen der Jesuiten innerhalb der transkontinentalen Christentumsgeschichte verorten. Deren Hauptaugenmerk gilt der Kommunikation der sich
begegnenden Akteure. Dabei werden einerseits die Unterschiede der Kulturen
und der Sichtweisen stehengelassen, andererseits die auftretenden Missverständnisse ebenso aufgezeigt wie Fälle geglückter Kommunikation.
126
Im ersten Band der Reihe behandelt F. Aymoré mit „Brasilien (1618–1760)“
insofern einen Spezialfall, als im portugiesischen Patronatsgebiet die Jesuiten
eine herausragende Stellung innehatten. Denn zum einen war die kirchliche
Struktur im behandelten Zeitraum nur schwach entwickelt, zum anderen besaßen sie gleichsam eine Monopolstellung in der Indio-Mission im Landesinneren. Dabei erfüllten sie zugleich die für die Krone wichtige Aufgabe der ‚Zivilisierung‘ der indigenen Bevölkerung. Da die Sklaverei von den Jesuiten als
wirtschaftliche Notwendigkeit akzeptiert wurde, blieben die schwarzen Sklaven
als „Objekte“ der Christianisierung außen vor; vielmehr waren sie um eine
„christliche Sklavenhaltung“ (32) unter „humaneren“ Bedingungen bemüht.
Die Jesuiten, die v. a. nach 1648 aus Zentraleuropa nach Brasilien entsandt
wurden, waren allesamt von hohem missionarischen Eifer beseelt. Entsprechend
ausgeprägt war ihr Zusammengehörigkeitsgefühl als Gruppe. Der luso-brasilianischen Kultur sowie den europäischen Siedlern standen die deutschsprachigen
Jesuiten skeptisch gegenüber. In ihrer Einschätzung der Indios waren sie durchaus zu differenzierten Urteilen in der Lage, variierten diese aber je nach eigenem
Interesse und Kontext. Insgesamt blieben sie bei ihren aus Europa tradierten
Bildern der Indios und einer paternalistischen Haltung ihnen gegenüber.
Der innovative Charakter der Arbeit von Aymoré zeigt sich v. a. in der konsequenten Rezeption ethnologischer Erkenntnisse. Durch eine luzide Interpretation der Quellen gelingt es ihm nicht nur, die Perspektive der Indios, sondern
auch die Tiefenstruktur der Kommunikation mit den Jesuiten zu erhellen und
damit ein völlig neues Bild der im Zuge der Mission ablaufenden Prozesse zu
zeichnen.
Gegen die allgemein verbreitete „Illusion eines generellen Kulturprimitivismus“ (40) beschreibt Aymoré die Komplexität der Gesellschaftsstrukturen sowie
der Wirtschaft der indigenen Völker. Diese gingen häufig interethnische politische Allianzen ein und vermischten sich regelmäßig untereinander, was zu kulturellen Transformationsprozessen und einer großen makro- und mikrokosmischen Diversität führte. Die Idee von den Indios als ‚isolierte Völker im
Urzustand‘ müsse daher als romantisch zurückgewiesen werden.
Die Strategie der Jesuiten war die Ansiedlung der Indios in sog. „aldeias“ (Missionsdörfer), wo sie das von jenen zur neuen Hochsprache deklarierte Tupi
erlernten und ins Christentum eingewiesen wurden. Wenngleich die Indios freiwillig in die aldeias einwanderten, so doch wohl eher wegen der fehlenden Möglichkeiten des offenen Widerstands gegen die weißen Eroberer und die Jesuiten.
Zudem boten ihnen die Missionsdörfer einen gewissen Schutz vor den Angriffen
von Sklavenjägern (210). Nicht erklären konnten sich die Jesuiten, dass die Indios sich zunächst freundlich und offen für die christliche Religion zeigten, jedoch später kein ‚wahres‘, geistiges Interesse an dieser bewiesen, sondern lediglich an Eisenwerkzeugen und sichtbaren Vorteilen interessiert waren. Dies
erklärten sich die zunehmend frustrierten Missionare durch die „Unlauterkeit“,
den „Müßiggang“ und die „Trunkenheit“ der Indios. Dass es sich dabei um ein
127
grundlegendes kommunikatives Missverständnis handelt, zeigt Aymoré überzeugend auf, indem er die unterschiedlichen Weltbilder und Glaubensvoraussetzungen der beiden Kulturen analysiert und miteinander ins Spiel bringt.
Da die Indios von einem komplexen Götter- und Geisterpantheon ausgingen,
stellten sie die Existenz eines christlichen Gottes in keinster Weise in Frage. Umgekehrt empfanden sie weder die Notwendigkeit, das Seelenheil zu erlangen,
noch hatten sie Furcht vor jenseitigen Höllenstrafen. Sie wollten also gar nicht
aus dem ‚Jammertal‘ der irdischen Existenz befreit werden, sondern vielmehr ein
gutes Leben und Ehre als Krieger im Diesseits erlangen. Ihre Beziehung zu den
geistigen Wesen beruhte ganz auf dem Prinzip der Reziprozität: d. h. für ein bestimmtes Verhalten wurde eine entsprechende Gegenleistung erwartet, was die
Missionare als das ‚Verkaufen der eigenen Seele‘ kritisierten. Der konstatierte
„Müßiggang“ war dagegen nichts anderes als die entsprechende Arbeitsverweigerung bei fehlender Entlohnung, etwa für den Besuch der Gottesdienste und
der Katechese, und damit eine aktive Option der Indios im Widerstandskampf
gegen die Europäer. Insgesamt beruhte die Kritik der Missionare auf einer Fehlwahrnehmung der indianischen Kultur, stellte jedoch deren moralische Grundlagen grundsätzlich in Frage.
Ergebnis des jesuitischen Wirkens war die kulturelle Vereinheitlichung („Tupisierung“) und ‚erfolgreiche‘ Umsiedlung vieler Indios in Brasilien. Ihre missionarische Tätigkeit dagegen führte zur Ausbildung einer Doppelreligiosität, indem die Indios das Christentum formell annahmen, im Inneren aber ihre
eigenen religiösen Traditionen bewahrten bzw. synkretisierten.
S. Brennwald nimmt in ihrer Arbeit „Die Kirche und der Maya-Katholizismus“ das Thema der Religiosität der Indios auf. In ihrer Mikrostudie beleuchtet
sie die Missionskampagnen der katholischen Kirche in indianischen Dorfgemeinschaften in Guatemala gegen Ende der Kolonialzeit (1750–1821) sowie –
in komparatistischer Perspektive – zur Zeit der liberalen Reformregierungen
(1945–1970). Beide Male kam es zu Konflikten zwischen katholischer Kirche
und indianischen Dörfern um die kulturell-religiöse Hegemonie. Ziel der Kirche
war jedesmal die vollständige religiöse Integration der Mayas in die christlichwestliche Welt zur Absicherung ihrer Herrschaft. Die Leitfrage der Studie lautet,
welche der Vorgehensweisen unter welchen Rahmenbedingungen zum größeren
Missionserfolg der katholischen Kirche in den indianischen Dörfern Guatemalas
führte. Indem sie die Außen- und Innenseite des Konflikts analysiert, gelangt
Brennwald zu dem überraschenden Ergebnis, dass die Kirche zur Kolonialzeit
zwar mit größerer politischer Machtfülle ausgestattet war, die Geistlichen aber
die indianischen religiösen Praktiken und Ansichten in den Gemeinden tolerierten. Im 20. Jh. dagegen gelang es der Kirche mit weitaus geringerer institutioneller Macht, ihren kulturell-religiösen Hegemonieanspruch in den indianischen
Dörfern umfassender durchzusetzen. (253)
Nachdem sich die katholische Kirche im spätkolonialen Staat (1750–1821) im
gesamten Gebiet der Maya etabliert hatte, waren die Laienbruderschaften (Co128
fradías) die wichtigste Stütze der Kleriker in den Landgemeinden geworden. In
ihnen waren die alten indianischen politischen und religiösen Führer vertreten.
Die spanischen Herrscher hatten sich nun im Rahmen ihrer absolutistischen Reformen zum Ziel gesetzt, ihre Herrschaft zu intensivieren und die Indios vollständig zu hispanisieren. Sie forderten daher die Landpfarrer auf, gegen religiöse
indianische Vorstellungen und Riten vorzugehen. In der Tat pflegten die Indios,
die nicht Spanisch sprachen, weiterhin ihre alten Maya-Traditionen: sie hielten
mit Ahnen, Tieren und Naturgeistern Zwiesprache, glaubten an Prophezeiungen
und Zauberei und praktizierten magische Heilkulte. Wenn sie an katholischen
Riten teilnahmen, deuteten sie diese um, reicherten aber auch ihre Kulte mit
katholischen Elementen an. Die Landpfarrer hatten sich mit dieser Situation arrangiert, da sie eine umfassende Katechese gar nicht leisten konnten und auf die
geistliche und finanzielle Unterstützung der Cofradías, die für das Pfarrergehalt
aufkamen, angewiesen waren. Zudem schätzten die voraufgeklärten Kleriker die
tiefe Frömmigkeit der Indios und blieben bei ihrer toleranten Haltung.
Der zweite untersuchte Zeitraum (1945–1970) beginnt mit dem Antritt einer
liberalen Reformregierung in Guatemala. In der Zwischenzeit hatte die katholische Kirche nach der Unabhängigkeit zahlreiche Privilegien verloren und war
auf dem Land kaum noch präsent. Die Cofradías hingegen hatten sich ihre religiöse Autonomie und ihren Einfluss in der Bevölkerung erhalten können. In
dieser Situation forderte der Vatikan die Kirche Guatemalas zu einer ‚Rückeroberungskampagne‘ im indianischen Hochland auf. Mit großer personeller und
finanzieller Unterstützung aus dem Ausland sollte gegen die Macht der Cofradías und Schamanen vorgegangen werden, um die Mayas stärker der Kirche unterzuordnen. Zur Bekehrung der ‚getauften Heiden‘ im Sinne eines orthodoxen
Katholizismus bauten die ausländischen Priester starke indianische Laiengruppen auf, die sog. „Katholische Aktion“. Nach Einschätzung von Brennwald gelang es der Kirche auf diese Weise, ca. ein Drittel der indianischen Hochlandbevölkerung von der ‚falschen Religion‘ zu ‚befreien‘. Den Grund dafür sieht
sie jedoch in gesellschaftspolitischen Veränderungen und innerindianischen
Konflikten, denn viele Indios waren längst mit den überkommenen, streng hierarchischen Gesellschaftsstrukturen unzufrieden. Der Impuls durch die ausländischen Priester, sich gegen das ‚Regime der Ältesten‘, die Mitglieder der Cofradías und die Schamanen aufzulehnen, traf daher auf fruchtbaren Boden. Dazu
kam, dass die Priester sich in entwicklungspolitischen Projekten engagierten
und den ‚modernisierungswilligen‘ Indios nicht nur eine religiöse, sondern auch
eine soziale und wirtschaftliche Alternative boten. Ergebnis war, dass es der Kirche ‚dank‘ der ausländischen Unterstützung gelang, ihre Dominanz über die indianische Bevölkerung auszubauen und die Macht der zivilreligiösen indianischen Eliten deutlich einzuschränken.
Bedenkenswert ist die Kritik von Brennwald an dem ‚befreiungstheologischen‘ Engagement der guatemaltekischen Kirche. Zum einen sieht sie die ausländischen Priester „gefangen in ihrem Glauben an die Modernisierung und
129
ihrem entwicklungspolitischen Eifer“ (252), der eine paternalistische Praxis bedingte. Zum anderen förderten sie eine Entfremdung der indianischen Bevölkerung von der Kirche durch ihre intolerante Haltung gegenüber der Maya-Kultur.
Schließlich entfernte sich auch die Acción Católica, die sich zunehmend politisierte, von den Interessen und Bedürfnissen der einfachen Landbevölkerung. All
dies, so Brennwald, bereitete letztlich den stark wachsenden protestantischen
Kirchen einen fruchtbaren Boden in Guatemala.
Zur Geschichte der Kirchen deutschstämmiger Protestanten im 19. und 20. Jh.
liegen bereits einige Studien vor. Sie orientieren sich fast durchgehend an zwei
Fragestellungen: zum einen der Frage nach der Entstehung einer evangelischen,
zumeist lutherischen Kirchenstruktur in Lateinamerika und zum anderen der
Frage des Deutschtums der ausgewanderten Protestanten. Einen anderen Weg
schlägt R. Spliesgart in seiner Habilitationsschrift „‚Verbrasilianerung‘ und Akkulturation“ ein. Mit den „Deutsche[n] Protestanten im brasilianischen Kaiserreich […] (1822–1889)“ wendet er sich der frühesten Phase der Migration in der
Region Minas Gerais und Rio de Janeiro zu, die bereits von Brasilianern besiedelt
war. Die Untersuchung geht von der These aus, dass es bereits vom ersten Tag
der Ankunft der deutschsprachigen Protestanten in Brasilien an zu regelmäßigen
Kontakten mit der einheimischen Bevölkerung kam. Die dabei stattfindenden
Kommunikationsprozesse werden mit der aus der Ethnologie stammenden
Theorie der Akkulturation beschrieben. Methodisch ist die Arbeit von dem
Konzept der Historischen Anthropologie geleitet. Anhand von Mikrostudien in
vier Gemeinden zielt die Untersuchung auf den Nachweis, dass es unter den
deutschsprachigen Einwanderern in Brasilien aufgrund des andauernden Austausches mit Angehörigen der brasilianischen Kultur von Anfang an zu Veränderungen der eigenen ‚deutschen‘ Kultur und nicht zuletzt auch der religiösen
Muster kam.
Ausgangspunkt der Arbeit ist der Diskurs der „Verbrasilianerung“ der
deutschstämmigen Protestanten, der sich seit etwa 1885 in der Publizistik und
den Äußerungen von Vertretern der Kirchen und Werke des Deutschen Reiches
findet. Deren Anliegen war, aus den ‚verbrasilianerten‘, in ihrer Sicht verwilderten und von der brasilianischen (Un-)Kultur ‚infizierten‘ Auswanderern wieder
‚ordentliche‘ deutsche Protestanten zu machen (Spliesgart, 58). Das Buch versucht zu zeigen, dass die heutige evangelisch-lutherische Kirche in Brasilien sich
nicht erst seit etwa 1970 der brasilianischen Kultur und Gesellschaft öffnete (wie
vielfach angenommen); vielmehr war das vermeintliche ‚Deutschtum‘ vieler dieser Protestanten erst Ergebnis des massiven Engagements deutscher, national gesinnter kirchlicher Akteure seit dem Ende des 19. Jh.
D. Beros, Professor für systematische Theologie am Protestantischen Institut
ISEDET in Buenos Aires, verfolgt in seiner Erlanger Dissertation zur „Sprache
des Glaubens […] bei russlanddeutschen Migranten in der La Plata-Region zwischen 1925 und 1955“ einen originellen sozial- und frömmigkeitsgeschichtlichen
Ansatz zum argentinischen Einwanderungsprotestantismus. Der Titel „Heimat
130
für Heimatlose“ enthält den Inhalt seiner Arbeit bereits in nuce, die Heimat als
die zentrale Kategorie der russlanddeutschen Protestanten in Argentinien profiliert. Deren Lebensgefühl ist aufgrund ihrer mehrfachen Migration ganz wesentlich von dem Verlust von Heimat sowie der Sehnsucht nach Heimat geprägt.
Nach ihrer Umsiedlung vom Rhein ins russische Wolgagebiet vor etwa 250 Jahren und später ihrer Auswanderung nach Argentinien fanden die Deutschen
auch dort nicht die erhoffte Heimat.
Beros’ These ist, dass erstens die Wanderschaft zum Identitätsmerkmal der
russlanddeutschen protestantischen Einwanderer in Argentinien geworden ist
und diese zweitens zur Deutung und Verarbeitung ihrer Erfahrungen biblische
Kategorien bemühten. So gelangten sie schließlich zu einer eigenen religiösen
Weltsicht, nach der allein die himmlische ihre wirkliche Heimat sei. Eine wichtige Quelle für Beros ist die von Pastor Riffel gegründete Zeitschrift „Der Russlanddeutsche“, deren Anliegen die Erhaltung bzw. Bildung einer russlanddeutschen Identität der in Argentinien lebenden Protestanten war.
All dies führte – so Beros – dazu, dass ‚Heimat‘ zur zentralen Deutekategorie
weiterer historischer Erfahrungen wurde und dabei den Charakter des Imaginären – als ‚Heimatlosigkeit‘ – annahm. Bei der kollektiven Reflexion ihrer Situation bezogen die pietistisch geprägten Russlanddeutschen selbstverständlich biblische Geschichten und religiöse Lieder als lebendige Quellen ihrer Spiritualität
mit ein. Das Motiv der himmlischen Heimat bildet heute für viele der auf dem
Land verbliebenen Russlanddeutschen den zentralen transzendenten Referenzrahmen zur Deutung der eigenen Erfahrung permanenter Migration und des
Mangels an irdischer Heimat. Insgesamt leistet Beros mit seiner Studie einen
innovativen und originellen Beitrag zur Erforschung protestantischer Volksreligiosität in Argentinien im bäuerlichen Milieu russlanddeutscher Einwanderer.
Der Bürgerkrieg in El Salvador (1980–1992) ist eines der ‚prominenteren‘ Themen der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte. In der Politikwissenschaft
gibt es dazu zahlreiche Untersuchungen. In der Theologie ist er vor allem durch
die Person des Erzbischofs von San Salvador, O. Romero, bekannt, der 1980
während einer Messe ermordet wurde. U. Purrer Guardado wendet sich mit
ihrer am Institut für Iberoamerikanische Geschichte der Universität Leipzig entstandenen Dissertation einer nur Insidern bekannten Realität zu: der „Rolle der
Katholischen Kirche und des Erzbischofs Arturo Rivera y Damas im Friedensprozess in El Salvador (1980–1992)“. Ihr forschungsleitendes Interesse ist zu
zeigen, „wie die pastorale Diplomatie Arturo Rivera y Damas’ und seiner Mitstreiter während des Bürgerkriegs den Weg zur Gesprächsfähigkeit und Verhandlungsbereitschaft beider Konfliktparteien in entscheidender Weise ebnete.“
(3) Damit wendet sich Purrer gegen die gängige Auffassung, wonach die Unterzeichnung des Friedensabkommens 1992 durch die Bürgerkriegsparteien vorrangig das Verdienst der Vereinten Nationen gewesen sei.
Die als Biographie Rivera y Damas’ konzipierte Studie analysiert die Kommunikationsprozesse der Akteure sehr kleinteilig und erfasst die historische Rea131
lität in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Durch die empathische Beschreibung
des Friedenshandelns Rivera y Damas’ macht Purrer deutlich, wie wenig hilfreich radikale Deutungskategorien sind, wie sie von Vertretern der Befreiungstheologie häufig gebraucht wurden. Vielmehr zeigt sich bei einer differenzierten
Betrachtung, dass die kirchliche Praxis des ‚Gesprächs mit allen Menschen‘, unabhängig von ihren Ideologien, durchaus positive Effekte im Sinne einer „Befreiung des Volkes“ haben kann.
Die neuen protestantischen, pentekostalen und charismatischen Kirchen und
Bewegungen sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Das rasante Wachstum dieser Bewegungen ist Anlass für vielfältige Deutungen, deren Spektrum
von der theologischen Abwertung als „Sekte“ über die Vermutung ihrer Instrumentalisierung durch eine wie auch immer geartete ‚nordamerikanische Verschwörung‘ bis hin zur soziologischen Einordnung als Ausdruck des Protests
sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen reicht. Am Beispiel Costa Ricas unterzieht der wohl renommierteste Forscher zum lateinamerikanischen Protestantismus, J.-P. Bastian, zusammen mit den Sozialwissenschaftlern U. Fanger,
I. Wehr und N. Werz, die verschiedenen Hypothesen auf der Basis umfassender
Befragungen einer empirischen Überprüfung. Die Studie „Religiöser Wandel in
Costa Rica“ ist insofern von übergeordnetem Interesse, als sie die christentumsgeschichtliche Entwicklung des Landes sowohl historisch im Kontext der Kirchengeschichte als auch soziologisch im Zusammenhang der politischen und sozialen Verhältnisse verortet. Damit macht sie deutlich, dass die Ergebnisse
empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung für die Beurteilung und theologische Einschätzung von Entwicklungen der Christentumsgeschichte Lateinamerikas gewinnbringend, wenn nicht gar unverzichtbar sind.
Insgesamt kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass es keineswegs die traditionellen, von ausländischen Vorbildern und deren Finanzierung abhängigen
Kirchen sind, die ein besonderes Wachstum verzeichnen, sondern vor allem die
autochthonen protestantischen Bewegungen unter der Leitung eines einheimischen Klerus. Ihr Erfolg gründet in der Möglichkeit des Auftretens eines charismatischen Führers sowie der Integration eigener kultureller Ausdrucksformen.
Dadurch wird nicht nur das katholische Modell der Kirche als – externer – Heilsvermittlungsinstanz überwunden, sondern auch die eigene archaische Religiosität mit dem modernen Anspruch auf Partizipation versöhnt. Zudem gewinnen
die protestantischen Kirchen durch den Gebrauch der technischen Möglichkeiten der Show sowie der Massenkultur an Attraktivität. Ihren Mitgliedern verhelfen sie durch die starke Betonung religiöser Emotionen gleichsam zu einem
‚therapeutischen Prozess‘ und lösen damit – scheinbar – das Grundproblem des
Auseinanderdriftens von Gesellschaft und Familie.
In seiner Erlanger Dissertation zur „Igreja Universal do Reino de Deus“ (Universale Kirche des Reiches Gottes: IURD) stellt J. C. Schmidt eine genuin brasilianische, neopentekostale Christentumsvariante vor, deren theologisches Programm er in dem Titel „Wohlstand, Gesundheit und Glück im Reich Gottes“
132
benennt. Die 1977 gegründete IURD ist insofern von besonderem Interesse, als
sie sich in kürzester Zeit als eine der größten und einflussreichsten protestantischen Kirche in Brasilien mit einer enormen Präsenz in Medien, Politik und
Wirtschaft etabliert hat. U. a. besitzt die Kirche den zweitgrößten Fernsehsender
Brasiliens „TV Rede Record“ und stellt zahlreiche Abgeordnete in den Parlamenten.
Aufgrund ihrer aggressiven Haltung gegenüber anderen Glaubensrichtungen,
der zahlreichen Skandale, u. a. ihres Bischofs E. Macedo, ihrer stark an der Akquise von Spenden ausgerichteten Praxis und ihres enormen Reichtums gilt die
IURD in der intellektuellen Öffentlichkeit als Musterbeispiel einer protestantischen Gemeinschaft mit zwielichtigem und ambivalentem Charakter. Zur Deutung des Erfolgs der IURD liegen zahlreiche soziologische und religionswissenschaftliche Ansätze vor. Während die einen die „Wohlstands-Theologie“ der
IURD mit der „Protestantischen Ethik des Kapitalismus“ Max Webers erklären,
sehen andere die IURD als postmodernes religiöses Phänomen, das die „Vermarktung des Heiligen“ (136) gleichsam auf die Spitze getrieben habe.
Nach gängiger Klassifizierung gehört die IURD dem dritten Stadium der Geschichte des brasilianischen pfingstlich-charismatischen Protestantismus, dem
sog. Neopentekostalismus an. Ihre Grundlage ist die Theologie der nordamerikanischen Heiligungsbewegung der Nachkriegszeit sowie der Glaubensbewegung, die von der IURD jedoch nur teilweise rezipiert wurde: so die Teufels- und
Dämonenlehre sowie die Lehren vom Heiligen Geist und vom Heil. Eine zentrale Rolle spielt die Annahme, dass durch den persönlichen Glauben die materielle Realität positiv beeinflusst werden könne, d. h. der Geist eines Individuums
sei die Ursache für persönliches Unglück, Armut und Krankheit oder für ein
reiches Leben in Fülle (vida abundante).
Die zweite Wurzel der IURD liegt – im Gegensatz zu anderen (Neo-)Pfingstkirchen – im Volkskatholizismus sowie den afrobrasilianischen Religionen Umbanda und Candomblé. Diese gehen ebenfalls von einem Dualismus zweier paralleler Welten aus, einer spirituellen und einer physischen, zwischen denen Initiierte
kommunizieren können. Die Opferpraxis dieser Religionen greift die IURD insofern auf, als sie die Abgabe von Geldspenden zum Opfer für Gott erklärt, das
dem Opfernden dessen Wohlgefallen sichere. Ebenso wird die Besessenheit von
dämonischen Geistern als Ursache von Krankheit und persönlichem Unglück anerkannt und deren Austreibung in die eigene Gottesdienstpraxis integriert.
Schmidt zufolge ist in erster Linie der pragmatische Traditionsmix für den
Erfolg der IURD verantwortlich. Indem sie einerseits die afrobrasilianischen
Gottheiten mit Dämonen identifiziert und die Notwendigkeit ihrer aktiven Bekämpfung durch ein Exorzismusritual propagiert, knüpft sie bei den religiösen
Erfahrungen eines großen Teils der afrobrasilianischen Bevölkerung an. Die Attraktivität der neopentekostalen IURD – und das ist die zentrale These Schmidts
– beruhe gerade auf ihrem speziellen Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zur afrobrasilianischen religiösen Vorstellungswelt sowie der Tatsache,
133
dass sie den Menschen bei ihren konkreten Lebensproblemen helfe. So übernehme die IURD das dualistische Weltbild afrobrasilianischer Religiosität, die
angsterzeugende, persönliche Beziehung zum Heiligen sowie ein diesseitiges
Verständnis von Heil. Zugleich biete sie Schutz vor der Rache der afrobrasilianischen Gottheiten und Geisteswesen, die im Namen des christlichen Gottes
ausgetrieben werden können.
Insgesamt helfe die Heilserfahrung in der IURD den Menschen bei der Bewältigung ihrer konkreten Lebensumstände. Indem die Menschen bei der Abgabe
von Geld das stolze Gefühl gewönnen, trotz Armut ihre Pflicht gegen Gott erfüllen zu können, würden sie befähigt – so Schmidt –, auch armutsbedingte Gefühle wie Apathie, Fatalismus und Machtlosigkeit zu überwinden. Andererseits
zeige die Tatsache der großen Fluktuation der Gottesdienstbesucher, dass viele
Menschen die erhoffte Erfahrung eines Lebens in Fülle nicht oder nur kurzfristig
erleben können (234).
Man mag einwenden, dass das Urteil Schmidts einseitig auf der Selbstwahrnehmung der IURD und deren Anhänger beruhe und alternative Deutungsansätze pauschal zurückgewiesen werden. Dennoch wirft die Arbeit einige
grundsätzliche Fragen für die weitere Erforschung des lateinamerikanischen
Pentekostalismus auf: Wie kann etwas klassifiziert werden, das die Grenzen von
Christentum und traditionalen Religionen überschreitet? Zeigt die starke Anknüpfung der IURD an die afrobrasilianische religiöse Kultur nicht auch, dass
die katholische und die übrigen protestantischen Kirchen nur bedingt oder gar
nicht fähig waren, sich mit der religiösen Kultur Lateinamerikas zu verbinden
(Inkulturation)? Deutet die Tatsache, dass viele (Neo-)Pfingstkirchen auf zentrale Begriffe der Befreiungstheologie rekurrieren, vielleicht darauf hin, dass zwischen beiden Strömungen nicht ausschließlich theologische und ideologische
Differenzen bestehen, sondern sogar substantielle Gemeinsamkeiten?
3. Kontextualität, Entideologisierung und Interdisziplinarität.
Der Wert der Christentumsgeschichte Lateinamerikas für die kirchengeschichtliche Forschung
Die vorgestellten Arbeiten zur lateinamerikanischen Christentumsgeschichte
lassen einige Gemeinsamkeiten erkennen, die – bei aller Verschiedenheit der Zeiten, Länder und Themen – einen klaren Trend ausdrücken.
1. An erster Stelle ist die Verortung der Forschung im lateinamerikanischen
Kontext zu nennen. Die Geschichte des lateinamerikanischen Christentums wird
nicht länger als Missions- oder Aussendungsgeschichte gedacht, auch nicht als
Fortsetzung europäischer Kirchengeschichte, sondern als genuin lateinamerikanische Geschichte, angefangen von der Rezeption des Christentums durch die
lokale Bevölkerung über die Prozesse der Kommunikation zwischen Missionaren und Missionierten bis hin zur Transformation und der Ausbildung eigener
religionskultureller Muster. Allen Arbeiten – vielleicht mit Ausnahme der von
134
Prien – ist das Anliegen gemein, die Sichtweise der lateinamerikanischen Christen zu vertreten. Entsprechend der Intention der ‚Lateinamerikanisierung der
Forschung‘ rücken Themen lateinamerikanischer Kultur, Religiosität, Theologie
und Praxis in den Fokus des Interesses. Weiterhin ist ein verstärkter Austausch
mit lateinamerikanischen Forschern zu beobachten, die vielfach einen eigenen,
kontextuellen Zugang zu den Themen haben und dabei oftmals zu überraschenden Ergebnissen gelangen.
2. Die so beschriebene ‚Wende zu Kultur und Religion‘ macht es notwendig,
über die Grenzen von Kirchengeschichte und Theologie hinweg mit Religionswissenschaftlern, Ethnologen, Soziologen, Historikern und anderen Sozialwissenschaftlern in einen interdisziplinären Dialog zu treten. Da das Christentum in
Lateinamerika auf traditionale – indianische und afrikanische – Religionen traf,
führt die Frage nach der Inkulturation des Evangeliums regelmäßig zur Frage
nach der interreligiösen Begegnung. Die Erforschung der Christentumsgeschichte setzt daher vielfach den Kontext anderer Religionen voraus und ist
nicht ausschließlich innerhalb der Grenzen und mit den Methoden der klassischen Kirchengeschichte möglich. Daher erscheint es sachgemäß, eine lateinamerikanische Christentumsgeschichte im Zusammenhang einer lateinamerikanischen Religionsgeschichte zu betreiben.
3. Die interdisziplinäre Anlage der lateinamerikanischen Christentumsgeschichte bedingt immer auch deren Entideologisierung. Während viele Arbeiten vergangener Jahrzehnte von Großtheorien geleitet waren, die historische
Entwicklungen und deren Protagonisten in klare Kategorien wie „Eroberer –
Eroberte“, „Unterdrücker – Befreier“, „Zivilisierte – Wilde“ etc. einzuteilen
wussten, lässt sich bei jüngeren Studien eine Wende zur Empirie feststellen. Dies
zeigt sich an den vielen sorgsam recherchierten, detailreichen Fall- und Mikrostudien. Damit ist das Zeitalter der triumphalistischen Betrachtung der Geschichte Lateinamerikas als ‚christliche Erfolgsgeschichte‘ ebenso beendet wie
die romantisierende Idealisierung des ‚armen Volkes‘ und die Solidarisierung
der Forscher mit selbsternannten Befreiern und Befreiungsbewegungen.
4. Im deutschsprachigen universitären Kontext besteht für die lateinamerikanische Christentumsgeschichte die grundsätzliche Problematik ihrer mangelnden Institutionalisierung. So sind zu ihrer seriösen Erforschung einerseits große
fachliche Kompetenz sowie ein hoher logistischer Aufwand notwendig, andererseits sind für die Lateinamerikanisten unter den Kirchenhistorikern die Aussichten auf eine akademische Weiterbeschäftigung überaus gering. Angesichts der
nach wie vor bestehenden Hierarchisierung der Wissensbestände innerhalb der
Kirchengeschichte ist für sie eine Berufung auf einen entsprechenden Lehrstuhl
in Deutschland weiterhin nur äußerst schwer vorstellbar. Nichtsdestotrotz gewinnt das Thema zunehmend an Aktualität: akademisch ist dies sichtbar an dem
wachsenden Diskurs um eine „Interkulturelle Theologie“, praktisch an der Präsenz lateinamerikanischer Religionen – auch in Deutschland – im Zuge der globalen Migrationsbewegung.
135
Angesichts des stetig steigenden Interesses der Religionsforschung und der
hohen Zahl an Arbeiten zu Themen der Religion in Lateinamerika im internationalen Kontext erscheint es für die deutsche Kirchengeschichte angeraten, hier
schnellstmöglich den akademischen Anschluss zu suchen. Nicht zuletzt könnte
die Zuwendung zu Lateinamerika auch die eigene Arbeit bereichern, da durch
die Rezeption einer fremden Wissenschaftskultur neue und kreative Verstehenszugänge erschlossen werden. Wäre es also nicht eine interessante Aufgabe für
deutsche Kirchenhistoriker, sich an dieser Stelle in den internationalen Diskurs
einzuklinken und den besonderen Beitrag der Theologie bzw. einer theologisch
profilierten Kirchengeschichte deutlich zu machen?
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