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Sonderdruck aus
Marie-Theres Federhofer / Jutta Weber (Hg.)
Korrespondenzen und
Transformationen
Neue Perspektiven auf Adelbert von Chamisso
Mit 33 Abbildungen
V& R unipress
ISBN 978-3-8471-0010-2
ISBN 978-3-8470-0010-5 (E-Book)
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Inhalt
Ren-Marc Pille
Quelques mots de bienvenue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Volker Hoffmann
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Einleitung der Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Reisen und Forschen
Harry Liebersohn
Chamisso and Five Hundred Years of Ethnography
. . . . . . . . . . . .
21
Johannes Görbert
Das literarische Feld auf Weltreisen. Eine kultursoziologische
Annäherung an Chamissos Rurik-Expedition . . . . . . . . . . . . . . .
33
Matthias Glaubrecht
Naturkunde mit den Augen des Dichters – Mit Siebenmeilenstiefeln zum
Artkonzept bei Adelbert von Chamisso . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Michael Schmidt
Chamisso als Illustrator
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Michael Bienert
Botanisieren auf Papier. Ein Blick in Chamissos Notizbücher . . . . . . . 107
Kommunikation und Korrespondenz
Nikolas Immer
Berliner Sympoesie. Adelbert von Chamisso als Mitherausgeber des
Musenalmanachs (1804 – 1806) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
6
Inhalt
Monika Sproll
Wiederentdeckte Dokumente aus dem Nachlass Adelbert von Chamissos
zum Musenalmanach auf das Jahr 1804 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Selma Jahnke
„Liederreich“ oder „liederlich“? Die Begegnung Adelbert von Chamissos
mit Helmina von Chzy im Jahr 1810 als Inszenierung von Liedern in
Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Marie-Theres Federhofer
Die „zarten Fäden“ – Korrespondenz als Vernetzung. Am Beispiel eines
bislang unbekannten Briefes Adelbert von Chamissos an Salomon Hirzel
175
Anna Busch
„Verwahre meine Briefe, Briefe sind Archive.“ Julius Eduard Hitzigs
Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso: Entstehungsgeschichte,
Quellenlage, Programm, Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Musikalische Übertragung und literarische Transformation
Rufus Hallmark
Chamisso’s Frauenliebe und Leben in Context: Contemporary Poems
about and by Women . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Sharon Krebs
Chamissos Thränen. Die musikalische Rezeption des Gedichtzyklus . . . 239
Sarah Michaelis
Pikaresker Peter Schlemihl – Intertextualität zwischen Chamissos
Schlemihl und Grimmelshausens Simplicissimus . . . . . . . . . . . . . . 259
Kjetil Berg Henjum
Peter Schlemihl und einige seiner Übersetzungen:
Übersetzungsstrategien und Lesereinschätzung . . . . . . . . . . . . . . 279
Zu den Autorinnen und Autoren
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
Weiterfhrende Materialien zu diesem Band sind unter www.v-r.de/de/content437-437/materialien_korrespondenzen_und_transformationen/ abrufbar.
Kommunikation und Korrespondenz
Nikolas Immer
Berliner Sympoesie.
Adelbert von Chamisso als Mitherausgeber des
Musenalmanachs (1804 – 1806)
In seiner Reise um die Welt (1836) schildert Adelbert von Chamisso, wie er auf
der Fahrt in Richtung der Sandwichinseln einem sonderbaren Herrn begegnet,
dessen eigenwilliges Liebesverhältnis er sogleich skizziert:
Er war nämlich in zwanzigtausend Piaster verliebt, zu deren Besitz er nicht gelangen
konnte, und von denen er sprach mit einer ergreifenden Sehnsucht, mit einer Wahrheit
und Tiefe der Empfindung, mit einer Hingerissenheit, die den wenigsten Musenalmanachsgedichten eigen sind. (ChW II, 122)1
Wenn Chamisso hier in bewusst ironischer Wendung die monetäre über die
lyrische Ergriffenheit stellt, weiß er durchaus, wovon er spricht. Schließlich ist er
seit 1833 erneut Mitherausgeber eines Musenalmanachs, konkret des Deutschen
Musenalmanachs, den Amadeus Wendt drei Jahre zuvor begründet hatte.2 Seine
ersten Erfahrungen mit der Ende des 18. Jahrhunderts enorm anschwellenden
Almanachliteratur sammelt Chamisso bereits in seiner Berliner Frühzeit, als er
gemeinsam mit Karl August Varnhagen von Ense den Musenalmanach auf die
Jahre 1804 bis 1806 herausgibt. Doch aus der Rückschau der einleitenden Worte,
die Chamisso seiner Reise um die Welt voranstellt, wird eine merkliche Distanz
gegenüber dem Jugendprojekt deutlich. Auch wenn er unterstreicht, diese publizistische Erfahrung nicht missen zu wollen, wird der in drei Jahrgängen erschienene Musenalmanach doch als eine „unreiferweise“ ins Werk gesetzte
„Unbesonnenheit“ (ChW II, 10) charakterisiert. Im Horizont dieser Selbsteinschätzung spricht nicht nur Ludwig Geiger 1889 von den „Irrungen der jungen
Berliner Dichter am Anfange des 19. Jahrhunderts“, sondern weiß 1911 auch
Thomas Mann in auffälliger Anlehnung an Chamissos Wortwahl vom „unreifen
Inhalt[…]“ der Musenalmanache zu berichten.3 Und noch im Jahr 2008 erinnert
Beatrix Langner in ihrer Chamisso-Monographie an die „unbeholfenen dich1 Im Folgenden werden die Werke Chamissos unter Verwendung von Siglen im laufenden Text
zitiert. Das Siglenverzeichnis findet sich am Ende des Textes vor dem Literaturverzeichnis.
2 Vgl. Schüppen 1998, S. 166 – 182.
3 Geiger 1889, S. XVIII; Mann 2001 ff., Bd. 14.I, S. 311.
126
Nikolas Immer
terischen Versuche“ der Berliner Poeten, die ihre Blütenlese „weinumnebelt und
tabakrauchumwölkt“ konzipiert hätten.4
Dass trotz der Umnebelung und Umwölkung der beteiligten Autoren drei
ertragreiche Florilegien entstehen, denen keineswegs pauschal der Stempel des
Epigonalen oder Dilettantischen aufgedrückt werden kann, hat Christine Schlitt
mit ihrer Arbeit über Chamissos Frühwerk (2008) inzwischen überzeugend
nachgewiesen.5 Ohne im folgenden eine forcierte Aufwertung der ästhetischen
Qualität von Chamissos mitherausgegebenen Musenalmanachen betreiben zu
wollen, soll in vier Schritten untersucht werden, inwiefern sich dieses Periodikum als ein Medium frühromantischer Sympoesie werten lässt. Nach einem
knappen Aufriss der Entstehungsgeschichte wird in einem zweiten Schritt nach
dem poetischen Gehalt und der programmatischen Zielrichtung dieses Organs
zu fragen sein. Während drittens die Positionierung des Musenalmanachs im
literarhistorischen Diskursfeld von Klassik und Romantik zu erwägen ist, soll
viertens die innerliterarische Selbstinszenierung der Beiträger behandelt werden.
I.
Anfänge im Grünen. Die Formierung eines Dichterbundes
Schon als sich Chamisso und Varnhagen im Charlottenburger Salon der Madame Bernhard das erste Mal begegnen, ist Varnhagen von Chamissos dichterischen Fähigkeiten beeindruckt. Rückblickend schreibt er in den Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens (1837 – 1859) über Chamisso:
Er hatte deutsche Lieder und Elegien gedichtet, sogar einen Faust in Jamben angefangen, und ich hörte mit Staunen und Bewunderung, was er davon mit seiner zerquetschenden Aussprache, in einer Türe stehend und den Durchgang hemmend, mir
aus dem Gedächtnis hersagte. […] dieser Poesie wurde ich sogleich ein rührender
Verbreiter, und alsbald des Dichters, der sich als der bravste Kerl von der Welt zu
erkennen gab, vertrauter Herzbruder.6
Mit dieser Erinnerung an den „Herzbruder“ charakterisiert Varnhagen nicht nur
die Innigkeit des Freundschaftsbundes, dem bereits der Dichter Wilhelm Neumann angehört und in den nahezu alle Beiträger des ersten Musenalmanachs
aufgenommen werden. Auch wird bereits der Impuls zur Publizität sichtbar, dem
Varnhagen als „rührender Verbreiter“ von Chamissos Dichtung unmittelbar
nachkommt. Da die literarische Produktion durch den gemeinschaftlichen
Austausch beflügelt wird, beginnen die jungen Schriftsteller schon bald, über
4 Langner 2008, S. 59, 63.
5 Vgl. Schlitt 2008, S. 98 – 101.
6 Varnhagen 1987 – 1995, Bd. 1, S. 249.
Berliner Sympoesie
127
Publikationsmöglichkeiten nachzudenken. In der Rückschau erinnert sich
Varnhagen:
Alles und jedes mehrte nur immer unsre Gedichte, und sie wuchsen bald allzu gedrängt, als daß sie nicht endlich aus dem Pult unruhig an das Licht gestrebt hätten. Der
Gedanke des Druckenlassens ging mir und Chamisso’n plötzlich auf, als wir am späten
Abend allein im Garten wandelten, wir vereinigten uns auf der Stelle zu seiner gemeinsamen Ausführung, zu welcher die Herausgabe eines Musenalmanachs so bequem
als anständig erschien.7
Doch nach der ersten Sichtung aller vorliegenden Werke müssen beide Dichter
feststellen, dass ihnen noch keineswegs genügend druckbare Texte vorliegen.
Während einige Dichtungen aufgrund persönlicher Rücksichten nicht veröffentlicht werden können, erfüllen andere nicht die selbst gestellten Qualitätsansprüche. Um das Projekt nicht vorfristig scheitern zu lassen, beginnen
Varnhagen und Chamisso, neue Beiträger zu werben. Neben Wilhelm Neumann,
mit dem Varnhagen bereits vertraut ist, können sie Julius Eduard Hitzig, Ludwig
Robert und Franz Theremin zur Mitarbeit ermuntern. Doch trotz angestrengter
Suche gelingt es Chamisso und Varnhagen nicht, einen Verleger für ihr Projekt
zu gewinnen. Glücklicherweise vermag in dieser schwierigen Situation Hitzig
auszuhelfen, der den Kontakt zu dem Berliner Buchhändler Johann Daniel
Sander vermittelt, über den schließlich die Zusammenarbeit mit dem Leipziger
Verleger Carl Gottlob Schmidt zustande kommt.8 Wie Varnhagen darlegt, ist es
letztlich aber Chamisso, der mit seinem Vermögen überhaupt erst die Finanzierung des Unternehmens sichert.9
Mit der Publikation des ersten Musenalmanachs gegen Ende September 1803
stellt sich für die Mitarbeiter, wie Varnhagen retrospektiv feststellt, ein „unendlicher Lebensgewinn“10 ein, wofür er vier Argumente geltend macht: Erstens
beginnen sich die wechselseitigen Freundschaften zu intensivieren; zweitens
beziehen die jungen Dichter Stellung im Diskursraum der literarischen Öffentlichkeit; drittens stärkt die Publikation ihr künstlerisches Selbstbewusstsein, so dass sie zu „neue[r] Mündigkeit“ gelangen; und viertens erhöhen sie
durch die Präsentation ihrer literarischen Werke ihre Chancen beim weiblichen
7 Ebd., Bd. 1, S. 271 f. Im Jahr 1803 allerdings reklamiert Varnhagen die Idee, einen Musenalmanach konzipieren zu wollen, für sich. In einer tagebuchartig angelegten „Erinnerung“
schreibt er : „Geburt des Almanachs. Erste Idee von mir bei den Treibhäusern des Cohenschen Gartens.“ (Zit. nach: Pissin 1970, Sp. 32.)
8 Vgl. Dorsch 1994, S. 109.
9 „Chamisso war es eigentlich, der mit seinem Gelde das Unternehmen machte, und obgleich
Neumann und ich einen Teil der Exemplare ihm abkauften, wird er doch bei dem sonstigen
geringen Absatz nicht ganz ohne Einbuße davongekommen sein.“ (Varnhagen 1987 – 1995,
Bd. 1, S. 273.)
10 Ebd.
128
Nikolas Immer
Geschlecht: „Aufsehen genug bewirkten wir ; in unserm nächsten Kreise das
außerordentlichste; die Frauen besonders waren gereizt und geschmeichelt, an
dem Schmuck unsrer Dichtung […] so nahen Teil zu haben.“11 Im Rahmen
seiner Denkwürdigkeiten ist Varnhagen jedoch kurz darauf bemüht, diese Tendenz zur Außenwirkung wieder zurückzunehmen, um den Zirkel der jungen
Dichter zu einem Freundschaftsbund zu stilisieren: „Auch wandten wir Freunde
den Sinn von dem Publikum völlig ab, und suchten Gewinn und Lust einzig im
Innern unsers eignen Treibens.“12 Trotz der latent heterogenen Auffassungen
über die literarische Ausrichtung ihres exklusiven ,Salons‘ zelebrieren die späteren Nordsternbündler ihre Gesinnungsgemeinschaft bei den „poetischen Tee’s
des grünen Buches“.13 Vor dem Hintergrund von Varnhagens späterer Einschätzung fällt es allerdings schwer, diese Zusammenkünfte mit Hermann
Haarmann als bloßen „freundschaftlichen Austausch mit den Gleichgesinnten“14 zu werten, da Varnhagen diese Treffen zu ereignishaften Lebensmomenten
aufwertet: „[…] und so gaben uns diese Zusammenkünfte durch innige Wärme
der Freundschaft und durch geistige Erhebung ein reines Glück zu kosten,
welches die Nacht uns von den Sternen herabzurufen schien.“15
Dieses Erlebnis der kollektiven „geistige[n] Erhebung“ lässt an die frühromantische Konzeption von Gemeinschaft denken, wie sie zeitgenössisch von
Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher propagiert wird. Schlegel
entwirft seine Vorstellung von einem solchen produktiven Zusammenspiel im
Rahmen seiner Athenaeums-Fragmente:
Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen,
wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es
nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten.16
Genau diese Form sympoetischer Produktion ermöglicht das Medium ,Musenalmanach‘ in mehrfacher Hinsicht: Zum ersten erwächst aus der realen
Zusammenkunft eine symphilosophische Kommunikation bzw., wie Schleier11
12
13
14
15
Ebd., Bd. 1, S. 274.
Ebd., Bd. 1, S. 275.
Ebd., Bd. 1, S. 276. Zur Heterogenität dieser Konstellation vgl. Dorsch 1994, S. 119.
Haarmann 1990, S. 45.
Varnhagen 1987 – 1995, Bd. 1, S. 276. Dass der Dichterbund noch signifikante Züge des
empfindsamen Freundschaftskults trägt, belegen vor allem die Briefe, die die festen Beiträger
miteinander wechseln. Exemplarisch sei auf de La Foyes Brief vom 4. / 6. Februar 1805 an
Chamisso verwiesen: „Jetzt eben bekomme ich den Grünen! Fühle meine Freude, wenn du
kannst! Ich habe ihn bereits eine halbe Stunde in den Händen gehabt, aber ich war so wie ein
Kind in einem Spielladen: es weiss nicht, wozu erst greifen! Ich machte ihn zu und, höre
meine Tollheit! ich ergötzte mich an der grünen Farbe! Eine Träne ist darauf gefallen, ich
wischte sie mit meinen Lippen weg: dir war sie gefallen!“ (ChC, 67)
16 Schlegel 1958 ff., Bd. 2, S. 185, Fragment Nr. 125.
Berliner Sympoesie
129
macher es in seinem Versuch einer Theorie geselligen Betragens (1799) formuliert, ein „freies Spiel der Gedanken und Empfindungen“,17 das die intersubjektive Ideenzirkulation befördert. Zum zweiten ergeben sich auf literarischer
Ebene trotz individueller Autorschaft thematische, motivische oder gattungsspezifische Relationen zwischen den Almanachstexten, die auf den kollektiven
Ideenhorizont der Mitarbeiter verweisen. Und zum dritten machen die Beiträger
von der Möglichkeit literarhistorischer Sympoesie Gebrauch, indem sie mit
poetischen Huldigungen bestimmte kanonisierte Dichter nicht nur würdigen,
sondern zugleich in ihren Zirkel virtuell integrieren.18
Allerdings lässt sich schon bald eine Veränderung in der Struktur der Dichtergemeinschaft feststellen, da sie sich zahlenmäßig erweitert und von neuen
„Ansprüche[n] und Absichten“ beherrscht zu werden beginnt.19 Neben dem
späteren Schwager Hitzigs, Adolph von Uthmann, stoßen Chamissos Jugendfreund Louis de La Foye und schließlich der junge Arzt David Ferdinand Koreff
dazu, der die Zusammenkünfte mit seinen „erhabenen, humoristischen und
possenhaften Ausbrüchen“20 belebt. Doch auch diese Konstellation hat keinen
langen Bestand, da sich im Frühjahr 1804 die Gruppe geographisch zu zerstreuen beginnt. An die Stelle des unmittelbaren mündlichen Gesprächs tritt der
mittelbare briefliche Austausch. Für den Freundschaftsbund gewinnt der Musenalmanach vor allem die Bedeutung der Einheitsstiftung: Er wird zum Medium der brieflich fortgesetzten Sympoesie.
II.
Einheit in der Vielheit? Literarische Tendenzen des
Musenalmanachs
Wird die Frage nach dem poetischen Gehalt der drei Musenalmanache gestellt,
erscheint das Periodikum zunächst als ein Experimentierfeld unterschiedlicher
dichterischer Ambitionen. Davon zeugt insbesondere die Gattungsvielfalt, die
auch der schwäbische Dichter Karl Philipp Conz in seiner Rezension hervorhebt.
Bestandteile der Musenalmanache sind: „[…] Terzinen, Canzonen, Ottave Rime,
Sonette die Menge, Variationen, in denen Empfindung und Gedanke […] durch
den Reim bestimmt werden; Romanzen und Balladen; Uebersetzungen christkatholischer lateinischer Hymnen, […] mit unter auch Nachbildungen altklassischer Formen, anakreontische Lieder, übersezt oder nachgeahmt“, sowie
17 Schleiermacher 2000, S. 19.
18 Zu denken wäre beispielsweise an das Sonett Rousseau, das sich im dritten Musenalmanach
findet (MA III, 185).
19 Varnhagen 1987 – 1995, Bd. 1, S. 276.
20 Ebd.
130
Nikolas Immer
„Elegieen“.21 Angesichts dieser Vielfalt lassen die drei Bände jedoch keine
übergreifenden Ordnungsprinzipien erkennen, und auch die Inhaltsverzeichnisse sind einzig nach den Namen der Beiträger gegliedert. Anhand dieser autorzentrierten Schematisierung wird immerhin deutlich, dass die antikisierenden Texte vornehmlich von Varnhagen und die Übersetzungen und Nachdichtungen vor allem von Hitzig stammen. Während Conz bemängelt, dass es zwar
Gedichte in „Horazischen Sylbenmassen“ gebe, in diesen jedoch nur „Wortgesprudel ohne Horazischen Geist“22 auszumachen sei, begrüßt Zacharias Werner,
der am 17. Oktober 1803 eine ausgedehnte Briefrezension des ersten Almanachs
liefert, die Versuche Varnhagens, antike Odenformen nachzubilden: „er
[Varnhagen] hat mehrere Beyträge dieser Art geliefert, aus welchen eine vertraute Bekanntschaft mit den älteren Classikern hervorleuchtet. An Kraft der
Gedanken und des Ausdrucks zeichnen sich darunter der Gesang Calliopens
[…] und die Ode an K. […] aus.“23 Getreu dem vorangestellten metrischen
Schema lässt sich Varnhagens Gedicht Der Gesang Kalliopens als asklepiadeische
Ode identifizieren, in deren Verlauf ein lyrisches Ich wahrnimmt, wie die Muse
der epischen Dichtung am Himmel erscheint und ab Strophe fünf selbst ein
„donnernde[s] Lied“ (MA I, 25) anstimmt. Da Kalliope nach dem Eintrag in
Benjamin Hederichs Gründlichem mythologischen Lexicon (1770) nicht nur als
„Erfinderinn der Poesie“ angesehen, sondern auch „mit einer grünen Kleidung
und einem weißen Ueberkleide abgebildet“24 wird, lässt sich fast annehmen, dass
Varnhagen vermittels dieser Ode nicht nur seine dichterischen Fähigkeiten unter
Beweis stellen will. Denn mit dem Hinweis auf die „[h]eilig[e] […] Nähe der
Gottheit“ (MA I, 25), die von der Muse ausgeht, wird sie auch als Inspirationsfigur für die Beiträger des ebenfalls grünfarbenen Musenalmanachs etabliert.
Neben Varnhagens antikisierenden Dichtungen liefert Hitzig eine Reihe von
italienischen, englischen, spanischen und französischen Übertragungen wie
beispielsweise ein Madrigal von Giovanni Battista Guarini (MA I, 131), die im
Horizont der Ossian-Mode stehende altschottische Ballade Edom von Gordon
(MA I, 92 – 99), die spanische Romanze Der grüne Strom (MA I, 66 – 69) und das
Rondeau von Vincent Voiture (MA I, 127). Während sich Hitzigs Talent am
Beispiel von Der grüne Strom, wie Nikolaus Dorsch aufgezeigt hat, in einem
„netten Dilettantismus“25 erschöpft, wird seine Originalität anhand der Nachbildung von Voitures Rondeau sichtbar :
21
22
23
24
25
Conz 1807, Sp. 1025 f.
Ebd., Sp. 1026.
Zit. nach: Pissin 1970, Sp. 44 f.
Hederich 1996, Sp. 606.
Dorsch 1994, S. 112.
Berliner Sympoesie
131
Ach nun ist’s aus mit mir ; denn Isabelle
Sie fordert – fordert gleich hier auf der Stelle
Ein regelmäßiges Rondeau von mir ;
Sie will’s und was, o, weigert’ ich wohl ihr?
Nun frägt es sich, wie ich die Verse stelle?
Ich suche acht mir, deren Endung elle,
Doch dann erst drohet mir die wahre Hölle,
Ich brauche dann fünf Reime noch auf ir.
Ach nun ist’s aus!
Kein Tropfen auch aus Hippokrenens Quelle,
Kein Trost für mich in Hübners Reimtabelle,
Auch du verlässest mich, mein Voitur’!
Doch sieh! zwölf Verse stehen ja schon hier ;
Was fehlt mir nun noch? nichts, als daß ich stelle,
Ach nun ist’s aus!
In seiner Nachdichtung gelingt es Hitzig, die Lakonie der Vorlage geschickt zu
imitieren.26 Ausgestellt wird die Bedrängnis des lyrischen Ichs, das sich von der
Bitte der geliebten Isabelle, ihr zu Ehren ein Rondeau zu verfassen, offensichtlich
überfordert fühlt. Im Hinblick auf die mühsame Zusammenstellung der benötigten Reimworte zeigt sich Hitzigs geistvoller Zugriff. Denn indem er den
Mangel an potentiellen Hilfsmitteln in einem Parallelismus kenntlich macht,
geht er deutlich über Voiture hinaus. Weder die vormoderne Inspiration, die der
Musenquell Hippokrene zu gewähren vermag, noch die moderne Anregung, die
Johann Hübners Poetisches Handbuch (1696) liefern könnte, erweisen sich für
den verhinderten Dichter als nutzbringend. Vielmehr liegt die Pointe darin, dass
allein die Erwähnung dieser ,Hilfsmittel‘ die benötigten Verse füllt, so dass sie
durch ihre bloße Nennung zum Gelingen des Gedichts beitragen. Allerdings
deutet die Schlusswendung „Ach nun ist’s aus“ schon darauf hin, dass die angebetete Isabelle von dem ungelenken dichterischen Versuch keineswegs begeistert sein dürfte.
Damit spielt Hitzigs Übertragung gleichzeitig in den Bereich tragischer Liebeslyrik hinüber, zu dem Chamisso mehrere Gedichte beisteuert. Den biografischen Hintergrund bildet seine wechselvolle Liebesbeziehung zu der französischen Emigrantin Crs Duvernay, die er in den Stanzengedichten Ihr Traum
und An Sie, in dem Doppelsonett Sie und Er und in der Ode Ceres besingt.
Außerdem rückt er in den ersten Musenalmanach die gleichnamige Elegie ein,
womit er auf eine Gattung zurückgreift, die Goethe mit seinen Römischen Elegien Ende des 18. Jahrhunderts wieder popularisiert hatte.27 Bei Chamisso wird
die Geliebte zu einer göttlichen Erscheinung verklärt, die den freudlosen Alltag
26 Vgl. Voiture 1677, S. 66 f.
27 Vgl. Immer 2012.
132
Nikolas Immer
des lyrischen Sprechers zu beleben und zu veredeln vermag. Folglich wird sie
dazu eingeladen, sich gemeinsam mit ihm auf „des Lebens Fahrt“ zu begeben:
Pfeilschnell rafft uns die Flut, streuend das purpurne Licht
Strahlt Aurora am Himmel, unmhüllt uns mit herrlichem Schleier
Und am Ziele der Fahrt strahlet die Hoffnung, ein Stern,
Gleich dem Efeurank am Stamme der rüstigen Eiche,
Liebend und schmückend den Baum, grünt sie gesunder empor
Jener auch grünt izt stolzer und beide leben Ein Leben […]. (MA I, 50 f.)
Auch wenn sich das hoffnungsvolle Liebesglück am Ende des Gedichts nur als
ein Traum erweist, scheinen in Chamissos Elegie Strukturmomente auf, die sich
auf sein programmatisches Anfangsgedicht Die jungen Dichter beziehen lassen.
Ebenso wie in der Elegie vom „traurigen, öden [Steig] des Lebens“ die Rede ist,
wird eingangs von Die jungen Dichter das düstere Bild eines Wanderers entfaltet,
der „in der Öde bangen muß“ (MA I, 48, 1). Wie Christine Schlitt mit Blick auf
Chamissos Programmgedicht überzeugend dargelegt hat,28 gelingt in Anlehnung an die Gedankenlyrik Schillers der Aufschwung ins „ew’ge Reich der
Ideale“, indem eine weibliche Gottheit den Wanderer „stärket und erhebet“ (MA
I, 3). Im Gegensatz zur Ode Varnhagens ist es nicht die Muse Kalliope, sondern
eine Verbindung aus Venus Urania und Venus Cypria, die dem lyrischen Sprecher erscheint. Ähnlich wie in der Elegie die grünende Hoffnung die Gemeinschaft mit der Geliebten verheißt, ermöglicht es in Chamissos Programmgedicht
nun die Zeit „ewig grüner Jugend“ (MA I, 5), die Erfahrung ernster Dichterfreundschaft zu machen. Mit dem Farbattribut wird wiederum auf den Musenalmanach zurückverwiesen, dessen Beiträger schließlich als eifrig strebende
Künstler vorgestellt werden:
Wir ringen aufwärts, und den goldnen Saiten
Entbeben leise Töne schon, es spielen
Apollons Strahlen leuchtend um die Leier,
Und mächtig in dem regen Busen fühlen
Auflodern wir der künft’gen Lieder Feuer. (MA I, 6)
Um sich der Gunst seiner Beiträger zu versichern, verfolgt Chamisso seine
Herausgeberpflichten mit Ernsthaftigkeit. Zum ersten ermahnt er seinen Mitherausgeber zur Zurückhaltung, als dieser Ende September 1804 den Gedanken
zu hegen beginnt, eine „Sammlung Kritiken“ (ChBr I, 47) herauszubringen.
Eingedenk der eigenen ,Namenlosigkeit‘, die er schon in seinem Programmgedicht thematisiert (MA I, 6), und unter Rekurs auf das Goethe-Schillersche
Xenion Geschwindschreiber hält er Varnhagen entgegen:29 „Freund, laß Dir
28 Vgl. Schlitt 2008, S. 107 – 109.
29 „Was sie gestern gelernt, das wollen sie heute schon lehren, / Ach! was haben die Herrn doch
Berliner Sympoesie
133
sagen: wir sind Jungen, die da kauen lernen, und lehren zu wollen und aburtheilen zu wollen, würde mir höchst spaßhaft vorkommen“ (ebd.). Zum zweiten
wendet er wiederholt Mühe auf die orthografische und stilistische Verbesserung
der für den Musenalmanach vorgesehenen Beiträge. Vor allem seinen Freund de
La Foye muss er ermahnen: „lerne Du mir Deutsch, sage ich, und richtig dekliniren und flektiren auf allen Wegen, vorher läßt sich nichts anfangen, vorher
sollst Du mir nichts wieder antasten.“30 (ChBr I, 60 f.) Zum dritten schließlich
versucht Chamisso, seinen Anspruch auf inhaltliche Substanz und Kohärenz der
abzudruckenden Texte durchzusetzen. Während er de La Foye dazu anhält, nicht
die bereits veröffentlichte Gedichte zu imitieren, distanziert er sich mehr und
mehr von der übermäßigen Sonettproduktion der Beiträger (ChW I, 851 f.). Am
12. August 1805 schreibt er an Varnhagen und Neumann: „O Freunde, lasset uns
nicht […] die Zeit, mit Bemühungen des Dichtisiren zersetzen! und Machwerke
doch zum öftern nur machen. Die Zeit, Kunstwerke zu erschaffen, müssen wir
aussäen, auf daß sie reife.“ (ChBr I, 81)
III.
Offene Ambivalenzen. Zwischen Klassik und Romantik
Während der erste Musenalmanach sich zu Beginn dezidiert an Die jungen
Dichter richtet, endet er mit einem Ausblick auf die ,alten‘ Dichter, genauer mit
Widmungsgedichten an Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe. Dass
die Lektüre der Klassiker schon frühzeitig zur Beschäftigung von Neumann,
Chamisso und Varnhagen zählt, berichtet der Letztgenannte in seinen Denkwürdigkeiten. In der Wertschätzung „stieg Schiller mächtig empor, und alle
überragte mehr und mehr Goethe, dessen Schriften und besonders Wilhelm
Meister unsre Hauptbücher wurden.“31 Auch Chamisso hält die Schlussgedichte
für anspruchsvoll genug, um den ersten Jahrgang des Musenalmanachs beiden
Dichter zu dedizieren. An Goethe schreibt er am 24. September 1803:
[…] Ich wage es, der Lyra, deren Harmonie meine Seele erfüllt hat, eine fromme Gabe
darzubringen. Meine Freunde teilen die Religion, die mich leitet, aber Sterbliche
können zu Füßen der Götterstatuen nur schwache Zweige mit bald verwelkten Blättern
niederlegen.32
für ein kurzes Gedärm!“ (Friedrich Schiller : ,Geschwindschreiber‘, in: Schiller 1943 ff.,
Bd. 1, S. 349.)
30 Schon im Oktober 1804 schreibt Chamisso an de La Foye: „Schäme dich ernstlich, dass du,
Bengel, mir nicht deklinieren ordentlich lernest und nicht die Fälle, wo und wie es nottut,
gebrauchen“ (ChC, 38).
31 Varnhagen 1987 – 1995, Bd. 1, S. 250.
32 „Monsieur / J’ose apporter une pieuse offrande la Lyre dont l’armonie a rempli mon ame,
mes amis partagent la religion qui me conduit, mais des mortels ne peuvent poser au pied des
134
Nikolas Immer
Auch Schiller erhält ein Exemplar des Musenalmanachs samt Begleitbrief, was
dieser am 29. September 1803 in seinem Kalender vermerkt.33 Zwar ist der Brief
nicht überliefert, jedoch geben Carl Schüddekopf und Oskar Walzel 1899 darüber Auskunft, dass sich im Nachlass Chamissos „die Concepte für Begleitschreiben an Carl August, G[oethe] und Schiller“ erhalten haben und zudem
„eine Antwort […] von Carl August vorhanden“34 ist.
Während Antwortbriefe von Goethe und Schiller nicht bezeugt sind, überliefert Varnhagen in einer Rezension von Johann Peter Eckermanns Gesprächen
mit Goethe eine Anekdote, die 1836 in der Mitternachtszeitung für gebildete
Stände abgedruckt wird. Varnhagen zitiert dabei aus einem „Denkblatt“ von
Ludwig Robert, der Goethe im August 1804 in Bad Lauchstädt kennengelernt
hatte:35
,Hast du nie etwas von deinen Arbeiten Göthe’n geschickt?‘ fragte ich meinen Freund,
den Dichter ***; ,Niemals‘, antwortete er ; ,denn als ich einst, ich glaube im Jahre 1804,
bei ihm zu Tische war, kamen Almanache, der Chamisso-Varnhagen’sche war auch
darunter, und Göthe nahm einen nach dem andern, hielt sie an seine und seiner Frau
Ohren, und fragte: ,Hörst du was? ich höre nichts Nun! wir wollen die Kupfer betrachten, das ist doch das Beste;‘ und so legte man die Almanache bei Seite.‘36
Dass es Goethe schließlich nicht beim Beiseite-Legen der Almanache belässt,
belegt sein Brief vom 18. Mai 1805 an Heinrich Karl Abraham Eichstädt, in dem
er bekundet, dass ihm die polemische Rezension von Carl Elias Jariges, die kurz
zuvor in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienen war,37 „recht
wohl gefallen hat“.38 Jariges verspottet darin die jungen Dichter als „Kindlein“,
die „um den süssen Brey“ sitzen, aber allesamt noch nicht „die Löffel […]
halten“ können.39 Aufgrund der Schärfe des Angriffs spricht Chamisso von einer
„Blitzmordrecension“ und dürfte wohl um so mehr bedauert haben, dass
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statues des Dieux, que de foibles rameaux d’un feuillage bientt fltri. / J’ai l’honneur d’Þtre
avec vnration / Monsieur / votre trs humble et trs obeissant serviteur / v Chamisso / Officier au Regiment de Götze.“ (Zit. nach: Schüddekopf / Walzel 1899, S. 253. Für die Übersetzung danke ich Professor Dr. Olaf Müller, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz,
herzlich.)
Vgl. Schiller 1943 ff., Bd. 41 / I, S. 220.
Schüddekopf / Walzel 1899, S. 372. Die Briefkonzepte sowie das Antwortschreiben haben sich
im Chamisso-Nachlass der Staatsbibliothek zu Berlin erhalten. Für diesen Hinweis danke ich
Monika Sproll, Berlin, herzlich. Vgl. auch die Transkription des Briefkonzepts sowie den
ausführlichen Kommentar von Monika Sproll im Anschluss an diesen Beitrag, S. 143 – 155.
Vgl. Arnhold 1925, S. 74.
Varnhagen 1836, S. 390.
Vgl. Jariges 1805, Sp. 241 – 245.
Zit. nach: Fröschle 2002, S. 401.
Jariges 1805, Sp. 245. Die Zitate gehören zu dem Spottsonett, mit dem Jariges seine Rezension
beschließt und das die Herausgeber am Ende des folgenden Musenalmanachs abdrucken
(MA III, 220).
Berliner Sympoesie
135
Varnhagen den ursprünglich intendierten Abdruck von Zacharias Werners
Besprechung in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung nicht stärker
forciert hatte.40 Doch auch in Werners Rezension ist eine leichte, goethespezifische Kritik zu finden, wenn dieser angesichts von Ludwig Roberts panegyrischem Gedicht An Göthe (MA I, 219 – 221) feststellt: „[…] ist diese Huldigung
der größte [sic!] des Gehuldigten gleich nicht gantz angemessen, so ist doch
dieses kindliche dahingeben, dieses innige Gefühl mit dem der Dichter sich an
den ersten Kunstmeister unsrer Zeit anzuschmiegen sucht, lobwürdig.“41 Im
Anschluss an Chamissos Sonett An Friederich Schiller bildet Roberts Gedicht
den Schlusstext des ersten Musenalmanachs. Die bewusste Klassik-Referenz am
Ende der Sammlung wirkt wie eine Klammer, die Chamissos einleitendes Programmgedicht mit den abschließenden Huldigungen verbindet. Zum einen
weist die affirmative Bezugnahme auf Schillers Gedankenlyrik in Die jungen
Dichter auf dessen Stilisierung zu einem „Retter“ (MA I, 2) voraus, die Chamisso
in seinem Schlusssonett vornimmt. Zum anderen findet das eingangs formulierte Bewusstsein, noch zu den „Namenlosen“ (MA I, 6) zu gehören, auch in
Roberts Goethe-Gedicht seinen Ausdruck, wenn dieser seine Bewunderung des
geschätzten Dichters mit Goethes eigenen Worten – d. h. mit Versen aus dem
Torquato Tasso (1790) – zur Sprache bringt.42 Da in den folgenden zwei Jahrgängen des Musenalmanachs weitere Huldigungsgedichte folgen43, lässt sich
unterstellen, dass hier eine literaturpolitische Strategie sichtbar wird, die darauf
zielt, vermittels der Würdigung einer fremden Autorität die eigene Sammlung
aufzuwerten.
Ergänzend ist jedoch zu bemerken, dass sich die Orientierung an etablierten
Dichterpersönlichkeiten keineswegs auf die Weimarer Klassiker beschränkt,
sondern auch auf die Jenaer bzw. Berliner Frühromantiker ausgeweitet wird.
Bereits mit den Übersetzungen ausgewählter Sonette Petrarcas reagiert man auf
den wiedererwachten Petrarkismus, den August Wilhelm Schlegel mit seiner
Vorlesung über die Geschichte der romantischen Literatur (1802 / 03) theoretisch
40 Vgl. Römer 1934, S. 67. Während Varnhagen der negativen Besprechung noch Positives
abgewinnen kann, nämlich dass sie die „Celebrität“ (ChC, 95) der Beiträger des Musenalmanachs befördern helfe, wundert sich Chamisso über die „bittere[] Fülle der Verachtung“
(ChC, 98), die ihnen von den Kritikern der Jenaischen Allgemeine Literatur-Zeitung zuteil
wird.
41 Zit. nach: Pissin 1970, Sp. 48.
42 Folgende Verse werden aus dem Torquato Tasso zitiert: „Es bildet ein Talent sich in der Stille“
(MA I, 220; vgl. Torquato Tasso, V. 304); „Und wie der Mensch nur sagen kann: Hie bin
ich! / Daß Freunde seiner schonend sich erfreuen; / So kann ich auch nur sagen: ,Nimm mich
hin‘!“ (MA I, 221; vgl. Torquato Tasso, V. 388 – 390, mit der Abweichung in V. 390: „Nimm es
hin!“). Vgl. Goethe 1985 – 1999, Abt. I, Bd. 5, S. 741, 744.
43 Vgl. Augusta Klaproth: Göthe (MA II, 86); Varnhagen: Göthe’s Werke (MA III, 138), Schiller
(MA III, 139). Vgl. außerdem ChW I, 853, mit dem Hinweis auf lyrische Schiller-Parodien in
Chamissos Nachlass.
136
Nikolas Immer
fundiert.44 Darin unterstreicht Schlegel die repräsentative Bedeutung des italienischen Dichters für die Gattung des Sonetts und stellt heraus, dass „neuerdings einige Dichter“ die Lyrik Petrarcas „einzuführen versucht haben“.45 Dass
Schlegel dabei auch an sich selbst gedacht haben dürfte, findet seine äußere
Bestätigung in Schlegels 1804 gedruckter Anthologie Blumensträusse italiänischer, spanischer und portugiesischer Poesie. Den größten Teil dieser Sammlung
bilden 38 Sonette aus Petracas Canzoniere, die fast ausschließlich von Schlegel
übersetzt werden.46 Wenn nun die Petrarca-Begeisterung auch Chamissos und
Varnhagens Musenalmanach erfasst, dürfte Schlegel hier der unmittelbare Anreger gewesen sein. Umgekehrt äußert sich Schlegel später „aufmunternd“ über
die aufstrebenden jungen Dichter, da er in ihnen die neuen Romantiker zu
erkennen glaubt.47
Neben diesem über die italienische Literatur laufenden Einfluss bietet der
Musenalmanach aber auch direkte Huldigungssonette, die an prominente Romantiker adressiert sind: Von Varnhagen An Friedrich Schlegel (MA I, 7), von
Chamisso und Neumann An Fichte (MA II, 1), der sogar selbst einige dichterische Werke zu dem Periodikum beisteuert, und von Neumann An Tieck (MA II,
199). Dass Tieck bereits zu Beginn des ersten Jahrgangs zumindest implizit im
Musenalmanach präsent ist, belegt Hitzigs Gedicht Bei Uebersendung der Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wakkenroder. Die
kunsttheoretische Programmschrift der Frühromantik, an der Tieck keinen
geringen Anteil hat, biete, so die Tendenz von Hitzigs Text, nicht weniger als „der
Kunst Palladium“ (MA I, 16). Mit der apotheotischen Feier des bereits 1798
verstorbenen Wilhelm Heinrich Wackenroder leitet Hitzig zu der Erscheinung
des Romantikers über, die nach wie vor neue Anhänger suche. Einer dieser
Anhänger ist die nur andeutungsweise bezeichnete Geliebte, mit deren Seele sich
Wackenroders Geist „verschwistert“ (MA I, 17) habe. Indem ihr der lyrische
Sprecher Wackenroders „Werk“ zu Füßen legt, verschmelzen emotionale Neigung und ästhetische Einstellung. Doch trotz dieser programmatischen und
offensiv pro-romantischen Aussage scheint von den zeitgenössischen Kritikern
nur Zacharias Werner der Meinung zu sein, dass in Hitzigs Gedicht ein „reines
Kunstgefühl sehr edel“ ausgesprochen werde.48 Denn im Gegensatz zu Werner
bleiben „[e]inige Schlegelianer“ skeptisch und „geißel[]n“ die regressiven
Tendenzen des Periodikums.49
Damit deutet sich an, dass aufgrund der widerstrebenden poetischen und
44
45
46
47
48
49
Vgl. Korch 2000, S. 207 – 218.
Schlegel 1884, S. 206.
Vgl. Daum 2008, S. 137.
Varnhagen 1987 – 1995, Bd. 1, S. 277.
Zit. nach: Pissin 1970, Sp. 45.
Varnhagen 1987 – 1995, Bd. 1, S. 274.
Berliner Sympoesie
137
programmatischen Perspektiven die drei Jahrgänge des Musenalmanachs nicht
auf eine einhellige ästhetische Position festgelegt werden können. Wie Varnhagen berichtet, macht aber gerade diese Offenheit den Rezensenten zu schaffen: „Man wußte nicht recht was man aus uns machen sollte; die Hauptfrage, ob
wir der neuen oder der alten Schule angehörten? war nicht leicht zu entscheiden,
da wir keine Fahne trugen und sowohl für das eine wie für das andre sich Zeichen
fanden.“50 Doch da den Beiträgern diese ästhetische Freiheit nicht zugestanden
wird, indem vor allem Garlieb Merkel sie autokratisch zu Jüngern der ,neuen
Schule‘51 stempelt, werden insbesondere die Huldigungsgedichte um ein entscheidendes poetologisches Moment reduziert. Denn der panegyrische Gestus
dieser Texte lässt sich auch als Inklusionsstrategie begreifen, über die der
sympoetische Austausch in einen liberalen Kreis geöffnet wird, in den auch
literarische Autoritäten wie die Klassiker Goethe und Schiller und wie die Romantiker Schlegel und Tieck virtuell integriert werden.
IV.
Inszenierte Sympoesie. Der ausgestellte Freundschaftskult
Am 31. Mai 1805, mehr als ein Jahr vor der Publikation des dritten Musenalmanachs, schreibt Chamisso an Varnhagen: „Gedichte von uns an uns mögen
immerhin aufgenommen werden, ich habe nichts dawider. Nur aber, und darauf
dring’ ich, müssen solche Schmeichelbälge der strengsten ästhetischen Censur
unterworfen werden“ (ChBr I, 76). Im Anschluss an den Musen-Almanach für
das Jahr 1802 von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck, in dem sich etwa
die wechselseitigen Widmungsgedichte An Tieck von Novalis und An Novalis
von Tieck finden, zelebrieren auch die Beiträger des von Chamisso und Varnhagen herausgegebenen Periodikums diese Form der poetischen Zueignung.
50 Ebd.
51 Ebd., Bd. 1, S. 274 f. Vgl. Merkel 1805, S. 53 – 69. Varnhagen reagiert auf Merkels Verriss ein
Jahr später mit der Polemik Testimonia Auctorum de Merkelio, das ist: Paradiesgärtlein für
Garlieb Merkel (1806), in der es beispielsweise heißt: „Schon seit geraumer Zeit geht ein
literarisches Gespenst unter uns um, das wir alle kennen. […] bald sehn wir es, als Verfechter
und Lehrer dessen, was es den guten Geschmack nennt, in fliegenden Blättern Kunstlehren
geben, die eben so viele Beweise von Dummheit und tiefer Unwissenheit sind; bald spielt es
den Kritiker und beurtheilt Kunstwerke, das heißt, was immer von kraft- und geistvollen
Männern als Denkmal deutscher Kunst und deutschen Fleisses aufgestellt wird, besudelt es
mit seichter Wizelei und pöbelhaftem Spotte, die Produkte der Gewöhnlichkeit aber und
Geistesarmuth krönt es mit Disteln, die ihm Lorbeer sind, und preist sie mit langweiliger
Geschwäzigkeit; […] überall nagt es mit stumpfen Zähnen an dem Verdienste der Edlen.“
(Varnhagen / Neumann 1806, S. 5 – 7.) Während sich Chamisso nicht an dieser Schmähschrift
beteiligt, schreibt Varnhagen am 12. September 1806 stolz an de La Foye: „Ein kleines Buch
gegen Merkel, das Neumann und ich anonym herausgeben, hat einiges Aufsehen gemacht.“
(ChC, 122)
138
Nikolas Immer
Während sich aber in den ersten zwei Jahrgängen noch vergleichsweise wenige
solcher Texte finden, nimmt die Anzahl der „Schmeichelbälge“ im dritten
Jahrgang sprunghaft zu. Hauptautor dieser Widmungsgedichte ist Varnhagen,
der einen Text mit An Pellegrin (MA III, 189) überschreibt, womit Friedrich de la
Motte Fouqu gemeint ist, zwei Texte mit An Koreff (MA III, 1 – 5, 190), einen mit
An Franz Theremin (MA III, 191), einen mit Chamisso (MA III, 192), einen mit
An Adelbert von Chamisso (MA III, 193 – 195) und einen mit An W. Neumann
(MA III, 196 – 200).52 Unter der Rubrik „Beim Abschiede“ imitieren schließlich
Neuman und Chamisso den Gestus der Romantiker Novalis und Tieck, indem sie
den je anderen mit einem Sonett würdigen.
Während sich Varnhagen in seinem Widmungssonett auf Chamisso bemüht,
die deutschen Tugenden und Gesinnungen des „edle[n] Franke[n]“ (MA III,
192) Chamisso herauszustellen, entwirft Neumann eine ins Transzendentale
ausgreifende Freundschaftsvision. Die Innigkeit ihres Bundes zeige sich nicht
allein darin, bereits auf der Erde miteinander „verschwistert“ zu sein, sondern
vielmehr in der Perspektive, „dem endlichen entrücke[n]“ (MA III, 201) zu
können. Obwohl sich beide schon im Diesseits gefunden haben, wird das Jenseits als Ereignisraum einer permanenten Freundschaftsbeziehung imaginiert.
Das zweite Terzett schließt mit der Aufforderung, das harmonische Miteinander,
das die Zukunft in Aussicht stellt, schon zeitlebens zu genießen: „So laß auch
hier schon, wo wir uns erkohren, / […] / Treu lieben uns, bis unser Leib gestorben.“ (MA III, 202)
Chamisso hingegen beginnt sein Sonett mit einer Schilderung von Naturgewalten, deren Kräftespiel auf die menschlichen Lebensverhältnisse projiziert
wird. In einem zweiten Schritt wird die Korrespondenz zwischen der Wechselhaftigkeit der Winde und den Wechselfällen des Daseins in die traditionelle
Metapher vom Leben als einer Schiffahrt übertragen. Erst ab diesem Punkt setzt
die Bezugnahme auf die Freundschaftsthematik ein, indem der Abschied Neumanns, der Varnhagen Anfang 1805 nach Hamburg folgt, textintern aufgegriffen
wird. Das letzte Terzett bietet die im gemeinschaftlichen „Wir“ (MA III, 203)
ausgesprochene Versicherung, dass trotz der räumlichen Distanz die freundschaftliche Nähe weiterbestehen werde:
Wir wissen, daß ein Ziel doch zu erreichen,
Wir in den Stürmen schieden unsre Bahnen,
Wissen, daß fern auch wir uns ewig lieben. (MA III, 203)
Chamissos Bekräftigung des wechselseitigen Andenkens beschwört noch einmal
den Freundschaftsenthusiasmus der Berliner Tage, kann aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass der Dichterzirkel in Auflösung begriffen ist. An die Stelle
52 In der Aufzählung bei Pissin 1970, Sp. 69, fehlt das Gedicht Chamisso.
Berliner Sympoesie
139
des ursprünglich direkten Austauschs ist jetzt die literarisch inszenierte Sympoesie getreten, in der die fruchtbare Konstellation nochmals zur Erscheinung
gebracht und zugleich auf Dauer gestellt wird. Doch die lange Entstehungszeit
des dritten Musenalmanachs ist bereits ein Indiz dafür, wie sehr der Zusammenhalt der poetisch gefeierten Dichtergemeinschaft geschwunden ist. Chamisso steuert nur noch wenige Texte bei und schlägt im Herbst 1806 sogar vor,
als der dritte Band des Periodikums erscheint, das Geschäft ganz einzustellen.
An Varnhagen schreibt er am 7. September : „Ist es nicht an der Zeit, aufzuhören,
die Herausgabe eines Almanach zu höchstem Ziele unsrer Mühen zu machen?“
(ChBr I, 167 f.) Mit dieser bewussten Entscheidung gegen eine Fortsetzung des
Musenalmanachs scheint sich für Chamisso bereits ein neues Ziel anzudeuten,
das er wenige Monate später als das Hineinfinden in die „bürgerliche Richtigkeit“ (ChBr I, 201) bezeichnen wird. Gegenüber Varnhagen zieht er zuvor allerdings eine Konsequenz, die er am Ende glücklicherweise nicht befolgt hat:
Chamisso.
Auch Du, mäßiger Held, laß, redlicher Franke, Dir rathen,
Bleibe Du lieber davon, lasse das Dichten nur sein. (ChBr I, 171)
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1864.
ChC – Ren Riegel: Correspondance d’Adalbert de Chamisso. Fragments indits. Paris
1934.
ChW – Adelbert von Chamisso: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Nach dem Text der
Ausgaben letzter Hand und den Handschriften. Textredaktion von Jost Perfahl. Bibliographie und Anmerkungen von Volker Hoffmann. München 1975.
MA I – Musenalmanach auf das Jahr 1804, hg. v. L. A. von Chamisso und K. A. Varnhagen.
Leipzig 1804.
MA II – Musenalmanach auf das Jahr 1805, hg. v. L. A. von Chamisso und K. A. Varnhagen.
Zweiter Jahrgang. Berlin 1805.
MA III – Musenalmanach auf das Jahr 1806, hg. v. L. A. von Chamisso und K. A. Varnhagen.
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