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Christoph Jürgensen / Michael Scheffel (Hg.) Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne A B H A N D L U N G E N Z U R L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T Abhandlungen zur Literaturwissenschaft In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur Literaturwissenschaft einschließlich aller Nationalphilologien. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15814 Christoph Jürgensen · Michael Scheffel (Hrsg.) Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne Hrsg. Christoph Jürgensen Otto-Friedrich-Universität Bamberg Bamberg, Deutschland Michael Scheffel Fakultät für Geistes & Kulturwissenschaften Bergische Universität, Wuppertal Nordrhein-Westfalen, Deutschland ISSN 2520-8381 ISSN 2520-839X (electronic) Abhandlungen zur Literaturwissenschaft ISBN 978-3-476-04891-2 ISBN 978-3-476-04892-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Oliver Schütze J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Inhaltsverzeichnis Einleitung Keyserlings skeptische Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Jürgensen und Michael Scheffel 3 Die Leerstelle. Unterwegs zu Eduard von Keyserling . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Modick 11 Kontexte: Beziehungen und Diskurse Vor dem Preisgericht. Eduard von Keyserlings Anfänge und das Wiener Feuilleton . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Sprengel 19 Erzählte Heimsuchungen. Eduard von Keyserling und Thomas Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedhelm Marx 37 Über persönliche und sachliche Kultur. Eduard von Keyserling und Georg Simmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerald Hartung 51 Täuschende Moderne. Keyserling zwischen Fontane und Schnitzler . . . . Alexandra Pontzen 67 Werke Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz. Eduard von Keyserlings Die dritte Stiege (1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Klein 89 Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“. Die Dramen Eduard von Keyserlings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Antonius Weixler Erzählstrategien in Eduard von Keyserlings Wellen (1911) . . . . . . . . . . . . 133 Gerhard Kaiser V VI Inhaltsverzeichnis Spätadelige Skepsis. Zur Modernereflexion in Keyserlings Erzählung Am Südhang (1911) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Jens Ole Schneider Landhaus und Landleben. Keyserlings Anti-Idyllen Das Landhaus (1913) und Abendliche Häuser (1914). . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Niels Penke Themen, Schreibweisen, Adaptionen Landschaftsbild und Stimmung. Eduard von Keyserlings Kunstkritik als Werkpoetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Patrick Fortmann Zur Ethnographie und den Geschlechterrollen im Erzählwerk Keyserlings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Marianne Wünsch Über die Liebe. Zu Formen und Funktionen von Geschlechterverhältnissen in Keyserlings Spätwerk . . . . . . . . . . . . . . 215 Luisa Banki „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“. Dekadenter Alltag zwischen Erlebnishunger und Lebensunfähigkeit im Spätwerk Keyserlings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Stephanie Catani Natur, Kultur, Moderne. Philosophische Aspekte im Werk Eduard von Keyserlings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Sandra Markewitz Keyserling im Fernsehen. Adaptionsstrategien in Verfilmungen von Dumala und Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Dominik Orth Bibliographien Keyserlings Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge (Essays, Kritiken und Rezensionen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Patrick Fortmann Journal- und Bucherstdrucke der literarischen Texte Keyserlings . . . . . . 287 Steffen Brondke Einleitung Keyserlings skeptische Moderne Christoph Jürgensen und Michael Scheffel Eduard von Keyserlings Novelle Am Südhang (1911) erzählt allerlei, etwa von der Leidenschaft des Leutnants Karl Erdmann von West-Wallbaum für die reichlich kokette Daniela von Bardow, die wie er den Sommer auf dem elterlichen Gut verbringt. Vor allem aber strebt der Text zielstrebig auf einen Höhe- und Wendepunkt zu, wie es sich für die Gattung gehört: auf ein Duell. Und das Duell findet in der Tat statt, aber anders, als erwartet, ja im starken Sinne fällt es geradezu aus: Erdmann wie sein Gegner schießen vorbei und müssen sich danach eingestehen, dass es nicht einmal gefährlich war. Die Idee eines ‚schönen Heldentods‘, um der Leere des Lebens zu entgehen, war nur eine übersteigerte Imagination. Erdmann reist ernüchtert ab, ebenso Bardow, und die Mutter des Protagonisten freut sich darüber, dass das vermeintlich große „Erlebnis“ vorüber ist: „Nun sind wir wieder in unserer Ordnung.“1 Man könnte Freuds Bemerkung über Komik paraphrasieren und zuspitzen: Literatur entsteht hier aus der Auflösung von Handlung in Nichts. Unvermeidlich kann erscheinen, dass dieser Text im Feuilleton wiederholt aufgerufen wurde, als am 28. September 2018 Keyserlings 100. Todestag zu begehen war, als anschauliches Beispiel für die Konturen seiner von Melancholie 1Eduard von Keyserling: „Am Südhang“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. und kommentiert von Horst Lauinger. München 2018, S. 393–462, hier S. 461. C. Jürgensen (*) Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland E-Mail: christoph.juergensen@uni-bamberg.de M. Scheffel Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: scheffel@uni-wuppertal.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_1 3 4 C. Jürgensen und M. Scheffel durchtränkten und grundsätzlich auf Distanz zum oder Abschied vom emphatischen Leben gestimmten Erzählwelten. Mindestens ebenso unvermeidlich war wohl, dass daneben Wellen genannt wurde, sein Ostseebad-Roman von 1911 über die Gräfin Doralice, die mit dem Maler Hans Grill durchgebrannt ist, dabei aber kein emphatisches Leben findet, sondern am Ende einer Geschichte der zunehmenden Entfremdung auf das Meer starrt, in das sich Grill versenkt hat, weil er in der Kunst seiner Darstellung gescheitert ist, und nun will dieses Meer ihn buchstäblich nicht mehr herausgeben. Beide Texte dienten den Nachrühmenden2 dergestalt als literarische Belege für ein Porträt von Keyserling als Spätling auf der Epochenschwelle – als literarischer Impressionist, der in melancholischem Geist und Gestus eine untergehende bzw. schon untergegangene Welt aufbewahrt hat, sichtbar gemacht zumeist auf randständigen baltischen oder preußischen Schauplätzen und mit adeligen, immer wieder bodenständigen und doch unbehausten Figuren. Und verbildlicht wurde diese mentalitätsgeschichtliche Hanglage fast überall durch das berühmte Porträt von Lovis Corinth, das Keyserling im Alter von gerade einmal fünfundvierzig Jahren, aber gleichsam vor der Zeit gealtert und in faszinierender Hässlichkeit zeigt: „Ein hagerhängeschultriger Mann im zu knappen Jackett, den es im Leben zu frieren scheint. Die von faustgroßen Ringen umschatteten Augen quellen weit hervor, während das Kinn zurückflieht. Die Lippen sind merkwürdig geschwollen. Untröstlicher kann niemand sein.“3 Bezeichnenderweise lässt Klaus Modick ‚seinen‘ Autor im pünktlich zum Jahrestag erschienenen Pastiche-Roman Keyserlings Geheimnis diese bildgestalterische Interpretation seiner Psyche zwar einsehen, aber einwenden: „Es mach ja jut jemalt säin […]. So aussehn mecht ich aber lieber nich.“4 Aber er sah wohl so aus, auch wenn er es lieber nicht wollte, zum Unglück für sich selbst und – von heute aus betrachtet – für eine Rezeptionsgeschichte, die Corinths Bild schon lange vor den genannten Würdigungen zu einer Engführung von Leben und Werk instrumentalisiert hat. Wenn man so will, kommen hier die amtliche Biographie des Autors wie die biographische Legende über ihn so anschaulich wie unheilvoll zusammen.5 Denn ganz falsch mag dieser Blick auf Keyserling vielleicht nicht sein. Schließlich stammte er tatsächlich von einem Landgut im Baltikum, das sich als Vorbild 2Siehe hierzu etwa Rainer Moritz: „So geht abgründige Boshaftigkeit. Eduard von Keyserling war alles andere als ein Idyllen-Dichter“. In: Neue Zürcher Zeitung (28.09.2018); Wolfgang Schneider: „Heiße Sommer, dunkle Seele“. In: Tagesspiegel (11.10.2018); Peter Henning: Der Chronist der letzten Atemzüge (2018), https://www.deutschlandfunk.de/von-keyserlings-landpartie-der-chronist-der-letzten.700.de.html?dram:article_id=432360 (15.10.2019). 3Schneider: „Heiße Sommer, dunkle Seele“. 4Klaus Modick: Keyserling Geheimnis. Köln 2018, S. 134. 5Bei Tomaševskij heißt es, dass bei Autoren noch wichtiger als die „amtliche Biographie“ die „biographischen Legenden“ seien. Auf diese habe die Literatur- oder Kulturwissenschaft ihr Augenmerk zu richten, stelle sie doch „die literarische Konzeption des Lebens des Dichters dar, eine Konzeption, die notwendig ist als wahrnehmbarer Hintergrund des literarischen Werks, als die Voraussetzung, die der Autor selbst einkalkulierte, als er seine Werke schuf.“ Boris Tomaševskij: „Literatur und Biographie“. In: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martinez/ Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2003, S. 49–61, hier S. 49. Keyserlings skeptische Moderne 5 für die abendlichen Szenarien seiner Erzähltexte anbietet, wenn man einen so einsinnigen Lektüreschlüssel verwenden möchte. Außerdem bieten Am Südhang sowie vor allem Wellen tatsächlich das Grundinventar der Keyserlingschen Poesologie, sprich: das seine Erzählwelten beherrschende Lebensgefühl, die Tektonik der Handlungsführung und Psychologie eines bestimmten Figurenensembles. Im Detail aber vereinfacht dieser Blick auf beide Texte als Ausdruck einer Spätzeitästhetik, die genauso wie ihre Protagonisten aus der Zeit gefallen scheint. Und in toto nimmt er überhaupt eine deutlich zu enge Perspektive ein, auf Am Südhang im Besonderen (wozu Florian Illies einige erste Hinweise gegeben hat6) und auf die Leistung und die epochale Bedeutung von Keyserlings Werk im Allgemeinen. Genauer gesagt und thesenhaft behauptet: Bei Keyserling finden sich (thematisch) sentimentale Rückblicke auf die Zeit vor der Moderne verbunden mit (formal) Stilmitteln der Moderne und schließlich (diskursiv) einer Reflexion über die Moderne. Oder noch einmal anders: Keyserling begleitet ‚seine‘ Epoche von ihren Anfängen bis in ihr Auslaufen, von ersten (Erzähl)Texten wie Fräulein Rosa Herz (1887) über das lange verschollene und von Peter Sprengel wiederentdeckte Drama Die schwarze Flasche (1902) bis zu Feiertagskinder (1918/1919, postum). Mit graduellen Schwankungen sind all diese Texte vormodern, modern und spätmodern zugleich, und sie bieten entsprechend ein prädestiniertes Explorationsfeld für die zentralen Fragen nach der Signatur desjenigen, was wir ‚Klassische Moderne‘ nennen – und was wir mit einem tiefgreifenden Wandel in nahezu allen Gebieten der bürgerlichen Kultur, der literarischen Reflexion und der Verarbeitung der zeittypischen Norm-, Subjekt-, Sprach- und Erkenntniskrisen um 1900 verbinden. Von dieser Beschreibung aus könnte man denken, dass Keyserling als ständiges Mitglied im Kanon der literarischen Moderne firmieren müsste, zumal auf die ästhetische Dignität wie zeitgeschichtliche Triftigkeit seiner Erzähltexte immer wieder von äußerst prominenten Gewährsmännern hingewiesen wurde. Keyserlings „wehmütige Skepsis durchdringt alles und verdammt doch keinen. Sie sieht den Zug des Lebens als den bunten Leichenzug, der er ist“,7 lobte etwa der Geistesverwandte Hermann Bang den ‚deutschen Turgenjew‘,8 Hermann Hesse 6Florian Illies: „Die Ironie der schwülen Tage: Der Autor dieses Sommers heißt Eduard von Keyserling“. In: Die Zeit 27 (2009). 7Hermann Bang: „Graf Eduard von Keyserling“. In: Neue Rundschau 23 (1912), S. 427–430, hier S. 430. 8Bei Bang heißt es: „Beider Stil hat dieselbe Farbe, ihre Sprache hat denselben Rhythmus, das gleitende Singen eines Flusses, wenn es dämmert.“ Ebd., S. 428; Thomas Mann stellt übrigens beide in seinem Nachruf auf Keyserling nebeneinander: „Es ist sicher, daß sie sich einander nah gefühlt haben, der dänische Patrizier und der ostpreußische Junker. […] man fühlt wohl, wenn man bei ihm ist, daß er das schmerzliche Werk des Dänen gut gekannt, daß er es geliebt und daran gelernt hat, wie vielleicht nur ein Deutscher zu lieben und zu lernen versteht.“ Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 15.1: Essays II: 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 223–227, hier S. 226. Zu Manns Nachruf siehe den Beitrag von Friedhelm Marx in diesem Band. 6 C. Jürgensen und M. Scheffel freute sich über die Kunst, „einen Sommernachmittag so zu beschreiben, daß man während seines Glühens und Verdämmerns das Gefühl des ganzen Lebens hat“,9 und Alfred Polgar pointiert: „Es ist eine Art Ekstase, die sich selbst den Finger, Schweigen gebietend, an die geschlossenen Lippen legt.“10 Aber auch diese Nobilitierungen führten Keyserling allesamt nicht ins literaturgeschichtliche Langzeitgedächtnis. So mussten in den 1990er Jahren die meisten seiner Werke gar in Antiquariaten erstanden werden, bis Steidls Neu-Edition von Wellen im Jahr 1998 vom damals fast marktbeherrschenden Literarischen Quartett (mit dem Gast Peter von Matt) enthusiastisch besprochen wurde und zumindest diesen Roman wieder ins Bewusstsein eines breiten Publikums rückte; „ein ganz und gar sinnliches Buch“ und „eine schöne Liebesgeschichte“ wollte der Hochmeister der realistischen Liebesliteratur Marcel Reich-Ranicki genossen haben.11 Eine langanhaltende literaturgeschichtliche Hochkonjunktur ist allerdings auch durch diese resonanzträchtige Präsentation wiederum nicht entstanden, ebenso wenig wie durch Michael Maars gleichermaßen erstaunten wie enthusiasmierten Ausruf, erklungen 2011 anlässlich einer bei Manesse verlegten und von einem Nachwort von Florian Illies flankierten Ausgabe von Wellen: „Der ist ja besser als Fontane!“12 Und nur spekulieren lässt sich einstweilen darüber, ob neue und sorgsame Editionen seiner Werke wie die von Gabriele Radecke besorgte Ausgabe von Wellen (2018) oder die umfangreichen, von Horst Lauinger vorgelegten Sammlungen Landpartie. Gesammelte Erzählungen (2018) und Feiertagskinder. Späte Romane (2019) sich länger am Markt halten oder bald wieder wie Tonscherben aus dem Schlamm der Literaturgeschichte geborgen werden müssen. Der vorliegende Band verfolgt entsprechend das Ziel, die fast schon turnusmäßigen und dabei stets punktuellen und reichlich topischen Wiederentdeckungen des Autors nicht einfach nur um eine weitere kurzlebige Revitalisierung zu ergänzen, sondern ihn vielmehr als Erzähler, Dramatiker, Diskursteilnehmer und Zeitgenossen gleichermaßen zu würdigen – und ihn dadurch im Epochen- und Forschungszusammenhang ‚Klassische Moderne‘ fest zu verankern. Sichtbar 9Hermann Hesse: „[Eduard von Keyserling]: ‚Bunte Herzen‘“. In: Ders.: Die Welt im Buch. Lesererfahrungen I. Rezensionen und Aufsätze 1900–1910. Hg. von Volker Michels. Frankfurt/M. 2015, S. 390. 10Alfred Polgar: „[Rez. zu] ‚Benignens Erlebnis‘“. In: Die Schaubühne 03/I, Nr. 11, 14.03.1907, S. 275–277, hier S. 275. 11Siehe hierzu Das literarische Quartett, 06.02.1998 (Nr. 53). Zit. n. Das Literarische Quartett. Mitschrift aller 77 Sendungen, Berlin 2006, S. 66. Mit dieser sinnlichen Dimension erklärt Reich-Ranicki auch die literarhistorische Einordnung Keyserlings: „Ja, das mit dem Impressionismus ist immer so eine heikle Sache in der deutschen Literatur. Da gibt es nur ganz wenige. Was damit wohl gemeint ist, mit diesem Impressionismus, dem er zugeschoben wird, ist, er ist ein Schriftsteller, von erstaunlicher Sinnlichkeit, ein ungewöhnlich sinnlicher Schriftsteller. Der schreibt immer wieder, wie die Farben, die Gerüche, die visuellen Eindrücke der unterschiedlichsten Art, die akustischen Eindrücke […].“ Ebd. Dazu kommentiert Ilies in seinem Artikel Die Ironie der schwülen Tage: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.“ 12Michael Maar: „Der ist ja besser als Fontane!“. In: Die Zeit 25 (2011), 16.06.2011. Keyserlings skeptische Moderne 7 gemacht werden soll also Keyserlings Rolle als Akteur im (nicht nur) literarischen Feld, sowohl in Sicht auf den persönlichen Austausch mit anderen zentralen Protagonisten des literarischen Lebens (wobei der ‚Zeitgeist‘ so klar wie bei wenigen anderen Autoren der Moderne hervortreten wird), als auch in der Perspektive auf generische Zusammenhänge, d. h. seine teilnehmende Beobachtung der Gattungsdiskurse der Epoche – namentlich der Prosa natürlich, aber ‚unser‘ Autor tritt hier eben auch als Dramatiker und Essayist auf. Dabei wird sich Keyserling, so unsere leitende Annahme, keineswegs als ein am Rand des literarischen Diskurses zu platzierender ‚Impressionist‘ erweisen. Jenseits des so überlebensfähigen Klischees soll Keyserling als ein Autor erkennbar werden, dessen Werk eine spezifische Modernität verwirklicht, indem es zentrale Problemlagen und Spannungen der Moderne reflektiert und doch immer auch einen skeptischen Abstand zur Moderne hält – gleichsam veritable literarische Moderne und kritischer Kommentar in einem. Gewissermaßen als Vorspiel bietet unser Band einen Essay von KLAUS MODICK, der – in dieser Hinsicht stellvertretend für eine auffallend große Zahl von zum Teil ja schon erwähnten Schriftstellerkollegen – anschaulich seine „Zuneigung zu Keyserling“ erläutert und von den Voraussetzungen und Hintergründen für seinen eigenen, nicht zuletzt auch um eine berühmte „Leerstelle“ in Keyserlings Biographie kreisenden Roman Keyserlings Geheimnis berichtet. Im Sinne des skizzierten Ziels einer möglichst umfassenden und aspektreichen Annäherung an Eduard von Keyserling und sein Werk gehen die weiteren Beiträge des Bandes dann in drei Schritten vor. In der Sektion Kontexte. Beziehungen und Diskurse werden unterschiedliche Arten von historischen Hintergründen und Zusammenhängen beleuchtet. PETER SPRENGEL widmet sich den Anfängen des Schriftstellers Eduard von Keyserling im Rahmen eines philologischen Funds. Im Blickpunkt seines Beitrags steht eine Reihe von Wettbewerben, die das seinerseits um Profilierung bemühte, noch junge Feuilleton der als publizistische Plattform des Liberalismus gegründeten Wiener Allgemeinen Zeitung in den 1880er Jahren veranstaltet hat. Die ersten, heute kaum mehr beachteten literarischen Texte Keyserlings, das Profil einer neu zu gewinnenden, wie es im Text der ersten Ausschreibung hieß, „jüngsten Feuilletonisten-Generation“ und damit nicht zuletzt die zeitgenössischen Voraussetzungen für den Beginn einer literarischen Laufbahn werden hier behandelt. FRIEDHELM MARX wendet sich Thomas Manns folgenreichem, so oft in Ausschnitten zitiertem, aber kaum je im Zusammenhang gesehenem Nachruf auf den verstorbenen Kollegen zu. Deutlich wird, dass sich Manns Beitrag Zum Tode Eduard Keyserlings wie ein „verdecktes Selbstporträt“, eine Art Selbstvergewisserung in Krisenzeiten lesen lässt – auch wenn ein von Marx exemplarisch vorgenommener Vergleich der 1903 erschienenen Erzählungen Beate und Mareille und Tristan doch grundlegende Unterschiede im Blick auf den „erzählerischen Umgang mit Erscheinungsformen der Dekadenz“ offenbart. Keyserlings Verbindung zu einem anderen bekannten Zeitgenossen, nämlich dem nur wenige Jahre jüngeren Kulturphilosophen Georg Simmel, wird von GERALD HARTUNG untersucht. Eine Lektüre von Keyserlings Essay Zur Psychologie des Komforts (1905) nimmt er zum Anlass, 8 C. Jürgensen und M. Scheffel um dem Verständnis von ‚Psychologie‘ bei Keyserling und Simmel nachzugehen und Keyserlings Roman Wellen (1911) im Lichte der kulturdiagnostischen Arbeiten Simmels zu lesen. Durchaus kritisch bestimmt ALEXANDRA PONTZEN Keyserlings Ort im Kontext der Klassischen Moderne. Am Beispiel seiner Erzählweise und Plotmuster sowie der Verwendung gängiger Motive wie etwa ‚Ehebruch und Duell‘ oder auch der Figur der ‚femme fatale‘ vermisst sie die Distanz, die zwischen einem sogenannten ‚Realisten‘ wie Theodor Fontane und Keyserling einerseits, aber auch zwischen diesem und einem Vertreter der Moderne wie dem Wiener Arthur Schnitzler andererseits besteht. Die Sektion Werke versammelt detaillierte Textanalysen einzelner Werke und Werkgruppen innerhalb des Keyserlingschen Œuvres. Mit Keyserlings zweitem Roman Die dritte Stiege (1892) untersucht CHRISTIAN KLEIN einen heute zu Unrecht weitgehend vergessenen Text aus den Anfangsjahren der Klassischen Moderne. Klein entdeckt hier eine weitere Facette Keyserlings und zeigt, dass sich der in Wien angesiedelte und Konflikte im Umfeld der österreichischen Arbeiterbewegung der 1880er Jahre aufgreifende Roman als ein Sozial-, Entwicklungsund Zeitroman lesen lässt – abgesehen davon, dass Keyserling eine adlige Figur in den Fokus rückt, die sich fernab von ihrem Milieu und ihrer geographischen Heimat bewegt und die in aufschlussreicher Weise bei der Suche nach einer ‚neuen Zeit‘ und entsprechenden Resonanzerfahrungen scheitert. Wie Keyserlings Frühwerk werden auch seine Dramen in aller Regel seit längerem ignoriert. Das wird dem Autor schon deshalb nicht gerecht, weil er im literarischen Feld der Epoche zumindest zeitweise eher als Dramatiker denn als Erzähler agierte. Was seine Dramen auszeichnet, welche zeittypischen Problemlagen sie gestalten, in welchem Verhältnis sie zum Erzählwerk ihres Verfassers stehen und was ihren nachhaltigen Erfolg auf den Bühnen der Zeit möglicherweise erschwerte, all diese Fragen verfolgt der Beitrag von ANTONIUS WEIXLER. Den ebenso komplexen wie kunstvollen Erzählstrategien des reifen Autors Keyserling gilt das Interesse von GERHARD KAISER. Am Beispiel von Wellen (1911) führt er überdies vor, wie sich Keyserling auf ganz eigene Weise des prinzipiell distanzierenden Verfahrens einer „epischen Ironie“ bedient, zugleich aber durchaus ernsthaft ein Konzept von sozialem Miteinander aufscheinen lässt, dessen Grundlagen eine seiner Figuren – in Übereinstimmung mit ihrem Autor an anderer Stelle – als „Lebenskommunismus“ bezeichnet. Zu den wesentlichen Merkmalen vieler Figuren Keyserlings zählt, dass sie dem Adel entstammen. Warum das so ist und welche Konsequenzen eine solche soziale Verortung hat, untersucht JENS OLE SCHNEIDER. Am Beispiel von Am Südhang (1911) arbeitet er heraus, wie „Décadence- und Adelssemantiken“ so enggeführt werden, dass hier eine eigenständige Form der Reflexion von Moderne im Zeichen einer spezifischen Art von Skepsis erfolgt. Ein weiteres, oft bemerktes Merkmal der vor allem späten Erzählungen Keyserlings ist, dass in ihnen zumeist ‚stille Winkel‘, d. h. ländliche Schauplätze mit einer überschaubaren Gruppe von Figuren im Zentrum des Interesses stehen. Insofern liegt es nahe, diese Texte einmal probehalber in der Tradition der ‚Idylle‘ zu lesen. NIELS PENKE unternimmt diesen Versuch und führt am Beispiel der Erzählung Das Landhaus (1913) und Keyserlings skeptische Moderne 9 dem Roman Abendliche Häuser (1914) en détail vor, wie Keyserling klassische Elemente der Idylle nutzt, um seinerseits „Anti-Idyllen“ und einprägsame Bilder des „kollektiven Untergangs“ einer „spezifischen Adelskultur“ zu entwerfen. Die Sektion Themen, Schreibweisen, Adaptionen bietet einzelwerkübergreifende Analysen unter allgemeinen Fragestellungen. Verweise auf eine ausgeprägte ‚Bildlichkeit‘ ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Rezeption von Keyserlings Werken. PATRICK FORTMANN nimmt das zum Anlass, um Keyserlings im Wesentlichen um die Jahrhundertwende herum entstandenes „kunstkritisches Œuvre“ erstmals näher zu betrachten. Im Ergebnis, so vermag er zu zeigen, nutzt Keyserling das Medium einer in Kunstessays, Einzelkritiken und Ausstellungsbesprechungen entfalteten Kunstkritik, um Leitbegriffe der Jahrhundertwende wie ‚Stimmung‘ und ‚Nervosität‘ aufzugreifen und auf ihrer Basis eine eigene ‚Werkpoetik‘ zu entfalten. MARIANNE WÜNSCH untersucht die Sozialstruktur und Geschlechterrollen im Erzählwerk Keyserlings und stellt bei dieser Gelegenheit vielfältige Bezüge zu einem „Literatursystem“ her, das sie als „frühe Moderne“ bezeichnet. LUISA BANKI nutzt demgegenüber eine genaue Lektüre von Keyserlings Essay Über die Liebe (1907), um auf dieser Folie die Formen und Funktionen der Geschlechterverhältnisse in Keyserlings Spätwerk zu beleuchten. Einem weiteren Aspekt dieses Spätwerks, nämlich der in ihm vielfach gestalteten Spannung von Erlebnishunger und Lebensunfähigkeit, gilt der Beitrag von STEPHANIE CATANI. Auch die in dem herkömmlichen Keyserling-Bild so oft vernachlässigte literarische Reaktion des Autors auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommt hier zur Sprache. Philosophischen Aspekten im Werk Keyserlings geht SANDRA MARKEWITZ nach, wobei sie sich insbesondere dem in seinen Texten immer wieder reflektierten Verhältnis von Natur und (Adels)Kultur zuwendet und – im Unterschied zu anderen Beiträgerinnen und Beiträgern unseres Bandes – für eine Lektüre Keyserlings jenseits der verbreiteten „Ironiediagnose“ plädiert. Einer ebenso besonderen wie wirkmächtigen Art von Rezeption ist schließlich der Beitrag von DOMINIK ORTH gewidmet. Er gibt einen Überblick über die Verfilmungen von Erzähltexten Keyserlings, um dann die DDR-Verfilmung des Romans Dumala (1907) aus dem Jahr 1988 und die ZDF-Produktion Wellen von 2004 im Einzelnen zu untersuchen. Welche Auswirkungen die unterschiedlichen sozio-kulturellen Kontexte von DDR und wiedervereinigtem Deutschland auf die entsprechenden Adaptationsstrategien im Rahmen eines Medienwechsels haben und wie sich die literarischen Texte Keyserlings nutzen lassen, um jeweils aktuelle Fragen der eigenen Gegenwart zu reflektieren, wird an diesen Beispielen deutlich. Als ein grundlegendes philologisches Hilfsmittel für die künftige Forschung bietet der Band am Ende zwei Bibliographien der Texte Eduard von Keyserlings. Seine in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen „Essays, Kritiken und Rezensionen“ sowie die Journal- und Bucherstdrucke seiner literarischen Werke sind hier erstmals umfassend auf dem Stand unserer aktuellen Kenntnisse verzeichnet. Der vorliegende Band geht im Kern auf eine Ende September 2018 zum 100. Todestag Keyserlings veranstaltete Tagung an der Bergischen Universität Wuppertal zurück. Für die Publikation wurden die Vorträge überarbeitet und zum Teil 10 C. Jürgensen und M. Scheffel erweitert, zudem konnten ergänzend noch eine Reihe von weiteren Texten eingeworben werden. Wir danken allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Offenheit für Veränderungen im Dienste der gemeinsamen Sache und die sehr gute Zusammenarbeit. Steffen Brondke und Helena Marleen Stock haben die Texte für den Druck eingerichtet. Für ihre Umsicht und Sorgfalt danken wir ihnen sehr. Bamberg und Wuppertal, im November 2019 Die Leerstelle. Unterwegs zu Eduard von Keyserling Klaus Modick 1. Ein alter Freund, dessen literarischem Urteil ich vertraue, empfahl mir vor einigen Jahren die Lektüre Eduard von Keyserlings. Das, da sei mein Freund sich sicher, müsse ein Werk nach meinem Geschmack sein. Keyserling? Hatte ich noch nie gelesen, nur aus zweiter Hand etwas raunen gehört vom „baltischen Fontane“ und adeligen Impressionisten, von Dekadenzatmosphäre und Fin-de-Siècle-Stimmung. Und auch während meines Germanistikstudiums in den 1970er Jahren war Keyserling unerwähnt und unbehandelt geblieben, galt, wenn er überhaupt als oder für etwas galt, als literarischer Snob, eine kuriose Nebenfigur der Münchner Boheme um 1900, ein trivialer Unterhaltungsonkel, der sogenannte Schlossgeschichten für höhere Töchter und adelige Witwen schrieb – soweit mein aus Halbwissen geronnenes Vorurteil. Ich griff also durchaus skeptisch, gewissermaßen mit spitzen Fingern, zu meiner ersten Keyserling-Lektüre, der Erzählung Schwüle Tage, erschienen bei Manesse. Der Verlag muss erwähnt sein, weil die Ausgaben in der ungewöhnlich schönen, auch editorisch sehr soliden Bibliothek der Moderne der dezenten Eleganz dieser Prosa so angemessen sind: Sie passen zu Keyserlings Stil wie maßgeschneiderte, über modische Albernheiten erhabene Anzüge. Schon die ersten fünf Zeilen nahmen mich für den Autor ein. Die Eisenbahnfahrt, heißt es da, „war ganz so schwermütig, wie ich es erwartet hatte.“ Und dann folgt ein Satz, der diese Schwermut besser ins Bild setzt als jede psychologische Begrifflichkeit es vermöchte: „Es regnete ununterbrochen, ein feiner, schief niedergehender Regen, der den Sommer geradezu auszulöschen schien.“ K. Modick (*) Oldenburg, Deutschland E-Mail: klaus.modick@t-online.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_2 11 12 K. Modick Mit jeder weiteren Seite schmolz der Schnee meiner Skepsis unter der Sonne dieser hellen Sprache, und sukzessive las ich mich durch alle erreichbaren Werke Keyserlings. Ich bewundere die stilistische Eleganz, den subtilen Humor, die durchgängig ironische Haltung, deren Spannweite von milde bis ätzend reicht. Dazu kommt ein präzises Verständnis psychologischer Vorgänge, insbesondere in der Evozierung erotischer Stimmungen, Spannungen, auch Verdrängungen. Und geradezu unübertroffen ist Keyserling als Schilderer von Landschaft und Natur. Während er die gesellschaftlichen Konventionen seiner Herkunftswelt und die psychischen Zustände ihrer Menschen fast ausnahmslos ironisch sieht, behandelt er die Landschaft mit einer unzweideutigen, liebevollen Innigkeit. Der Verfall der anachronistischen, verkalkten und verstaubten Welt des baltischen Adels steht im Kontrast zur Natur als einer quasi krisensicheren Wirklichkeit. Mögen die Tage von Keyserlings Leuten gezählt sein, das Land erscheint unwandelbar. Und doch – selbst dies letzte Refugium der Schönheit schwindet. Zu den traurigsten, resignativsten Momenten in Keyserlings Werk zählt das wiederkehrende Motiv des Verkaufs von Wald durch den verschuldeten Landadel. Denn die Wälder waren das, was die Generationen miteinander verband. Man profitierte von dem, was die Vorfahren angelegt hatten, und man pflanzte und hegte für kommende Generationen. Das Abholzen des Waldes griff jedoch das letzte stabile, krisensichere Kapital an, ging an die Substanz. Die Kahlschläge bewiesen mit unübersehbarer Brutalität, dass Wälder und Landwirtschaft keine Lebensformen mehr boten und die Tage des kurländischen Adels gezählt waren. Die Zukunft gehörte den Industrien und Fabriken, den Stahl- und Kohlebaronen, deren Hochöfen mit baltischen Wäldern befeuert wurden. Während meine Zuneigung zu Keyserling von Buch zu Buch wuchs, dämmerte mir allerdings auch, wie durch oberflächliche Lektüre die Fehleinschätzungen und Missverständnisse, die über dies Werk im Umlauf sind, entstehen konnten. Nimmt man nämlich den Erzählungen, Novellen und Romanen ihren Stil und reduziert sie auf Handlung, auf plot-orientierte Inhaltsangaben, könnte man meinen, in die seichtesten Gewässer der Trivialität verschlagen worden zu sein. Lion Feuchtwanger, der als Dramaturg in München an Inszenierungen Keyserlingscher Stücke beteiligt war, hat 1915 (in einem Essay anlässlich Keyserlings 60. Geburtstags) Inventar und Personal von dessen Schlossgeschichten nahezu parodistisch zusammengefasst. Der Leser habe es mit einer „Welt in Watte“ zu tun, bevölkert von wackeren Junkern und stillen weißen Frauen, die ihr Gesinde mit barscher Güte behandeln, und soignierte, nervöse Herren, die ironische Bemerkungen von sich geben und „deren Seele immer Handschuhe trägt“, und frühreife, graziöse Mädchen mit erwachenden Trieben und draufgängerische Barone, die mit solchen Mädchen anbändeln, oder frustrierte Baronessen, die mit windigen Künstlern durchbrennen, aber desillusioniert und reumütig in die muffige Wattewelt zurückkehren. Man fällt im Duell, ertränkt sich, lockert Brücken, über die der Nebenbuhler mit dem Schlitten fahren muss, erschießt sich manchmal sogar selbst und immer so weiter und ewig so fort durch Adelskitsch und Edelschund. Nun sei aber, so Feuchtwanger, das Entscheidende, sozusagen der Witz bei Keyserling, dass und „wie er seine Stoffe entmaterialisiert. Seine Darstellung saugt das Stoffliche gewissermaßen auf.“ Und in der Tat ist Keyserlings Werk Die Leerstelle. Unterwegs zu Eduard von Keyserling 13 ein schlagendes Beispiel für die altbekannte, aber häufig ignorierte Tatsache, dass ästhetische Relevanz nicht vom Gegenstand abhängt, dass es in der Kunst nicht um das ‚Was‘, sondern um das ‚Wie‘ der Darstellung geht. So wenig die Seerosen große Kunst waren, sondern die Art, in der Monet sie malte, so wenig hatte die baltische Adelswelt literarische Qualität, sondern die ironische Weise, in der Keyserling sie beschrieb und in der Beschreibung zugleich als hinfällige, verschwindende Klasse dekonstruierte. Insofern war Keyserling in der Tat ein Impressionist. Thomas Manns Nekrolog auf Keyserling aus dem Jahr 1918 argumentiert in die gleiche Richtung, wenn es dort etwa heißt, nicht nur sein Werk sei „die melancholische Ironisierung“ seines Heimatmilieus, sondern sein Künstlertum selbst sei die Sublimierung adeliger Diskretion und Haltung gewesen. Im Vergleich zu Fontane habe Keyserlings Werk „nervöseren Puls; der Blick auf das Leben ist kälter geworden, die Ironie geistiger, das Wort präziser, der Gesamthabitus ungemütlicher, künstlerischer und weltläufiger.“ Thomas Mann schloss seine Würdigung mit der Bemerkung, „dass Keyserling niemals im engeren Sinn des Wortes ‚geschriftstellert‘ hat. Ich wüsste nicht, dass irgendeine kritische Äußerung, irgend etwas wie Urteil, Meinung und ‚Stellungnahme‘ von ihm existierte. Dies ist der Reinheit seines Bildes sehr zuträglich.“ Das Wort von der Schriftstellerei, die sich ins Tagesgeschehen einmischt und damit gewissermaßen politisch-journalistisch wird, dürfte auch ein heimlicher Seitenhieb des damals entschieden „Unpolitischen“ auf seinen Bruder Heinrich Mann gewesen sein; gleichwohl ist die Beobachtung natürlich zutreffend, dass Keyserlings Werk von Zeitdiagnostik frei ist – ganz zu schweigen von politischem Engagement. Die Gesellschaftskritik des Grafen besteht vielmehr darin, dass er die Gesellschaft, die ihn als Persona non grata verstieß, vorführt, indem er sie zu Wort kommen lässt, und sein Urteil findet sich, wie halblaut beiseite gesprochen, im Gestus der Ironie. Aus dieser Verbannung aller Aktualität entsteht eine Art geschlossener Schneekugelwelt, jene „Welt in Watte“, die nicht veraltet oder anachronistisch wirkt, weil sie unzeitgemäß ist und es immer schon war und eben deshalb zeitlos „modern“ bleibt. 2. Weil wir nicht unbedingt das Neueste lesen wollen, sondern immer nur das Beste, bestreite ich mit meinem Freund, der mir Keyserling so erfolgreich ans Herz gelegt hatte, einmal im Jahr einen Abend, der jeweils einem Autor oder einer Autorin gewidmet ist, der oder dem in der absurden Schnelllebigkeit des Literaturbetriebs das Vergessenwerden droht. Und nachdem nun auch ich dem imaginären Keyserling-Club beigetreten war, verabredeten wir einen Keyserling-Abend. Bei der Vorbereitung merkten wir allerdings schnell, dass man zwar das Werk würde vorstellen und empfehlen können, dass jedoch das Leben dieses Autors nur schwer zu erschließen ist. Eine Autobiographie hat er nicht verfasst, und es gibt auch keine Biographie über ihn, nicht einmal ein rororo-Bändchen, das er doch allemal verdient hätte. 14 K. Modick Die biographischen Quellen gleichen spärlichen Rinnsalen. Über seine Münchner Jahre von 1895 bis zu seinem Tod 1918 gibt es immerhin einige Erinnerungen und recht aussagekräftige Anekdoten aus der Schwabinger Boheme, in deren Kreisen er verkehrte und überaus beliebt war. Seine Kindheit und Jugend sowie seine Studienjahre in Kurland sowie sein immerhin zwölfjähriger Aufenthalt in Wien verlieren sich jedoch weitgehend im Dunkeln oder jedenfalls im Zwielicht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Keyserling testamentarisch verfügt hatte, sein kompletter Nachlass müsse vernichtet werden. Diesem Autodafé fielen sämtliche Manuskripte, Briefe, persönliche Dokumente und Aufzeichnungen zum Opfer, und falls es Tagebücher gegeben haben sollte, landeten auch sie im Ofen, den eine von Keyserlings sieben Schwestern mit dem Nachlass ihres Bruders heizte. Die Frage, warum Keyserling seinen Nachlass vernichtet wissen wollte, ist nicht zweifelsfrei zu beantworten. Max Halbe, Keyserlings Freund und Kollege, hat in seinen Memoiren bemerkt, Keyserling sei schon zu Lebzeiten „wenig mitteilsam gewesen, was seine Entwicklungs- und seine junge Manneszeit anging. Manchmal ließ es sich geradezu an, als liege da ein Geheimnis seines Lebens verborgen, das er nicht gern enthüllt sehen wollte.“ Der Verdacht scheint also nicht unbegründet, dass Keyserling gewisse skandalöse Episoden seiner Vergangenheit geheim halten wollte oder musste. Besonders mysteriös sind jene Ereignisse, die sich 1877/1878 während seines Studiums in Dorpat (heute: Tartu in Estland) zugetragen haben, Ereignisse, die einen Skandal auslösten und Keyserling zur Persona non grata machten. Was war passiert? Belegt ist, dass Keyserling, der häufig Spielschulden hatte, Kassenwart seiner Studentenverbindung war – keine sehr glückliche Kombination, die ihn dazu verführte, in diese Kasse zu greifen, um Schulden zu begleichen. Da Keyserling das Geld zurücklegte, als er wieder flüssig war, handelte es sich, genau genommen, nicht um Diebstahl, sondern lediglich um einen zinslosen Kredit und war insofern eigentlich ein Kavaliersdelikt. Über dergleichen Bagatellen deckte man üblicherweise den weiten Mantel der Corps- und Adelssolidarität, doch als die Sache aufflog, wurde Keyserling nicht nur aus der Verbindung ausgeschlossen, sondern auch von der Universität verwiesen. Er floh Hals über Kopf nach Wien, ließ sich 12 Jahre lang nicht mehr in Kurland blicken und war in Kreisen des baltischen Adels „unmöglich“ geworden. Soweit die historisch einigermaßen gesicherten Fakten, die mir, je länger ich darüber nachdachte, plausibel, aber nicht erschöpfend vorkamen. Es musste mehr im Spiel gewesen sein als nur ein selbst gewährter, aber doch auch zurückgezahlter und also verzeihlicher Kredit, um derart unverhältnismäßig heftige Reaktionen auszulösen. Und indem ich mich fragte, welche triftigeren Gründe es hätte geben können, dämmerte mir, dass die Antwort ins Zentrum von Keyserlings Künstlertum führen musste. Ohne diese Affäre wäre er nämlich nicht nach Wien geflohen, sondern hätte in Dorpat sein Studium als Verwaltungsjurist beendet, hätte vermutlich standesgemäß geheiratet, den Rest seines Lebens als kurländischer Gutsherr verbracht und vielleicht auch nach Feierabend sogar noch das eine oder andere Gedicht geschrieben. Vor einem solchen prädestinierten Lebenslauf hat ihn der Dorpater Skandal bewahrt. Er brachte ihn in eine produktive Distanz zu seiner Herkunftswelt und wurde somit zum Ursprung und zum Dreh- und Angelpunkt seiner schriftstellerischen Energie und Existenz. Die Leerstelle. Unterwegs zu Eduard von Keyserling 15 3. Die fehlenden triftigen Gründe für die dramatischen Reaktionen auf Keyserlings „Fehltritt“ bilden die rätselhafteste Leerstelle in seiner Biographie und wurden zum Treibstoff meines Romans, der diese Leerstelle mit den Mitteln der Fiktion füllt. Ich bin mir recht sicher, dass die Fiktion der Wahrheit sehr nahekommt und letztlich auch eine plausible Erklärung liefert, warum Keyserling seinen Nachlass vernichten ließ. Insofern war von vorneherein klar, dass die Dorpater Affäre die Achse bilden musste, um die sich mein Roman drehen würde. Unklar war vorerst, aus welcher Perspektive, welcher Situation und welcher Haltung heraus sich die Geschichte am besten erzählen ließ. Eine Möglichkeit bestand darin, den blinden und gelähmten Keyserling in seiner Münchner Matratzengruft aus seinem Leben erzählen und schließlich das Testament mit der Verfügung der Nachlassvernichtung diktieren zu lassen. Das alles würde der Alte jedoch nicht irgendwem erzählen, sondern seinem Neffen Hermann Graf Keyserling, einem Philosophen, der durch die Welt reiste, über seine Reisen höchst erfolgreiche Bücher verfasste und es damit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einer gewissen Berühmtheit brachte. Er war esoterisch angehaucht, weshalb über ihn (nicht, wie manchmal angenommen, über seinen weniger berühmten Onkel Eduard) ein gern zitierter Spottvers kursierte: „Als Gottes Atem leiser ging, / schuf er den Grafen Keyserling.“ Beim Zusammentreffen des hinfälligen, aber immer noch ironisch, auch und gerade selbstironisch gestimmten Schriftstellers mit seinem Neffen, der alles, sich selbst inklusive, sehr ernst und bedeutungsvoll nahm, hätte man Eduard von Keyserling zu einem unzuverlässigen Erzähler par excellence machen können. Die Idee war reizvoll, aber ich ließ sie schließlich doch fallen zu Gunsten der Entstehungsgeschichte jenes Porträts, das Lovis Corinth im Sommer 1901 von Keyserling gemalt hatte. Denn in den anekdotenreichen Memoiren des Verlegers Korfiz Holm, der ein sehr guter Freund Keyserlings war, wird von dessen Reaktion auf Corinths Gemälde berichtet – eine Reaktion, die ich mir nicht entgehen lassen durfte und dann im Roman folgendermaßen verarbeitet habe: „Keyserling drückt sich den Zwicker auf die Nase, beugt sich vor, erschrickt, schüttelt ungläubig den Kopf. Eben, im Spiegel, hat er ganz anders ausgesehen. Corinth hat ihn aber zu einem gemacht, der mit Siebzig gestorben ist, ein paar Jahre im Grab gemodert hat und eben erst wieder herausgestiegen ist. Das soll sein Idealgesicht sein? Er rümpft die Nase über soviel malerische Brutalität. Aber das sagt er natürlich nicht. ‚Es mach ja jut jemalt säin‘, sagt er vielmehr leise und hört plötzlich in seiner Stimme den sanften Singsang der baltischen Mundart, ganz wie jene Opernsängerin, die sich erschrak, als sie zum ersten Mal ihre Stimme auf einer Grammophonplatte hörte. ‚Und jut unterhalten hat das Lovischen mich dabäi auch. So aussehn mecht ich aber lieber nich.‘“ Und wer wollte Keyserling auch verdenken, dass er so lieber nicht aussehen wollte? Denn es ist ja ein nahezu brutales Bild, das nichts beschönigt und nicht schmeicheln will, sondern dem inneren Wesen, der Wahrheit eines Menschen auf der Spur ist. Es zeigt Keyserling, wie Corinth ihn sah, ist Corinths Version eines faszinierenden Menschen. Mit Keyserlings Geheimnis habe ich eine andere Version geliefert, und manchmal frage ich mich, was er wohl dazu gesagt hätte. Kontexte: Beziehungen und Diskurse Vor dem Preisgericht Eduard von Keyserlings Anfänge und das Wiener Feuilleton Peter Sprengel Geschichte eines Wettbewerbs Die Wiener Allgemeine Zeitung, auch als Sechs-Uhr-Blatt bekannt, bestand vom März 1880 bis zum Februaraufstand 1934.1 Vom Nationalökonomen Theodor Herzka als publizistische Plattform des Liberalismus gegründet, enthielt die anfangs dreimal täglich erscheinende Zeitung in ihren ersten Nummern noch kein Feuilleton; erst im Laufe des Jahres 1880 stellte sich das damals übliche Erscheinungsbild einer Zweiteilung der vorderen Seiten (mit den schöngeistigen Artikeln unter einem waagerechten Trennstrich) ein. Doch schien das neue Organ über längere Zeit Nachholbedarf auf diesem Sektor zu verspüren. Darauf weisen gleich drei Feuilleton-Wettbewerbe hin, die die Zeitung bis 1885 auslobte.2 1Vgl. Helmut W. Lang/Ladislaus Lang/Wilma Buchinger: Bibliographie der österreichischen Zeitungen 1621–1945. Bd. 2.: N–Z. München 2003, S. 402 f.; Gabriele Melischek/Josef Seethaler (Hg.): Die Wiener Tageszeitungen. Eine Dokumentation. Bd. 3: 1918–1938. Frankfurt/M. u. a. 1992, Nr. 122. 2So werden im November 1882 je ein Preis für die beste (Wiener) Novelle und das beste Feuilleton ausgeschrieben; den Feuilleton-Preis erhält Robert Kohlrausch (daneben gibt es eine ehrenvolle Erwähnung für Theodor Herzls „Die Anglisierung der Welt“). Im November 1885 werden ähnlich wie im Dezember 1881 drei Feuilleton-Preise ausgelobt, die an Francisca von Kapff-Essenther, Heinrich Baum und Joseph Willomitzer gehen. Vgl. Wiener Allgemeine Zeitung [im Folgenden: WAZ]. Morgenblatt [im Folgenden: MA] 983 (21.11.1882), S. 1; WAZ. MA 1151 (13.05.1883), S. 1; WAZ. MA 2054 (17.11.1885), S. 1; WAZ. MA 2172 (16.03.1886), S. 9. – Alle hier und im Folgenden zitierten Zeitungsnummern sind über das Internetportal „ANNO – AustriaN Newspapers Online“ der Österreichischen Nationalbibliothek zugänglich: http://anno.onb. ac.at/cgi-content/anno?aid=waz (16.09.2019). P. Sprengel (*) Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: sprengel@zedat.fu-berlin.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_3 19 20 P. Sprengel Besondere Aufmerksamkeit verdient der erste, schon aufgrund der Prominenz der Jurymitglieder und der Zahl der Einsendungen, aber auch hinsichtlich der Preisträger (sowie der weiteren mit einer Auszeichnung bedachten Autoren) und der Qualität ihrer Texte. Die Redaction der ‚Wiener Allgemeinen Zeitung‘ – stets darauf bedacht, das Gute, das sie hat, zu verbessern – möchte den tüchtigen, anerkannten Federn, welche an ihrer Feuilleton-Rubrik mitarbeiten, neue Kräfte beigesellen. Sie möchte auch jungen, bisher unbekannten Talenten dazu verhelfen, mit ihren Arbeiten hervortreten zu können; sie möchte sich und dem Lesepublicum die Bekanntschaft einer jüngsten Feuilletonisten-Generation verschaffen. Zu diesem Behufe schreibt sie drei Preise für die besten Feuilletons aus: Erster Preis 300 fl. Zweiter " 200 " Dritter " 100 " Mit diesen Sätzen beginnt der Ausschreibungstext, den die Wiener Allgemeine Zeitung am 16. Dezember 1881 veröffentlichte.3 Er macht nur ungefähre Angaben zum gewünschten Umfang („nicht unter sechs und womöglich nicht über neun Spalten unseres Feuilletons“) und verzichtet bewusst auf Vorschriften zu Inhalt und Form: „Das Stoffgebiet des Feuilletons ist ein unendliches. Wir geben darum keinerlei Andeutung über die Wahl der Sujets. Schreibe Jeder, was seiner Individualität am nächsten liegt, was ihn am meisten reizt zur Darstellung in künstlerischer Form.“ Am künstlerischen Charakter und Rang des Genres gab es für die Redaktion nach einer ganzen – goldenen – Generation Wiener Feuilletongeschichte4 offenbar nicht den geringsten Zweifel. Entsprechend selbstbewusst verfuhr man bei der Auswahl der Jurymitglieder. Umgekehrt bezeugt die Prominenz der Preisrichter auch das Ansehen der neugegründeten Zeitschrift ebenso wie den epochalen Konsens hinsichtlich der Legitimität und Seriosität eines derartigen Feuilleton-Wettbewerbs. Denn selbst wenn man im damaligen Wien nach Mitgliedern für die Jury eines (selbstverständlich anachronistischen) Literaturnobelpreises gesucht hätte, wäre man kaum auf höherkarätige Persönlichkeiten gekommen als das gewählte Kleeblatt, bestehend aus dem beliebten Lustspielautor Eduard von Bauernfeld, dem vielseitigen Schriftsteller und ehemaligen Burgtheaterdirektor Heinrich Laube, dem aufstrebenden Stargermanisten Erich Schmidt und dem Dramatiker und amtierenden Burgtheaterdirektor Adolf Wilbrandt. Man könnte allenfalls bemängeln, dass kein hochrangiger Feuilletonist vom Schlage eines Daniel Spitzer, Friedrich 3WAZ. MA 647 (16.12.1881), S. 1 (dort auch die folgenden Zitate). Hildegard Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton (1848–1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne. Tübingen 1998; Matthias Nöllke: Daniel Spitzers ‚Wiener Spaziergänge‘. Liberales Feuilleton im Zeitungskontext. Frankfurt/M. u. a. 1994; Andreas Wildhagen: Das politische Feuilleton Ferdinand Kürnbergers. Frankfurt/M. 1985. 4Vgl. Vor dem Preisgericht 21 Schlögl oder Ludwig Speidel dem Gremium angehörte, aber die Spitzenvertreter des donaustädtischen Feuilletons waren natürlich bei konkurrierenden Blättern beschäftigt, von denen sich die Wiener Allgemeine Zeitung mit diesem Preisausschreiben gerade absetzen wollte. Schließlich verfügte man auch in den eigenen Reihen über einschlägige Spezialisten, denn der Jury gehörten noch sechs Mitglieder „aus dem Schooße der Redaction“ an,5 darunter der Musikkritiker Max Kalbeck und Adolf von Wurzbach (der Kunstkritiker und Sohn des Lexikographen) sowie Ferdinand Groß, der immerhin vier Jahre zuvor selbst als Sieger aus einem deutschen Feuilleton-Wettbewerb hervorgegangen war.6 Mit 750 Einsendungen (davon zwanzig aus Übersee) übertraf das Preisausschreiben der Wiener Allgemeinen Zeitung 1880/1881 alle vergeichbaren damaligen Aktionen.7 Die letzten drei Tage vor Ablauf der Frist schleppten die „Redactions-Diener“ die Post in großen Stößen herbei. Man hatte Mühe, die zahlreichen Eingänge ordnungsgemäß zu registrieren, und manchem Redakteur drängte sich der Ausruf des Goetheschen Zauberlehrlings auf: „Herr, die Noth ist groß. / Die ich rief, die Geister, / Werd’ ich nun nicht los.“ So ist es jedenfalls nachzulesen in der Reportage Unsere Preisausschreibung, mit der die Zeitung am 23. Januar 1882 die Resonanz auf den eigenen Aufruf feiert: „Am letzten Tage kamen Herren und Damen mit der Anfrage, ob der Termin nicht doch hinausgeschoben werden könnte, und ein Herr, der am 15. d. M., Morgens, dieselbe Frage gestellt hatte, eilte am 15. Abends athemlos mit der doch noch zu Stande gebrachten Concurrenz-Arbeit herbei.“8 Strenggenommen verstieß die persönliche Abgabe natürlich gegen die Regeln, denn zu den Grundbedingungen des Preisausschreibens gehörte die Anonymität. Die eingereichten Arbeiten sollten durch ein individuelles Motto, das gleichsam als Code diente, gekennzeichnet werden; der beigefügte verschlossene Umschlag mit dem Autornamen war erst nach der Preisverteilung zu öffnen. Wie bei ähnlichen Wettbewerben,9 lieferte allein schon die Originalität verschiedener Motti Stoff zu einer humoristischen Berichterstattung, gepaart mit dem Umstand, dass bestimmte Motti „zu Dutzenden“ vorkamen, was sich vielleicht schon als Hinweis auf bestimmte Erwartungen an das Genre Feuilleton verstehen lässt: so das Juvenal-Zitat „Difficile est satiram non scribere“, die Maxime aus dem Faust-Vorspiel „Greift nur hinein in’s volle Menschenleben“ oder der auf die Cholera-Epidemie 5Zusätzlich zu den nachfolgend Genannten: Julius Guttmann, Rudolf Baldeck, Johannes Ziegler. Groß war Gewinner des Preisausschreibens für das beste Feuilleton, das 1877 vom Literarischen Central-Bureau (Berlin) veranstaltet worden war; vgl. Neue Freie Presse. Morgenblatt 4647 (03.08.1877), S. 4; Neue Freie Presse. Abendblatt 4710 (06.10.1877), S. 1. 7Beim Literarischen Central-Bureau waren 134 Arbeiten eingegangen; 1885/1886 beteiligten sich bei der Wiener Allgemeinen Zeitung 473 Autoren. 8WAZ. Abendblatt 684 (23.01.1882). S. 1. 9Über die Motti des Berliner Wettbewerbs hatte schon die Breslauer Zeitung in humorvoller Weise berichtet; vgl. Neue Freie Presse. Abendblatt 4710 (06.10.1877), S. 1. 6Ferdinand 22 P. Sprengel von 1831 anspielende Titel des beliebten Walzers von Johann Strauss Vater „Heiter auch in ernster Zeit“.10 Die eigentliche Sensation des Wettbewerbs lag jedoch im Ergebnis: Unter den drei am 23. Februar 1882 verkündeten11 Preisträgern befinden sich gleich zwei Autoren, die in die Literaturgeschichte eingegangen sind – nimmt man die mit einer „ehrenvollen Erwähnung“ bedachten weiteren Autoren hinzu, erweitert sich der Kreis der auch heute noch bekannten Namen auf drei: neben dem 26-jährigen Eduard von Keyserling, dem die Wiener Allgemeine Zeitung zu seiner ersten nachweisbaren Veröffentlichung verhalf, gehören dazu der 33-jährige Kurd Laßwitz als Pionier der deutschen Science-Fiction-Literatur sowie der 29-jährige Dramatiker (künftige Volkstheaterdirektor und völkische Nationalrat) Adam Müller-Guttenbrunn. Insgesamt wurden sieben Texte ausgezeichnet und in den anschließenden Wochen mit entsprechender Hervorhebung im Feuilleton der Wiener Allgemeinen Zeitung gedruckt: • „‚Es‘“ von Alexander Freiherr von Roberts (1845–1896), Erfurt (1. Preis) • „‚Nur zwei Thränen‘“ (Titel gleichfalls in Anführungszeichen) von Eduard von Keyserling12 (2. Preis) (s. Abb. 1) • „Apoikis“ von Kurd Laßwitz (1848–1910), Gotha (3. Preis) • „Der Genius des letzten Augenblicks“ von Joseph R. Ehrlich (1842–1899), Wien • „Vor dem Preisgericht“ von Adam Müller-Guttenbrunn (1852–1923),13 Wien • „Herbstmärchen“ von Eduard Zetsche (1844–1927), Wien • „Goethe als Politiker“ von Eugen Guglia (1857–1919), Wien Betrachtet man die ausgewählten Texte näher, so wird man nicht ohne eine gewisse Überraschung feststellen, dass nur eine Minderheit von ihnen dem heute vorherrschenden Gattungsverständnis des Feuilletons entspricht. Vier von ihnen (darunter alle preisgekrönten Arbeiten) sind nämlich eindeutig als Erzählung angelegt.14 Und unter den verbleibenden drei Texten fällt noch dazu einer durch seine dialogische, ja pseudo-dramatische Anlage aus dem Rahmen. Da hier immerhin das Feuilleton als sprechende Person auftritt, scheint es sinnvoll, die vergleichende Lektüre der von der Jury erkorenen Arbeiten mit diesem Text zu eröffnen. 10WAZ. Abendblatt 684 (23.01.1882), S. 1. MA 715 (23.02.1882), S. 1. 12Der Name wird in der Zeitung ohne Adelsprädikat und (als einziger unter den Prämierten) ohne Ortsangabe gedruckt. 13Erscheint hier noch in der älteren Namensform „A. Müller aus Guttenbrunn“. 14Das wird in der Berichterstattung zum Wettbewerb von 1881/1882 zwar nicht als besonderer Befund, geschweige denn als Problem artikuliert. Die Redaktion scheint jedoch ihre Konsequenzen daraus zu ziehen, wenn sie bei der nächsten Preisausschreibung parallel (und mit verschieden besetzter Jury) nach einer „Novelle“ (Preis: 500 Gulden) und einem „Feuilleton“ (Preis: 300 Gulden) fahndet: WAZ. MA 983 (21.11.1882), S. 1. 11WAZ. Vor dem Preisgericht 23 Abb. 1 Keyserlings erste Veröffentlichung: Anfang des Abdrucks seines „Zweiten Preis-Feuilletons“ in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 5. März 1882 24 P. Sprengel Abb. 2 Erste Spalte des Abdrucks von Müller-Guttenbrunns „mit Auszeichnung erwähnter“ Einsendung „Vor dem Preisgericht“ in der Wiener Allgemeinen Zeitung vom 19. März 1882 Das „andere“ Feuilleton Müller-Guttenbrunns Vor dem Preisgericht15 (s. Abb. 2) ist zweifellos die witzigste Einsendung zum Preisausschreiben, die wir kennen. Sie macht das Auswahlverfahren zum Thema, imaginiert die namentlich genannten und 15WAZ. MA 739 (19.03.1882), S. 1–3. Vor dem Preisgericht 25 apostrophierten Herren Laube, Bauernfeld, Wilbrandt und Schmidt auf der Richterbank, die Redakteure auf der Geschworenenbank und das (am Schluss mit dem Autor identifizierte) Feuilleton auf der Anklagebank. In der großen Rede des Feuilletons, die den gesamten Text – bis auf den letzten kurzen Absatz – ausfüllt, kehren sich freilich die Verhältnisse um: Das Feuilleton weist dem hohen Gerichtshof dessen komplette Unzuständigkeit, ja Inkompetenz nach und verlässt am Schluss triumphierend den Saal. Seine ad personam gerichtete Argumentation kommt dabei ohne persönliche Herabsetzungen aus; vielmehr sind es gerade die unbestreitbaren Verdienste des Richter-Kleeblatts auf anderem Gebiet, die ihm die Fähigkeit zur Be- oder Verurteilung des Feuilletons absprechen: Ich bin eine Laune, ein Kind der Actualität, und ich diene dem Tage. Sie aber repräsentiren die Literatur und die Schule, also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft […] Sie sind Priester in Apollo. Und ich, der zierliche literarische Gassenjunge, der Euch vornehme Herren schon tausendmal an den Ohren gezaust und der Schule am hellen Tage die Fenster eingeworfen hat; ich, der natürliche Sproß Apollo’s und der Tänzerin unter den Musen, der Geist ohne Körper, die mit dem Rapier der Malice bewaffnete Grazie, ich sollte es mir ruhig gefallen lassen, daß Ihr schwerfälligen deutschen Herren nach mir hascht, um mich vor Euren Richterstuhl zu schleppen?16 Das Stichwort „deutsch“ als Abgrenzung kehrt wenige Spalten später wieder. In der persönlichen Charakterisierung der Dichter-Richter Laube, Bauernfeld und Wilbrandt kommt nämlich das politische Engagement der Schriftsteller zur Sprache – bis hin zu Wilbrandts Bekenntnis, er sei „aus Patriotismus Journalist“ geworden.17 Man könnte meinen, dass sich hier – schon über das gemeinsame Medium der Zeitung – doch eine gewisse Nähe zum Feuilleton abzeichne. Weit gefehlt! Für Müller-Guttenbrunn bzw. sein redendes Feuilleton macht sich gerade an diesem Punkt eine maximale Differenz bemerkbar: Journalist und Patriotismus! Damit schreibt man vielleicht Brochuren über Kornzölle und dergleichen, oder man bringt es bestenfalls zu einem kleinen Leitartikler – aber zum Feuilletonisten? Das ist der Antipode des Leitartiklers, ja sein gefährlichster Widersacher, und wenn die Beiden auch manchmal scheinbar für einander einstehen müssen, ausstehen werden sie einander nie. Der Patriot über dem Strich mag immerhin die deutsche Keule schwingen und die Sendung des Germanenthums in den Himmel erheben, der Weltbürger unter demselben tanzt Cancan und beugt zierlich sein Knie vor Fräulein Cocotte, der französischen Theatermuse; der Patriot oben besingt die leiseste Regung deutschen Nationalgefühls im Volke dithyrambisch, der Weltbürger unten wirft einen Blick des Mitleids und der Verachtung auf alles Deutsche in Kunst und Literatur […].18 Die hier lange vor ihrem Ende abgebrochene Antithesen-Kette erlaubt, um mit Müller-Guttenbrunn zu sprechen, sehr direkte Verknüpfungen mit „Vergangenheit“ 16Ebd., S. 1. Wilbrandt: „Ein Gespräch, das fast zur Biographie wird“. In: Die Gegenwart 8 (1875), S. 213–216, hier S. 213. 18WAZ. MA 739 (19.03.1882), S. 3. 17Adolf 26 P. Sprengel und „Zukunft“. Mit der Zukunft einerseits, insofern Müller-Guttenbrunn hier gleichsam seine eigene völkisch-antisemitische Entelechie antizipiert: Er selbst wird künftig die „germanische Keule“ schwingen wie der im Zitat karikierte patriotische Leitartikler. Andererseits ist in der rhetorischen Periode von 1882 offenbar noch die Erinnerung an den französischen Ursprung des Feuilletons lebendig: an die Einführung des Begriffs und des legendären Trennstrichs im Journal des Débats 1800, an die historisch führende Rolle französischer Feuilletonisten wie Julien Louis Geoffroy oder Jules Janin und an die prägenden Paris-Aufenthalte Börnes und Heines, die schon damals als Väter des deutschen Feuilletons galten.19 Als in der Wiener Presse just im Jahr der Märzrevolution erstmals der Trennstrich zwischen dem Feuilleton und dem politisch-ökonomischen Nachrichtenteil installiert wurde, hatte sich ein lebhafter Disput über das Verhältnis beider Zeitungsteile und Diskurse entzündet: „Ein kleiner Strich trennt das Feuilleton vom politischen Theile der Zeitung. […] Eine schmale Gränzlinie ist zwischen Politik und Romantik gezogen; zwey Welten, einander fremd, stoßen nachbarlich zusammen.“20 Dieser harmonisierenden Sicht der Neujahrsausgabe der Wiener Zeitung 1848 setzte die Ost-Deutsche Post (Wien) zwei Jahre später ihre eigene dialektische Auffassung der Beziehung zwischen Kultur- und Politikteil entgegen: „Die Völker haben sich das Feuilleton erfunden, um unten zu hören, was man ihnen oben nicht sagen darf. […] Die Völker haben das Feuilleton auch erfunden, um, wenn sie oben hören, was sie unten thun sollen, unten zu thun, was sie wollen.“21 Müller-Guttenbrunns Verteidigungsrede des Feuilletons basiert offenkundig auf diesen um die Jahrhundertmitte formulierten Auffassungen vom (Wiener) Feuilleton als Ort des Anderen, der Romantik und einer nicht kontrollierbaren emotionalen, vielleicht sogar triebhaften („unten“, „Cocotte“) Subjektivität. Die binäre Logik ihres Feuilleton-Verständnisses bietet möglicherweise einen Zugang auch zu den anderen Einsendungen des Preisausschreibens der Wiener Allgemeinen Zeitung von 1881/1882 und erlaubt es, selbst diejenigen zugehörigen Texte als „Feuilleton“ in einem strukturellen Sinne einzuordnen, die sich – das gilt nicht zuletzt für Keyserlings Beitrag – aufgrund ihrer narrativen Machart prima vista einer solchen Gattungszuordnung entziehen. Bleiben wir aber zunächst noch bei den nichtfiktionalen Einsendungen. Ein Essay wie derjenige des Goethe- und Gentz-Kenners Eugen Guglia zum Thema 19Vgl. Ernst Eckstein: Beiträge zur Geschichte des Feuilletons. 2 Bde. Leipzig 1876; Günter Oesterle: „‚Unter dem Strich‘. Skizze einer Kulturpoetik des Feuilletons im neunzehnten Jahrhundert“. In: Jürgen Barkhoff/Gilbert Carr/Roger Paulin (Hg.): Das schwierige 19. Jahrhundert. Tübingen 2011, S. 229–250. 20L. N.: „Das Feuilleton“. In: Oesterreichisch-Kaiserlich privilegirte Wiener-Zeitung 1 (01.01.1848), S. 1 f., hier S. 2. Vgl. auch Hermann Schlösser: „Der Einzug des Feuilletons in die kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung. Eine pressegeschichtliche Fallstudie“. In: Klaus Amann/ Hubert Lengauer/Karl Wagner (Hg.): Literarisches Leben in Österreich 1848–1890. Wien/Köln/ Weimar 2000, S. 414–429. 21Anonym: „Genesis des Feuilletons“. In: Ost-Deutsche Post 7 (09.01.1850), S. 1. Vor dem Preisgericht 27 Goethe als Politiker22 gewinnt im Rahmen der soeben diskutierten Funktionsbestimmung des Feuilletons unmittelbare Relevanz. Versucht er doch offenbar zu zeigen, dass Politik etwas anderes sein kann und bedeutet, wenn sie sich nicht – wie im oberen Teil der Zeitung – in Parlamentsdebatten, Gesetzesvorlagen und internationalen Beziehungen erschöpft, sondern im kulturellen Feld verankert und mit dem dort auf höchster Stufe rangierenden Namen Goethes verknüpft wird. In den fünfzig Jahren seit Goethes Tod – damit endet Guglias mit Rücksicht auf den Jubiläumstag (22. März 1882) von der Redaktion vorgezogener23 Artikel – seien „wunderbare Culturmomente in den Staat getreten“, die Grund zur Hoffnung auf einen „Vernunftstaat“ gäben („den noch kein Geschlecht gesehen, dessen Bürger aber Goethe schon vor uns war“).24 Ganz auf die idealistische Karte setzt der ehemalige Chasside25 Joseph Rubin Ehrlich in seiner Einsendung Der Genius des letzten Augenblicks.26 Die den gesamten Text durchziehende Polemik gegen die „Alltagswelt“ der „Handwerker“ und ihre mechanischen „Hebel und Griffe“27 verliert Einiges von ihrem bildungsbürgerlichen Dünkel, wenn wir auch hier die Komplementärfunktion des Feuilletons in der Zeitung bedenken und die binäre Logik, der sich sein Platz unter dem Strich verdankt. Feuilleton-Erzählungen Haben wir damit auch einen Schlüssel zu den narrativen „Feuilletons“ des Wettbewerbs in der Hand? Den Siegespreis von 300 Gulden trug der Unterhaltungsschriftsteller Baron Alexander von Roberts davon, der seine Einsendung ‚Es‘28 noch im gleichen Jahr in einen (mehrfach aufgelegten und als Nachdruck aktuell lieferbaren) Erzählband aufnahm.29 Die für den Autor profitable Story handelt jedoch gerade von der Nichtigkeit des Materiellen. In einer Ehe, die das Ergebnis 22WAZ. MA 742 (22.03.1882), S. 1–3. die Anmerkung der Redaktion in: WAZ. MA 744 (24.03.1882), S. 1. 24WAZ. MA 742 (22.03.1882), S. 3. 25Vgl. Joseph R. Ehrlich: Der Weg meines Lebens. Erinnerungen eines ehemaligen Chassiden. Wien 1874. 26WAZ. MA 735 (15.03.1882), S. 1–3. 27Ebd., S. 1. 28WAZ. MA 721 (01.03.1882), S. 1–3. 29Alexander Baron von Roberts: ‚Es‘ und Anderes. Dresden 1883, S. 15–31. Ein Nachdruck erschien bei Nabu Press 2011. Es handelt sich um den ersten Band, den der langjährige Offizier unter eigenem Namen veröffentlichte. Roberts hielt die Erinnerung an seine Preisschrift wach: Dreizehn Jahre nach dem faktischen Erstling Genrebilder (1869 unter dem Pseudonym Robert Alexander) erschienen, galt sie ihm als der eigentliche Durchbruch zur Literatur, vor den späteren „Erstlingen“ in Roman und Drama („Meine Erstlinge“. In: Deutsche Dichtung. Bd. 20 (1896), S. 29–32). Auch Alfred Lehmanns aus freundschaftlicher Nähe verfasster Nachruf hebt Roberts’ Feuilleton als besondere Leistung hervor: Alfred Lehmann: „Nachruf“. In: Anton Bettelheim (Hg.): Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog. Bd. 1. (1897), S. 263–266. 23Vgl. 28 P. Sprengel einer Börsenspekulation darstellt und bisher weder Kindersegen noch eine engere Gemeinschaft bewirkt hat, zeichnen sich erste Veränderungen durch die einseitig von der Frau betriebene Adoption eines Kindes aus armen Verhältnissen ab. „Es“ bleibt dem Ehemann und Ich-Erzähler zwar fremd, auch nachdem er durch zusätzliche Zahlung eines hohen Geldbetrags an die leibliche Mutter eine individuelle ‚Aneignung‘ versucht hat. Die anschließende Eifersuchtskrise des Mannes bereitet jedoch den Durchbruch zu personalen Beziehungen, ja ehelicher Liebe vor, die sich am Schluss – der frühe Tod des Adoptivkinds macht den Weg dafür frei – sogar in leiblichem Nachwuchs bekundet. Wo ‚Es‘ war, soll Du werden – so etwa könnte man in Anlehnung an Freud die Moral von Roberts’ weithin in ironischem Tonfall vorgetragener Erzählung formulieren. Auch in Eduard Zetsches mit einem Eichendorff-Motto eingeleitetem Herbstmärchen30 geht es letztlich um das spannungsgeladene Verhältnis von Geld und Liebe. Der junge Künstler, der sich hier in zauberhafter landschaftlicher Umgebung in ein einsam aufwachsendes Mädchen verliebt, muss nämlich erst einmal seine Ausbildung fortsetzen. Der für seine romantisierenden Berg- und Burgbilder bekannte Maler-Autor greift möglicherweise auf eigenes Erleben zurück,31 versteckt die Realität aber so konsequent hinter poetisierenden Klischees, dass am Schluss sogar die Geldproblematik im Märchenrahmen aufgehoben wird.32 Wenn der Maler im Märchen selbst ein Märchen verfasst, wird der Romantik-Nachfolge Zetsches gleichsam das i-Pünktchen aufgesetzt. Im Unterschied zu derlei Versuchen einer privatistischen Ausgestaltung der vom Feuilleton vertretenen ‚romantischen‘ Alternative legt Kurd Laßwitz als Gewinner des 3. Preises mit Apoikis33 eine kollektive, ja staatsutopische Lösung vor, die in gewisser Weise schon auf sein Hauptwerk Auf zwei Planeten (1897) vorausweist. Gemäß den Traditionen der Inselutopie des 18. Jahrhunderts – etwa Schnabels Insel Felsenburg – erweist sich die „Kolonie“ (wie sich der griechische Titel wohl am besten übersetzen lässt) als konsequente Alternative zu der auf Naturausbeutung basierenden abendländisch-neuzeitlichen Kultur- und 30WAZ. MA 744 (24.03.1882), S. 1–3. des Malers bei „einem hochberühmten deutschen Maler“ in der „Fremde“ (ebd., S. 2) könnte an das Studium Zetsches als Schüler Eugen Dückers an der Düsseldorfer Akademie (1878–1880) erinnern. 32„Zwar, so besonders viel Geld hatte der Maler noch immer nicht, daraus aber machten sie sich nun nichts mehr, denn die Königstochter hatte eine ausgebreitete Verwandtschaft von feenhaft reichen alten Tanten; die kauften von nun an, da der junge Maler so berühmt geworden war, alle Bilder desselben“ (ebd., S. 3). 33WAZ. MA 732 (12.03.1882). Da diese Nummer nicht zugänglich war, wird ersatzweise zit. nach dem Abdruck im Prager Tagblatt 73 (14.03.1882), S. 1–4; Prager Tagblatt 74 (15.03.1882), S. 1–3. Mit der Jahreszahl „1882“ aufgenommen in Laßwitz’ Sammlung Seifenblasen. Moderne Märchen. Hamburg 1890, S. 60–77. Wiederabdruck u. a. In: Polaris 8 (1985), S. 160–170. Vgl. Helmut Roob: Kurd Laßwitz. Handschriftlicher Nachlass und Bibliographie seiner Werke. Gotha 1981, S. 98. 31Der Aufenthalt Vor dem Preisgericht 29 Gesellschaftsform. Die gottgleichen Bewohner der Insel im Südatlantik, auf die der entdeckungsfreudige Ich-Erzähler durch Zufall stößt, erweisen sich als Abkömmlinge von Schülern des Sokrates, die nach dessen Hinrichtung ein utopisches ‚Atlantis‘ im Ozean begründet haben. Seiner auf dem Gymnasium erworbenen Kenntnis des Altgriechischen verdankt der Erzähler die Freundlichkeit des ersten Empfangs und dadurch auch die Chance zur Begegnung mit einem Studienfreund, der ihn in deutscher Sprache jedenfalls rudimentär über die Grundlagen des Gemeinwesens aufklärt. Es erweist sich nämlich, dass die hochgeistige Kultur und völlig andersgeartete Technik der Inselbewohner (die es ihnen zum Beispiel erlaubt, über das Wasser zu gehen) durchaus in lockerem Kontakt zur europäischen Entwicklung steht: Alle zehn Jahre wird ein Inselbewohner mit Hilfe eines „submarinen Eilschiffes“34 zum Studium nach Europa geschickt. Daneben verfügen die Apoikier aber noch über altertümliche Trieren wie aus Perikles’ Zeiten. Eine davon – gleichsam die Laßwitzsche Variante des Phäakenschiffs – dient zur Beförderung des schlafenden Erzählers zur Walfischfangstation Tristan da Cunha,35 wo er der Fiktion des Textes nach am 28. Dezember 1881 (also durchaus fristgerecht im Rahmen der Ausschreibung) seine Aufzeichnungen zu Papier bringt. „Nur zwei Thränen“ Die Ich-Erzähler in den von der Wiener Allgemeinen Zeitung 1882 prämierten Erzählungen sind durchweg männlich, dabei wohlhabend (wie bei Roberts) oder künstlerisch begabt (wie bei Zetsche), oder sie verfügen über eine solide humanistische Gymnasialbildung. In diesem letzten Punkt begegnen sich nämlich die preisgekrönten Einsendungen von Laßwitz und Keyserling. Dieser erringt den zweiten Platz mit der Schulerzählung „Nur zwei Thränen“,36 die in mancher Hinsicht wie ein Vorspiel jener tragischen Schulgeschichten anmutet, mit denen die deutschsprachige Literatur der Jahrhundertwende aufwartet.37 In sicherem Vorgriff auf 34Prager Tagblatt 74 (15.03.1882), S. 3. Näheres bei Karl S. Guthke: Die Reise ans Ende der Welt. Erkundungen zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen 2011, S. 14 f. 36WAZ. MA 725 (05.03.1882), S. 1 f. In: Eduard von Keyserling: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. Nachw. von Florian Illies. München 2018, S. 5–10. Leider entfallen dort die Anführungszeichen des Titels, im Unterschied zum genaueren Nachdruck in: Ders.: Das Opfer. Unbekannte Erzählungen. Hg. von Reinhard Oestreich. Norderstedt 2018, S. 11–18. 37Zu denken ist an Thomas Manns Buddenbrooks (1901), Rilkes Die Turnstunde (1901), Emil Strauß’ Freund Hein (1902), Hermann Hesses Unterm Rad (1904) und Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906). Vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 3–9. 35Hierzu 30 P. Sprengel die Vitalitätssymbolik, die etwa noch die Lyrik eines Georg Heym bestimmt38 – gerade auch da, wo mangelnde Lebensdynamik und die Trägheit des bürgerlichen Alltags beklagt werden – entwirft Keyserlings frühe Erzählung das „melancholische“ Bild eines „ledernen“ Schul-Montags ohne den sonst für Aufmunterung sorgenden Sonnenstrahl durch die Fensterscheiben: Tripp – tripp – fielen die Tropfen aus der Dachtraufe auf das Pflaster; eine frostige, verstimmende Musik. […] Rings um mich saßen die Kameraden mit mißmuthigen Gesichtern. Die schwarzen Schulbänke mit ihren zahllosen Schnittwunden, der Lehrer mit seinem alten Rock, auf dem ich jeden Streifen des Musters kannte, mit seinem bleichen, sorgenvollen Gesichte, seinem tadellos geglätteten Haar, Alles, Alles war dazu angethan, ein Knabenherz trüb zu stimmen. Dazu noch der dumpfe Geruch nach alten Büchern und nassen Ueberröcken, der im Gemache waltete, das unbehagliche Gefühl, die Finger voller Tinte zu haben und mit dem Rockärmel den Staub vom Tische zu fegen, endlich das abgegriffene, befleckte Buch, in das man hineinschauen sollte […].39 So unlebendig und tot wie die ganze Umgebung ist die Sprache, die unterrichtet wird. Geschildert wird eine Griechischstunde; die Schüler übersetzen abwechselnd aus Xenophons Anabasis, als Einstiegslektüre für den Griechisch-Lernenden so bewährt und verbreitet wie De bello Gallico im Lateinunterricht und mit Cäsars Klassiker auch in der militärischen Thematik und den dadurch bedingten Wiederholungen vergleichbar. Keyserling, der nicht damit rechnen kann, dass alle seine Leser über gleiche Erfahrungen verfügen, legt dem Erzähler einige erläuternde Bemerkungen zum antiken Autor in den Mund und bereitet damit zugleich den Umschlagpunkt seines Textes vor, auf den wir schon durch das griechische Motto (in griechischer Schrift) vorbereitet sind – die Stelle nämlich, an der die von Xenophon geführte Truppe nach wochenlangem Marsch durch kleinasiatische Gebirge endlich das (Schwarze) Meer erblickt und in den begeisterten Ruf ausbricht, der für Angehörige einer Seefahrernation wie der griechischen natürlich auch die Hoffnung auf baldige Rückkehr in die Heimat einschließt: „Thalatta, Thalatta!“ – „Das Meer, das Meer!“. Als Umschlagpunkt der Erzählung dient dieser Ausruf schon deshalb, weil der Schüler, in den uns Keyserling hineinversetzt, hier erstmals Interesse am übersetzten Text gewinnt – aber nur um sogleich wieder in Phantasie und Erinnerung abzudriften. Dort ist nämlich ein tragisches Ferienerlebnis abgespeichert, das dem Erzähler die – von den Mitschülern missdeuteten – titelgebenden „zwei Thränen“ entlockt: der Tod der Tochter des Strandwächters, mit der zusammen der Knabe in abenteuerlichem Wellenspiel der ansteigenden Flut entgegengegangen ist. Freilich nur bis zu einem bestimmten Punkt: „Die Schulbänke machen uns vorsichtig.“ Das wilde Mädchen, dessen Kommandorufe („Fort!“ – „In’s Wasser“) dem mutwilligen Treiben der beiden den Takt vorgegeben haben, kennt solche Vorsicht 38Vgl. Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive. Stuttgart u. a. 1971. 39WAZ. MA 725 (05.03.1882), S. 1. Vor dem Preisgericht 31 aber schon deshalb nicht, weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach nur in flüchtigster Form mit Schulbänken in Berührung gekommen ist. Sie ist noch ganz eins mit der Natur, wie ja schon der Möwenschrei zeigt, den sie auf der Düne ausstößt und im Wasser wiederholt: Lotte war stets die Verwegenere und mir ein gutes Stück voraus. Sie achtete nicht mehr auf ihr schlichtes Leinwandröckchen, sie ließ sich ganz von den Wellen überdecken, sie schlug sich mit ihnen herum und stieß herbe, gellende Rufe aus, wie ein Seevogel.40 Noch ihr Tod in den Wellen folgt derselben Logik, wird als Vereinigung mit der Natur auch auf ästhetischer Ebene wahrgenommen, denn das rote Haar des Mädchens (traditionelles Signal der Leidenschaftlichkeit) verschmilzt mit dem Sonnenglanz: Das rothe Köpfchen tanzte lustig die Wellen entlang; es schien selbst ein Stück des regen Sonnengoldes zu sein, das allerort über das Wasser hinflirrte. Immer weiter zog es fort. Nur noch einen rothen Punkt konnte ich jetzt sehen. Jetzt war auch dieser verschwunden. Da war er wieder! dort auf der großen Welle! Nein, nur der Sonnenglanz! […] Ein heller, durchdringender Ton schlug an mein Ohr. ‚Lotte!‘ rief ich. Eine Möve antwortete mir aus der Höhe.41 Hier ist schon der Impressionist,42 hier ist der Ästhetizist, hier ist der Romancier (Wellen, 1911), und hier ist nicht zuletzt auch der Schopenhauerianer,43 Zivilisationskritiker44 und Gender-Theoretiker45 Keyserling zu spüren. Denn ganz offenkundig entspricht die sozial unebenbürtige Lotte jenem Frauentyp, der in den Schlossgeschichten Keyserlings in Konkurrenz zur vielzitierten „weißen Frau“ tritt.46 Die „rote Eve“ in Beate und Mareile (1903) ist eine Blutsverwandte von ihr, aber auch eine Femme fatale wie Daniela in Am Südhang (1911), über deren 40Ebd., S. 2. 41Ebd. 42Vgl. zuletzt: Sandra Markewitz: Ein letzter Impressionist. Eduard von Keyserling und die Farben. Bielefeld 2010. 43Vgl. Niels Penke: „Wille und Welle. Schopenhauer bei Herman Bang und Eduard von Keyserling“. In: Søren R. Fauth/Gísli Magnússon (Hg.): Influx. Der deutsch-skandinavische Kulturaustausch um 1900. Würzburg 2014, S. 291–303. 44Vgl. Horst Thomé: Autonomes Ich und „Inneres Ausland“. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848–1914). Tübingen 1993, S. 494– 598. 45Vgl. Ulrike Peter: Das Frauenbild im späten Erzählwerk Eduard von Keyserlings. Essen 1999; Carola Hilmes: „Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen im Prosawerk Eduard von Keyserlings“. In: Michael Schwidtal/Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Heidelberg 2007, S. 269–284. 46Zum Gegensatz Weiß-Rot vgl. Rudolf Steinhilber: Eduard von Keyserling. Sprachskepsis und Zeitkritik in seinem Werk. Darmstadt 1977, S. 130–134. 32 P. Sprengel Stirn im entscheidenden Moment „rote Bohnenblüten wie Blutstropfen“ hängen.47 Das „rothe Köpfchen“ Lottes im obigen Zitat folgt denn auch einer völlig anderen Semantik als das „erröthende Köpfchen“ der Ehefrau, von dem im letzten Absatz aus Roberts’ „‚Es‘“ die Rede ist.48 Beim ersten Preisträger errötet die Frau, weil es sich in der Salonliteratur des 19. Jahrhunderts gehört, dass eine Frau beim Geständnis ihrer Schwangerschaft auch vor dem eigenen Mann errötet. Beim zweiten Preisträger markiert das Rot der Haare (nicht der Wangen) die Freiheit eines Lebenswillens, der keine moralischen Gebote mehr anerkennt. Anschluss-Arbeiten Die Redaktion der Wiener Allgemeinen Zeitung hatte mit ihrem Preisausschreiben die Absicht verbunden, neue jüngere Kräfte für ihr Feuilleton anzuwerben. Keyserling hat von dieser Einladung nur in bescheidenem Rahmen Gebrauch gemacht: nämlich zunächst mit der Erzählung Mit vierzehn Tagen Kündigung,49 die im April 1882, nur fünf Wochen nach seinem ersten Beitrag, an derselben Stelle erschien, dann aber erst und auch schon abschließend 1885 mit zwei weiteren fiktionalen Texten. Der Kündigungs-Erzählung kommt unter der Perspektive unserer Untersuchung besonderes Interesse zu, weil sie sich jedenfalls in bestimmten Zügen als direkte Reaktion auf den Erfolg im Preisausschreiben verstehen lässt. Stärker als in jedem anderen seiner Texte nimmt der Autor hier die Attitüde des für das damalige Wiener Feuilleton charakteristischen Flaneurs und Stadt-Beobachters ein. Er charakterisiert sich selbst als Caféhaus-Besucher,50 folgt der Hauptperson auf ihrem nachmittäglichen Weg in ein Wirtshaus mit schlafendem „kleinen Bierkellner“, beobachtet dabei ihren Kampf mit dem Wind („jenem tückischen Wiener Gesellen“51) und führt sogar einen Hausmeister ein als Vertreter jener typischen Institution des Wiener Kleinbürgertums, der Friedrich Schlögls Wiener Blut ein ganzes Kapitel widmet.52 Offensichtlich haben wir es mit einer Vorstudie zu Keyserlings Großstadtroman Die dritte Stiege (1892) zu tun.53 47Keyserling: Landpartie, S. 402. wie ich mein Weib nun umschlungen hielt in der neuen, unfaßbaren Freude, da konnte ich’s nicht lassen, und zu ihrem erröthenden Köpfchen herabgeneigt, sagte ich: ‚Wir wollen Es recht lieb haben, nicht wahr? ….‘“ (WAZ. MA 721 (01.03.1882), S. 3). Ein Rezensent, der diesen Satz nach der Buchausgabe zitiert, bescheinigt dem Autor „gemüthvolle Intimität“ (Die Gegenwart 22 (1882), S. 416). 49WAZ. MA 758 (08.04.1882), S. 1 f. In: Keyserling: Landpartie, S. 11–17. 50Vgl. ebd., S. 1: „meinen skeptischen Café-Genossen“. 51Ebd., S. 2. 52Friedrich Schlögl: ‚Wiener-Blut‘. Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt an der Donau. Wien 1873, S. 348–352. 53Dafür spricht auch die Ähnlichkeit der Namen. Die alte Mieterin heißt Frau Pinne (Roman) bzw. Pinapel (Feuilleton), das benachbarte Gasthaus „Zum rothen Rössel“ (Roman) bzw. „Die rothe Birne“ (Feuilleton). Offenbar beziehen sich beide Texte auf gemeinsame Vorbilder. 48„Und Vor dem Preisgericht 33 Keyserlings Hausmeister reagiert äußerst menschlich auf das Anliegen der im Zentrum der Feuilletongeschichte stehenden, mit erheblicher Sympathie gezeichneten alten Dame. „Die Frau Pinapel will uns kündigen“, teilt er mit „schalkhaft“ zugekniffenem Auge dem im selben Mietshaus wohnenden Erzähler mit, als dieser die sonst nur am Fenster ihres Zimmers im dritten Stock sichtbare Nachbarin erstmals außerhalb der Wohnung antrifft. Wie sich herausstellt, geht es der alten Frau allerdings nicht um eine förmliche Kündigung, sondern um die Vorahnung ihres Todes, von der sie den Hausmeister unterrichten zu müssen glaubt, damit sich dieser rechtzeitig nach einem Nachmieter umsehen könne: „Kommt es dann über mich, nun so ist nicht viel Aufenthalts. Die Leni lüftet das Zimmer und die neue Partei kann gleich einziehen.“54 Mit der gleichen Unaufgeregtheit, Ordnungsliebe und Unterordnung der eigenen Persönlichkeit sucht sie anschließend – Abschied nehmend – ein letztes Mal den Wirtshaustisch auf, an dem sie vor langen Jahren regelmäßig mit ihrem „Seligen“ den Feierabend verbracht hat. Und sie irrt sich auch nicht. „Die neue Partei kann gleich einziehen“,55 lautet der letzte Satz des Textes, der durchaus feuilletontypisch mit einer allgemeinen Reflexion, als Shakespeare-Zitat gefasst, einsetzte: „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt.“56 „Schulweisheit“ – die abschätzige Bezeichnung weist auf Keyserlings Preis-Feuilleton und den seine innere Struktur bestimmenden Gegensatz zwischen trockenem Schulwissen und tragischer Lebenserfahrung zurück. Sie unterstreicht gleichzeitig den direkt darüber befindlichen Trennstrich zwischen der rationalen Berichterstattung und der Sphäre des Feuilletons, die offenbar speziell für solche Mysterien zuständig ist wie den Umschlag von höchster Lebenslust in hässlichen Tod oder das Vorauswissen des eigenen Todes, das eine ganz normale Wiener Rentnerin plötzlich mit einer sonderbaren Aura umstrahlt. Natürlich ist es auch kein Zufall, dass es hier wie dort ein weibliches Wesen ist, das ohne Angst in den Tod geht: erst das junge Mädchen am Strand, dann die alte Frau in der Stadt. Keyserling setzt die Serie fort, indem er in seiner letzten Veröffentlichung in der Wiener Allgemeinen Zeitung eine alte Frau auf dem Land sterben lässt. Der Text heißt einfach nur: Das Sterben (Sommerbild).57 Die 78-jährige Magd, die schon seit Monaten das Dahinschwinden ihrer Arbeitskraft spürt, wird bei der sommerlichen Getreideernte allein im Haus zurückgelassen. Mit ihren Gedanken und ihrer Sehnsucht ist sie jedoch draußen auf dem Feld, und dorthin schleppt sie sich auch mit letzter Kraft, um schließlich hochsymbolisch auf einer frischgebundenen Garbe zu sterben. Auch hier fügt sich das Individuum in den 54WAZ. MA 758 (08.04.1882), S. 1. S. 2. 56Ebd., S. 1; vgl. Hamlet I/5. 57WAZ. MA 1982 (06.09.1885), S. 1 f. Unter dem Titel „Das Sterben. Ein Sommerbild“. In: Mährisches Tagblatt 207 (11.09.1885), vgl. Keyserling: Landpartie, S. 18–23. Zur Korrektur der irrigen Angabe über den Erstdruck (ebd., S. 661) vgl. Keyserling: Opfer, S. 111. 55Ebd., 34 P. Sprengel vorbestimmten Zyklus der Erscheinungen, gibt sich ohne nennenswerten Widerstand dem Wechsel der Jahreszeiten hin. Entsprechend sachlich geht damit auch die soziale Umgebung um. „Der Eine hält längere, der Andere kürzere Zeit aus“, sagt der Bauer zur hinfälligen Magd58 und macht sich nach ihrem Tod mit größter Selbstverständlichkeit daran, die Totenglocke zu ziehen. Als aber aus der Hand des Leichnams eine Heuschrecke hervorspringt, die die Sterbende im Krampf umschlossen hatte, spürt auch die Bäuerin etwas vom „Geheimniß“ der Psyche.59 Dem dreimal beschworenen Geheimnis des Todes tritt in Keyserlings vorletztem Beitrag zur Wiener Allgemeinen Zeitung das Geheimnis der Liebe, genauer: der Liebesstimmung und der Bereitschaft zum Sich-Verlieben, gegenüber. Ein Blatt aus Don Juan’s Tagebuch,60 datiert „Sevilla, 8. Juni 1331“, dokumentiert eine tiefe Depression des aus der Poesie der Leidenschaft in die Prosa des Alltags zurückgeworfenen Liebeshelden. Den einzigen Grund dieses Stimmungswandels bildet eine kleine Sommersprosse, die er auf der Nasenspitze seiner Geliebten zu entdecken glaubte. Der Leser erfährt das factum brutum erst in der letzten Zeile – wie die Schlusspointe eines Witzes, und als Humoreske darf man das Nebenwerk Keyserlings sicher auch verbuchen. Im bewussten Bekenntnis zur Subjektivität der Wertung jedoch sowie im Wissen um die Bedeutung des Moments und der individuellen Perspektive ist eben dieses Tagebuchblatt – als Dokument einer Poetik des Ephemeren61 – ein geradezu programmatisches Feuilleton. Literatur Anonym: „Genesis des Feuilletons“. In: Ost-Deutsche Post 7 (09.01.1850). Eckstein, Ernst: Beiträge zur Geschichte des Feuilletons. 2 Bde. Leipzig 1876. Ehrlich, Joseph R.: Der Weg meines Lebens. Erinnerungen eines ehemaligen Chassiden. Wien 1874. Ehrlich, Joseph R.: „Der Genius des letzten Augenblicks“. In: Wiener Allgemeine Zeitung. Morgenblatt 735 (15.03.1882). Guglia, Eugen: „Goethe als Politiker“. In: Wiener Allgemeine Zeitung. Morgenblatt 744 (24.03.1882). Guthke, Karl S.: Die Reise ans Ende der Welt. Erkundungen zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen 2011. Hilmes, Carola: „Konstruktionen des Weiblichen und Männlichen im Prosawerk Eduard von Keyserlings“. In: Michael Schwidtal/Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kultur- 58Ebd., S. 1. Heuschrecke steht für den Schmetterling (griech. Psyche), in dessen Gestalt nach antiker Auffassung die Seele aus dem Körper entweicht. Vgl. ebd., S. 2: „Die kleine Grethe wollte das Thier fangen, aber die Bäuerin wehrte ihr: ‚Lass!‘ sagte sie ernst und geheimnißvoll.“ 60WAZ. MA 1899 (14.06.1885), S. 1 f. In: Keyserling: Opfer, S. 61–65. 61Vgl. die Ausführungen zu Jules Janins „Poetik des Ephemeren“ in: Hildegard Kernmayer: „Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons“. In: Zeitschrift für Germanistik 22/3 (2012), S. 509–523, hier S. 520. 59Die Vor dem Preisgericht 35 geschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Heidelberg 2007, S. 269–284. Kernmayer, Hildegard: „Sprachspiel nach besonderen Regeln. Zur Gattungspoetik des Feuilletons“. In: Zeitschrift für Germanistik 22/3 (2012). S. 509–523. Kernmayer, Hildegard: Judentum im Wiener Feuilleton (1848–1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne. Tübingen 1998. Keyserling, Eduard von: „‚Nur zwei Thränen‘“. In: Wiener Allgemeine Zeitung. Morgenblatt 725 (05.03.1882). Keyserling, Eduard von: „Mit vierzehn Tagen Kündigung“. In: Wiener Allgemeine Zeitung. Morgenblatt 758 (08.04.1882). Keyserling, Eduard von: „Ein Blatt aus Don Juan’s Tagebuch“. In: Wiener Allgemeine Zeitung. Morgenblatt 1899 (14.06.1885). Keyserling, Eduard von: „Das Sterben (Sommerbild)“. In: Wiener Allgemeine Zeitung. Morgenblatt 1982 (06.09.1885). Keyserling, Eduard von: Das Opfer. Unbekannte Erzählungen. Hg. von Reinhard Oestreich. Norderstedt 2018. Keyserling, Eduard von: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. Nachw. v. Florian Illies. München 2018. Lang, Helmut W./Lang, Ladislaus/Buchinger, Wilma: Bibliographie der österreichischen Zeitungen 1621–1945. Bd. 2.: N–Z. München 2003. Laßwitz, Kurd (Hg.): Seifenblasen. Moderne Märchen. Hamburg 1890. Laßwitz, Kurd: „Apoikis“. In: Prager Tageblatt 73 (14.03.1882) u. 74 (15.03.1882). L. N.: „Das Feuilleton“. Oesterreichisch-Kaiserlich privilegirte Wiener-Zeitung 1 (01.01.1848). Lehmann, Alfred: „Nachruf“. In: Anton Bettelheim (Hg.): Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog. Bd. 1. (1897), S. 263–266. 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Oktober 1918 unter Zeitdruck und Gehetztheit, wie Manns Tagebuch und einem Brief an Ernst Bertram zu entnehmen ist.1 Am 15.10.1918 wurde sie unter dem Titel Zum Tode Eduard Keyserlings gedruckt. Zuvor hatte sich Mann nur gelegentlich über Eduard von Keyserling geäußert, erstmals in einem Brief vom 20./21.08.1902 an Paul Ehrenberg anlässlich einer „Première im Schauspielhaus: ‚Das Frühlingsopfer‘ vom Grafen Keyserling, ein wunderhübsches Stück, in dem Centa Bré als Gast die Hauptrolle spielte und zwar 1Am 3. Oktober 1918 schrieb Thomas Mann an Ernst Bertram, dass er den von der Frankfurter Zeitung erbetenen Nachruf „von heute auf morgen herstellen muß, um der guten Freundschaft willen.“ Thomas Mann: Briefe II: 1914–1923. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 22. Hg. von Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/ Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2004, S. 255. Tags drauf verzeichnet das Tagebuch: „Unlustig, gequält, halb krank. Marterte mich mit dem Artikel und ging mittags nicht aus.“ Thomas Mann: Tagebücher 1918–1921. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1979, S. 23. Vgl. auch die Entstehungsgeschichte des Nachrufs in Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 15.2: Essays II: 1914–1926: Kommentar. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002a, S. 120–123, hier S. 120. F. Marx (*) Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland E-Mail: friedhelm.marx@uni-bamberg.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_4 37 38 F. Marx zum Heulen schön.“2 Manns Begeisterung bezog sich offensichtlich vor allem auf die Schauspielerin. Zu den Romanen, Erzählungen und Essays Keyserlings, die ab 1903 mit respektabler, zunehmender Resonanz bei S. Fischer erschienen, äußerte er sich bis 1918 nicht. Trotzdem erscheint es naheliegend, dass die Frankfurter Zeitung Thomas Mann um einen Nachruf auf den Verstorbenen bat: Die Literaturkritik hatte seit 1909 wiederholt auf Ähnlichkeiten zwischen den beiden Erzählern hingewiesen. Kurt Martens etwa sah in seiner Besprechung von Keyserlings Novelle Seine Liebeserfahrung (1906/1909) Anklänge an Thomas Mann: „Besonders reizvoll ist bei Keyserling, ebenso wie bei Thomas Mann, der norddeutsche Zug, aus irgend einer flüchtigen äußeren Geberde [sic] den psychischen Zustand hervortreten zu lassen […]“.3 Nach Keyserlings Tod rückte Thomas Mann in der literaturkritischen Wahrnehmung neben Fontane und Turgenjew zu den üblichen literarischen Vergleichsgrößen Eduard von Keyserlings auf.4 Manns Nachruf Zum Tode Eduard Keyserlings, den er 1922 in seinen Essayband Rede und Antwort aufnahm, trug zu dieser Deutungsfigur bei. Wie sehr er die Nachwirkung des Verstorbenen imprägnierte, lässt sich bereits an Ernst Heilborns Einleitung der vierbändigen Keyserling-Ausgabe ablesen, die S. Fischer 1922 herausbrachte.5 Ganz abgesehen vom Zeitdruck, dem jeder für die Tagespresse gedachte Nachruf unterliegt, fiel diese Auftragsarbeit in denkbar turbulente Zeiten. Im Oktober 1918, kurz vor der Novemberrevolution, erschien nicht nur die politische Zukunft Deutschlands, sondern auch Manns eigene literarische Existenz 2Thomas Mann: Brief an Paul Ehrenberg, 20./21.08.1902. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 21: Briefe I: 1898–1913. Hg. von Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002c, S. 210. 3So Kurt Martens in seiner Rezension: „‚Bunte Herzen‘“. In: Das literarische Echo 11 (1909), Spalte 1322. Thomas Mann war mit Martens befreundet, Martens wiederum mit Keyserling (vgl. Manns Brief an Kurt Martens vom 09.06.1904: Thomas Mann: Briefe I: 1898–1913. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 21. Hg. von Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002c, S. 283). Thomas Mann wird Martens‘ Rezension vermutlich gelesen haben. Den Hinweis verdanke ich der Studie von Erika Hildegard Kockert: Das dramatische und erzählerische Werk Eduard von Keyserlings im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Ann Arbor 1974, S. 137. 4So bereits im Nachruf Erich von Schrenks: „Eduard Graf Keyserling“. In: Baltische Blätter für Theater und Kunst 1 (1918), S. 35–41; vgl. Kockert: Das dramatische und erzählerische Werk, S. 157. 5Eduard von Keyserling: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Berlin 1922. Wie Thomas Mann nennt Ernst Heilborn in seiner Einleitung Turgenjew und Hermann Bang als literarische Vergleichsgrößen und zitiert Manns Formel „Die Kunst war ihm Zweifel, Güte, Selbstzucht, Melodie und Traum“ (Ernst Heilborn: „Eduard Graf Keyserling, sein Wesen und sein Werk“. In: Eduard von Keyserling: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Berlin 1922. Bd. 1, S. 1–31, hier S. 11). Bis heute beziehen sich die meisten Keyserling-Studien auf Thomas Manns Nachruf, vgl. zuletzt Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk: „‚Adligkeit‘ in fiktionalen Welten kodiert. Eduard von Keyserlings ‚Harmonie‘ und ‚Abendliche Häuser‘“. In: Silke Marburg/Sophia Kuenheim (Hg.): Projektionsflächen von Adel. In: Historische Zeitschrift. Beihefte N. F. 69 (2016), S. 67–86; mitunter durchaus kritisch: vgl. weiter unten Anm. 39. Erzählte Heimsuchungen 39 chronisch ungesichert. Sein Tagebuch hält zahlreiche ungelöste Fragen fest: Wie ließ sich angesichts der politischen Umwälzungen überhaupt noch anknüpfen an das Vorkriegsprojekt des Zauberberg-Romans? Sollten die noch ungedruckten Betrachtungen eines Unpolitischen angesichts der politischen Verhältnisse nicht besser posthum veröffentlicht werden? Schien die gerade konzipierte Idylle Herr und Hund nicht dazu angetan, in eine literarische Sackgasse zu führen? Angesichts dieser Selbstzweifel avancierte der Nachruf auf den zwanzig Jahre älteren Keyserling zum Medium einer poetologischen Selbstvergewisserung in Krisenzeiten. Das lässt sich bereits daran ablesen, dass der Nachruf zentrale Deutungsfiguren aus den Betrachtungen eines Unpolitischen aufruft: Mann attestiert seinem verstorbenen Kollegen einen geistigen Aristokratismus, wie er ihn kurz zuvor in den Betrachtungen eines Unpolitischen u. a. dem Europa der Nachkriegszeit als wünschenswerte Haltung zugeschrieben hatte.6 Nicht nur in Keyserlings Werk sieht er „die Verklärung und melancholische Ironisierung, die Kunstwerdung seines feudalen Heimatmilieus“, sein Künstlertum selbst sei „Sublimierung, Übertragung, Vergeistigung adeliger Lebensstimmung, adeliger Leichtigkeit und Verpflichtung, adeliger Diskretion, Haltung, Reinheit, Anmut und Strenge“.7 Ungeachtet seines eigenen, dezidiert bürgerlichen Herkunftsmilieus nahm Mann einen derartigen „Adel des Geistes“ durchaus auch für sich in Anspruch. Und die Idee der „Kunstwerdung“ des Heimatmilieus gehörte spätestens seit der Publikation der Buddenbrooks zu seinen Selbstdeutungsfiguren.8 Der aristokratische Habitus des Verstorbenen wird allerdings durch eine dezidiert bürgerliche Deutungsfigur ausbalanciert. Eduard von Keyserling erscheint als „ein Meister und eine Persönlichkeit, – große Worte das zu jeder Zeit und namentlich heute, wo Schule und Gesinnungsorganisation das Feld behaupten.“9 6„Einem Aristokratismus freilich möge es [das nachkriegerische Europa] huldigen: seinem eigenen. Es möge auf sich halten lernen in Dingen der Kultur und des Geschmacks, wie es das vordem nicht verstand, möge dem geilen Ästhetizismus und Exotismus, dem selbstverräterischen Hang zur Barbarei entsagen, dem es zügellos frönte, Verrücktheiten in seiner Kleidermode, närrische Infantilismen in seiner Kunst verpönen und gegen Anthropophagenplastik und südamerikanische Hafenkneipentänze eine Gebärde vornehmer Ablehnung sich zu eigen machen. […] denken wir es uns einfach und anmutig von Sitten und einer Kunst hingegeben, die reiner Ausdruck seines Zustandes wäre: zart, schmucklos, gütig, geistig, von höchster humaner Noblesse, formvoll, maßvoll und kraftvoll durch die Intensität ihrer Menschlichkeit… Träume, geträumt an einem Spätsommermorgen 1917, während die englisch-französische Offensive in Flandern tobt.“ Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 13.1. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2009, S. 531 f. 7Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 15.1: Essays II: 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002a, S. 224–227, hier S. 224 [Hervorh. vom Verf.]. 8So auch Rüdiger Görner: „Adel des Erzählens. Thomas Manns Interesse an Eduard von Keyserling“. In: Ders.: Thomas Manns erzählte Welt. Studien zu einem Verfahren. Stuttgart 2018, S. 107–116, hier S. 107. 9Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 225. 40 F. Marx In den Betrachtungen eines Unpolitischen steht künstlerisches Meistertum für genuin handwerkliche Professionalität.10 Damit setzt Manns Keyserling-Porträt auf Gegensätze, wie sie – den Betrachtungen zufolge – jede Erscheinungsform der Persönlichkeit kennzeichnen: „Persönlichkeit, das einzig Interessante auf Erden, ist immer ein Produkt der Mischung und des Konfliktes: Zeiten, Gegensätze, Widersprüche prallen aufeinander, werden Geist, Leben, Gestalt. Persönlichkeit ist Sein, nicht Meinen […].“11 Ein solches „Sein“, die Mischung von aristokratischer Haltung und bürgerlichem Meistertum, fern zivilisationsliterarischer Gesinnungsorganisation und Tendenz, macht, so Manns Nachruf, die Persönlichkeit des Verstorbenen aus. Obwohl dieses emphatische Persönlichkeitskonzept Vergleiche im Grunde ausschließt – „Ist man überhaupt etwas, so ist man, finde ich, außer Vergleich“, heißt es im Nachruf12 –, führt Thomas Mann einige Namen an, um das literarische Profil des Verstorbenen zu schärfen. Den Anfang bildet die seit langem reklamierte Nähe zu Theodor Fontane. Thomas Mann sieht „dieselbe Distanzierung und Durchheiterung einer feudalen Wirklichkeit […] – der märkischen dort, der baltischen hier. Eine sehr ähnliche geistige Stimmung […], Skepsis und Resignation. Dieselbe Grazie des Plauderns, diese gehobene Lässigkeit, diese Kunst einer unbeschreiblich wohltuend stilisierten Mundgerechtheit der Wechselrede.“13 Der Vergleich mit Fontane dient allerdings zugleich dazu, die spezifischen Unterschiede herauszustellen. Manns Nachruf macht deutlich, dass Keyserlings Erzählungen ganz dem 20. Jahrhundert angehören, insofern sie – im Unterschied zu Fontane – die Schnelligkeit, Nervosität und Kälte der modernen Lebensformen reflektieren: Es fehlt bei Keyserling die Breite, das Behagen, der lange Atem, die gesunde Furchtlosigkeit vor dem Langweiligen, die der Erzählungskunst von 1860 noch eignete. Sein Werk ist schmaler, graziler, später, wählerischer, es hat nervöseren Puls; der Blick auf das Leben ist kälter geworden, die Ironie geistiger, das Wort präziser, der Gesamthabitus ungemütlicher, künstlerischer und weltläufiger – man spürt die Europäisierung der deutschen Prosa seit 1900.14 Dementsprechend erweitert Mann das Spektrum literarischer Vergleichsgrößen durch Iwan Turgenjew und Hermann Bang, zwei Vertreter der europäischen Literatur der Moderne, die von Seiten der Literaturkritik gleichfalls seit längerem zur Charakterisierung des Erzählers Eduard von Keyserling herangezogen wurden.15 10Vgl. Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 114–126. S. 534. 12Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 224. 13Ebd., S. 225. 14Ebd., S. 225 f. 15Für den Vergleich mit Turgenjew führt Kockert als ersten Beleg eine Rezension von Keyserlings Schwüle Tage von 1906 an, Hermann Bang erscheint seit 1905 als literarische Vergleichsgröße. Bang rezensiert 1912 selbst Keyserlings Roman Wellen (1911) und betont dabei dessen Nähe zu Turgenjew. Vgl. Kockert: Das dramatische und erzählerische Werk, S. 102, 111, 159, 157 und 235. 11Ebd., Erzählte Heimsuchungen 41 Im Kontext des Nachrufs dienen die beiden Namen dazu, dem Werk Keyserlings jenseits von Fontane eine europäisch-moderne Signatur zu attestieren. Schließlich sieht Mann im Werk Keyserlings eine „tiefe Sympathie mit dem Leide, mit dem, was hoffnungslos vornehm, dem Glücke fremd, dem Tode verpflichtet ist“.16 Dieser Befund ist offensichtlich von Manns eigenen literarischen Vorlieben und Vorhaben geprägt: Todessehnsucht und Sympathie mit dem Leid bilden den erzählerischen Kern des Zauberberg-Projekts. Indem Manns Nachruf die aristokratische Souveränität und den Persönlichkeitsrang des Verstorbenen betont, Keyserlings handwerkliche Meisterschaft sowie dessen Widerstand gegen Moden, Schulen und Gesinnungen hervorhebt, sein Werk schließlich zur nervösen, kalten, europäischen Moderne seit 1900 rechnet, liest er sich wie ein verdecktes Selbstporträt. Innerhalb der unübersichtlichen und ungesicherten Positionskämpfe im literarischen Feld seiner Gegenwart rechnet er Keyserling der eigenen Seite zu: Die spezifische Verbindung von handwerklich souveräner Erzählkunst und europäischer Modernität erscheint ihm allen zeitgenössischen Avantgarden und Gesinnungsschulen überlegen.17 Wie Thomas Mann in Italien und München das Norddeutschland seiner Kindheit imaginiert, erschreibt sich Keyserling aus großer räumlicher Distanz die Welt der eigenen Ursprungsregion Kurland: „Kunstwerdung seines [feudalen] Heimatmilieus“18 lautet die Formel des Nachrufs. Mann und Keyserling vermitteln den späten Glanz einer überkommenen Lebensform, verbunden mit Symptomen des Verfalls, der Erosion, der Dekadenz,19 im norddeutschen Großbürgertum einerseits, im baltischen Adel andererseits. Keyserlings Solidarität mit der ablebenden Welt seiner Abendlichen Häuser zeigt sich u. a. darin, dass sich die Erzählinstanz die Sprache der adligen Protagonisten zu eigen macht. Bei Thomas Mann dagegen steht die Entlarvung des Verfalls (mitunter mit Hilfe grotesker Verzerrung) im 16Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 227. nennt Caroline Pross den Nachruf identifikatorisch: Vgl. Caroline Pross: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen 2013, S. 369, Anm. 220. 18Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 224. Thomas Mann hat dabei offenbar vor allem die Schlossgeschichten Keyserlings im Sinn, auch wenn die nicht durchweg in Kurland situiert sind. Ernst Heilborn folgt Mann in seiner Einleitung zu den Gesammelten Erzählungen in dieser Einschätzung: Aus Keyserlings Werk lasse sich erschließen, so Heilborn, „was der Aufenthalt in Italien für den kurländischen Adligen bedeutete: das seelische Erlebnis der – Heimat. Hier in so anders gearteter landschaftlicher Umgebung erstand vor seiner Seele traumhaft stark die heimatliche Flur; ein Fremder hier unter Fremden, gewann er das Zugehörigkeitsgefühl zu der Kaste, der er entstammte. An den Dichter des kurländischen Landes und seiner adligen Häuser ist in Italien der Ruf ergangen.“ (Heilborn: „Eduard Graf Keyserling, sein Wesen und sein Werk“, S. 10). 19Caroline Pross hat Keyserlings Zugehörigkeit zur Dekadenzliteratur exemplarisch an Abendliche Häuser herausgestellt und darauf hingewiesen, dass diese Zuordnung schon von den Zeitgenossen vorgenommen wurde. Vgl. Pross: Dekadenz, hier S. 312 f. Vgl. auch: Hannelore Gutmann: Die erzählte Welt Eduard von Keyserlings. Untersuchung zum ironischen Erzählverfahren. Frankfurt/M. 1995, S. 42–52. 17Dementsprechend 42 F. Marx Vordergrund. Die erzählerische Gestaltung des Heimatmilieus ist für ihn mit den Buddenbrooks und ihrem novellistischen Umfeld zwar weitgehend erledigt, nicht aber die Erzählfigur der Heimsuchung, die er in Keyserlings Schlossgeschichte Bunte Herzen von 1909 ausmacht: Auf Schloß Kadullen hat es Irrungen gegeben, einen Einbruch des Lebens und der Leidenschaft, einen unmöglichen Ausflug der Haustochter ins „Glück“, in die „Freiheit“. Todesstille. „La pauvre petite, elle est perdue.“20 Auf welche Weise ungedeckte Leidenschaften ein scheinbar geordnetes Leben zum Einsturz bringen können, gehört zu Manns Erzählprogramm seit der Publikation der Novelle Der kleine Herr Friedemann von 1897. In Keyserlings Schlossgeschichte kommt hinzu, dass der „Einbruch des Lebens“ innerhalb der erzählten Welt beobachtet und bewertet wird: Auf Schloß Kadullen leben als höhere Dienstboten ein Herr Post und ein Fräulein Demme. Herr Post sagt zu Fräulein Demme: „Man sieht doch, diese sogenannte vornehme Kultur hält nicht stand, es ist doch manches innerlich faul.“ Worauf Fräulein Demme „ihre kurzen Locken schüttelnd“ antwortet: „Es fehlt eben an innerer Freiheit.“ – Nichts kann fontanischer sein als diese Art, über Gesetz und Sehnsucht ein ordinäres Ressentiment sprechen zu lassen, damit auf seine Kosten, durch die Lächerlichkeit, die es sich dabei zuzieht, ihr Konflikt an Würde und Lebensmelancholie gewinne.21 Was Thomas Mann beobachtet, kennzeichnet auch seine eigenen Heimsuchungsgeschichten. Sie gehen nicht darin auf, den Einbruch der Leidenschaften mit all ihren (in der Regel tödlichen) Folgen zu beschreiben. Sie bieten darüber hinaus Figuren der Beobachtung, die die Heimsuchung reflektieren, kommentieren – und sich oftmals durch die Form ihrer Distanznahme selbst diskreditieren. In Keyserlings Bunte Herzen ist es das Ressentiment des Hauslehrers Post, flankiert von der altklugen Diagnose des Fräulein Demme, dass es den Herrschaften an innerer Freiheit fehle. Die beiden tun den Liebesdrang, die Flucht und die Enttäuschung der jungen Komtesse Billy mit zwei Sätzen ab – im Gegensatz zur Erzählinstanz, die deren innere und äußere Abenteuer ausführlich und mit Sympathie verfolgt. Indem die beiden den Sturz der Protagonistin für lächerlich halten, machen sie sich selbst lächerlich. Im Oktober 1918, vier Wochen vor Beginn der Novemberrevolution, erhält Manns Kommentar zu dieser Episode allerdings einen politischen Nebensinn: „Würde und Lebensmelancholie“ der Herrschaft stehen nun tatsächlich auf dem Spiel. Thomas Mann lenkt den Blick nicht von ungefähr auf die Klassengegen- 20Thomas 21Ebd. Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 225 [Hervorh. vom Verf.]. Erzählte Heimsuchungen 43 sätze, die in Keyserlings Erzählung Bunte Herzen aufeinandertreffen.22 Ihm zufolge wirkt die Sympathielenkung eindeutig zuungunsten der altklugen Dienerschaft, die der Herrschaft innerliche Fäulnis attestiert. In seiner Novelle Unordnung und frühes Leid von 1925 nimmt Thomas Mann diese Klassen-Konfrontation selbst auf, wenn er im großbürgerlichen Milieu der frühen 1920er Jahre dem melancholischen Geschichtsprofessor Abel Cornelius die latent aufrührerischen, durch die Inflation deklassierten Haushälterinnen Walburga und Cäcilia Hinterhöfer sowie den revolutionär gesinnten Diener Xaver Kleinsgütl gegenüberstellt. 2. Bereits Keyserlings erste Schlossgeschichte Beate und Mareile, erschienen im Mai 1903, erzählt von einem „Einbruch des Lebens und der Leidenschaft“, einer sinnlichen Heimsuchung, die der Protagonist allerdings übersteht. Günther von Tarniff, den „nervösen, allzu gierigen Lebenstrinkern“23 zugehörig, beschließt, sich nach militärischer Karriere, diplomatischem Dienst und ausschweifendem Leben auf sein Landgut Kaltin zurückzuziehen und ein ruhiges Familienleben an der Seite seiner Ehefrau Beate zu führen. Dieser Lebensplan geht nicht auf, das zeigt sich bald. Von Tarniff beginnt zunächst eine Affäre mit der Tochter eines Wildhüters, dann tritt Mareile Ziepe auf. Als Pächterstochter wurde sie zusammen mit Beate erzogen, als erfolgreiche Sängerin kehrt sie nach Kaltin zurück, nachdem ihre Ehe mit einem Bohème-Maler gescheitert ist. Gesellschaftlich ambitioniert, erfolgreich und sinnlich selbstbewusst, ist sie, wie der Titel schon andeutet, in jeder Hinsicht eine Kontrastfigur zu Günthers zurückhaltender Ehefrau. Die unvermeidliche Annährung vollzieht sich, als Mareile im Musiksaal des Landguts singt: Lange hielt es Günther jedoch nicht aus, stille dazuliegen, er mußte dem neuen Ereignisse näher sein. Er eilte in den Musiksaal, streckte sich in einem Sessel aus, schloß die Augen, hörte zu. Das war gut. Er reckte seine Glieder ordentlich vor physischem Behagen. Aber was sang sie denn? War das nicht Isoldens Liebestod? Es klang jedoch fremd. Das Dämmerige, die süße Tiefe dieser Klage, in der Lieben und Sterben geheimnisvoll und einträchtiglich beieinander wohnen, das fehlte. Diese Musik war eine scharfe, klare, fast böse Leidenschaft. „Seltsam“, dachte Günther, „wie ein nordischer See unter einer südlichen 22Etwa im frühen Roman Die dritte Stiege von 1892. Darauf haben u. a. Rainer Gruenter und Fritz Martini hingewiesen: vgl. Gruenters Einleitung in: Eduard von Keyserling: Werke. Hg. von Rainer Gruenter, Frankfurt/M. 1973, S. V–XX, hier S. 19 f. und Fritz Martini in seinem Nachwort zum Reprint der Dritten Stiege: Fritz Martini: „Nachwort“. In: Eduard von Keyserling: Die dritte Stiege. Mit einem Nachwort von Fritz Martini. Heidelberg 1985, S. 295–336, hier S. 298– 301. Vgl. auch Antonie Alm-Lequeux: Eduard von Keyserling: Sein Werk und der Krieg. Paderborn 1996, S. 7 f. 23Eduard von Keyserling: Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte. Mit einem Nachwort von Uwe Timm. Zürich 2013, S. 16. 44 F. Marx Sonne. Ja, gerade so! Was hat die Frau nur, um das so zu singen?“ Er schaute sie an. Die Linien ihres Körpers bebten sachte in der Anstrengung des Gesanges. Aus dem skabiosenblauen Sommerkleide leuchtete der Nacken hervor, wie Widerschein von Gold lag es auf ihm. Ein leichter Flaum bedeckte die Arme mit winzigen Lichtstricheln. In den runden Linien dieser Arme lag so viel Irdisch-Junges, lag etwas, das zum Volk gehörte, an Arbeit denken ließ. Mareile sang: „Wie sie schwellen, Mich umrauschen, Soll ich atmen? Soll ich lauschen? Soll ich schlürfen, Süß in Düften Mich verhauchen? In des Wonnemeeres Wogenden Schwall?“24 Mit ihrem Gesang, dem nur der herbeieilende Günther zuhört, zielt Mareile ganz offensichtlich auf jene erotisierende Wirkung ab, für die Richard Wagner, insbesondere sein Musikdrama Tristan und Isolde, um 1900 einsteht. Dass Mareile sich in der liebestrunkenen Isolde spiegelt, räumt sie sogleich ein: „Schlafen Sie?“ fragte Mareile. Sie hatte sich auf dem Stuhle umgewandt und lächelte Günther an. „Sie sehen aus wie jemand, der angestrengt träumt.“ „Tu ich auch“, sagte Günther. „Bei Musik träumen wir so lebhaft wie im Fieber. Aber sagen Sie, wie singen Sie das?“ „Schlecht, ich weiß“, meinte Mareile. „Noch kann ich nicht so recht. Es kommt immer Eigenes hinein. Nun, Isolde leiht mir wohl mal ihre Musik für meine eigenen Angelegenheiten.“25 Die Anbahnung der Affäre zwischen Günther und Mareile erfolgt im Medium der erotisch aufgeladenen Musik Richard Wagners. Unverkennbar partizipiert diese Episode am dekadenten Wagnerismus des fin de siècle26: Wagners Tristan und Isolde steht für Rausch, erotische Entgrenzung, Ich-Verlust und Aufkündigung 24Ebd., S. 100 f. Beate und Mareile, S. 103. Heide Eilert betont zu Recht den Unterschied zur zeittypischen Wagner-Auffassung: „Nicht ‚mystische Verzückung‘, nicht Todessehnsucht entsprechen ihren Empfindungen, sondern der unverhüllte Ausdruck sinnlicher Leidenschaft und Lebensgier.“ Heide Eilert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991, hier S. 226. Vgl. auch Jin Ho Hong: Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept und die Schlossgeschichten Eduard von Keyserlings. Würzburg 2006, S. 153–195. 25Keyserling: 26Vgl. hierzu Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de Siècle. Berlin/New York 1973, und Heide Eilert: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung, S. 214–221. Erzählte Heimsuchungen 45 aller Konventionen. Günther lässt sich affizieren, weil er, von Schwermut und Nervosität befallen, rauschhaft starker Verzückungen bedarf.27 Auch wenn Isoldes Liebestod, die letzte Szene des Musikdramas, ein tödliches Ende solcher erotischer Verzückungen vermuten lässt, ruft sie bei Günther zunächst träumerische Erinnerungen an ein längst vergessenes sinnliches Erlebnis in Griechenland auf: Günther entsann sich, wie er einmal in dieser wilden Umarmung seine Sinne schwinden fühlte. Eine Ohnmacht überwältigte ihn. Als er zu sich kam, sah er Photinis schmale, blanke Augen über sich, ängstlich und neugierig, dann lachte sie ein wenig spöttisch, und mit der schrillen Musik ihrer Stimme rief sie: „Ptochos“, „Armer“, das klang mitleidig und fast verächtlich.28 Sieht man vom Spott der jungen Frau ab, erinnert die Figurenkonstellation tatsächlich an das tödliche Finale des Tristan. Im Musiksaal wechselt Mareile unterdessen zu dem Liebesduett zwischen Siegmund und Sieglinde aus dem 1. Akt von Wagners Walküre, das innerhalb der musikdramatischen Handlung kein tödliches Nachspiel, sondern ein Vorspiel der Liebesvereinigung bildet: Mareile sang: „Du bist der, Nach dem ich verlangte In frostigen Winters Frist. Dich grüßet mein Herz Mit heiligem Grauen.“29 Bei diesen Klängen träumt sich Günther erneut in den Süden, sieht nun allerdings nicht mehr die junge Griechin Photini, sondern Mareile vor sich: Günther nahm seinen Traum wieder auf. Die griechische Sonne, die roten Felsen gegen den unsagbar blauen Himmel… aber jetzt stand Mareile in alldem. Sie schaute mit den tokaierbraunen Augen den Strand entlang und wartete auf ihn. Auf ihn! Teufel! Das wäre etwas! 27So diagnostiziert Günther sich selbst im Gespräch mit Mareile: „Mareile schlug sinnend einige Töne an. ‚Sind Sie krank?‘ fragte sie dann. ‚Sie sehen so – still aus?‘ ‚Ja, Azedi.‘ ‚Ist das eine Krankheit?‘ ‚Ja, eine Klosterkrankheit. Die Nönnchen kriegen das von zu viel Heiligkeit. Ach, das ist heilbar… Es ist so 'ne Art Katzenjammer.‘ ‚Was tut man dagegen?‘ ‚Starke Verzückungen werden angewandt. Ein neuer Rausch, wie immer bei Katzenjammer. Aber singen Sie noch, das ist auch so 'n neuer Rausch.‘“ Keyserling: Beate und Mareile, S. 104. 28Ebd., S. 102 f. S. 104. Im Libretto der Walküre heißt es „Du bist der Lenz“. Richard Wagner: Die Musikdramen. München 1983, S. 599. 29Ebd., 46 F. Marx „Hell wie der Tag Taut es mir auf Wie tönender Schall –“ sang Mareile. Wie sie im Singen bebte, wie die Töne in ihr schwollen! Plötzlich ging Günther hinaus. Er fürchtete, wunderlich auszusehen, mit dieser neuen, großen Aufregung im Herzen.30 Am Nachmittag reiten sie zusammen aus, die nächste Stufe der körperlichen Annäherung vollzieht sich schnell, atemlos, erregend: „Er wollte etwas Besonderes sagen: ‚Das nenn‘ ich beieinander sein, was – –? Alles andere bleibt zurück, kann nicht mit. Nur wir beide.‘ Er sprach schnell und undeutlich vor Erregung.“31 Als mehrdeutiges musikalisches Vorspiel der Liebesbeziehung markiert die Wagner-Szene den entscheidenden Wendepunkt der Handlung. Günther von Tarniff wird sein Landgut verlassen, der Sängerin Mareile nachreisen, ihretwegen in ein Duell verstrickt, das er allerdings mit knapper Not überlebt, um zuletzt zu seiner Ehefrau zurückzukehren. Es gibt keine brieflichen Indizien, dass Thomas Mann diese Schlossgeschichte unmittelbar nach ihrem Erscheinen gelesen hat. Seine gleichfalls 1903 erschienene Novelle Tristan thematisiert nicht weniger eindringlich die erotisierende Wirkung von Wagners Tristan und Isolde. Hier steht eine Frau, Gabriele Klöterjahn, zwischen zwei Männern, dem Kaufmann Anton Klöterjahn und dem Schriftsteller Detlev Spinell – dementsprechend hätte Keyserling der Novelle den Titel Anton und Detlev geben können. Vor dem Hintergrund dieser Analogien zeichnen sich die Unterschiede allerdings umso deutlicher ab. Da ist zunächst das Setting: Manns Novelle spielt in einem Sanatorium, das Lungenkranke und Neurastheniker beherbergt: verglichen mit dem Landgut in Beate und Mareile ein Schauplatz radikalisierter Dekadenz. Detlev Spinell bringt Wagners Tristan und Isolde ins Spiel, als Gabriele und er das Konversationszimmer des Sanatoriums für sich haben. Wie bei Keyserling dient die Musik als Medium einer Liebeserklärung, als Katalysator erotischer Erregung. Die Szene, in der Gabriele am Klavier zunächst Chopin, dann Wagner spielt, ist allerdings dermaßen erotisch aufgeladen, dass sie als vollwertiges Surrogat der körperlichen Vereinigung figuriert. Hier erreicht die Annäherung der beiden bereits ihren Höhepunkt. Dementsprechend ist die Tristan-Musik für Gabriele so erschöpfend, dass sie wenig später an einem Tuberkulose-Schub stirbt. Im Unterschied zu Keyserling nimmt die Novelle Friedrich Nietzsches spätes Diktum, 30Ebd., 31Ebd., S. 104 f. S. 106. Erzählte Heimsuchungen 47 dass Wagner krank mache,32 buchstäblich ernst. Zugleich gibt sie einer substantiellen Wagnerfaszination Ausdruck: Die Verzückung Detlev Spinells beim bloßen Anblick der Tristan-Partitur greift nach und nach auf die Erzählinstanz über. Wie Gabriele Klöterjahn mit dem Klavierauszug von Richard Wagners Tristan und Isolde umgeht, trägt bereits alle Anzeichen eines Gottesdienstes: Nicht ohne Erfolg versuchte die Spielende, auf dem armseligen Instrumente die Wirkungen des Orchesters anzudeuten. Die Violinläufe der großen Steigerung erklangen mit leuchtender Präzision. Sie spielte mit preziöser Andacht, verharrte gläubig bei jedem Gebilde und hob demütig das Einzelne hervor, wie der Priester das Allerheiligste über sein Haupt erhebt.33 Nicht nur Detlev Spinell, sondern auch die Erzählinstanz geht für einen Moment gewissermaßen auf die Knie. Die folgende literarische Vergegenwärtigung der Tristan-Musik erweckt den Anschein, als sei sie gleichfalls mit preziöser Andacht und Demut formuliert. Wie Gabriele Klöterjahn die Wirkungen des Orchesters nachzuahmen sucht, folgt die Erzählinstanz dem Duktus des Wagnerschen Librettos. O überschwänglicher und unersättlicher Jubel der Vereinigung im ewigen Jenseits der Dinge! Des quälenden Irrtums entledigt, den Fesseln des Raumes und der Zeit entronnen verschmolzen das Du und das Ich, das Dein und Mein sich zu erhabener Wonne. Trennen konnte sie des Tages tückisches Blendwerk, doch seine prahlende Lüge vermochte die Nachtsichtigen nicht mehr zu täuschen, seit die Kraft des Zaubertrankes ihnen den Blick geweiht. Wer liebend des Todes Nacht und ihr süßes Geheimnis erschaute, dem blieb im Wahn des Lichtes ein einzig Sehnen, die Sehnsucht hin zur heiligen Nacht, der ewigen, wahren, der einsmachenden… 32So in Nietzsches später Schrift Nietzsche contra Wagner: „Meine Einwände gegen die Musik Wagner’s sind physiologische Einwände: wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie. – Meine ‚Tatsache‘, mein ‚petit fait vrai‘ ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen sie böse wird und revoltirt […]. Protestirt aber nicht auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? betrübt sich nicht mein Eingeweide? Werde ich nicht unversehens heiser dabei … Um Wagner zu hören, brauche ich Pastilles Gérandel … Und so frage ich mich: was will eigentlich mein ganzer Leib von der Musik überhaupt? […] Meine Schwermuth will in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit ausruhn: dazu brauche ich Musik. Aber Wagner macht krank.“ Friedrich Nietzsche: „Nietzsche contra Wagner“. In: Ders.: Kritische Studienausgabe (KSA). Bd. 6: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 21988, S. 418 f. 33Thomas Mann: „Tristan“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 2.1: Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004, S. 319–371, hier S. 350 f. 48 F. Marx O sink hernieder, Nacht der Liebe, gieb ihnen jenes Vergessen, das sie ersehnen, umschließe sie ganz mit deiner Wonne und löse sie los von der Welt des Truges und der Trennung. Siehe, die letzte Leuchte verlosch! Denken und Dünken versank in heiliger Dämmerung, die sich welterlösend über des Wahnes Qualen breitet. Dann, wenn das Blendwerk erbleicht, wenn in Entzücken sich mein Auge bricht: Das, wovon die Lüge des Tages mich ausschloß, was sie zu unstillbarer Qual meiner Sehnsucht täuschend entgegenstellte, – selbst dann, o Wunder der Erfüllung! selbst dann bin ich die Welt. –34 Der weihevolle Umgang mit dem Allerheiligsten wird allerdings mehrfach unterbrochen, zunächst von Gabrieles Begleiterin, Rätin Spatz, deren Magennerven von der Musik derart strapaziert werden, dass sie einen Krampfanfall befürchtet und den Raum verlässt. Auf dem Höhepunkt des „Mysterienspieles“35 schließlich erscheint die Pastorin Höhlenrauch, „die neunzehn Kinder zur Welt gebracht und absolut keines Gedankens mehr fähig ist“36: „Ohne aufzublicken, durchmaß sie mit tappenden, wandernden Schritten den Hintergrund des Gemaches und entschwand durch die entgegengesetzte Tür, – stumm und stier, irrwandelnd und unbewußt.“37 Der Auftritt der Pastorin markiert einen bizarren Kontrast zu jener höchsten, unbewussten Lust, der Detlev Spinell und Gabriele Klöterjahn unter dem Eindruck von Tristan und Isolde entgegenfiebern.38 Die Wagner-Szene im Konversationszimmer des Sanatoriums verschränkt Andacht und Groteske, Huldigung und Kritik, Erleuchtung und Stumpfsinn. In ihrer Verbindung von Enthusiasmus und Kritik kommt sie der ambivalenten Wagner-Wahrnehmung Friedrich Nietzsches am nächsten. Insgesamt folgt die Novelle, das deutet schon der Titel an, dem zynischen Vorschlag Nietzsches, Wagner „in’s Reale, in’s Moderne – seien wir noch grausamer! in’s Bürgerliche“ zu übersetzen.39 3. Was Thomas Mann 1918 in seinem Nachruf auf Keyserling herausstellt – den geistigen Aristokratismus, das handwerkliche Meistertum, die künstlerische Gestaltung des Heimatmilieus, das von Sympathie getragene Interesse an den Erscheinungsformen der Dekadenz, die Nähe zur Erzähltradition des 19. Jahrhunderts und 34Ebd., S. 352. S. 353. 36Ebd., S. 354. 37Ebd. 38Vgl. hierzu Friedhelm Marx.: „Künstler, Propheten, Heilige. Thomas Mann und die Kunstreligion der Jahrhundertwende“. In: Thomas Mann Jahrbuch 11 (1998), S. 51–60 und: ‚Ich aber sage Ihnen…‘. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt/M. 2002, S. 66–70. 39Friedrich Nietzsche: „Der Fall Wagner“. In: Ders.: Kritische Studienausgabe (KSA). Bd. 6: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 21988, S. 34. 35Ebd., Erzählte Heimsuchungen 49 zur europäischen Literatur der Moderne, nicht zuletzt die Erzählfigur der Heimsuchung – entspricht in weiten Teilen einer poetologischen Selbstvergewisserung in Zeiten des Umbruchs:40 Hier zeichnet sich eine Wahlverwandtschaft ab. Ausgespart bleibt allerdings eine signifikante poetologische Differenz, die Thomas Mann seinem rauschhaften Erlebnis der Musik Richard Wagners einerseits, dem Erlebnis der rücksichtslosen Wagner-Kritik Friedrich Nietzsches andererseits zuschreibt. Die Koppelung dieser beiden Erlebnisse führt, das zeigt der Vergleich zwischen den frühen Heimsuchungserzählungen Beate und Mareile und Tristan, zu einem erzählerisch ungleich radikaleren Umgang mit den Erscheinungsformen der Dekadenz. Literatur Alm-Lequeux, Antonie: Eduard von Keyserling: Sein Werk und der Krieg. Paderborn 1996. Borzyszkowska-Szewczyk, Miłosława: „‚Adligkeit‘ in fiktionalen Welten kodiert. Eduard von Keyserlings ‚Harmonie‘ und ‚Abendliche Häuser‘“. In: Silke Marburg/Sophia Kuenheim (Hg.): Projektionsflächen von Adel. In: Historische Zeitschrift. Beihefte N. F. 69 (2016), S. 67–86. Eilert, Heide: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991. Fortmann, Patrick: „Impressionismus und Identität bei Eduard von Keyserling“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 16 (2008), S. 157–195. Görner, Rüdiger: „Adel des Erzählens. Thomas Manns Interesse an Eduard von Keyserling“. In: Ders.: Thomas Manns erzählte Welt. Studien zu einem Verfahren. Stuttgart 2018, S. 107–116. Gutmann, Hannelore: Die erzählte Welt Eduard von Keyserlings. Untersuchung zum ironischen Erzählverfahren. Frankfurt/M. 1995. Gruenter, Rainer: „Einleitung“. In: Eduard von Keyserling: Werke. Hg. von Rainer Gruenter, Frankfurt/M. 1973, S. V–XX. Heilborn, Ernst: „Eduard Graf Keyserling, sein Wesen und sein Werk“. In: Eduard von Keyserling: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Berlin 1922. Bd. 1, S. 1–31. Hong, Jin Ho: Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept und die Schlossgeschichten Eduard von Keyserlings. Würzburg 2006. Keyserling, Eduard von: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Berlin 1922. Keyserling, Eduard von: Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte. Mit einem Nachwort von Uwe Timm. Zürich 2013. Keyserling, Eduard von: Die dritte Stiege. Mit einem Nachwort von Fritz Martini. Heidelberg 1985. Kockert, Erika Hildegard: Das dramatische und erzählerische Werk Eduard von Keyserlings im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Ann Arbor 1974. 40So erklärt sich Manns problematische Behauptung, dass Keyserling niemals im engeren Sinne des Wortes „geschriftstellert“ habe, dass Urteil, Meinung und Stellungnahme in seinen Werken nicht zu finden seien; vgl. Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 227. Thomas Mann deswegen mangelhaft oder schlecht informiert zu nennen (so etwa Fritz Martini und Patrick Fortmann), erscheint unangemessen. Vgl. Fritz Martini: „Nachwort“, S. 295 und Patrick Fortmann: „Impressionismus und Identität bei Eduard von Keyserling“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 16 (2008), S. 157–195, hier S. 157 f. 50 F. Marx Koppen, Erwin: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de Siècle. Berlin/New York 1973. Mann, Thomas: „Tristan“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 2.1: Frühe Erzählungen 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed. Frankfurt/M. 2004. S. 319–371. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 13.1. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2009. Mann, Thomas: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 15.1: Essays II: 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002a, S. 223–227. Mann, Thomas: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 15.2: Essays II: 1914–1926: Kommentar. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002b. S. 120–123. Mann, Thomas: Briefe I: 1898–1913. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 21. Hg. von Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002c. Mann, Thomas: Briefe II: 1914–1923. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 22. Hg. von Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2004. Mann, Thomas: Tagebücher 1918–1921. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1979. Martens, Kurt: „‚Bunte Herzen‘“. In: Das literarische Echo 11 (1909), Spalte 1322. Martini, Fritz: „Nachwort“. In: Eduard von Keyserling: Die dritte Stiege. Mit einem Nachwort von Fritz Martini. Heidelberg 1985, S. 295–336. Marx, Friedhelm: „Künstler, Propheten, Heilige. Thomas Mann und die Kunstreligion der Jahrhundertwende“. In: Thomas Mann Jahrbuch 11 (1998), S. 51–60. Marx, Friedhelm: ‚Ich aber sage Ihnen…‘. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt/M. 2002. Nietzsche, Friedrich: „Nietzsche contra Wagner“. In: Ders.: Kritische Studienausgabe (KSA). Bd. 6: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 21988, S. 413–445. Nietzsche, Friedrich: „Der Fall Wagner“. In: Ders.: Kritische Studienausgabe (KSA). Bd. 6: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 21988, S. 8–53. Pross, Caroline: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen 2013. Schrenk, Erich von: „Eduard Graf Keyserling“. In: Baltische Blätter für Theater und Kunst 1 (1918), S. 35–41. Wagner, Richard: Die Musikdramen, München 1983. Über persönliche und sachliche Kultur Eduard von Keyserling und Georg Simmel Gerald Hartung Gegenstand meiner Abhandlung ist die Nähe der kulturdiagnostischen Arbeiten Eduard von Keyserlings zu denen des Philosophen Georg Simmel. Ich vertrete die These, dass Keyserling ein kenntnisreicher Leser einer Reihe populärphilosophischer Texte Simmels ist, die dieser in der Zeit um 1900 in Zeitschriften an prominenter Stelle publiziert hat. Hier zeigt sich eine eigentümliche Koinzidenz ihrer kulturdiagnostischen Positionen, die Keyserling aber gleichwohl als einen originären Denker ausweist, der einzelne Motive der Kulturkritik in sein literarisches Werk aufgenommen hat. Mit dem Label „Lebensphilosophie“ wird dieser Zusammenhang nur unzureichend getroffen. Keyserling und Simmel gehören einer Generation an. Der eine wird 1855 in Kurland in den baltischen Landadel geboren und stirbt in München am 28. September 1918 als Privatier und Schriftsteller. Der andere wird 1858 in Berlin in eine Fabrikantenfamilie geboren (sein Onkel hat die Firma Sarotti mitbegründet) und stirbt am 26. September 1918 als Universitätsprofessor für Philosophie in Straßburg. Sie sind sich offensichtlich nie begegnet und es gibt meines Wissens nur wenige explizite Lesespuren der Schriften des einen im Werk des anderen.1 1Keyserling zitiert Simmel. In seinem Essay Über die Liebe (1907) heißt es: „Georg Simmel sagt in seinem schönen Aufsatz über ‚Psychologie der Diskretion‘ [es folgt ein längeres Zitat].“ Vgl. Eduard von Keyserling: Feiertagsgeschichten, Hg. von Klaus Gräber. Göttingen 2008, S. 131–150, hier S. 148. Der Vortragstext Simmels ist in der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 8/¾ (1906), S. 274–277 erschienen. Wiederabgedruckt in: Georg Simmel: Gesamtausgabe. Bd. 8: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1993c, S. 82–86. G. Hartung (*) Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: hartung@uni-wuppertal.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_5 51 52 G. Hartung Simmel hat lediglich in seinen letzten Lebensjahren mit dem berühmten Neffen des Literaten, gemeint ist Hermann von Keyserling (1880–1946), Kontakt gehabt. Trotz des Fehlens einer Brücke im Leben zwischen den Protagonisten meiner Abhandlung hat es Versuche eines Brückenschlags gegeben. Als mögliche Verbindung von Keyserling zur Philosophie wurde die Lebensphilosophie herangezogen. In der Dissertationsschrift von Angela Sendlinger mit dem Titel Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels (1994)2 werden Parallelen zwischen dem Schriftsteller mit philosophischen Ambitionen und dem Philosophen mit impressionistischem Schreibstil gezogen. Tatsächlich ist bei Keyserling in seinen Romanen und Erzählungen viel vom „Leben“ die Rede. So wird das „hübsche glatte Leben“ des Adels dem Leben der Bauern als eine „einfache Sache“ in der Erzählung Harmonie gegenübergestellt, oder es ist von Ehrenhandel und Duellen als „Lebensgehalt“ die Rede (Beate und Mareile) oder auch vom „Leben als Bestie“ im Gespräch zwischen dem Grafen Egloff und dem Juden Laib im Roman Abendliche Häuser. Doch hat mich die Lektüre einigermaßen ratlos gemacht, da diese Befunde kaum für eine ernstzunehmende Auseinandersetzung Keyserlings mit der Lebensphilosophie zeugen, sondern eher für verstreute Lektüren der Schriften von Schopenhauer, Nietzsche und Eucken. Zumal es die Lebensphilosophie um 1900 nicht gibt, wird unter dem Namen doch durchaus Verschiedenes wie künstlerische Avantgarde, Wissenschafts- und Technikkritik, eine anti-moderne Lebensanschauung, die sich gegen das Großstadtleben, Arbeitsteilung und berufliche Professionalisierung wendet, zusammengefasst.3 Die Lektüren verschiedener Arbeiten über Keyserling und disparater Editionen seines Werkes waren aber nicht vergeblich, denn auf diesem Weg habe ich einen Text gefunden, der mir einen Schlüssel an die Hand gibt. Der Text trägt den Titel Zur Psychologie des Komforts (1905). Es handelt sich um einen für Keyserling erstaunlichen Titel und darüber hinaus einen erstaunlichen Text. Ich werde in drei Schritten vorgehen, die meine Abkehr von einer Analyse des Verhältnisses von Keyserling zu der Lebensphilosophie rechtfertigen sollen – und hoffentlich auch rechtfertigen werden. Zuerst werde ich diesen erstaunlichen Text vorstellen und zu klären versuchen, was Keyserling unter „Psychologie“ versteht. Im zweiten Schritt werde ich die Brücke zu Georg Simmel schlagen, der Abhandlungen unter dem Titel Zur Psychologie des Geldes (1889), Zur Psychologie der Frauen (1890) und 2Angela Sendlinger: Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels. Frankfurt/M. 1994. 3Vgl. Gerald Hartung: „Cassirer, Scheler und die Lebensphilosophie“. In: Robert J. Kozljanic (Hg.): I. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2005. Zur Vielfalt und Aktualität der Lebensphilosophie. München 2005, S. 109–132. Neuerdings auch Olivier Agard et al. (Hg.): Die Lebensphilosophie zwischen Frankreich und Deutschland/La philosophie de la vie entre la France et l’Allemagne. Studien zur Geschichte und Aktualität der Lebensphilosophie/Études sur l'histoire et l'actualité de la philosophie de la vie. Baden-Baden 2019. Über persönliche und sachliche Kultur 53 Zur Psychologie der Mode (1895) publiziert hat. Letztere Abhandlung ist in der Zeitschrift Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst erschienen und es scheint naheliegend, dass Keyserling diesen Text gekannt und an ihm sein Verständnis von Psychologie geschult hat. Dafür werde ich Argumente liefern, aber keine Textzeugen aufbieten können. Und drittens werde ich eine konzentrierte Analyse von Simmels Abhandlung Persönliche und sachliche Kultur (1900) vornehmen, in der grundlegende Thesen aus der Philosophie des Geldes, ebenfalls im Jahr 1900 erschienen, vorgestellt werden. Auch diesen Text könnte Keyserling zur Kenntnis genommen haben. Ich werde Argumente dafür liefern, dass das Problem der Kultivierung und die Spannung von persönlicher und sachlicher Kultur ein Grundmotiv einzelner Erzählungen Keyserlings ist. Eduard von Keyserlings Abhandlung Zur Psychologie des Komforts (1905)4 Zu Beginn seiner Untersuchung nimmt Keyserling einen Topos aus der Diskussion über den Charakter der Psychologie als Wissenschaft auf. Friedrich Albert Lange hatte bereits in den 1860er Jahren in seiner großen Studie zur Geschichte des Materialismus eine „Psychologie ohne Seele“ gefordert und damit den Anspruch der Psychologie vertreten, nicht mehr eine Subdisziplin der Philosophie, sondern eine Naturwissenschaft sein zu wollen. In einer Naturwissenschaft, die auf experimentellen Verfahren und Beweisverfahren aufbaut, hat der Glaube an immaterielle Substanzen keinen Ort mehr.5 Keyserling vermerkt dazu: „Die Psychologie hat unsere Seele und unser Ich wegerklärt.“6 Zwar lässt sich seiner Ansicht nach der Verstand überzeugen, dass es keine Seele geben kann, aber unser unmittelbares Gefühl folgt diesem Verstandesurteil nicht. Keyserling lässt sich nun nicht auf eine wissenschaftstheoretische Diskussion ein, sondern entwirft eine Psychologie des Ichgefühls. Unser Ich fühlt sich als Einwohner seines Körpers, der ein Sensorium für das „eigentlich Wirkliche“ – also nicht die objektivierte Wirklichkeit der Wissenschaften – ist. Das Ich ist ein Verhältnis von Körper und Geist; das Ich spürt, ob es bequem oder unbehaglich in diesem Verhältnis wohnt. So wohnt das Ich in einem gesunden Körper und Geist wie ein großer Herr und in einem kranken Körper und Geist wie ein armer Mann. Das Hauptgeschäft des Ichs ist es, wie Keyserling mit implizitem Verweis auf Schopenhauer anführt, eine Bilanz zwischen Lust und Unlust zu ziehen. Der Kerngedanke seiner Psychologie des Komforts lautet: „Ein harmonisches, 4Eduard von Keyserling: „Zur Psychologie des Komforts“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973c, S. 551–568. 5Vgl. Gerald Hartung: „Bewusstsein“. In: Annika Hand/Christian Bermes/Ulrich Dierse (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts (Archiv für Begriffsgeschichte). Hamburg 2015, S. 39–61; vor allem die dort zitierte Literatur. 6Keyserling: „Zur Psychologie des Komforts“, S. 553. 54 G. Hartung tadelloses Zusammenarbeiten von Körper und Geist für das Ich, das ist der Komfort des Ich.“7 Komfort ist ein eigentümlicher Begriff. Er umfasst vermutlich alles, was Keyserling in seinen Romanen und Erzählungen mit den Stichworten „Gemütlichkeit“, „Bequemlichkeit“ oder „das hübsche, glatte Leben“ anspricht. Komfort, das ist einerseits das harmonische Zusammenarbeiten von Körper und Geist, aber andererseits auch das Eingebettetsein dieses Körper-Geist-Verhältnisses in eine Umgebung, die für es angemessen ist. Weil die Welt durchgängig unsicher und gefahrenvoll ist, gilt es, „uns eine Außenwelt zu schaffen, die für uns da ist, wie unser Körper, eine Art Erweiterung unseres Körpers.“8 Gemäß der Formel, dass der Mensch (wie auch das Tier) danach strebt, Lust zu maximieren und Unlust zu minimieren, geht es um eine Gestaltung unserer nächsten Umgebung, die zu uns in dienender Freundschaft stehen muss, wenn wir unser Leben genießen wollen. Beide Verhältnisse, das Binnenverhältnis von Körper und Geist, wie auch das Außenverhältnis von Seele und Umgebung, können durchaus unterschiedlich gewichtet werden. Keyserling sieht die Möglichkeit, die Mängel des Binnenverhältnisses durch die Optionen des Außenverhältnisses zu kompensieren. „Geist und Körper sind nicht immer botmäßig genug, aber unser Haus, unser Zimmer, unser Bett können wir dazu erziehen, immer hilfsbereit und rücksichtsvoll zu sein.“9 Diese interessante sozial- und kulturpsychologische Prämisse rollt Keyserling in einem großen kulturhistorischen Panorama aus. Eine Natur, eine Umgebung schaffen, deren Gesetz das Bedürfnis des Menschen ist, aus der er mühelos die Erfüllung seines Willens schöpfen kann, das war die Aufgabe einer Kulturarbeit von Jahrhunderten. Es galt eine Umgebung zu schaffen, die gleichsam unser gestaltgewordener Egoismus ist.10 Seine nun folgende kleine Kulturgeschichte der Gestaltung seiner unmittelbaren Umgebung durch den Menschen, vornehmlich des Hauses, führt Keyserling von der Antike über die Epochen hinweg bis in seine Gegenwart. Ich überspringe die Details, auch wenn die Beobachtungen nicht ohne Witz und Charme sind. Wer diesen Text noch nicht kennt, der sollte die amüsanten, keineswegs politisch korrekten Anmerkungen Keyserlings zum häuslichen Leben der Südländer (immer in Bewegung), der Franzosen (Verführung zur Ruhe, bspw. an einer „Hypertrophie des Bettes“11 erkennbar), der Deutschen (alles muss Ordnung, Vertrautheit und Frieden atmen) und der Engländer (die Weltherrschaft des afternoon tea und des englischen Klubsessels) nachlesen. 7Keyserling: „Zur Psychologie des Komforts“, S. 554. „Zur Psychologie des Komforts“, S. 554. 9Keyserling: „Zur Psychologie des Komforts“, S. 555. 10Keyserling: „Zur Psychologie des Komforts“, S. 555. 11Keyserling: „Zur Psychologie des Komforts“, S. 559. 8Keyserling: Über persönliche und sachliche Kultur 55 Eine Pointe der Kulturgeschichte liegt in der Gegenüberstellung von deutschem Individualismus und britischem Internationalismus. Hier haben wir es mit einer traditionellen Welt zu tun, einer „Beschränktheit der Häuslichkeit mit den alten, gewohnten Sachen, dem Duft von Goldlack, in den sich ein leichter Kaffeeduft mischt“, hier ist „das Unkomplizierte, Handgreifliche und Liebevolle der Behaglichkeit […] Bedürfnis.“ Der deutsche Komfort ist wesentlich von der „Seele“ geprägt, wie Keyserling anmerkt, und daher so differenziert wie eine individuell-subjektive Kultur es nun einmal ist. „Der Deutsche ist Individualist und so ist auch seine Umgebung, die er sich individuell schafft. Jeder Deutsche schafft sich seinen Komfort ganz von neuem, nach seinem Bilde.“12 Dort, in England, ist das ganze Volk an der Ausbildung des Komforts beteiligt; „der Komfort ist etwas wie Nationaleigentum.“13 Das englische Leben hat seinen Rhythmus und seinen Stil, der englische Geist schafft sich seinen Komfort und der englische Komfort erzieht sich den englischen Menschen. In allen Lebenspraktiken, von der berühmten tea time über die Moden bis zur Literatur zeigt sich nach Keyserlings Auffassung eine „Summe von nationaler Arbeit, eine Erbschaft von Geist.“14 Deutschtum und Britishness als Gegensatz dargestellt und auf das Begriffspaar „Seele versus Geist“ zurückgeführt, das ist ein durchaus origineller Gedanke. Besonders ist, dass Keyserlings Überlegungen weder von Deutschtümelei noch von anti-britischem Ressentiment geprägt sind. Vielmehr sieht er hier ganz nüchtern zwei psychologische Möglichkeiten, das Außenverhältnis zu gestalten, wobei einmal dem seelischen Erleben, ein andermal dem geistigen Moment das Übergewicht gegeben wird. Im englischen Modell sieht Keyserling gar ein Vorbild für einen modernen „Allerweltskomfort“,15 der es den Vertretern eines großstädtischen Nomadenlebens ermöglicht, Behaglichkeit ohne Mühen und persönlichen Einsatz mit der stummen „Präzision eines Mechanismus“16 – der elektrische Lichtknopf dient hierfür als Symbol – zu genießen. Ein Hotelzimmer ohne Stimmung, ein Kellner, der keine Persönlichkeit haben muss – Keyserling weiß um die Vorzüge dieser „Amerikanisierung des Komforts“. Aber es gibt eine Kehrseite: Die unpersönliche Behaglichkeit, die Bequemlichkeit auf Knopfdruck, das stimmungslose Genießen richten sich an die Masse und nicht das Individuum. Umgekehrt gesagt: Wer Individuum sein oder werden will, also einen eigenen Lebensstil ausprägen will, der benötigt ein eigenes Haus. Nur im eigenen Haus, ob Stadthaus oder Landhaus, das mag dahingestellt sein, können wir ein veritables Ichgefühl ausbilden. Unser Haus mit seinem Getriebe ist der Niederschlag unserer persönlichen Kultur. Verfeinerte Kultur macht uns reizbarer, empfänglicher für Eindrücke, schafft neue Bedürfnisse –, sie macht uns komplizierter und diese Kompliziertheit wird schmerzhaft, wenn eine innere Harmonie sie nicht bindet und beruhigt.17 12Ebd., S. 561. S. 562. 14Ebd., S. 563. 15Ebd. 16Ebd., S. 564. 17Ebd., S. 567. 13Ebd., 56 G. Hartung Die Pointe lautet: In einer modernen Kultur werden die Seelenkräfte nicht mehr durch den alltäglichen Kampf ums Dasein gebündelt und gelenkt. Das ermöglicht eine Verfeinerung der Sinne und Komplexion der Verhältnisse, aber führt auch zur Dringlichkeit, das äußere Verhältnis so zu gestalten, dass die innere Unruhe und Nervosität reguliert werden kann. Im Blick auf den Protagonisten der Erzählung Harmonie, der im Haushalt seiner nervenkranken Frau Annemarie um seine Stimmungslage ringt, heißt es dementsprechend: „Alles hat hier Nerven, alle Menschen, alle Möbel, alle Blumen. Er selbst bekam auch Nerven.“18 Die Pointe hat aber auch einen Zusatz: Die Kompliziertheit der Binnen- und Außenverhältnisse stellt uns eine Aufgabe, chaotische Zustände in Harmonie zu verwandeln. Das ist der Preis einer Seelenkultur, die ihre individuellen Dissonanzen aufrechterhält und pflegt. Es ist, wie einige der Erzählungen Keyserlings zeigen, ein gesamtgesellschaftliches Problem, vor das aber nicht alle Stände gleichermaßen gestellt sind. Während die Außenseiten der Gesellschaft klare Konturen erhalten, d. h. der Bauernstand weiterhin sein einfaches, direktes Leben führen kann und die Aristokratie eine gewisse Übung darin hat, Nerven zu haben und diese zu zeigen, kommt dem dritten Stand eine Schlüsselrolle zu: An sozialen Akteuren dieser beunruhigten gesellschaftlichen Mittellage kann aufgezeigt werden, was es heißt, wenn jemand seine Nerven bewahrt oder verliert. Ich werde auf diese These abschließend anhand einer Lektüre der Erzählung Wellen zurückkommen. Psychologie bei Keyserling und Simmel Wir haben bisher einen Eindruck davon gewonnen, was Keyserling unter Psychologie versteht. Es handelt sich weder um Psychologie im Aristotelischen Sinne als rationale Psychologie, noch Psychologie im Sinne Wilhelm Wundts als experimentelle Psychologie, noch Psychologie im Sinne der aufkeimenden Psychoanalyse – das sind alles Optionen, die um 1900 noch oder schon vertretbar sind. Keyserling meint dagegen Psychologie im Sinne einer Analyse des Seelenlebens (die individuell-subjektive Seite) und des Kulturlebens (der objektiv-geistigen Seite). Hierin liegt eine erkennbare Nähe zum Ansatz Georg Simmels, den dieser bspw. in seiner Abhandlung Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie (1895)19 entwickelt hat. Simmel führt hier den gleichen Sachverhalt, den Keyserling in seiner Psychologie des Komforts als Kontrast von Seele und Geist, Deutschtum und Britishness behandelt, auf zwei letzte Wesensrichtungen alles Menschlichen zurück. Er meint 18Eduard von Keyserling: „Harmonie“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973b, S. 217–254, hier S. 233. 19Georg Simmel: „Zur Psychologie der Mode. Sociologische Studie“. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894–1900. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1992c, S. 105–114. Über persönliche und sachliche Kultur 57 die miteinander konkurrierenden Bedürfnisse, zum einen das jeweils Einzelne prägnant herauszustellen, und zum anderen, dieses Einzelne unter dem Aspekt seiner Verallgemeinerbarkeit zu erfassen. Alle Lebensformen innerhalb der Geschichte unserer menschlichen Gattung zeigen, so betont Simmel, die Wirksamkeit dieser antagonistischen Prinzipien. Der Suche nach einem Kompromiss für die Hingabe an das soziale Ganze einerseits steht die Durchsetzung der Individualität andererseits entgegen.20 Die Mode ist ein wunderbares Beispiel, um den Widerstreit zwischen dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung (Mode basiert auf Nachahmung) und dem Unterscheidungsbedürfnis (Mode basiert auf Differenzierung) zu veranschaulichen. In soziologischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht kommt es Simmel darauf an zu zeigen, dass wir Menschen immer einen Kompromiss zwischen beiden Tendenzen suchen. Zugleich drückt die Entwicklung von Moden auch ein soziales Gefälle in Gesellschaften aus. Die oberen Stände probieren Neuerungen in der Mode aus, die unteren Stände ahmen das nach. Immer aber wirken sich das Bedürfnis und die Möglichkeit, sich abzusondern, oder das Bedürfnis und der Wunsch, sich zusammenzuschließen im sozialen Handeln aus. Wo eines der Momente fehlt, bspw. bei Naturvölkern am Anfang der kulturellen Entwicklung oder in einer radikal individualisierten Kultur, da endet die Zeit der Moden. Dazwischen aber gilt Mode für Simmel als Tummelplatz für Individuen, die innerlich und inhaltlich unselbständig, anlehnungsbedürftig sind, deren Selbstgefühl aber auf Differenzierung aus ist.21 In psychologischer Hinsicht ist hierbei nun interessant, dass jedes Individuum gegen die Veränderlichkeit der Mode die Beständigkeit seines Ichgefühls einspielen und so eine bewußte und gewollte Reserve [seines] persönlichen Empfindens und Geschmacks zum Ausdruck bringen kann. Dabei bleibt der Widerstreit der Bedürfnisse nicht nur äußerlich, d. h. soziologisch für die Gruppenbildung, interessant, sondern er ragt auch in die „Einzelseele“ hinein.22 Im seelischen Binnenverhältnis geht es um die Fragen der Ausdehnung und Begrenzung des Ichgefühls, der Freiheit und Selbstbegrenzung wie auch die Regulierung von Veränderungen. Nur wenn ein Individuum den Veränderungen einen „Gesamtrhythmus“ aufprägen kann, kann es einen eigenen Lebensstil entwickeln. In unruhigen Zeiten nehmen die Variabilität der Formen und das Tempo der Veränderung zu. Insbesondere der Mittelstand ist hiervon nach Simmels Auffassung betroffen. Die Mode als Wechsel- und Gegensatzform des Lebens verläuft mit der Herrschaft des Bürgertums in rascheren und farbigeren Rhythmen und erlangt breitere Geltung. „Unruhige, nach Abwechslung drängende Classen und 20Ebd., S. 105. S. 108. 22Ebd., S. 111. 21Ebd., 58 G. Hartung Individuen finden in der Mode das Tempo ihrer eigenen psychischen Bewegungen wieder: sie hat eine sehr spitze Bewußtseinskurve.“23 Da haben wir mit der Rede von der spitzen Bewusstseinskurve eine Entsprechung zu Keyserlings Überlegungen zu den unruhigen, nervösen Zeiten, die an den Rändern der aristokratischen Kultur Alteuropas anbrechen. Es geht dabei nicht darum, dass in dieser Welt nichts Neues auftreten kann, sondern es geht vielmehr darum, ob man weiterhin bereit ist, dem Neuen eine verbindliche Form und einen verlässlichen Rhythmus der Wirksamkeit zu geben. Bei Simmel lautet dieser Gedanke so: Irgend etwas sonst in gleicher Weise Neues und plötzlich Verbreitetes in der Theorie oder in der Praxis ist doch nie für denjenigen eine ‚Mode‘, der an den Weiterbestand und die Wahrheit davon glaubt; sondern nur der wird es so bezeichnen, der von seinem ebenso schnellen Verschwinden, wie sein Kommen war, überzeugt ist.24 Wir sehen hier, was „Psychologie“ im Sinne Keyserlings und Simmels meint: sie liefert eine Analyse des Seelenlebens (die individuell-subjektive Seite) und des Kulturlebens (die objektiv-geistige Seite). Im Ergebnis geht es um die Frage, wie einzelne Akteure und soziale Gruppen mit Veränderungen umgehen. Diese Fähigkeit hängt mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit persönlicher Kultur zusammen. Über persönliche und sachliche Kultur Keyserling hat in seiner Psychologie des Komforts das Haus als Ausdruck unserer „persönlichen Kultur“ bezeichnet. Diesem Begriff steht in systematischer Hinsicht die sachlich-objektive Kultur gegenüber. Simmel ist in einer Vielzahl von Abhandlungen, beginnend mit derjenigen Zur Psychologie des Geldes (1889)25 zum herausragenden Analytiker des Begriffs „persönliche Kultur“ und seiner erkenntnistheoretischen, psychologischen und soziologischen Aspekte avanciert. Insbesondere der Vortrag Das Geld in der modernen Cultur (1896),26 den Simmel 1896 vor der Gesellschaft österreichischer Volkswirte in Wien gehalten hat, stellt thesenförmig den Übergang von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft, in der soziale Beziehungen über Geld reguliert werden, vor. In Stichpunkten genannt gehören hierzu die sozialen und kulturellen Phänomene a) der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Person, b) der Auflösung der 23Ebd., S. 113. S. 113. 25Georg Simmel: „Zur Psychologie des Geldes“. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 2: Aufsätze 1887 bis 1890. Über sociale Differenzierung (1890). Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892). Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1989, S. 49–65. 26Georg Simmel: „Das Geld in der modernen Cultur“. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894–1900. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1992a, S. 178–196. 24Ebd., Über persönliche und sachliche Kultur 59 sozialen Zusammengehörigkeit und der dinglichen Beziehungen, c) des Entstehens einer Isolierschicht zwischen dem objektiven Ganzen der Assoziation und dem subjektiven Ganzen der Persönlichkeit, d) der Ermöglichung einer „Vereinigung unter absoluter Reserve alles Persönlichen und Specifischen“, e) des Entstehens neuer Proportionen zwischen Freiheit und Bindung, f) der Beförderung von sozialer Nivellierung und Individualismus (Beispiel der Mode) und g) der Entlastung der Persönlichkeit durch Einsatz von Mitteln der Objektivierung (Sprache, Recht, Geld etc.).27 In diesen Tendenzen zur Versachlichung der Kultur (und ihren unabweisbaren Vorteilen) sieht Simmel die Gefahr, dass die Freiheit von sozialen und dinglichen Bindungen eine „Inhaltslosigkeit des Lebens und Lockerung seiner Substanz“ befördert.28 In traditionellen Kulturformen hingegen hatte die Sehnsucht des Menschen, in anderen Personen und auch den Dingen etwas Substantielles ansprechen zu können, ein Fundament in der Sache selbst. Für einen Bauern steckte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in seinem Land etwas anderes als ein bloßer Vermögenswert; „es war für ihn die Möglichkeit nützlichen Wirkens, ein Centrum der Interessen, ein richtunggebender Lebensinhalt, den er verlor, sobald er statt des Bodens nur seinen Werth in Geld besaß.“29 Zwar bekam der Bauer eine momentane Freiheit durch den Verkauf seines Bodens, dieser Vorgang nahm ihm aber „das Unbezahlbare, das der Freiheit erst ihren Werth gibt: das feste Object persönlicher Bethätigung.“30 Keyserling hat diesem Gegensatz mehrfach Ausdruck gegeben, bspw. im Roman Abendliche Häuser, wo er dem alten Baron gegenüber dem Grafen Egloff folgende Worte in den Mund legt: Der Baron schaute auf, sah Egloff unzufrieden an und sagte dozierend: „Die Wälder sind in unseren Familien recht eigentlich das, was die Genrerationen verbindet, wir genießen, was unsere Vorfahren gehegt und gepflanzt, und wir hegen und pflanzen für die kommenden Generationen.“31 Und im Zusammenhang der Abgrenzung des Besitzes als Bedingung für Geschäfte fügt er hinzu: „Grenzen sind heilige Sachen, ein Besitzer muß seine Grenzen kennen.“32 Grenzen sind heilige Sachen, der Besitz ist das Band der Generationen. Fehlt nun dieses feste Objekt persönlicher Betätigung, dann können sich Bedürfnisse, 27Ebd., S. 179–182. S. 185. 29Ebd., S. 186. 30Ebd. 31Eduard von Keyserling: „Abendliche Häuser“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973a. S. 353–477, hier S. 377. 32Ebd., S. 378. 28Ebd., 60 G. Hartung Sehnsüchte und Wünsche ins Unbestimmte richten, wie dies beim Grafen Egloff der Fall ist. Simmel sieht hier die Gefahr, „daß der Kern und Sinn des Lebens uns immer von neuem aus der Hand gleitet, daß die definitiven Befriedigungen immer seltener werden, daß das ganze Mühen und Treiben doch eigentlich nicht lohne.“33 In seiner Philosophie des Geldes (1900) ist Simmel diesem modernen Lebensgefühl, das in die alte Welt einbricht und die sozialen Beziehungen verändert, auf den Grund gegangen.34 Es ist im Rahmen einer Abhandlung nicht möglich, die vielen Aspekte dieser großartigen Studie zu einer Theorie der modernen Kultur aufzulisten, nur einer soll nicht unerwähnt bleiben. Gemeint ist die – am Beispiel des Geldes nur prägnant aufzeigbare – allgemeine Tendenz der Überwucherung der Zwecke durch die Mittel oder das Vergessen der Endzwecke.35 Durch die moderne Zeit, insbesondere, wie es scheint, durch die neueste, geht ein Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen – als sollte die Hauptsache erst noch kommen, das Definitive, der eigentliche Sinn und Centralpunkt des Lebens und der Dinge. Das ist sicher der Gefühlserfolg jenes Ueberhandnehmens der Mittel, des Zwanges unserer komplizirten Lebenstechnik, Mittel auf Mittel zu bauen, bis die eigentlichen Zwecke, denen sie dienen sollen, weiter und weiter an den Horizont des Bewußtseins rücken und schließlich unter ihn versinken.36 Das heißt im Ergebnis: Die Kultur befindet sich im Übergang von einem Zustand der Stabilität in einen der Labilität, wobei die Schwierigkeit, unter diesen Bedingungen noch eine persönliche Kultur ausprägen zu können, durch das erhöhte Tempo der Veränderung verschärft wird.37 In seiner Abhandlung Persönliche und sachliche Kultur, die zuerst in der Neuen Deutschen Rundschau (Freie Bühne, H. 7/1900) veröffentlicht wurde, hat Simmel dieser Analyse noch einen Aspekt hinzugefügt.38 Ähnlich wie Keyserling dies später tun wird, erklärt Simmel die materiellen Kulturgüter – die Möbel, Kulturpflanzen, Kunstwerke, Maschinen, Geräte und Bücher – zu unserem eigenen, entfalteten Wollen und Fühlen. In der Gegenwart schreitet die Kultur der Dinge jedoch nicht in gleichem Maße und gleichem Tempo wie die Kultur der Individuen voran, d. h. die Individuen bleiben in ihrem Grad an Kultiviertheit hinter dem der Dinge oftmals zurück. Da nun aber ein Wechselverhältnis zwischen „Ichgefühl“ 33Simmel: „Das Geld in der modernen Cultur“, S. 186. hierzu Otthein Rammstedt u. a. (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Frankfurt/M. 22016. 35Simmel: „Das Geld in der modernen Cultur“, S. 189. 36Ebd., S. 189–190. 37Vgl. Gerald Hartung: „Mensch und Zeit – Zur Einführung“. In: Ders.: Mensch und Zeit – Interdisziplinäre Studien zur Anthropologie. Wiesbaden 2014, S. 7–22. 38Georg Simmel: „Persönliche und sachliche Kultur“. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894–1900. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1992b, S. 560–582. 34Vgl. Über persönliche und sachliche Kultur 61 und Einheit des Objekts besteht, hängt die „Formung unserer Persönlichkeit“39 davon ab, inwiefern wir in der Lage sind, uns in der Beziehung zu den Objekten zu halten und diese unserem Rhythmus zu unterwerfen. Während in traditionellen, durch bäuerliche oder handwerkliche Tätigkeiten geprägten, Gesellschaften die Personen mit den Gegenständen ihrer Umgebung verwachsen waren, emanzipieren sich die Kulturobjekte zunehmend und bewegen sich, gleichgültig ob es sich um materielle oder geistige Objekte handelt, ohne personalen Träger.40 Simmel erkennt bereits um 1900 einen Trend, der in unserer Gegenwart ganz andere Dimensionen ausmacht: Die Dinge fordern uns zur Anpassung auf! Damit einher geht seiner Ansicht nach eine „Biegsamkeit der Seele“, also eine Anpassungsfähigkeit auf Kosten von Individualität. So variabel wie die Dinge in einer beschleunigten Produktions- und Konsumtionsgesellschaft sind, so variabel werden auch wir: Die Außenverhältnisse bestimmen die Binnenstruktur unseres Ichs. Den materiellen und geistigen Kulturgütern, den institutionellen Formen und den technischen Apparaten, den versammelten Mitteln unseres alltäglichen Komforts, kurzum, wie Simmel das nennt, den Gebilden des objektiven Geistes fehlt eine Seele.41 Seele meint hier die Form persönlicher Einheit. Dem objektiven Geist fehlt aufgrund der Weise seines Zustandekommens – in arbeitsteiligen und versachlichten Prozessen – die Seelenhaftigkeit. Keyserling als Leser Simmels Keyserlings Psychologie des Komforts und Simmels psychologische Analysen des modernen Kulturlebens weisen erstaunliche Parallelen auf, die eine Bekanntheit Keyserlings mit Simmels Analysen nahelegen. Insbesondere die Vorstellung, dass das psychophysische Binnen- und das soziokulturelle Außenverhältnis in einer Wechselwirkung stehen, markiert eine deutliche Übereinstimmung, die beide von großen Teilen des lebensphilosophischen Diskurses der Zeit – von Nietzsche über Bergson bis zu Eucken – abhebt.42 Damit zusammen hängen die Überlegungen zu den Bedingungen der Möglichkeit, eine persönliche Kultur ausbilden zu können. Simmels Haltung ist hier überwiegend skeptisch, aber keineswegs pessimistisch, sucht er doch nach Optionen, das moderne Gemütsleben an die Bedingungen einer post-kopernikanischen, post-kantischen und post-darwinschen Weltanschauung heranzuführen. Erst mit 39Ebd., S. 565. S. 571–574. 41Ebd., S. 580. 42Vgl. Max Scheler: „Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson“. In: Ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Hg. von Maria Scheler: Bern 41955, S. 314–339. Zur Rezeption der Lebensphilosophie Bergsons Caterina Zanfi: Bergson et la philosophie allemande 1907–1932. Paris 2014. 40Ebd., 62 G. Hartung der Formel vom „individuellen Gesetz“ – in seinem 1918 publizierten letzten Werk, der Lebensanschauung – meint er eine Lösung gefunden zu haben.43 Keyserling bewegt sich zwar ebenfalls im Feld der Psychologe, ist aber kein Philosoph. Er muss also keine Erklärungen für die Symptome des modernen Kulturlebens suchen, er kann sich auf das Beobachten der Phänomene beschränken, um ihnen eine entsprechende Darstellungsform zu geben. Was seine Beobachtungen leisten und wie es ihm gelingt, die psychologischen Grundannahmen umzusetzen, lässt sich anhand zweier Aspekte verdeutlichen, die ich zum Abschluss skizzieren möchte. Der erste Aspekt meint den Gegensatz von Tradition und Moderne am Beispiel des Neuen, das als Wahrheit oder bloße Mode aufgefasst wird. Bei Simmel heißt es, dass etwas Neues in der Theorie oder in der Praxis für denjenigen, der an Tradition und Wahrheit glaubt, doch nie eine bloße Modeerscheinung sein kann. Dazu schildert Keyserling, wie in einem Kommentar, eine wunderbare Szene, ebenfalls aus dem Roman Abendliche Häuser: Am Kamin bei der Nachmittagszigarre liebte es der Baron, zu seinem alten Freunde, dem Baron Port auf Witzow, von seinen Grundsätzen zu sprechen: „Ansichten, die jungen Leute wollen jetzt allerhand Ansichten haben. Nun ja, ich bestreite ja nicht, es mag allerhand Ansichten und Grundsätze geben, die ganz gut und richtig sind für andere. Man braucht ja schließlich kein Edelmann zu sein, aber für uns gibt es gewisse Ansichten und Grundsätze, die richtig und wahr sind, nicht weil jemand sie uns bewiesen hat, sondern weil wir wollen, daß sie richtig und wahr sind. Mir braucht man nichts zu beweisen und zu erklären. Ich will, daß das richtig und wahr ist, weil, wenn das falsch ist, ich nicht mehr der von der Warthe bin, der ich bin, und du nicht von Port bist, der du bist, weil wir sonst beide alte Narren wären. Siehst du, das sage ich.“44 Hier leuchtet unmittelbar ein, was gemeint ist: Wahrheit ist eine Frage der persönlichen Überzeugung und des sozialen Status. Wahrheit ist nicht abhängig von objektivierbaren Beweisverfahren, die jeder durchführen kann. Wahrheit ist auch nicht eine Frage der Mode, weil diese eine sachliche Indifferenz gegenüber den jeweiligen Werten und Überzeugungen impliziert. Und es wird behauptet, dass sich mit dem Wechsel der Überzeugungen und ihrer Auflösung in „Ansichten“ die Persönlichkeit ändert. Aus einem Baron, der weiß, was wahr ist, weil er es will, wird insofern ein Narr, wenn er nicht mehr weiß, was er will und das Für-WahrHalten aufgegeben hat. Der zweite Aspekt betrifft Keyserlings Analyse des sozialen Lebens im Angesicht des Umbruchs zwischen Tradition und Moderne, die in seinen Romanen und Erzählungen wiederholt durchscheint. Während er dem Bauernstand ein einfaches, direktes Leben und der Aristokratie ein geübtes kompliziertes Leben zuspricht, erhält der dritte Stand eine Schlüsselrolle, weil an dessen gesellschaftlicher Mittellage die Unruhe, die 43Vgl. Michael Landmann: „Einleitung des Herausgebers“. In: Georg Simmel: Das Individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. von Michael Landmann. Frankfurt/M. 1987, S. 7–29. 44Keyserling: „Abendliche Häuser“, S. 355. Über persönliche und sachliche Kultur 63 Anspannung, der fehlende Komfort deutlich gemacht werden kann. Diese These lässt sich anhand von Keyserlings Roman Wellen veranschaulichen. Die Handlung muss als bekannt vorausgesetzt werden. In das Verhältnis der Stände, das auf einem Nebeneinander der Lebensstile beruht, kommt Bewegung, weil sich eine junge Gräfin von ihrem älteren Mann getrennt hat, um mit einem jungen Maler zusammenzuleben. Als Grund wird ein „unbändiger Lebensappetit, ein unumschränktes Vertrauen, alles zu erreichen, wonach er greifen würde,“45 auf Seiten des jungen Mannes und ein neu erweckter „Lebenshunger“ auf Seiten der jungen Frau angegeben. In einem Badeort an der Ostsee treffen diese bewegten und unruhigen Personen auf andere Protagonisten, in denen aus unterschiedlichen Gründen die objektive Form über die Bewegung des Lebens herrscht. Das sind einerseits die Aristokraten, die auf der Standesordnung beharren und aus dem bloßen Beharren ihre Umgangsformen generieren. Sehr schön wird dieser Zusammenhang in einer Situation deutlich, in der die Generalin gegenüber der Frau von Buttlär aus der sozialen Ordnung die Forderung einer bestimmten Haltung ableitet: „[…] wozu ist man, was man ist, wozu hat man seine gesellschaftliche Stellung und seinen alten Namen, wenn man sich vor jeder fortgelaufenen kleinen Frau fürchten sollte.“46 Anders gesagt: Eifersucht ist nichts für diejenigen, die dem Standesbewusstsein und der Institution der Ehe vertrauen. Vor Ort sind andererseits die Bauern und Fischer, die ein Leben in schlichter Einfalt leben und von der Nervosität der anderen Protagonisten nicht angesteckt werden. Ihr Tagesablauf hat eine verlässliche Ordnung, die mit den Jahres- und Tageszeiten korreliert, d. h. durch diese rhythmisiert ist. Und da sind die Zwischenwesen, die Bewohner eines unruhigen Zeitalters: einerseits die entflohene Gräfin Doralice, die vor allem mit dem Verlust des gesellschaftlichen Ranges beschäftigt ist und im Verhältnis zu ihrem Mann Stabilität sucht; und andererseits der Maler Hans Grill, der verzweifelt um die Ausbildung einer persönlichen Kultur ringt. Keyserling schildert seine „eifrige“ Art, mit der er aus den Möglichkeiten des Lebens eine neue Realität entwerfen und aus Freiheit zu einer Selbstbindung, zu einem eigenen Lebensstil kommen will: „Möglichkeiten, natürlich Möglichkeiten, das ist es, was der freie Mensch hat, es ist gleich, ob er etwas tut, aber nichts zwingt ihn, nichts schiebt ihn, nichts bindet ihn was er tut und nicht tut, tut er auf eigene Verantwortung und das kann müde machen, o ja, das kann müde machen.“47 Markant ist die Tatsache, dass der junge Maler Hans Grill zwischen dem rhythmisierten Arbeitsleben der unteren Klasse und dem a-rhythmischen Leben der Oberklasse als Suchender nach einem eigenen Rhythmus des Lebens gezeigt wird. „Also, wir müssen unser Leben einteilen, regelmäßige Beschäftigung, Haushalt, 45Eduard von Keyserling: Wellen. München 111998, S. 31. S. 15. 47Ebd., S. 17. 46Ebd., 64 G. Hartung eine Alltäglichkeit müssen wir haben, der ewige Feiertag macht uns krank.“48 Der junge Maler unternimmt den Versuch, den Lebenshunger der ersten Wochen der neuen Beziehung zu transformieren und spricht von „etwas Nüchternheit, so eine selbstgeschaffene Bürgerlichkeit, in die man sich fest einschließt“, oder einem Leben, das mindestens stundenweise nach Kartoffelsuppe riecht. Zugleich aber sieht er den Sinn seiner Welt nur in der Liebe, also in einem außeralltäglichen Weltverhältnis.49 In diesen Zwiespalt wird er hineingerissen, reißt sich selbst in den Gesprächen mit seiner Frau immer weiter hinein, bis er zuletzt verstummt. Aus dem Wunder soll eine Selbstverständlichkeit werden. „Du wirst mir auch selbstverständlich werden. Warte nur, bis wir in unserer Ordnung sind“,50 ruft er Doralice zu. In diesen Zwiespalt sich immer tiefer hineinmanövrierend steht er vor der Wahl, den Lebensstil des „Miteinanderseins“ (was seine adlige Frau ihm nahelegt) oder den des „Miteinandertuns“ (was die Fischer ihm vorführen) zu ergreifen. Nebenbei bemerkt, bestimmt das auch das unterschiedliche Naturverhältnis der Protagonisten. Während Doralice unmittelbar ein Gefühl der Zugehörigkeit in der Natur erzeugt – der verliebte Hilmar sagt zu ihr: „Sie, gnädige Frau, sehen ganz aus, als gehörten Sie hier dazu. Sie sehen in dieser Natur vollständig reçue aus.“51 – muss sich Hans um dieses Gefühl bemühen. In seiner Tätigkeit des Malens stellt es sich nicht ein – in diesem Zusammenhang beklagt er sich: „es ist schade, daß das Leben so selten bar zahlt“.52 Daher wendet er sich den Fischern zu, in deren Mittun er Befriedigung durch Arbeit erfährt. Im Scheitern der ungeduldigen Pläne für ein bürgerliches Leben in München – sie scheitern, insofern er nicht tatkräftig genug ist und auch bei seiner Frau keine Resonanz erfährt – drückt sich die ganze Malaise eines solchen Zwischenwesens aus, das die moderne Welt als Möglichkeitsform hervorgebracht hat und das aus der Fülle seiner Möglichkeiten in der paradoxen Weise einer Bindung aus Freiheit seinen eigenen Lebensstil entwerfen, seine persönliche Kultur ausfüllen soll. Das Sinnbild des Scheiterns ist der Tod auf dem Meer, in diesem Element, in dem die Substanz das Flüssige ist. Ein Gelingen wäre durchaus möglich, die Möglichkeit einer persönlichen Kultur bleibt als Option im Hintergrund. Sie wird von Keyserling mit allen Attributen des Komforts ausgeschmückt. Hans träumt von einem Haus in der Stadt, das seinem Alltagsleben eine Selbstverständlichkeit und Gemütlichkeit ermöglichen wird, von regelmäßiger Arbeit und sozialer Anerkennung. Er drückt eine Ahnung von der ungeheuren Aufgabe und den offenen Fragen aus, was es heißen könnte, die Bewegung und Unruhe des modernen Lebens anzunehmen und ihr eine eigene Form zu geben. 48Ebd., S. 24. S. 25–26. 50Ebd., S. 53. 51Ebd., S. 80. 52Ebd., S. 82. 49Ebd., Über persönliche und sachliche Kultur 65 Keyserling hat diesem Verhältnis einen wunderbaren Ausdruck verliehen, in der Gestalt eines Versprechens, das Hans seiner Doralice implizite gibt (und nicht einlöst): „Nicht wahr“, erwiderte Hans stolz, „und weißt du, wie ich dich so hielt, wenn ich denke, das war eigentlich symbolisch, mitten in den Wellen, und ich halte dich.“ Aber Doralice sagte müde: „Ach nein, laß es lieber nicht symbolisch sein.“ Hans schaute sie verwundert an und murmelte dann ein wenig empfindlich: „Nun dann auch nicht.“53 Die Möglichkeit einer persönlichen Kultur liegt jenseits des symbolischen Verhältnisses zu den Dingen, den anderen Personen und sich selbst. Das ist der radikale Hintergedanke der Lebensphilosophie, wie Max Scheler im Jahr 1913 herausgearbeitet hat. Auch Simmel betont in seiner Studie Rembrandt von 1916, dass es zur Ausbildung persönlicher Kultur nicht allein einer bestimmten Theorie oder Praxis bedarf. Es kommt vielmehr auf eine Haltung an. Es geht darum, den Versuch zu unternehmen, sich in ein unmittelbares, nicht-symbolisches Verhältnis zur eigenen Lebenswirklichkeit zu setzen. Eduard von Keyserling zeigt uns in seinen Erzählungen Figuren, die dieser Aufgabe mehr oder minder gewachsen sind. Es ist dabei ein Zeichen schriftstellerischer und persönlicher Größe, dass er sich auch im Scheitern mit seinen Figuren solidarisch zeigt. Das gilt besonders für den armen Hans, der seine Doralice nicht wirklich in den Wellen tragen will oder kann. Literatur Agard, Olivier u. a. (Hg.): Die Lebensphilosophie zwischen Frankreich und Deutschland / La philosophie de la vie entre la France et l’Allemagne. Studien zur Geschichte und Aktualität der Lebensphilosophie / Études sur l’histoire et l’actualité de la philosophie de la vie. Baden-Baden 2019. Hartung, Gerald: „Bewusstsein“. In: Annika Hand/Christian Bermes/Ulrich Dierse (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts (Archiv für Begriffsgeschichte). Hamburg 2015, S. 39–61. Hartung, Gerald: „Cassirer, Scheler und die Lebensphilosophie“. In: Robert J. Kozljanic (Hg.): I. Jahrbuch für Lebensphilosophie 2005. Zur Vielfalt und Aktualität der Lebensphilosophie. München 2005, S. 109–132. Hartung, Gerald: „Mensch und Zeit – Zur Einführung“. In: Ders. (Hg.): Mensch und Zeit – Interdisziplinäre Studien zur Anthropologie. Wiesbaden 2014, S. 7–22. Keyserling, Eduard von: „Abendliche Häuser“. In: Ders.: Werke, Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973a, S. 353–477. Keyserling, Eduard von: „Harmonie“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973b, S. 217–254. Keyserling, Eduard von: „Zur Psychologie des Komforts“. In: Ders.: Werke, Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973c, S. 551–568. Keyserling, Eduard von: Wellen. München 111998. Keyserling, Eduard von: Feiertagsgeschichten. Hg. von Klaus Gräber. Göttingen 2008, S. 131–150. 53Ebd., S. 21. 66 G. Hartung Landmann, Michael: „Einleitung des Herausgebers“. In: Georg Simmel: Das Individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. von Michael Landmann Frankfurt/M. 1987, S. 7–29. Rammstedt, Otthein u. a. (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Frankfurt /M. 22016. Scheler, Max: „Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson“. In: Ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Hg. von Maria Scheler. Bern 41955, S. 314–339. Sendlinger, Angela: Lebenspathos und Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der Décadence und der Lebensphilosophie am Beispiel Eduard von Keyserlings und Georg Simmels. Frankfurt/M. 1994. Simmel, Georg: „Zur Psychologie des Geldes“. 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Paris 2014. Täuschende Moderne Keyserling zwischen Fontane und Schnitzler Alexandra Pontzen Der Schüttelreim „Als Gottes Atem leiser ging/schuf er den Grafen Keyserling“ (von Emil Preetorius)1 ist vermutlich einer der prominenteren Topoi im kulturellen Gedächtnis, und auch wenn der Vers ursprünglich nicht dem Autor, sondern dem Philosophen galt, wird er spätestens seit Gerhard Köpfs gleichnamiger Erzählung2 auf den Schriftsteller bezogen. Der Spottvers evoziert Kläglichkeit als Image eines Spätlings und poetae minoris im literarhistorischen Abseits, aus dem der Autor gegenwärtig (wieder einmal) geholt werden soll. Der vorliegende Beitrag beleuchtet eingangs die Indikatoren eines Platzes in der zweiten Reihe der Literaturgeschichtsschreibung, um dann den (vermeintlichen) Aufstieg, Keyserlings ‚Aufrücken‘ in die Moderne, zu betrachten und nach den Bedingungen und Implikationen dieser Revalorisierung zu fragen. 1Klaus Hübner: Ach, du lieber Keyserling! Schwabing ist hin (2011), https://www.welt.de/ print/die_welt/vermischtes/article12041414/Ach-du-lieber-Keyserling-Schwabing-ist-hin.html (07.02.2019). 2Gerhard Köpf: Als Gottes Atem leiser ging. München 2011. A. Pontzen (*) Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: alexandra.pontzen@uni-due.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_6 67 68 A. Pontzen Zur bibliographischen Situation: Literatur von und über Keyserling Die bibliographische Situation zu Zeiten des 100. Todestages des Autors ist unbefriedigend: Es existiert nach wie vor keine Werkausgabe, die Forschung stützt sich auf unterschiedlichste Teilausgaben3 und Lese-Ausgaben, die unvollständig und z. T. (wie die des Fischer Taschenbuchverlages) inzwischen im Handel nicht mehr erhältlich sind. Die jüngst erschienene Schwabinger- oder „Jubiläumsausgabe“ bemüht sich eine textkritische Edition vorzulegen, die „umfassende Auskunft über die Werkgenese, über Entwürfe und Vorstufen, über Wirkungsgeschichte, Textvarianten etc.“4 gibt. Doch räumt der Herausgeber Horst Lauinger ein, „das meiste davon […] schuldig bleiben [zu müssen, AP], da der vom Autor qua Testament angeordneten Vernichtung des Nachlasses im Jahr 1918 alle Skizzen, Manuskripte, Korrekturbogen und seine gesamte Korrespondenz zum Opfer gefallen sind“.5 Aus solcherart sachbedingten Gründen beschränkt sich der Apparat auf Informationen zur Veröffentlichungsgeschichte (Erstdruck, Nachdrucke, Buchausgaben, Übersetzungen und „fallweise“ Verfilmungen); weitere „knappe Ausführungen“ gelten den nachweisbaren zeitlichen und räumlichen Verortungen der Erzählungen und Milieus. Zur Deutung, Interpretation oder der intertextuellen Situierung konnten „auf dem zur Verfügung stehenden knappen Raum […], wenn überhaupt, nur ausgewählte Aspekte Berücksichtigung finden“.6 Die Ausgabe enthält auf ca. 650 Seiten 37 Erzählungen, davon fünf bislang nur in Zeitschriften erschienene, die auf knapp fünfzig Seiten hauptsächlich durch einen (Sach-)Stellenkommentar erschlossen werden, der das Textverständnis erleichtern soll. Kurz: Es handelt sich letztlich um eine Leseausgabe für – so der Titel des Nachworts von Florian Illies – „Abende mit Keyserling“. Dieser, vom Herausgeber in der Tradition der ‚L’homme-et-L’œuvre‘-Philologie des 19. Jahrhunderts als „unser“ Autor7 apostrophiert, soll einer Lesergemeinde zugeführt werden, der angehört, wer „seine Abende mit diesem großen Dichter verbringt“.8 Schwer vorstellbar, dass heute in diesem Ton zu einer evasiven Lektüre Fontanes eingeladen würde, undenkbar so für Schnitzler zu werben. Eigenartiger noch, dass die verschwörerisch-onkelhafte 3Eine Übersicht gibt Horst Lauinger in seinem Kommentar zu Eduard von Keyserling: Horst Lauinger: „Kommentar“. In: Eduard von Keyserling: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. und kommentiert von Horst Lauinger. Nachwort von Florian Illies. München 2018a, S. 655–710, hier S. 657 f. 4Ebd., S. 655. 5Ebd. 6Ebd. 7Horst Lauinger: „Editorische Notiz“. In: Eduard von Keyserling: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. und kommentiert von Horst Lauinger. Nachwort von Florian Illies. München 2018b, S. 727–730, hier S. 729. 8Florian Illies: „Abende mit Keyserling. Eine kleine Gebrauchsanweisung“. In: Eduard von Keyserling: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. und kommentiert von Horst Lauinger. Nachwort von Florian Illies. München 2018, S. 711–717, hier S. 712. Täuschende Moderne 69 Verlockung zur – wie Illies wiederholt betont – abendlichen und also metaphorisch und atmosphärisch tendenziell nostalgisch aufgeladenen Lektüre9 einem Werk gilt, dessen Modernität, ja Zugehörigkeit zu „wirklicher Avantgarde“10 verfochten wird. Die Jubiläumsausgabe ist im Manesse-Verlag erschienen, der sich auch durch Leseausgaben mit Nachworten namhafter Autoren (u. a. Martin Mosebach,11 Florian Illies) um Keyserlings Werk bemüht hat. Manesses Motto „Wenn lesen, dann erlesen“,12 Image und Zielgruppe der sogenannten ‚Bändchen‘ sowie die genannten Fürsprecher scheinen indes eher geeignet, die Nischenposition des Autors zu verstetigen als sie in Frage zu stellen. Auch die einzige vorliegende aktuelle Biographie, Thomas Homscheids Eduard von Keyserling – Leben und Werk (2009), sorgt nicht für mehr Sichtbarkeit, sie wird als public-on-demand-Buch vertrieben, findet sich kaum in Universitäts- oder öffentlichen Bibliotheken und verlangt dem Leser einige Geduld ab. Pünktlich zum Gedächtnisjahr legt Klaus Modick mit Keyserlings Geheimnis (2018) einen Roman vor, der darauf zu spekulieren scheint, den Bestsellererfolg des Worpswede-Romans Konzert ohne Dichter (2015) zu wiederholen, in dessen Mittelpunkt Rainer Maria Rilke und Heinrich Vogeler stehen. Die Machart beider Romane gleicht sich: In beiden spielt ein Gemälde eine zentrale Rolle, in Konzert ohne Dichter Heinrich Vogelers Gemälde „Konzert“, in Keyserlings Geheimnis das von Lovis Corinth gemalte Porträt des Autors. In beiden Romanen geht es darum, mit Hilfe belletristischer Phantasie ein Geheimnis aufzuklären. Konzert ohne Dichter umkreist die Frage, warum Rilke auf dem den Worpsweder Kreis darstellenden Gemälde fehlt, während Keyserlings Geheimnis auf der Frage beruht, worin die Verfehlung des Dorpater Studenten Keyserling genau bestand. Offenbar ist sie von seinen adeligen Landsleuten als etwas Ehrenrühriges empfunden worden, so dass es zu einer einschneidenden Entfremdung kam. Dem Romancier Modick reichen der vage Hinweis auf Schulden und Unregelmäßigkeiten bei deren Tilgung als alleinige Erklärung nicht aus. Er erfindet eine ebenso kokette wie anrüchige Geliebte, die den tumben Studenten düpiert, ausnutzt und zum Betrug anstiftet. Etwa zweieinhalb Jahrzehnte später kommt es zu einer Wiederbegegnung mit dieser femme fatale, als Keyserling mit Freunden aus der Schwabinger Bohème, unter ihnen Lovis Corinth, zur Sommerfrische am Starnberger See weilt. Als desillusionierter Weltmann, der er inzwischen geworden ist, reagiert er auf die Frau, die sein Leben so verhängnisvoll beeinflusst hat, zwar neugierig, aber cool und mit einer Selbstironie, die nichts nachträgt. Ein Handlungsstrang von Modicks Keyserling-Roman ist die Entstehung von Corinths Keyserling-Porträt, das für die Rezeption des Autors und dessen literarhistorische Zuordnung insofern keine geringe Rolle spielt, als es die Verbindung von künstlerischem und literarischem Impressionismus belegt, auf die ich später 9Vgl. ebd., S. 711, S. 712, S. 714. S. 717. 11In der Neuauflage von Schwüle Tage im Manesse-Verlag 2005. 12Rose-Maria Gropp: „Keyserlings ewige Modernität. Keine Entwicklung für Prinzessinnen“ (2017), http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/eduard-von-keyserlings-letzter-roman-fuerstinnen-15132042.html (07.02.2019). 10Ebd., 70 A. Pontzen noch eingehen werde. Ob romanbiographische Gedenkfabulierkunst rund um biographische Leerstellen und Stilpastiches Keyserlings Werken neue Leser und Leserinnen zuführt oder neue Lesarten hinzufügt, sei dahingestellt. Nötig wäre das insofern, als Keyserling offenbar nicht (mehr) zum Kanon heutiger Germanistik-Studierender gehört: In Überblicks-, Kurz- oder didaktischen Einführungsdarstellungen zur deutschen Literaturgeschichte (von Reclam, Metzler oder Klett)13 kommt er nicht vor. Und auch zu Zeiten seines Erfolgs verweisen Vergleiche und Hinweise auf literarische Verwandtschaft nach Art vergifteter Komplimente auf die Zweitrangigkeit dessen, der durch die Anrufung eines prominenten Gewährsmanns gewürdigt werden soll. Das exerziert mustergültig Thomas Mann in seinem den Autor in vielfacher Weise verkennenden Nachruf. Mann markiert seine (wesentlich der Selbststilisierung dienenden) Fontane-Analogien bereits als intertextuelles Zitat: „Ich finde die Namen Fontanes und Iwan Turgenjews in jedem Nekrolog.“14 Das wirkt fort, Fritz Martini führt Keyserlings Nähe zu Fontane15 an, andere den Kontext von Schnitzler, Mann, George, Kubin, Bahr, Wedekind16 oder den Vergleich mit Turgenjew, Tschechow und Hermann Bahr (Sørensen).17 Zur Einordnung des Autors ‚zwischen‘ Fontane und Schnitzler Auch für die hier dargelegten Überlegungen bilden Fontane18 und Schnitzler Bezugspunkte auf einer imaginären Skala zunehmender ‚Modernität‘ bei der Auseinandersetzung mit den Themen Ehebruch respektive außereheliche Sexualität, Duell und 13Vgl. etwa Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Stuttgart 1985; Wolfgang Beutin et al.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 82013; Bernd Balzer/Volker Mertens (Hg.): Deutsche Literatur in Schlaglichtern. Mannheim/ Wien/Zürich 1990; Volker Meid: Das Reclam Buch der deutschen Literatur. Stuttgart 2007; Gerhard Lauer: Grundkurs Literaturgeschichte. Stuttgart 2009; Horst Spittler: Entwicklungslinien der deutschsprachigen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bielefeld 2009. 14Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 15.1: Essays II: 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 223–227, hier S. 226. 15Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1957, S. 490. 16Vgl. Monika Fick: „Literatur der Dekadenz in Deutschland“. In: York-Gothart Mix (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 7: Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus. 1890–1918. Wien 2000, S. 219–230, hier S. 230. 17Bengt Algot Sørensen: „Fin de siècle“. In: Ders. (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 2: Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 22002, S. 138. 18Die Nähe und gleichzeitige Differenz Keyserlings zu Fontane hat bereits Rolf Parr zu Fragen motiviert: „War Fontanes Schreiben am Ende so modern, dass es noch ein Vierteljahrhundert von Keyserling fortgesetzt werden konnte, so dass Fontane als ein Dichter des Übergangs verstanden werden müsste? Oder war Keyserlings Schreiben, obwohl bereits im 20. Jahrhundert angesiedelt, so veraltet, dass es gleichsam ‚zurück‘ ins 19. Jahrhundert zu Fontane hin verschoben werden konnte?“ Rolf Parr: „Preußisches Dur und baltisches Moll zwischen 1892 und 1913. Was Theodor Fontane und Eduard von Keyserling in ihrem Schreiben (nicht) gemeinsam haben“. In: Fontane-Blätter 97 (2014), S. 56–72, hier S. 56. Täuschende Moderne 71 Freitod. Deren Literarisierung verweist gleichermaßen auf Aspekte einer gesellschaftlichen Modernisierung von sozialen Normen und Werten wie auf Transformationen im Verständnis des Subjekts und seiner Psychologie(sierung) und, vor allem, auf die Modi der diskursiven Gestaltung und Erzählbarmachung von gesellschaftlichen und psychischen Realitäten. Diese drei Gruppen von insgesamt sechzehn Transformationsfaktoren und potenziellen Leitdifferenzen entwickelt Marianne Wünsch in ihrem einschlägigen Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels, den sie am Umbruch Vom späten ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne‘ exemplifiziert.19 Während Texte von Fontane oder Schnitzler bei Wünsch häufig aufgerufene Zeugen für Spätrealismus respektive frühe Moderne darstellen, kommt Keyserling nur einmal vor (mit Hinweis auf Beate und Mareile); zu wenig eignen seine Texte sich als trennscharfe Exempel. Zu sehr wird eine eventuelle Modernität des Erzählten und des Erzählens überlagert von ethisch-ästhetischen Mischkategorien wie Moral, Kitsch und Diskretion/Penetranz. Deren Tilgung, Sublimierung oder Umwertung verlangen einem Rezipienten, der Keyserlings Werk, nach Vorbild einiger Fürsprecher, umstandslos der Moderne zuordnen will, einigen Großmut oder intellektuelle Klimmzüge beim dekonstruktivistischen Geräteturnen ab. Insofern sind die Texte so etwas wie Kippfiguren; sie weisen der Lesehaltung des Rezipienten eine nicht unerhebliche Entscheidungskompetenz zu, in der sich – so meine These – die Modernität des Autors als Modernitätsbereitschaft seiner Leser und Leserinnen realisiert, wenn es darum geht, Keyserlings Arrangements, seine Leerstellen, Stimmungs-Synästhesien und nicht zuletzt die Erzählhaltung zu decodieren und einzuordnen. Das deutet übrigens auch Florian Illies an, dessen Apologie anhebt: „Wenn man dazu bereit ist, Eduard von Keyserling als einen Modernisten zu lesen, dann wird man aufregende Entdeckungen machen.“20 Ich lese Illies’ Ansatz im Folgenden als Versuch, Keyserling der Klassischen Moderne zuzuordnen, weil seine Ausführungen keine Hinweise darauf enthalten, dass der in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft unübliche, nur von Viktor Zima21 (synonym zur ‚Klassischen Moderne‘ und in Absetzung zur Postmoderne) genutzte Terminus ‚Modernismus‘, hier als Stilepoche (im Sinne des „angloamerikanischen Modernismus“) gemeint wäre; eher ist anzunehmen, dass Illies ‚Modernist‘ als Vertreter der Moderne versteht22 – so spricht er auch von 19Marianne Wünsch: „Vom späten ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne‘: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels“. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 187–203. 20Illies: „Abende mit Keyserling“, S. 711. 21Peter V. Zima: Moderne – Postmoderne: Gesellschaft, Philosophie, Literatur. Tübingen/Basel 21997. 22Illies datiert in seinem Nachwort die Aktivität des ‚Modernisten‘ Keyserling parallel zum „zeitgleichen Expressionismus“ und charakterisiert sie über die Stichworte „Avantgarde“ und „Innovation“, die er indes nicht auf der Handlungsebene der Texte ansiedelt oder in der Programmatik des Autors (insofern verbietet sich eine Lesart des ‚Modernisten‘ als eines Autors mit Willen zum Modernsein). Die Modernität sieht Illies in der Sprache, deren Leistungen indes mit Stichworten charakterisiert werden („verdichtete Sinnlichkeit“ Illies: „Abende mit Keyserling“, S. 711), „Stimmungsimpressionismus“ (ebd., S. 715), „Einfühlungs- und Beschreibungskunst“ (ebd., S. 716), die durchaus im Einklang mit der Klassischen Moderne resp. jenen Strömungen (Symbolismus, Impressionismus) stehen, denen Keyserling auch früher schon zugeordnet wurde. 72 A. Pontzen Keyserlings „Modernität“, nicht vom ‚Modernismus‘ – das Substantiv fällt überhaupt nicht.23 Was kennzeichnet nun die Bereitschaft, einem Autor wie Keyserling „Modernität“24 zu attestieren? Und was präjudiziert eine solche Lesart? Zum einen gewährleistet sie ganz offenbar Aufmerksamkeit für und Interesse am vergessenen, unbekannten, fehlgedeuteten oder missverstandenen Werk und Autor. Die Behauptung der Zugehörigkeit zur Moderne wählt aus den Möglichkeiten der Würdigung – Entdeckung, Wiederentdeckung, Rehabilitierung – den Weg der literarhistorischen Revision und gleichzeitigen Aktualisierung: Demnach hinterließ Keyserling ein „zeitloses Werk“,25 das „uns immer noch viel zu sagen“26 hat. So jedenfalls urteilen die publizistischen Fürsprecher Florian Illies, Jochen Schimmang, Rose-Maria Gropp.27 Sie proklamieren die Zugehörigkeit zur Moderne als literarhistorische Masterkategorie, die per se anderen Klassifizierungen des Autors (als Nostalgiker, Heimatdichter, Impressionist, Autor des Fin de Siècle oder der Décadence) überlegen sei, weil sie – so wird unterstellt – nicht nur eine Epoche, sondern als Stilkategorie ein zeitloser Qualitätsgarant sei und unmittelbar an das Heute der Lesergegenwart anschlussfähig. Unterstellt wird, die – etwa von RoseMaria Gropp attestierte – „pure Modernität“28 von Keyserlings Sprache sei für den heutigen Leser besonders genussreich oder auch nur leicht konsumierbar. Mit der als Korrektur von Literaturgeschichte und -wissenschaft verstandenen Modernitätserkenntnis geht zudem das Selbstverständnis einher, einen dem Autor kongenialen Erkenntnisakt in dessen ureigenstem Interesse vollbracht zu haben. In diesem Sinne polemisiert Florian Illies schon 2009 in Die Zeit gegen die Keyserling-Fürsprecher Hermann Hesse, Thomas Mann, Hermann Bang, Arthur Schnitzler, Benno von Wiese, Peter Härtling, Marcel Reich-Ranicki und Martin Mosebach, die Keyserling eben nicht als Autor der Moderne gelesen hatten: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.“29 Mit der Modernität und ihrer Reflexion ist es, spätestens seit Perraults Querelle des Anciens et des Modernes (1687), so eine Sache, und die Frage, ob ein Fortschritt in der Kunst zu denken ist, und wenn ja, worin er dann jenseits von Überbietungsästhetik bestünde, oder ob literarische Qualität der Zyklizität unterliegt, 23In anderen Arbeiten würdigt Illies Keyserling als Autor der Moderne, vgl. Florian Illies: „Die Ironie der schwülen Tage: Der Autor dieses Sommers heißt Eduard von Keyserling“. In: Die Zeit 27 (2009). 24Illies: „Abende mit Keyserling“, S. 712. 25Illies: „Die Ironie der schwülen Tage“. 26Gropp: „Keyserlings ewige Modernität“. 27Illies: „Die Ironie der schwülen Tage“. 28Gropp: „Keyserlings ewige Modernität“. Dass Gropp „Modernität“ nicht im Sinne eines selbstreflexiven sprachkritischen Erzählgestus versteht, erschließt sich aus ihrer Erläuterung: „Anders als sein, freilich zwei Jahrzehnte jüngerer, Zeitgenosse Hugo von Hofmannsthal, der die Sprachskepsis in seinen besten Werken zelebriert, vertraut Keyserling seiner Sprache völlig. Er nimmt sie her und blickt, selbst erblindet, in den Spiegel sinnentleerter Existenz.“ 29Illies: „Die Ironie der schwülen Tage“. Täuschende Moderne 73 gibt Anlass zu Grundsatzdiskussionen. Eine davon könnte der Frage gelten, ob (und wenn ja: warum) es einen Autor (oder sein Werk) besser oder auch nur interessanter macht, wenn er/es modern ist. Denn dass das/die Moderne selbst auch veraltet (und oft sogar besonders schnell), wird nur selten thematisiert (etwa bei Baudelaire), gerne aber verdrängt.30 Fragt man, um sich nicht im Grundsätzlichen zu verlieren, konkreter nach der Modernität deutschsprachiger Texte, die um 1900 entstanden oder erschienen sind, so bietet die Literaturgeschichte ein schillerndes Bild, ebenso wie Keyserlings Verortung: Zeitgenössisch als baltischer Heimatdichter31 verstanden, später moderater als baltischer Dichter32 und Regionalerzähler,33 firmiert Keyserling in den Literaturgeschichten als Naturalist in der deutschen Nachfolge Zolas,34 als Impressionist35 (Cohen), Décadent, Autor des Fin de Siècle36 (Fick) sowie der Schwabinger Bohème (Sprengel).37 Die unterschiedlichen Einordnungen spiegeln zum einen Entwicklungsstufen innerhalb der Werkbiographie wider, wie sie auch aus den nun in der Jubiläumausgabe wieder zugänglich gemachten frühen Erzählungen ablesbar sind oder sich in der Prägung des Frühwerks durch den französischen Naturalismus zeigen (im Roman Die Dritte Stiege (1892) und in der Erzählung Fräulein Rosa Herz (1897)). Zum anderen situieren die heterogenen Epitheta den Autor im facettenreichen, stilpluralistischen und komplexen Feld der Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts und datieren ihn auf der Höhe seiner jeweiligen Zeit, der Avantgarde- oder Retro-Tendenzen (wie der Neoromantik) zugeschrieben werden, die aber alle zur Moderne im Sinne einer „Makroepoche“38 zu zählen wären. Das übersieht, wer, wie Jochen Schimmang in seiner Besprechung des jüngst erschienenen Erzählungsbandes Landpartie,39 die 30Hans-Ulrich Gumbrecht: „Modern, Modernität, Moderne“. In: Reinhart Koselleck/Werner Conze/ Otto Brunner (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch zur politisch-sozialen Sprache. Bd. 4: Mi-Pre. Stuttgart 1978, S. 93–131. 31Heinrich Kurz: Deutsche Literaturgeschichte. Neu bearbeitet und bis in die Gegenwart fortgeführt von Dr. Max Wedel. Berlin 1927, S. 716. 32Martini: Deutsche Literaturgeschichte, S. 490. 33Ebd. 34Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 382. 35Martini: Deutsche Literaturgeschichte, S. 490; Roy C. Cohen: „Naturalismus“. In: Ehrhard Bahr (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 3: Vom Realismus bis zur Gegenwartsliteratur. Tübingen/Basel 21998. S. 89–156, hier S. 123. 36Fick: „Literatur der Dekadenz in Deutschland“, S. 230. 37Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 382. 38Vgl. Silvio Vietta: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München 2001, S. 191. 39Jochen Schimmang: „Ein angenehmes Raubtiergefühl wärmte mir das Herz. In diesen Interieurs kann man es sich nicht gemütlich machen: ‚Landpartie‘, die gesammelten Erzählungen von Eduard von Keyserling“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (13.09.2018). 74 A. Pontzen Epitheta „impressionistisch“ und „modern“ als einander ausschließende Gegensätze verwendet und zudem darauf verzichtet, den Begriff des Impressionistischen im Hinblick auf die unterschiedlichen Künste und seine produktions- resp. werkund wirkästhetischen Implikationen hin zu differenzieren, wie es für Keyserlings Erzählwerk Wolfgang Nehring unternommen hat.40 Nehring unterscheidet bekanntlich, ob ‚impressionistisch‘ die sprachliche und klangliche Arbeitsweise des Schriftstellers meint,41 der, in Analogie zum Maler, momentane Eindrücke meist farblicher Natur und also lichtabhängig ‚hintupft‘42 (wie Keyserling es mit den Blumen- und Pflanzendarstellungen seiner Garten- und Parklandschaften hält)43 – oder ob das Augenblicks- und Wechselhafte von Eindrücken und Stimmungen wirkungsästhetisch evoziert wird. In ersterem Sinne ist die Bezeichnung sowohl mit Symbolismus und Neoromantik wie mit Décadence assoziiert worden,44 im zweiten lässt sie sich unter bestimmten psychologischen Vorzeichen als Technik der Klassischen Moderne einordnen. Als solcherart psycho-ästhetische Diagnostik ‚impressionistischer Charaktere‘, die dem eigenen Stimmungswechsel ausgesetzt und nicht mehr zu einer umgebungsunabhängigen Ich-Identität in der Lage (oder willens) sind, verwendet Schnitzler das Verfahren, das stofflich wie performativ zum Kernbestand der Klassischen Moderne zählt,45 geradezu leitmotivisch (für seine nicht nur in eroticis unbeständigen Helden, etwa Anatol), während es bei Fontane noch gar nicht vorkommt. Keyserlings Figuren der jüngeren Generation zeigen Merkmale impressionistischer Charaktere (Karl Erdmann in Am Südhang46), und das wird auch reflektiert: „Wir werden 40Vgl. Wolfgang Nehring: „Eduard von Keyserlings Impressionismus“. In: Michael Schwidtal/ Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Beiträge eines internationalen Symposions in Tartu von 19. bis 21. September 2003. Heidelberg 2007, S. 285–296. 41„Gegenstände sind nicht mit sich selbst identisch, Gehalt und Form sind nicht feste, rational fassbare Gegebenheiten, sondern sind abhängig von dem Blick, der sie wahrnimmt, von der Beleuchtung, in der sie wahrgenommen werden. Licht und Farbe, die Optik des Betrachters modifizieren das Aussehen, lösen scheinbar unveränderliche Konturen auf, so dass Grenzen von Menschen und Dingen verschwimmen.“ Ebd., S. 286. 42Vgl. etwa Eduard von Keyserling: „Am Südhang“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973a, S. 153–216, hier S. 194 und Eduard von Keyserling: „Beate und Mareile“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973c, S. 255–350, hier S. 274. 43Ein Zug, der sich im Alter verstärkt und den sein Biograph als Kompensation zum verlorenen Sehvermögen deutet, vgl. Thomas Homscheid: Eduard von Keyserling. Leben und Werk. Norderstedt 2009, S. 74. In diesem Sinne interpretiert auch Illies und erweitert die These auf die Darstellung von Vergangenheit und allem nicht mehr den Sinnen Zugänglichen. Vgl. Illies: „Abende mit Keyserling“, S. 711 f. 44Vgl. Monika Fick: „Impressionismus“. In: Georg Braungart et al. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2: H–O. Berlin/New York 2007, S. 137–140, hier S. 137. 45Vgl. etwa Nicola Roßbach: „Moderne und Dialog“. In: Mathias Luserke-Jaqui (Hg.): Deutschsprachige Romane der klassischen Moderne. Berlin/New York 2008, S. 20–46, hier S. 29. 46Keyserling: „Am Südhang“, S. 185. Täuschende Moderne 75 vielleicht immer andere und das ist gut“ (Graf Hamilkar über Billy in Bunte Herzen47), doch stehen sie als problematische Zeiterscheinungen einem rollenkonformen älteren Standespersonal gegenüber. Der discours der Erzählungen wird von ihrem Erfahrungsmodus nicht dominiert, unterminiert oder auch nur irritiert. Insofern ist die Frage nach dem Impressionistischen nicht nur eine Art Dauerbrenner der Keyserling-Forschung, sondern kann auch als Schibboleth für Modernität im Sinne einer verstörenden, mit Lesekonventionen brechenden Darstellungsweise eingesetzt werden. Letztere findet sich bei Keyserling nicht. Die etwa von Gropp am Roman Fürstinnen (1916) gerühmte Multiperspektivität („Ständig wechselt er die Erzählperspektive von einer seiner Figuren zur anderen, manchmal innerhalb eines Absatzes von einem Satz zum nächsten. In den ‚Fürstinnen‘ treibt er das auf die Spitze.“48) ist deutlich markiert, fast immer mit inquit-Formeln versehen. Allenfalls könnte man aus bestimmten erzähltechnischen Schwächen „Moderne“-Kapital schlagen, wenn man ihnen eine „impressionistische Poetik“ unterstellt. Letztere fände ihren Ausdruck in einer Erzählweise, die mehr an Arrangement, Konstellation und Atmosphäre interessiert ist als an Handlung und Plot. Das böte die Möglichkeit, Keyserling seinem Vermögen nach der Moderne, seinen belletristischen (Handlungs-)Zugeständnissen nach hingegen einer fast groschenromanhaften Neuromantik zuzuschlagen. Ehebruch und Duell Illustrieren lässt sich das an den Motiven Ehebruch und Duell. Deren häufiges Vorkommen und deren Bindung an positiv konnotierte Figuren weist (mit Wünsch) zwar auf ein verändertes Normenverständnis (im Sinne der Moderne) hin. Damit verbunden wird zuvor Tabuisiertes wie (weibliches) sexuelles Begehren nun als Antrieb zur Normverletzung bewusstseinsfähig, (als Ausnahmeerscheinung) zulässig49 und (etwas konventionell und mit Nähe zum Kitsch50) auch darstellbar – wobei 1903 in Beate und Mareile noch die Leerstellentechnik des 19. Jahrhunderts 47Eduard von Keyserling: „Bunte Herzen“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973e, S. 479–550, hier S. 549. 48Gropp: „Keyserlings ewige Modernität“. 49Auf der Ebene der historie wird er indes weiterhin sanktioniert (gesellschaftlich, moralisch oder im Sinne der poetischen Gerechtigkeit durch Tod/Verlust). 50Kitsch als negative Wertungskategorie für „ästhetisch wie stilistisch als minderwertig, klischeehaft überladen, unecht oder banal“ eingestufte Kunstwerke dient hier als operativer Begriff. Von den gängigen Charakteristika des „bis in die Gegenwart nicht eindeutig zu fixierenden Terminus“ treffen auf Keyserlings Schreibweise resp. die Textoberflächen seiner Texte v. a. die typisierende Figurenzeichnung und gesteigerte Emotionalität zu (Sikander Singh: „Kitsch“. In: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moennighoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 32007, S. 384). Das Stereotype umfasst nicht nur einzelne Figuren, sondern auch Figurenkonstellationen, Schauplätze, Plots, deren Motivierung und den Umgang mit Leitmotiven und Symbolen. 76 A. Pontzen Verwendung findet: „Da nahm Guenther sie in seine Arme…“51 Auch wird – im Sinne von Wünschs Moderne-Kriterien – deutlich, dass die Normen (etwa auch der standesgemäßen Eheschließung in Fürstinnen) kein selbstverständliches metaphysisches Recht haben, sondern den „Status sozialer [und z. T. schichten- und milieuspezifischer, AP] Spielregeln“. Als solche bleiben sie wirkmächtig. So empfinden nicht wenige der betrogenen ‚weißen‘ Frauen den Ehebruch (und dessen Umstände) als „nicht ganz reinlich“ (Fastrade in Abendliche Häuser,52 Annemarie in Harmonie53) – eine Kategorie, die stärker geschmackliche als moralische Aspekte aktualisiert; umgekehrt bindet die Männer ein als bedrückend und entsinnlichend empfundenes Mitleid an die Ehefrauen (Harmonie), worin Lebensphilosophie und Nietzsche-Rezeption sich niederschlagen. Entscheidend ist aber, dass Ehebruch und Duell bei Keyserling (auf der Ebene von histoire und discours) weniger selbstzweckhafte Handlung im Sinne eines Plots darstellen als bloße atmosphärisch und psychisch induzierte Effekte von Konstellationen und Arrangements; sie liefern vor der Hand Erzählanlässe, an deren emotionale, faktische oder dramatische Authentizität weder die Erzählinstanz noch die beteiligten Figuren zu glauben scheinen. Ob die Leser und Leserinnen es tun, ist eine der Differenzen von naiver (neuromantischer) und sentimentalischer (moderner) Lesart der Texte. Stimmung vs. Plot und Konstellation als Handlung Betrachtet man Schauplätze, Personal und Themen von Keylerings ‚Schloßgeschichten‘ unter literarhistorisch diachroner Perspektive einer ‚Reihe‘ (im Sinne der russischen Formalisten), so fällt von Fontane über Keyserling zu Schnitzler eine Tendenz der Verstädterung, Verbürgerlichung und Explizitheit von Sexualität und zunehmender (Selbst-)Psychologisierung auf. Synchron, in der konzentrierten Lektüre von Keyserlings Erzähltexten, verdeutlicht die relative Ähnlichkeit von Schauplätzen, Milieus und Themen, dass bei ihm an die Stelle einer Was-Spannung eine Wie-Spannung getreten ist: Dass es zum Ehebruch, Duell, zur Trennung, Krankheit, zum sozialen, psychischen oder/und ökonomischen Niedergang kommen wird, ist gewiss; offen ist nur die Frage des Zeitpunkts und der genauen Umstände. Auf das Missverhältnis von Stimmung und Handlung (oder: Konstellation und Plot) weist, euphemistisch verklärt, schon Thomas Mann hin: Es fehlt bei Keyserling die Breite, das Behagen, der lange Atem, die gesunde Furchtlosigkeit vor dem Langweiligen, die der Erzählungskunst von 1860 [Fontanes Erzählkunst wird sehr früh verortet, AP] noch eignete. Sein Werk ist schmaler, graziler, später, wählerischer, 51Keyserling: „Beate und Mareile“, S. 318. von Keyserling: „Abendliche Häuser“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973d, S. 351–378, hier S. 393. 53Eduard von Keyserling: „Harmonie“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973b, S. 217–254, hier 242. 52Eduard Täuschende Moderne 77 es hat nervösen Impuls; der Blick auf das Leben ist kälter geworden, die Ironie geistiger, das Wort präziser, der Gesamthabitus ungemütlicher, künstlerischer und weltläufiger – man spürt die Europäisierung der deutschen Prosa seit 1900.54 Liest man kritisch, dann steht zwischen den Zeilen, dass Keyserling als Erzähler kurzatmig ist. Seine Erzählungen erhalten oft Stoff für Romane, doch wird dieser überhastet serviert. Die Disproportion von Erwartung und Erfüllung, implizitem Wissen und expliziter Demonstration mag dem Leseeindruck der Anspannung und Aufladung der Sprache (Gropp, Illies) Vorschub leisten, den die Modernitätsverfechter anführen, der sich aber auch aus ihrem Status als professionelle Leser erklären ließe: Wenn auf den ersten Seiten einer Keyserling-Erzählung Schauplatz und Personal skizziert sind, hochsymbolische Blumen eine Sprache sprechen, die nicht rein impressionistisch-psychologisch ungefiltert subjektive Wahrnehmung (modern) synästhetisiert, sondern als Metaphorik symbolistisch sinnzuweisend ‚komponiert‘ (was in der Überdeterminierung in die Kitschnähe rückt), dann liegt für den erfahrenen Leser darin bereits alles Künftige (und auch alles Vorgängige). Das verdeutlichen bereits Titel wie: Abendliche Häuser, Schwüle Tage, Am Südhang, Bunte Herzen. Wie paratextuelle Teaser evozieren sie bildhaft-atmosphärisch einen Fiktionsraum, noch bevor man ihn betreten hat. Dort, wo die typischen Konstellationen der komplementären ‚weißen‘ und ‚roten‘ Frauen55 (Beate und Mareile, Harmonie, Fürstinnen), der um eine dämonisch undurchschaubare Femme fatale (Daniela von Bardow; Doralice (Am Südhang; Wellen)) konkurrierenden jungen Männer (Am Südhang) oder der vor Langeweile und aussichtslosem Lebenshunger vor sich hinwartenden jungen Frauen aus gutem Hause (Fürstinnen, Abendliche Häuser) ein bisschen unübersichtlicher werden, etwa weil sie miteinander kombiniert oder vervielfacht (Fürstinnen) sind, erhöhen Spiegel- und Komplementärkonstellationen zwar den Schwierigkeitsgrad für den Leser, ändern aber nicht den Mechanismus: Mit der Einsicht in die Konstellation ist die Handlung bereits vorweggenommen. Im Zusammenhang der Vervielfachung von Motiven und Konstellationen – etwa gegenüber dem Vorbild Fontane – sieht Rolf Parr einen Hinweis auf Modernisierung, insofern – etwa am Beispiel der drei zu verheiratenden Töchter in Fürstinnen gegenüber der einzigen Effi Briest – mehrere Handlungsmodi und Verhaltensmöglichkeiten exerziert und damit als ‚normal‘ denkbar würden.56 Dieser Deutung auf der Folie gesellschaftlicher Modernisierung wären zwei andere an die Seite zu stellen: zunächst die Analogie zu Zolas Arbeitsweise im 54Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 226. zu den komplementären Strukturmodellen der Geschlechts- und Alterssemantik bei Keyserling: Caren Kollek: Literarische Selbstfindungsprozesse um 1900. Personen-, Erotik- und Moralkonzeption in Erzähltexten von Arthur Schnitzler, Eduard von Keyserling und Hermann Sudermann. Kiel 2011, S. 119–333. 55Vgl. 56Vgl. Parr: „Preußisches Dur und baltisches Moll“, S. 58 f., S. 61. 78 A. Pontzen roman expérimental, der in der experimentellen Reproduktion einer biographischen Situation das Spektrum familiärer Ähnlichkeiten und milieuspezifischer Gebundenheit illustriert; in dieser Hinsicht wäre Keyserling mit seinem Verfahren zwar modern (wie auch Parr urteilt), allerdings innerhalb eines literarhistorischen und romanpoetischen Programms, das seinerseits bereits Geschichte war. Eine zweite Lesart ist spieltheoretischer Natur und dezidiert rezeptionsästhetisch, insofern Keyserling hier mit Variationen spielt, deren Charme mit der Kenntnis des Bezugsrahmens und der literarischen Reihen, denen sie entstammen, zunimmt: So kann man (wie Parr) den Romanbeginn von Fürstinnen unter dem Blickwinkel der Effi-Allusionen lesen oder die Konstellations- und Plotähnlichkeit zwischen Fürstinnen und Schach von Wuthenow fokussieren: Zwei – aus psychoanalytischer Perspektive interessante – eheängstliche ältere Junggesellen verlegen sich auf die Verehrung einer ‚hohen‘ Frau, um dann einer sozial inakzeptablen Tochterfigur zu verfallen, in eine Ehe gedrängt zu werden, deren Lebensform sie sich durch Freitod/Krankheitstod entziehen, auch weil sie den Ehrverlust vor der ‚hohen‘ Frau als Treuebruch erleiden und nicht verkraften können. Der Kürassieroffizier Schach gibt Victoire und dem gemeinsamen Kind immerhin gesellschaftliche Legitimation, indem er mit dem Selbstmord bis nach der Hochzeit wartet. Graf Streith aber entflieht nicht nur der Ehe, sondern bereits der Realisierung des zudem geheim gehaltenen Hochzeitsversprechens durch Tod; er hinterlässt eine (vermeintlich) entehrte Braut und deren sowieso schon desavouierte, weil geschiedene Mutter – eine sozialhistorisch bittere Pointe. Beide Romane finden nicht zu einem ästhetisch befriedigenden Ende: Fontane muss ein Brief-Postscriptum nachschieben, um das tragisch verwirrende zu einem ‚guten‘ Ende zu vereindeutigen; Keyserling arrangiert ein Schlusstableau, in dem das ob seiner Jugend und Lebendigkeit geliebte Mädchen gleichsam petrifiziert am Wegrand dem Totenzug beiwohnt: Die Fürstin aber war in den Garten hinabgestiegen, sie ging bis zum Gartengitter, blieb dort stehen, schützte die Augen mit der Hand und spähte auf die Landstraße hinaus. Auf der anderen Seite der Straße, am Waldrande, standen zwei Frauen in schwarzen Trauerkleidern, Frau von Syrman und ihre Tochter. Britta hielt einen großen Feldblumenkranz, flammend von den Farben der Trollblumen, Lichtnelken, Sumpforchideen und Skabiosen. Nun hörte man den Hufschlag von Pferden, und der Leichenwagen kam, mit einem Viererzuge bespannt. Der Sarg war mit einer schwarz und silbernen Decke überdeckt und auf ihr lagen Palmenzweige und große Kränze aus weißen Rosen. Als der Wagen langsam am Waldrande hinfuhr, traten die beiden Frauen vor, und Britta legte ihren Kranz auf den Sarg. Dann setzte Britta sich am Wegrain nieder, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte. Die Fürstin stand noch immer regungslos da und schaute dem Wagen nach, wie er die Allee hinabfuhr, umgeben von dem blonden Flimmern einer leichten Staubwolke, immer kleiner wurde mit seinem schwarzbedeckten Sarge, seinen weißen Kränzen, in deren Mitte Brittas Kranz lag, heiter in seiner Farbenpracht, wie ein helles Jugendlachen.57 57Eduard von Keyserling: Fürstinnen. Roman. Nachwort von Jens Malte Fischer. Zürich 2017, S. 287 f. Täuschende Moderne 79 Antizipation und Stereotype Fontane nutzt und verfeinert die Antizipationstechnik des Realismus im Kontext des Ehebruchromans (von L’Adultera über Unwiederbringlich bis zu Effi Briest) zur Sympathielenkung und zur Schaffung moralischer Komplizität mit einem Leser, der das Ehebruchsgeschehen so lange erwartet, dass dessen Eintritt Rezeptions-Befriedigung verschafft, auch jenseits der moralischen Entrüstung. Bei Keyserling sind Vorausdeutung und Leitmotivik so auf die Spitze getrieben und der Ehebruch von den äußeren Markern und symbolischen Accessoires – WagnerMusik, Treibhäusern, Boots-, Schlitten- und Kutschfahrten – in die Figurenkonstellationen und die Porträts verlagert, dass das Antizipative (etwa in Nicky58) mit dem Stereotypen ineinsfällt; selbst in einer kurzen Inhaltsangabe scheint deshalb jedes Stichwort das folgende zu soufflieren und ruft zugleich andere Texte des Autors mit ähnlichen Narrativen auf: Die mit einem etwas hausbackenen alten adligen Ministerialbeamten verheiratete Titelheldin Nicky soll von ihm zu einer bequemen Ehefrau erzogen werden.59 Sie aber träumt davon, der Gleichförmigkeit zu entrinnen, und wartet nach fünfjähriger Ehe immer noch auf das „ganze Leben“ und die „geheimnisvolle Zukunft“.60 In der Sommerfrische lernt sie einen südländischen Pianisten kennen, der sie durch sein Klavierspiel und seine eigenwillige Persönlichkeit bezaubert und auch dadurch, dass er sie und sich selbst zu einsamen Ausnahmenschen stilisiert.61 Der belletristisch geschulte Leser hat damit keinen Zweifel mehr, dass ein Ehebruch bevorsteht, doch der Kriegsausbruch im Sommer 1914 stört die weltenthobene Liebe, und den ins Feld ziehenden Ehemann ziert plötzlich ein heroischer Nimbus. Vor allem trägt das nationale Gemeinschaftsgefühl dazu bei, Nicky auf den rechten Weg zurückzubringen. Im Gegensatz zu dem Pianisten, der die Kriegsbegeisterung sinnlos und hässlich findet, erlebt sie die Aufbruchsstimmung als etwas Schönes und hat das Gefühl „hundert Leben“62 zu leben. Ihr Sinneswandel ist aber psychologisch nicht überzeugend und erfolgt ähnlich abrupt, wie das Klavierspiel den Ehebruch ‚herbeiführt‘ – nur, dass dieser Automatismus als Narrativ eingeführt ist (und sich so Fragen der psychischen oder sachlichen Plausibilität entzieht), während die nationale Euphorie von 1914 – zwar ebenfalls ein Topos – sich nicht in das Reservoir der Ehebruchsnarrative fügt.63 58Eduard von Keyserling: „Nicky“. In: Ders: Schwüle Tage. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Martin Mosebach. Zürich 2005a, S. 231–299. 59Ähnlich wie Doralice in Wellen von ihrem Ehemann, dem alten Grafen. 60Keyserling 2005a: „Nicky“, S. 233. 61Ähnlich wie Boris gegenüber Billy in Bunte Herzen. 62Keyserling 2005a: „Nicky“, S. 299. 63Zur literarästhetischen Wertung und Position der Erzählung im Bd. Schwüle Tage vgl. Alexandra Pontzen: „Liebe und Tod in sommerlichen Gärten. Erzählungen von Eduard von Keyserling in der Manesse Bibliothek“. In: literaturkritik.de. Rezensionsforum 8 (2005), https://literaturkritik. de/id/8362 (17.10.2019). 80 A. Pontzen Femme fatale Auch innerhalb einzelner Motive aus Keyserlings Erzählwelt, etwa der Femme fatale, wird eine diachrone Entwicklung gegenüber Fontane deutlich und bleibt doch ein kategorialer Unterschied zu Schnitzler unverkennbar. Keyserlings Daniela von Bardow (Am Südhang) und Doralice (Wellen) werden expliziter als Fontanes undurchschaubare, mit erzählerischer Diskretion behandelte Melusine (Der Stechlin) entwickelt, ohne dass die Thematisierung von weiblicher Sexualität und Doppelmoral die Intensität von Schnitzlers Heldinnen in Frau Bertha Garlan (1901) oder Frau Beate und ihr Sohn (1913) erreichte. Das liegt auch daran, dass der Einblick in die weibliche Psyche weitgehend auktorial gegeben wird (als Außen- oder Innenperspektive), während Schnitzler personale Erzählweisen einsetzt und über psychoanalytische Codierungen von Handlungen, Wahrnehmungen oder Redeweisen auch den Figuren Unbewusstes evozieren kann ohne es zur Sprache (und damit den Figuren zum Bewusstsein) zu bringen. Umgekehrt führt Keyserling den Aspekt der männlichen Projektion auf die Frau (in Wellen) in der Figur des verwachsenen Geheimrats Knospelius so vor, dass das Interesse an Psychologie und Menschbeobachtungen durchaus autoreflexiv als Form der Ressentimentpoetik (des Autors) verstanden werden kann. Das ist zwar einerseits ‚spät‘ – nämlich gut zehn Jahre nach Thomas Manns Tristan-Novelle – und also nicht neu, doch mit deutlich offensichtlicherer Analogie zwischen Figur und Autor als bei Mann und insofern radikaler in der Offenlegung autobiographisch poetologischer Implikationen. Duell Die skizzierte ‚Mittelstellung‘ Keyserlings soll abschließend das Motiv des Duells illustrieren, das u. a. im Zusammenhang der Décadence als ein Desillusionierungsmotiv in Erscheinung tritt. Schon in Fontanes Effi Briest wird die Verinnerlichung der Norm Ehre als prekär erkannt, bei Schnitzers Leutnant Gustl (Leutnant Gustl) hat sie sich gänzlich veräußerlicht.64 Nicht chronologisch, aber systematisch (und erzähltechnisch) ‚dazwischen‘ führt Keyserling (in Am Südhang) das Duell ironisch als ‚sinkendes‘ bzw. ‚gesunkenes Kulturgut‘ vor: Während der Adel das Duell samt „Todesmöglichkeit als Dekoration“,65 dramatischen „Effekt“ und „bengalische Beleuchtung“66 einer ansonsten durch ennui markierten Existenz instrumentalisiert und reflektiert – „Gefahr drapiert immer“67 –, wird es vom bürgerlichen Arzt als „ein Mysterium, eine erhabene Sinnlosigkeit“ verklärt,68 64Vgl. dazu Wünsch: „Vom späten ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne‘“, S. 195. „Am Südhang“, S. 195. 66Ebd., S. 196. 67Ebd., S. 195. 68Ebd., S. 201. 65Keyserling: Täuschende Moderne 81 bevor der bürgerliche Voyeurismus der Desillusionierung weicht. Und während Karl Erdmann die umworbene Frau mit Hinweis auf die ihm bevorstehende Todesgefahr im Duell kurzfristig zum Stelldichein zu verführen weiß, gewinnt mittelfristig, nur eben posthum, der biedere Hauslehrer mittels bürgerlichem Liebestod die Neigung der schönen Daniela. Motiv- und mentalitätsgeschichtlich illustriert die Konkurrenz von Duell und Selbstmord die sich wandelnden Vorlieben der femme fatale. Auf der Ebene der histoire fällt indes auf, wie wenig – ganz anders als bei Fontane oder Schnitzler – der Anlass des Duells interessiert. Er hat nichts mit der Haupthandlung zu tun, was Rezensenten dazu bringt, die mangelnde kausale Integration in die Story durch eigene Spekulationen zu ersetzen, auch um den Preis, die Chronologie der Ereignisse durcheinander zu bringen.69 Auch in Beate und Mareile ist der Auslöser des Duells schlecht motiviert und wenig schlüssig, es wird z. B. nicht deutlich, welche Frau, Ehefrau oder Geliebte, der Mann zu verteidigen glaubt, indem er eine Forderung ausspricht. Hier überträgt sich die Wahrnehmung der Figuren, die das Duell nur noch als ‚Ereignis‘ und Gefühlssurrogat betrachten, auf den Erzähler, dem es auch nicht mehr auf den Anlass von Duellen anzukommen scheint, weil er sie lediglich als Katalysatoren (im Hinblick auf die Figurenpsychologie, den Plot und wohl auch die Lesemotivation und -emotion der Rezipienten) benötigt; so zustande kommende Leerstellen und Unstimmigkeiten der Handlung kann man im Sinne der Moderne-These als dekonstruktivistische Elemente deuten. Ambivalenzen Insgesamt aber werden wenig plausibel integrierte Wendungen der Handlung, Überexplizitheit, Stereotypisierung, Ballung schicksalhafter Ereignisse (Duellforderungen, Spielschulden, Freundes- und Liebesverrat) bei zuweilen ungeniertem Gebrauch des Zufalls durch den Erzähler70 ebenso wie überorchestrierte emotional aufgeladene Schlussbilder, nahe am Kitsch71, von den Verfechtern der Modernitätsthese ignoriert, 69Illies: „Die Ironie der schwülen Tage“: „Wegen der Liebesbrief-Rezension Daniela von Bardows (und aus Langeweile) kommt es zum Duell zwischen Karl Erdmann und seinem Nebenbuhler. […] Enttäuschung dann auch bei der Umworbenen. Daniela wendet sich gedanklich wieder jenem früheren Hauslehrer zu, der aus unglücklicher Liebe zu ihr wenigstens gestorben ist.“ 70So etwa in Schwüle Tage, wo der Zufall Bill Gelegenheit gibt, hinter die trügerische Fassade der väterlichen Existenz zu schauen. 71Man betrachte etwa das oben zitierte Ende von Fürstinnen (Keyserling 2017, S. 287 f.), in dem die Kontrastierung der ‚hohen‘ kühlen mit der jungen leidenschaftlichen Frau, die komplementären Landschaftsausschnitte (Gartenzaun – Waldrand), die Farben (weiß – bunt brennend) und Blumen (Rosen – Trollblumen) vor schwarzem Samt die Szene mit Bedeutsamkeit überfrachten. Die großen Themen Leben und Tod, Jugend und Alter werden nach der metaphorischen (Über-) Determinierung noch im allegorisierenden Vergleich explizit gemacht. Die letzten Worte der Erzählung gelten „seinen [d. i. des Totenwagens, AP] weißen Kränzen, in deren Mitte Brittas Kranz lag, heiter in seiner Farbenpracht, wie ein helles Jugendlachen“ und ließen sich perspektivisch der Fürstin zuordnen, die indes nicht zu solcherart sentimentalen Arrangements neigt. Letztlich muss also wohl doch die Erzählinstanz den Ausklang der Erzählung in einer emotionalisierenden Effektkumulation verantworten. 82 A. Pontzen bestritten – Illies insistiert, die „Grenze des Sentimentalen“ werde „nie überschritten“72 – oder als „Stolpersteine“73 (Schimmang) camoufliert, die die Lektüre bereichern. Wo Keyserlings Modernität proklamiert wird, fehlt eine literarästhetische Negativbilanz (etwa mit Hinweis auf schlicht missglückte Passagen74), es werden bekannte Epitheta wie „Beschreibungsintensität“75 (Gropp), „Stimmungsdichte, […] Beschreibung der Atmosphären von Innenräumen und Naturräumen“76 (Illies) angeführt. Nostalgie wird einerseits als prospektive Rückwendung eines Autors gewürdigt, der sich aus seiner Zeit heraus bewege und aus einer imaginären Zukunft auf seine Gegenwart als eine Vergangenheit zurückblicke, so dass wir es nicht mit naiver Nostalgie, sondern mit deren (ironisch-dekuvrierender) Zurschaustellung als einer im frühen 20. Jahrhundert und grundsätzlich ungeeigneten Art der Gegenwartsbewältigung zu tun hätten.77 Als ästhetisches Surplus gelten implizite Signale von Metafiktionalität wie Ironie und uneindeutige Erzählhaltungen, was abschließend erläutert und entkräftet werden soll: Illies betrachtet – mit Rekurs auf Beda Allemanns Theorie literarischer Ironie – „gerade das Fehlen direkter Ironiesignale“78 als Kennzeichen eines ironischen Textes. Dass Keyserlings Erzähler zu ironischem Erzählverhalten neigen, indem sie die subjektiven Weltsichten ihrer Figuren mit Distanz betrachten, wie Hannelore Gutmanns Dissertation Die erzählte Welt Eduard von Keyserlings darlegt, ist plausibel, aber so ‚modern‘ nicht, man denke an Fontanes Jenny Treibel. Schließlich: Schimmangs Begeisterung für „schräge Sätze“, die Keyserling Fontane voraushabe und die verhinderten, dass man es sich in „Keyserlings Erzählungen […] gemütlich mache“.79 Als solche „schrägen“ „Sätze, die wie Perlen aus den Texten hervorleuchten und den Leser innehalten lassen“, bezeichnet Schimmang: „Ein angenehmes Raubtiergefühl wärmte mir das Herz.“ Oder: „Alles hatte hier Nerven, alle Menschen, alle Möbel, alle Blumen. Er selbst bekam auch Nerven.“ Oder: „Aber irgendwo musste sie doch auch sein, wenn man auch sechzehn Jahre alt ist, man ist doch ein Mensch.“ Schließlich: „Abends lasen sie ein gutes Buch. ‚Ein gutes Buch‘, das war ein Ausdruck, den Reichel liebte.“ Meines Erachtens handelt es sich hier, mit Ausnahme des ersten Satzes, um Beispiele Erlebter Rede und damit um eine Technik, die Keyserling nicht sehr 72Illies: „Abende mit Keyserling“, S. 713. „Ein angenehmes Raubtiergefühl wärmte mir das Herz“. 74Vgl. etwa Keyserling 2017: Fürstinnen, S. 171 f. 75Gropp: „Keyserlings ewige Modernität“. 76Illies: „Die Ironie der schwülen Tage“. 77Insofern schreibe Keyserling sentimentalisch und damit reflexiv. Zugleich – und nicht ohne inneren Widerspruch – verweist Illies auf biographische Verlusterfahrungen, wie die Erblindung, und lässt damit seine These in die Nähe jener Nostalgie-Topik rücken, die er anderen Interpreten, etwa Mosebach, als biographistisch übelnimmt. Vgl. Illies: „Abende mit Keyserling“, S. 712. 78Illies: „Die Ironie der schwülen Tage“. 79Schimmang: „Ein angenehmes Raubtiergefühl wärmte mir das Herz“. 73Schimmang: Täuschende Moderne 83 oft einsetzt und auch nicht sicher handhabt: In Fürstinnen, seinem letzten Roman, dessen Polyperspektivik Gropp hoch lobt, wartet man lange vergeblich auf ihren Einsatz, stattdessen wird sehr konventionell mit inquit-Formeln Einblick in Gedanken und Gefühle der Figuren gegeben. Natürlich gibt Erlebte Rede als Überlagerungstechnik auktorialen und personalen Erzählens Gelegenheit, den Bewusstseinsgrad von Figuren in ambivalenter Weise zum Thema zu machen, indem ein Wissen oder auch nur ein Urteil über Gefühle, Gedanken, Überzeugungen kippfigurartig einem als überlegen auftretenden Erzähler oder der figureneigenen Wahrnehmung zuschreibbar wird. Entscheidend ist aber genau dieser Schwebezustand, denn ließe sich eindeutig feststellen, dass ‚es‘ aus der Figur spricht, dann blieben Ich- und Bewusstseinsgrenze letztlich deckungsgleich – und das wäre (nicht nur) für Wünsch ein Merkmal vormoderner Erzählweise.80 Schimmangs Urteil, „[s]olche schrägen Sätze, geradezu Stolpersteine, findet man in Fontanes Plaudereien nirgends“,81 ist schwer nachvollziehbar. Gerade im Ehebruchsroman spielt Erlebte Rede im Kontext von Sympathielenkung (zugunsten der Ehebrecherin) und moralischer Wertung des Ehebruchs durch Verurteilung des Ehemanns bei Fontane (etwa in L’Adultera) eine wichtige Rolle, wenn im Unklaren bleibt, ob das negative Urteil über den taktlosen van der Straaten von der untreuen Ehefrau oder vom Erzähler gefällt wird. Die ‚Fusion‘ der Stimmen dient hier dazu, den Ehebruch als „lässliche Sünde“ darzustellen, die unter Umständen geschieht, „die dem schuldigen Theil zwar nicht Zustimmung aber doch […] eine Verzeihung sichern“.82 Vielleicht lässt sich für Keyserlings Einsatz der Erlebten Rede keine vergleichbar klare Wirkungsrichtung bestimmen, sondern eher ein diffuser Effekt der Verunklarung, wie viel die Figuren über sich, ihre seelischen Mechanismen und – auch dies – ihren Status als Akteure eines Figurenensembles mit relativ festgelegtem Handlungs- und Rederepertoire wissen. Ob diese Wirkung in den Absichten des Autors liegt oder sich als Leseeffekt eigenen Rechts einstellt, ist nicht zu entscheiden. 80Wünsch: „Vom späten ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne‘“, S. 189 f. Wünsch betont im Zusammenhang der „Darstellbarkeit der neuen Psychologie“: „gerade die alte Technik auktorialen Erzählens kann hier neu funktionalisiert werden, um z. B. der Figur unbewußte psychische Inhalte einzuführen“ (ebd., S. 190). Die demgegenüber neue und für moderne Erzählliteratur als charakteristisch betrachtete etwa „um die Jahrhundertwende voll ausgebildete Methode, die Romanfiguren als Subjekte in ihrem schweigenden Innen, den nicht verlautbarten Regungen ihres Bewußtseins und zwar als dritte Person darzustellen“ (Käte Hamburger: „Dorrit Cohn, ‚Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction‘“. In: Germanic Review 55/1 (1980), S. 31–33, hier S. 32), leistet etwas Paradoxes, das literarisch als Schwebezustand evozierbar ist, aber an dem die literaturwissenschaftlichen Benennungen (Erlebte Rede, discours indirect libre oder narrated Monologue (Dorrit Cohn)) scheitern, weil sie zwar die Fusion von Erzählerstimme und Figurenperspektive als ein neues Drittes würdigen wollen, die Bezeichnungen aber drohen mit dem Moment der Rede/des Monologs zu evozieren, die Figur selbst verfüge über eine Sprache auch für ihr Unbewußtes. 81Schimmang: „Ein angenehmes Raubtiergefühl wärmte mir das Herz“. 82Fontane, Theodor: „[An Eduard Engel] 18.04.1882“. In: Fritz Martini/Walter Müller-Seidel/ Berhard Zeller (Hg.): Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 28 (1984), S. 26 ff. 84 A. Pontzen Mit anderen Worten: Keyserling ist ein lesenswerter Autor, an dem der Leser seine Vorstellungen (und Vorurteile) über die (Klassische) Moderne prüfen kann. Die Ergebnisse, zu denen er kommt, sagen vielleicht mehr über ihn aus als über die Texte. Literatur Balzer, Bernd/Mertens, Volker (Hg.): Deutsche Literatur in Schlaglichtern. Mannheim/Wien/ Zürich 1990. Beutin, Wolfgang et al.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 82013. Cohen, Roy C.: „Naturalismus“. In: Ehrhard Bahr (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur. Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 3: Vom Realismus bis zur Gegenwartsliteratur. Tübingen/Basel 21998. S. 89–156. Fick, Monika: „Literatur der Dekadenz in Deutschland“. In: York-Gothart Mix (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16, Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 7: Naturalismus. Fin de siècle. Expressionismus. 1890–1918. Wien 2000, S. 219–230. Fick, Monika: „Impressionismus“. In: Georg Braungart et. al. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. 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Werke Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz Eduard von Keyserlings Die dritte Stiege (1892) Christian Klein Ausgangspunkte Am 15. Oktober 1918 veröffentlichte die Frankfurter Zeitung den Nachruf von Thomas Mann auf seinen Kollegen Eduard von Keyserling, der am 28. September im Alter von 63 Jahren gestorben war.1 Mann bringt hier das zeittypische Keyserling-Bild auf den Punkt, wenn er Biographie und Werk untrennbar miteinander verknüpft: Was Keyserling angeht, so ist ja nicht nur sein Werk die Verklärung und melancholische Ironisierung, die Kunstwerdung seines feudalen Heimatmilieus, sondern sein Künstlertum selbst ist die Sublimierung, Übertragung, Vergeistigung adeliger Lebensstimmung, adeliger Leichtigkeit und Verpflichtung, adeliger Diskretion, Haltung, Reinheit, Anmut und Strenge. Indem er Künstler wurde, hörte er nicht auf, ein Edelmann zu sein; sondern als Künstler war er, auf höherer Ebene, nur noch einmal ein Edelmann.2 Die Herkunft aus dem baltischen Landadel wird von Mann nicht nur als Inspiration für die inhaltliche Ausrichtung von Keyserlings Werk aufgefasst, sondern als Konstituente für dessen Schreiben an sich. Vor diesem Hintergrund konzediert er zwar, dass Keyserling ein „Gesellschaftsschilderer“ sei, meint aber, 1Vgl. zu Manns Nachruf auf Keyserling ausführlich den Beitrag von Friedhelm Marx in diesem Band. 2Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 15.1: Essays II: 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 223–227, hier S. 224. C. Klein (*) Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: chklein@uni-wuppertal.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_7 89 90 C. Klein dass ihm „völlig die soziale Attitüde fehlt“: „Die Kunst war ihm Zweifel, Güte, Selbstzucht, Melodie und Traum.“3 Keyserling wurde schon früh als impressionistischer Fin-de-Siècle-Autor charakterisiert, dessen Texte von der Melancholie einer verschwindenden Lebensform geprägt seien und dessen Meisterschaft entsprechend in der Schilderung von Stimmungen und atmosphärischen Momentaufnahmen liege. In diesem Sinne hatte Hermann Hesse 1909 konstatiert, dass Keyserling „keine ‚Stoffe‘ und kaum eine ‚Handlung‘ braucht“, seine Texte vielmehr davon lebten, dass er „den ganz feinen Sinn für die Gebärde der unbelebten Dinge, für das Besondere eines Duftes, einer Morgenstunde, eines grellsonnigen Blumenbeetes“ habe.4 Vor dem Hintergrund der körperlichen Hinfälligkeit Keyserlings, der an Syphilis und einer Rückenmarkserkrankung litt und wohl spätestens 1907 erblindet war, wird auch die biographische Rückbindung von Hesses Keyserling-Rezeption deutlich, wenn er schreibt: „Es fehlt ihm vielleicht an der sogenannten Kraft, er hat weder Unbekümmertheit noch Burschikosität. Aber er hat die stille Kraft eines treuen, tiefen, unerbittlichen Fühlens“.5 Die Lesart der Keyserlingschen Texte als biographisch gefärbte Zeugnisse einer wenn nicht schon vergangenen, dann jedenfalls gerade untergehenden Epoche wurde spätestens im Rahmen der von Ernst Heilborn 1922 verantworteten vierbändigen Ausgabe der Gesammelten Erzählungen endgültig gefestigt, in deren Einleitung der Herausgeber Keyserling als „Schilderer einer erlesenen und sterbenden Kultur“ des baltischen Landadel-Lebens bezeichnete, dessen Schriften vom „Klang der Wehmut“ geprägt seien.6 Beispielhaft für die Wirkmacht dieser Rezeptionslinie heißt es noch 75 Jahre später in einem einschlägigen Literaturlexikon, Keyserling stehe für „aristokratisch-zuchtvolle lyrische Stimmungskunst einer müden und versinkenden Welt voll Daseinsangst und Todessehnsucht“.7 Diese Einschätzung Keyserlings ist schon im Hinblick auf seine literarische Produktion ab 1903 einseitig, dem Jahr, in dem mit seinem Roman Beate und Mareile der Reigen seiner oft als Hauptwerk apostrophierten Schlossgeschichten beginnt. Einer Korrektur dieser Interpretation widmen sich ja einige der Beiträge im vorliegenden Band. Vollends unzutreffend ist diese Perspektive aber mit Blick auf Keyserlings Frühwerk und insbesondere seinen zweiten Roman Die dritte Stiege (1892). Denn hier werden klar vernehmlich zeitgenössisch aktuelle gesellschaftliche Konfliktlinien und politisch-sozialkritische Fragen verhandelt, 3Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 227. Hesse: „Eduard von Keyserling: ‚Bunte Herzen‘ (1909)“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 12: Schriften zur Literatur 2. Hg. von Volker Michels. Frankfurt/M. 1987, S. 364. 5Ebd. 6Ernst Heilborn: „Eduard Graf Keyserling, sein Wesen und sein Werk“. In: Eduard von Keyserling: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Berlin 1922. Bd. 1, S. 1–31, hier S. 3 und 31. 7Gero von Wilpert (Hg.): Lexikon der Weltliteratur. Bd. 1: Biographisches-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken. A–K. München 1997, S. 790. 4Hermann Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz 91 insofern Vertreter ganz verschiedener gesellschaftlicher Schichten – vom Großbürger bis zum Proletarier – in den Blick genommen und in ihren Existenzkämpfen begleitet werden. Zwar hat die Geschichte der postumen Auswahleditionen von Keyserlings Werken wesentlich dazu beigetragen, dass sein Frühwerk – neben Die dritte Stiege zählt dazu vor allem sein Debütroman Fräulein Rosa Herz aus dem Jahr 1887 – in Vergessenheit geriet, doch die Weichen für diesen Rezeptionsverlauf wurden schon zu Lebzeiten Keyserlings gestellt.8 Denn zwischen Keyserlings zweitem Roman und dem Beginn der Hauptphase seines Schaffens im Jahr 1903 liegen elf Jahre, in denen er zwar drei Dramen,9 aber keine selbstständigen Publikationen von erzählenden Texten vorgelegt hat. Als sich Keyserling 1895 in München niederlässt, kommt das einem Neubeginn gleich. Er verschweigt seine literarischen Anfänge, was auch insofern einfach war, als zu Die dritte Stiege vermutlich lediglich eine Rezension erschienen ist.10 Über die Gründe für diesen Wunsch nach einem Neuanfang lässt sich angesichts der von Keyserling angeordneten Vernichtung seines Nachlasses nur spekulieren. Zum einen mag eine künstlerische Neuausrichtung dafür eine Rolle gespielt haben, hatte Keyserling mit Die dritte Stiege doch einen sozialen Roman in naturalistischer Tradition vorgelegt, der aus ästhetischer Perspektive zu Beginn des 20. Jahrhunderts überholt war.11 In der Schwabinger Boheme der Jahrhundertwende, Keyserlings sozialer und literarischer Bezugsgröße, hätte sein Frühwerk sicher keinen Distinktionsgewinn gebracht, sondern vermutlich eher Stirnrunzeln hervorgerufen. Zum anderen könnte eine „schwerwiegende Lebenskrise“, die Keyserling während seines Wien-Aufenthaltes zu Beginn der 1890er Jahre durchlitten hatte, dafür gesorgt haben, dass er seinen Wien-Roman Die dritte Stiege und etwaige damit verbundene Erinnerungen verdrängen wollte.12 Auch wenn Lothar von Brückmann, der Protagonist des Romans, kein literarisches Alter Ego des Autors ist, so steht doch fest, dass die Schauplätze des Romans Keyserling sehr vertraut waren. Aber der Roman weist Keyserling nicht nur als genauen Kenner der topographischen, sondern auch der politischen Verhältnisse im Wien der späten 1880er Jahre aus, wenn er „die Ereignisse in der Zeit vor der Vereinigung der sozialistischen Gruppen Österreichs auf dem 8Vgl. hierzu und zum Folgenden: Fritz Martini: „Eduard von Keyserlings ‚Die dritte Stiege‘“. In: Ders.: Vom Sturm und Drang zur Gegenwart. Autorenporträts und Interpretationen. Mit Vor- und Nachwort von Helmut Kreuzer. Frankfurt/M. u. a. 1990, S. 281–303, insb. 282 ff. 9Siehe hierzu den Beitrag von Antonius Weixler in diesem Band. 10J. G. St.: „‚Die dritte Stiege‘“. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 3. Quartal (1892), S. 948 f. 11Vgl. hierzu: Peter Sprengel: „Das erzählerische Werk Eduard von Keyserlings im Kontext der Epoche“. In: Michael Schwidtal/Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Heidelberg 2007, S. 173–184. 12Vgl. Martini: „Die dritte Stiege“, S. 284 f. 92 C. Klein Hainfelder Parteitag 1889/89“ aufgreift und damit eine zentrale Phase aus der Geschichte der Arbeiterbewegung ins Zentrum rückt.13 Klar ist vor diesem Hintergrund: Die dritte Stiege nimmt eine besondere Stellung im Werk Keyserlings ein und ergänzt es um eine wichtige Facette. Angesichts der lange Zeit abgeschnittenen Rezeption des Textes, der nur selten von Literaturwissenschaftlern in die Hand genommen und erst 1985 überhaupt wieder aufgelegt wurde, scheint es zunächst sinnvoll, die zentralen Themen und Diskurse des Romans systematisierend zu skizzieren. Dabei wird Keyserlings Roman auch als eine Art Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Haltungen zur Welt erkennbar, der eine Fülle der zeittypischen Reaktionsweisen auf die Herausforderungen der Moderne aufgreift und gegeneinanderstellt: Ennui und Weltschmerz auf der einen Seite, Lebensdiskurs und Vitalismus auf der anderen Seite. Auf dieser Grundlage soll dann das Phänomen der Resonanz ins Zentrum gerückt werden, das romanintern einen Weg aus den Widersprüchlichkeiten der Zeit aufscheinen lässt. Die Sehnsucht nach resonanten Sozial- und Weltbeziehungen wird als entscheidende Handlungsmotivation im Romangefüge erkennbar. Sozial-, Entwicklungs- und Zeitroman Je nachdem, welchen Schwerpunkt man bei der inhaltlichen Analyse setzt, lässt sich Die dritte Stiege gattungstypologisch unterschiedlich klassifizieren: (1) mit besonderem Fokus auf der Varietät der präsentierten unterschiedlichen Milieus als Sozialroman, (2) aus Figurenperspektive mit Blick auf Werdegang und Reifungsprozess des Protagonisten als Entwicklungsroman oder (3) bezogen auf die historische Verortung und die aufgerufenen Diskurse als Zeitroman. (1) Die dritte Stiege ist ein Sozialroman, insofern der Text verschiedene Lebenswelten im Kontext der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen darstellt, Einblicke in ganz unterschiedliche Gesellschaftsmilieus erlaubt und dabei besonders auf die Sozialbeziehungen zwischen den Individuen eingeht. Dabei wird ersichtlich, wie gesellschaftliche Repressionsmechanismen, wirtschaftliche und emotionale Machtverhältnisse selbst die intimsten Verbindungen prägen. In der wohl einzigen zeitgenössischen Rezension, die den Text als „sozialen Roman“ kategorisiert, heißt es, dass „außer Zola […] wenige Schriftsteller mit solcher Naturtreue […] Leben und Treiben des Proletariats und der Deklassierten geschildert“ hätten wie Keyserling.14 Im Zentrum des Romans stehen die Bewohner eines Wiener Mietshauses, das genau lokalisiert und beschrieben wird als „großes viereckiges Gebäude mit zwei Toren, an der Ecke der Margareten- und der Wiedener Hauptstraße“.15 Schon die 13Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998, S. 382. 14J. G. St.: „Die dritte Stiege“, S. 948. 15Eduard von Keyserling: Die dritte Stiege. Göttingen 1999, S. 8. Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz 93 raumsemantisch aufgeladene Lage des Hauses in einer Art Übergangszone zwischen der vornehmen Ringstraße und den einfacheren Wohngegenden in der Vorstadt sorgt dafür, dass sich hier ganz verschiedene Gesellschaftsgruppen unter einem Dach finden.16 Der Fokus der Handlung liegt dabei auf den unterschiedlichen Mietern im Hinterhaus, dessen Etagen eben durch die titelgebende „dritte Stiege“ miteinander verbunden werden. Auch wenn die Bewohnerschaft insgesamt eher heterogen ist und vom Anwalt mit großen Salons bis zum Untermieter im kleinen Zimmer reicht, so ist doch das Leben der allermeisten Mieter von den herausfordernden Lebensbedingungen und Abstiegssorgen geprägt. Wie unter einem Brennglas werden die Nöte und Alltagsprobleme der Bewohner geschildert, in deren Leben häufig Geldfragen eine entscheidende Rolle spielen. In den Blick gerät das Hinterhaus in dem Moment, als Lothar von Brückmann dort einzieht, ein Landadliger, der aus der Nähe von Königsberg stammt. Im Rahmen einer aufbauenden Rückwendung erfahren wir, dass Brückmann während seines Studiums in Leipzig Kontakt zu Sozialdemokraten knüpfte, von denen er sehr beeindruckt war, wobei er sich insbesondere für Rotter, einen Österreicher, begeisterte. Lothar hängte sein Studium, das ihn ohnehin nicht ausgefüllt hatte, schließlich an den Nagel und stellte sich in den Dienst der Partei. Zur ideologischen Ausbildung ging er nach Genf, „an die Quelle der großen Lehre, wo aus allen Weltgegenden die Märtyrer der heiligen Sache zusammenkommen“,17 und ließ sich anschließend freudig nach Wien entsenden. Hier soll er in der Redaktion der neu gegründeten Zeitschrift Die Zukunft mitarbeiten, die den in der österreichischen Hauptstadt an Einfluss gewinnenden anarchistischen Kreisen etwas entgegensetzen „und den Grund zu einer organisierten Partei legen sollte“.18 Rotter, der alles vorbereitete, hat es so eingerichtet, dass Lothar im selben Haus untergebracht ist, wie die Redaktion der Zeitschrift. Darauf, dass die Mieterschaft dieses Hauses einige dunkle Geheimnisse hat, deutet schon eine frühe Begegnung mit einem anderen Hausbewohner hin. Als sich Lothar in einem Gasthof nach einem Tischnachbarn erkundigt, erläutert ihm Rotter, dass es sich um den ehemaligen Notar Remder handele, einen „Schuldenmacher“,19 wie Rotter ihn charakterisiert, der wegen „Unannehmlichkeiten“ seinen Posten verloren habe und jetzt durch die Klavierstunden seiner Tochter über Wasser gehalten werde. Im Verlauf des Romans lernt man Stockwerk für Stockwerk die weiteren Bewohner des Hauses Margaretenstraße 2 kennen. Tini, der selbstbewusst körperlichen Tochter der Hausmeisterin, die im Erdgeschoss wohnt, war Lothar gleich beim erstmaligen Betreten des Hauses begegnet. Im ersten Stock wohnen 16Vgl. hierzu Tatjana Kuharenoka: „Wiener Roman eines Deutschbalten. Großstadt, Visualität, Erinnerung in Eduard von Keyserlings ‚Die dritte Stiege‘“. In: Michael Jaumann/Klaus Schenk (Hg.): Erinnerungsmetropole Riga. Deutschsprachige Literatur- und Kulturvielfalt im Vergleich. Würzburg 2010, S. 219–235, hier S. 223. 17Keyserling: Die dritte Stiege, S. 23. 18Ebd., S. 25. 19Ebd., S. 27. 94 C. Klein die Hausbesitzerin Frau Würbl und ihre 37-jährige Stieftochter Clementine, deren ereignisloses Leben nur durch den abendlichen Blick aus dem Fenster auf die lebendige Straßenszenerie unterbrochen wird. In der Wohnung über ihnen residiert der Advokat Zweigeld mit Frau und Tochter, gibt häufige Gesellschaften und lebt auf großem Fuße. In der dritten Etage ist Brückmann zur Untermiete in der Wohnung einer Frau Pinne einquartiert, außerdem wohnen auf dieser Etage noch Vater und Tochter Remder sowie der Amtsschreiber Hempel mit Familie. Im vierten Stock schließlich liegt neben den Redaktionsräumen der Zukunft die Wohnung des Telegraphenbeamten Gerstengresser, der hier mit seiner Frau, seinen zwei Töchtern und dem Sohn Leopold, der Angestellter in einer Seidenwaren-Handlung ist, lebt. Innerhalb dieser Bewohnerschaft kommt es zu verschiedenen emotionalen Verwicklungen, die eine eigene Dynamik entfalten. So ist Leopold liiert mit Mietzi, Tochter des Amtsschreibers Hempel aus dem dritten Stock, die heimlich als Statistin beim Theater anfängt und von der großen weiten Welt träumt. Um sich Mietzis Zuneigung zu versichern und ihr etwas bieten zu können, stiehlt Leopold an seinem Arbeitsplatz Seidenschals und verkauft sie unter der Hand. Als diese Diebstähle aufzufliegen drohen und Mietzi wegen ihrer Lebenssituation zunehmend verzweifelt, weil sie sich von ihrer Familie entfremdet hat und von reichen Gönnern ausgenutzt wird, planen die zwei mehrfach, sich gemeinsam das Leben zu nehmen. Gegen Ende des Romans wird Leopold zu einem Jahr Kerker verurteilt und Mietzi hat sich als Untermieterin bei einer anderen Theatermitarbeiterin eingerichtet. Auch Klumpf, der Chefredakteur der Zukunft, hat sich in Mietzi verliebt, und er bittet ausgerechnet Amalie Remder darum, Mietzi seinen Antrag zu überbringen. Das ist deshalb pikant, weil Amalie selbst unausgesprochen in ihn verliebt ist, und als Mietzi Klumpf brüsk zurückweist, hofft sie vergeblich auf ihre Chance. Diese Handlungsskizze deutet an, dass finanzielle Probleme viele zwischenmenschliche Beziehungen des Romans prägen. Während sowohl in der Beziehung zwischen Leopold und Mietzi als auch (wie gleich auszuführen sein wird) in der zwischen Chawar und Tini begrenzte finanzielle Mittel im Verbund mit Konsumbegehrlichkeiten ins Verbrechen führen, geht die Verlobung zwischen Gisela, der Tochter des Advokaten Zweigeld, und dem jungen Juristen Dr. Benze, deshalb in die Brüche, weil die Rechtschaffenheit des Bräutigams der Vertuschung der kriminellen Machenschaften des Brautvaters, der Gelder veruntreut hat, um seinen Lebensstil zu finanzieren, entgegensteht.20 (2) Die dritte Stiege ist ein Entwicklungsroman, insofern er die Geschichte der intellektuellen und geistigen Reifung des Protagonisten im Kontext seiner Biographie erzählt, wobei besonderes Augenmerk auf seine politische Sozialisation gelegt wird. Wesentlich für Lothars Entwicklung ist hier gleichfalls eine emotionale Beziehung, schließlich macht er seinerseits Tini, der Tochter der Hausmeisterin, den Hof, die sich allerdings immer wieder mit dem arbeitslosen 20Vgl. zur Familie Zweigeld unter besonderer Berücksichtigung der Mutter-Tochter-Beziehung: Gabriele Gross: Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann. Frankfurt/M. 2002, S. 196–204. Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz 95 Schmied Alois Chawar vergnügt. Es ist Tinis Vitalität und Lebenslust, die Lothar anzieht. Während er an sich selbst ein „Gefühl der Langeweile und des Überdrusses“ feststellt21 und zu dem Schluss kommt, „die Fähigkeit, einfach das Leben zu genießen“22 verloren zu haben, so heißt es über die Faszination, die Tini auf ihn ausstrahlt: „Dieses Starke, Heiße und Wilde, das in diesen schwarzen Augen zuweilen aufblitzte, begehrte er für sich; zu ihm sollte es gehören.“23 Die Formulierung macht deutlich: Brückmann verlangt es nicht nach Tini als Person, sondern nach dem, was sie verkörpert. Hier deutet sich ein zentrales Thema des Romans an: Die Distanz zwischen dem adlig-vergeistigten Brückmann und der kraftvollen Tini ist nicht allein sozial determiniert, sondern Resultat einer kategorial unterschiedlichen Lebenskraft. Tini besitze eben noch, so führt Lothar Rotter gegenüber aus, „jene Kraft zu leben, die wir verloren haben“.24 Diese Erkenntnis bringt Lothar dazu, seine ganze ‚Mission‘ zu hinterfragen, wenn er Tini gegenüber sagt: „Wir, die Kranken, wollen euch, den Gesunden, helfen, wir – die euch nicht einmal begreifen können“.25 Der hier als unüberbrückbar markierte Gegensatz zwischen Intellektualität und Vitalität, zwischen Geist und Tat, wird an verschiedenen Stellen des Romans aufgegriffen.26 Noch am Schluss des Romans, als es gerade diese Naturgewalt ist, die Tini das Leben kostet, ist Lothar davon beeindruckt, „wie göttlich einfach das in seiner Gewaltsamkeit ist“.27 Denn als Komplizin hatte Tini Chawar beim Raubmord an der Hausbesitzerin Frau Würbl unterstützt und ihm dann angekündigt, zur Polizei zu gehen, wohlwissend welche Konsequenzen diese Handlung für sie haben würde. Sie „ging dann hin, um den Geliebten vor dem eigenen Verrat zu warnen und um sich von ihm totschlagen zu lassen“,28 so fasst Lothar den Sachverhalt zusammen und bedauert: „uns ist das Verständnis für solch eisernes Zusammengehören verloren gegangen“.29 Der Zynismus dieser Worte korrespondiert mit der Konsequenz, die Lothar aus seinem Desillusionierungsprozess zieht. So steht Tinis Ende für ihn beispielhaft für die Unmöglichkeit seiner ganzen politischen Aktivitäten, die Erfahrungs- und Lebenswelten seien einfach zu verschieden: „Nicht einmal diese Dirne, diese Diebin konnte ich verstehen – und sie suchte Schutz bei mir, und ich liebte sie – aber wie wir schon lieben mit unserer sinnlosen, kränklichen Sinnlichkeit – und ich Narr – ich wollte – mit ein wenig 21Keyserling: Die dritte Stiege, S. 153. 22Ebd. 23Ebd., Hervorh. C. K. S. 207. 25Ebd., S. 258. 26Rudolf Steinhilber sieht im Antagonismus von Wort und Tat sogar den „zentralen Topos in Keyserlings Roman“; vgl. Steinhilber: Eduard von Keyserling. Sprachskepsis und Zeitkritik in seinem Werk. Darmstadt 1977, S. 44. 27Keyserling: Die dritte Stiege, S. 290. 28Ebd. 29Ebd. 24Ebd., 96 C. Klein Gerede das Volk retten!“30 An dieser späten Stelle im Roman erscheint die Sprache in Lothars Perspektive weniger als ein Instrument der Aufklärung, das bei der Erkenntnis gesellschaftlicher Fehlentwicklungen helfen und damit letztlich zu deren Abschaffung beitragen könne, sondern Sprache „erschwert oder verhindert“ vielmehr, so Steinhilber, „nun generell den Zugang zur Realität, während die ‚Tat‘ allein den zum wirklichen ‚Leben‘ notwendigen Konnex mit ihr herstellt“.31 Lothars Desillusionierung am Schluss des Romans und die selbstreflexive Abrechnung mit seinen naiv-schwärmerischen Idealen beruhen folglich auf individuellen Erfahrungen, die er im Laufe der Romanhandlung gemacht hat. Dass ihn diese Erlebnisse zur Einsicht in vermeintlich anthropologisch-universalistische Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten führen, entpolitisiert freilich in gewisser Hinsicht die Gesamtaussage des Textes. Besonders deutlich wird der Zusammenprall der unterschiedlichen Lebensauffassungen in einem Gespräch zwischen Lothar und Tini, in dem er sie mit seiner Idee der vitalistischen Differenz konfrontiert: „Was können wir lahme[n], kalte[n] Grübler? Worte machen, nur das! Du aber hast noch Kraft, die gewaltsam fortreißt. […]“ „Aber was tust du. Steh doch auf“, wehrte Tini […]; aber Lothar umfaßte sie. „Sieh, von dir müßte ich lernen, wenn ich noch lernen könnte. Du – und die anderen, die dir ähnlich sind – ihr seid Menschen, ihr könnt noch schön und stark sein – und auch glücklich – wenn ihr wollt.“32 Auf Tinis naheliegenden Rat hin, aktiv zu werden und aufzustehen, zieht sich Lothar auf seine Position der larmoyanten Passivität zurück. Nicht die wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen führen dazu, dass die Versuche der Verständigung über die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten hinweg scheitern (müssen), sondern unterschiedliche Temperamente und Zugriffe aufs Leben, selbst wenn diese gesellschaftlich vermittelt sein mögen (was im Text allerdings nicht reflektiert wird). Entsprechend resümiert Lothar Tinis Ende mit den Worten: „Das ist Wille – Schicksal, Naturgewalt.“33 In einem solchen Wirkungszusammenhang könne man, so die Schlussfolgerung, mit Worten ohnehin nichts ausrichten. Indem Diskursivität hier gegen Aktivität ausgespielt wird, scheint das gesamte von Intellektuellen konzipierte Projekt der organisierten Arbeiteremanzipation notwendigerweise zum Scheitern verurteilt. Allerdings erklärt der Roman nicht die Arbeiterbewegung an sich für gescheitert, denn dass diese die gesellschaftlichen Repressionsmechanismen im Rahmen spontaner Aktionen überwinden werde, sei „absolut sicher“,34 sondern der Text negiert allein den Beitrag der Intellektuellen und adligen oder bürgerlichen Sympathisanten in diesem Prozess. 30Ebd., S. 291. Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 44. 32Keyserling: Die dritte Stiege, S. 257 f. 33Ebd., S. 290. 34Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 46. 31Steinhilber: Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz 97 (3) Die Dritte Stiege ist ein Zeitroman, insofern er konkrete geschichtliche Ereignisse und politische Entwicklungen selbst zum Thema macht. Fritz Martini weist in seinem Nachwort zur Neuauflage von 1985 auf verschiedene realgeschichtliche Ereignisse hin, die ihren Widerhall in Keyserlings Roman gefunden haben.35 Grundsätzlich greift der Roman die Konflikte in der österreichischen Arbeiterbewegung der 1880er Jahre auf, die geprägt waren von den Annäherungsversuchen und Abgrenzungsbewegungen zwischen den gemäßigten sozialdemokratischen und den radikalen anarchistischen Gruppen. An verschiedenen Stellen im Roman werden politische Zusammenkünfte geschildert, auf denen die Vertreter der jeweiligen Gruppen versuchen, sich gegenseitig vom eigenen Ansatz zu überzeugen bzw. die Zuhörerschaft auf die eigene Seite zu ziehen. So sehen die sozialdemokratischen Genossen aus dem Umfeld der Zukunft ihr Hauptanliegen vor allem in der Verbreitung ihrer „Lehre“.36 Sie sind Idealisten, die ihre Büros mit Büsten von Plato und Sokrates ausstatten und den Zukunftsstaat nach ihren Vorstellungen planen. Nur über die Veränderung des Bewusstseins seien gesellschaftliche Transformationen zu erzielen. Entsprechend große Hoffnungen setzen sie auf ihr Zeitschriftenprojekt, wie der Chefredakteur Dr. Klumpf in Vorfreude auf die erste Ausgabe klarstellt: „Ich denke an dieses erste Blatt wie an etwas Lebendes; denn so viel Leben hängt daran.“37 Der hier auch von Lothar noch geteilte feste Glaube an die Wirkmacht der Sprache wird (wie erläutert) im Laufe der Handlung erschüttert. In der Unterstützung von konkreten Anliegen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter sehen die Redaktionsmitglieder nicht ihr vorrangiges Ziel. Entsprechend halten sie die streikenden Bäcker (ein historisches Ereignis aus dem April 1883, das Keyserling hier verarbeitet) nicht für das „Material, aus dem die große Bewegung […] gemacht wird“.38 So führt Klumpf bei einem aufgrund der polizeilichen Repressionen heimlich organisierten Vernetzungstreffen aus: „Sie kämpfen um ein besseres Bett, einige Kreuzer Lohn, einen Teller Suppe. Geben Sie ihnen das Verlangte, geben Sie ihnen die Hälfte und sie werden nach unseren Zwecken, nach dem Schicksal unserer Gesellschaft nichts fragen.“39 Dem hält Lemke, der Anführer der Anarchisten, entgegen: Das ist wohl das neue Evangelium? Alles still und ordentlich. Ein jeder lernt seine Lektion, und ist sie ausgelernt, so tut man sich eines Tages zusammen und macht die Sache. […] Sie sitzen in Ihren Schreibstuben und erdenken sich Methoden; so wird es sein, so muß es sein. Nein, meine Herren, so ist es nicht, das wissen wir, die mit dem Volke leben, die es kennen.40 35Vgl. Martini: „Die dritte Stiege“, S. 286 f. Die dritte Stiege, S. 81. 37Ebd., S. 37. 38Ebd., S. 80. 39Ebd., S. 80 f. 40Ebd., S. 82. 36Keyserling: 98 C. Klein Während Klumpf dazu aufruft, sich vor einer „Revolution der Unwissenden“ zu hüten,41 unterstützt Lemke gewaltsame Aktionen. Am Ende bleibt man einander fremd, beschließt aber trotzdem: „Getrennt marschieren, gemeinsam schlagen.“42 Insgesamt ist festzuhalten, dass im Roman eine Fülle von vertraulichen Konversationen und (halb)öffentlichen Diskussionen geführt werden. Die Präsenz von Gesprächsszenen ist ebenso typisch für die Gattung des Zeitromans wie die erzählerische Anlage des Romans mit seinen eher locker gereihten Sequenzen insgesamt (dazu gleich noch ausführlicher).43 Auch der im Roman geschilderte Brand der riesigen Holzlager der Stadt geht auf ein historisches Ereignis aus dem August 1883 zurück. Im Roman werden die Anarchisten als Urheber verhaftet und in diesem Rahmen habe man bei einem von ihnen auch Sprengstoff gefunden.44 Während einige in der ZukunftsRedaktion an dieser Stelle noch die Chance sehen, sich endgültig von Gewalt distanzieren zu können, entpuppt sich die Affäre in dem Moment als Todesstoß für die Redaktionsarbeit, als sich herausstellt, dass eines der Redaktionsmitglieder ein Mitarbeiter der Polizei gewesen sein muss und die Mitarbeit an der Zeitschrift für Spitzeldienste genutzt hat. Als im letzten Kapitel klar wird, dass auch die Vermieterin eine Mittelsperson der Polizei war und somit das, was man für eine „die Menschheit rettende Sache“ hielt, tatsächlich ein „Spaß der Polizei“ gewesen sei,45 ist die ganze Arbeit der Zukunft desavouiert. Während sich die verurteilten Anarchisten als Märtyrer feiern lassen, muss sich Klumpf bei einem Vortrag verspotten, auslachen und anspucken lassen.46 Wie Klumpf wird auch Lothar des Landes verwiesen. Zur Raumsemantik Die verschiedenen Ebenen des Romans werden verbunden durch das räumliche Setting, denn erst die Konzeption des Hauses als eine Art Querschnitt der Gesellschaft erlaubt es, die unterschiedlichen Figuren und über sie die unterschiedlichen thematischen Stränge miteinander zu verknüpfen. Dieses Verfahren Keyserlings, „Zustandsausschnitte“ nebeneinanderzusetzen, ermöglicht „die detaillierte Einzelbeobachtung, eine Art ‚Sekundenstil‘ innerhalb des Ausschnitts, und die Analyse der äußeren und inneren Auswirkungen des Milieus“.47 So entsteht ein „Gesamtbild von Stadt und 41Ebd., S. 81. S. 83. 43Vgl. Peter Hasubek: „Der Zeitroman. Ein Romantypus des 19. Jahrhunderts“. In: Ders.: Vom Biedermeier zum Vormärz Arbeiten zur deutschen Literatur zwischen 1820 und 1850. Frankfurt/M. u. a. 1996, S. 43–72, hier S. 57 und 60. 44Keyserling: Die dritte Stiege, S. 240. 45Ebd., S. 289. 46Ebd., S. 297 f. 47Martini: „Die dritte Stiege“, S. 287. 42Ebd., Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz 99 Zeit aus zuständlich erfaßten, dialogisch und sprachmimisch ausgestalten Stationen“.48 Dabei spielen sinnliche Eindrücke und physiognomische Detailschilderungen als „wesentliche Mittel der literarischen Visualisierung“ eine besondere Rolle.49 Ungeachtet der naturalistischen Ausrichtung des Textes, in dem gemäß der naturalistischen Programmatik Erzählzeit und erzählte Zeit im Zuge der präsentierten Wirklichkeitsfragmente oft zur Deckung gelangen, erweist sich Keyserling auch hier schon als Spezialist für Stimmungsbeschreibungen und Wahrnehmungseindrücke, die in ihrem „impressionistischen Pointillismus“ auf Erzählverfahren des späteren Werks vorausweisen.50 Inhaltlich und formal ist Die dritte Stiege ein naturalistischer Roman, der an das von Karl Gutzkow Anfang der 1850er Jahren etablierte Modell des „Roman des Nebeneinander“51 anschließt und gleichzeitig über den Naturalismus hinausweist, indem er ein spezifisch modernes Erzählverfahren präsentiert, das als „Parallelmontage“ das filmische Erzählen ab Beginn des 20. Jahrhunderts prägen wird.52 Die konstitutive Funktion der Stiege für die erzählerische Anlage des Romans wird an einer Stelle des Textes auch explizit erwähnt. Als Leopold wegen des Diebstahls der Seidenschals vor Gericht steht, führt sein Verteidiger in einer Art Konklusion aus: Sehen Sie sich, meine Herren Geschworenen, die Stiege an, auf der Gerstengresser wohnt; ist die nicht wie ein kleiner Auszug der größeren Welt, die uns umgibt? […] Überall in diesen engen, ärmlichen Wohnungen der heiße, maßlose Appetit nach buntem, berauschendem Vergnügen. […] Eine Seele, welche in dieser Luft aufgewachsen ist – kann sie moralisch gesund sein?53 Es korrespondiert mit der grundsätzlichen Raumsemantik des Romans, wenn der Verteidiger zur Entlastung des Delinquenten anführt: „Ja, die große leichtsinnige Stadt trug die Schuld, dieses Wien, in welches er sich nicht hineinfinden konnte, zog auch das Reinste, das Heiligste in seinen trüben Strudel!“54 Während ein Großteil der Handlung in dunklen, stickigen und verqualmten Wiener Innenräumen spielt, sind die Erinnerungen des Protagonisten an seine Kindheit geprägt von der Sehnsucht nach einem ‚gesunden‘ Leben in der Ordnung der Natur: In einem kleinen, mitten im dichten Nadelwalde gelegenen Landhause verbrachte Lothar seine Jugend; hierher flüchteten im späteren Leben seine Gedanken, wenn er sich verlassen und heimatlos fühlte; dann fühlte er wieder den feuchten, strengen Duft des Waldes […]. 48Ebd., S. 289. 49Kuharenoka: „Wiener Roman eines Deutschbalten“, S. 227. „Die dritte Stiege“, S. 287. 51Vgl. zur Modellfunktion von Gutzkows Die Ritter vom Geiste Gustav Frank: Krise und Experiment. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996, insb. S. 113–266. 52Vgl. Christoph Hesse u. a.: Filmstile. Wiesbaden 2016, S. 58 f. 53Keyserling: Die dritte Stiege, S. 282 f. 54Ebd., S. 279. 50Martini: 100 C. Klein Im Sommer pflegte der Knabe nur wenig zu Hause zu sein. Er saß mit dem Gänsebuben am Feldrain; stand bei dem Kutscher und sah zu, wie der Wagen gewaschen wurde; er tat – er konnte es später nicht mehr sagen – was, es schien ihm jedoch, als habe jenes Leben bestanden aus unendlich seligem Hineinstarren in einen sommerblauen Himmel, aus dem Trinken des Duftes der sonnenwarmen Fichtennadeln […].55 Wo das Leben in der Stadt auch „das Heiligste“ korrumpiert und dazu führt, dass die Menschen nicht nach ihrer Persönlichkeit oder ihren Fähigkeiten, sondern nach wirtschaftlichem Vorteil und materiellem Wert beurteilt werden, wird das Leben in der Natur als offen, frei und vorurteilslos verklärt. Immerhin verbringt Lothar als Neffe der Baronin und Gutsbesitzerin seine Zeit vorzugsweise mit Personen unter seinem Stand, ohne dass daran jemand Anstoß nähme. Bemerkenswert ist angesichts von Lothars späterem Hadern mit der eigenen Tatkraft auch, dass er sich in dieser Szene zwar als aktiv Handelnden erinnert („er tat“), er den Gegenstand des Tätigseins aber vergessen hat. Retrospektiv erscheint es so, als ob in diesem Naturraum die Wahrnehmung der eigenen Handlungen noch nicht in Bewertungsraster eines entfremdenden Nützlichkeitsdenkens eingepasst worden war, sondern gerade das nicht zweckbestimmte und nicht zielgerichtete Erleben der Natur Befriedigung verlieh. Der heimatliche Naturraum wird als Sehnsuchtsort der Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit inszeniert und als Gegenentwurf zum Stadtraum präsentiert, der von Betrug und Gewalt geprägt ist. Konsequent ist es vor diesem Hintergrund und angesichts der Einschätzung der eigenen geringen Lebenskraft, wenn Lothar sich und seine sozialdemokratischen Genossen auch als „von der Natur Verstoßene“56 bezeichnet. Ganz am Schluss des Romans formuliert Lothar in einem Gespräch mit Klumpf als Resümee seiner Erfahrungen im Wiener Großstadtleben: „Leben ist doch anders, als wir meinten. Vielleicht gibt es noch einen Winkel, wo man es lernt.“57 Es spricht einiges dafür, dass Lothar bei dieser Formulierung an das Gut seiner Tante denkt und Keyserling damit quasi nebenbei den erzählerischen Boden seiner Folgeromane bereitet, in denen er dann explizit das Leben der Landadeligen ins Zentrum rückt, worauf im Folgenden einzugehen sein wird. Resonanzbedürfnis als Handlungsmotivation In Wien ist Lothar von Brückmann zunächst ein Fremder. Das ist zum einen ein erzählerischer Kniff, da Lothar auf diese Weise anfangs als Beobachter die Begebenheiten aus der Distanz wahrnehmen kann, ihm (und dem Leser) viele Zusammenhänge erst einmal erklärt werden müssen, bevor er dann allmählich vertraut mit ihnen wird.58 Zum anderen markiert das Fremdsein in gewisser 55Ebd., S. 13 f. S. 291. 57Ebd., S. 299. 58Vgl. hierzu auch Kuharenoka: „Wiener Roman eines Deutschbalten“, S. 224. 56Ebd., Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz 101 Hinsicht Lothars Haltung zur Welt. Lothar ist ständig auf Reisen und scheint keine tieferen oder längeren emotionalen Bindungen eingehen zu können, obwohl er sich danach sehnt. Regelmäßig beschwört er Bilder einer idealisierten Kindheitswelt herauf, in der ihm alles vertraut war und er sich geborgen fühlte: Die unstete Art seines bisherigen Lebens machte, daß Lothar gefühlvoll wurde, wenn er eine neue Wohnung bezog. Vielleicht wurde aus dieser fremden Umgebung eine Heimat. Vielleicht fand er hier den stillen, lieben Winkel, nach dem ihn zuweilen verlangte. In solchen Augenblicken, er hatte es schon oft erfahren, kamen ihm regelmäßig Kindheitserinnerungen – Erinnerungen an eine ganz in altgewohnte Räume eingesponnene Existenz – und zwar so lebhaft, daß es ihm oft das Herz bewegte.59 Diese positiven Erinnerungen verdankt Lothar seiner zu Vermögen gekommenen, kinderlosen Tante, die ihn bei sich aufnahm und erzog. Die Ehe seines Vaters, eine „Mißheirat“ mit „einer Lokalsängerin, einer herabgekommenen Polin, die ihn in Berlin umgarnt hatte“,60 war früh gescheitert. Der Tod von Lothars Vater, der stirbt, „als der Sohn kaum zehn Jahre alt war“,61 ist dem Roman dann auch nur eine Randbemerkung wert. Zum Schulbesuch muss Lothar in die Stadt, er geht auf die Universität, wird ein „beliebter Kamerad und bewunderter Corpsbursche“,62 wechselt von Bonn nach Göttingen und von dort nach Leipzig und schafft es „überall in seinen Kreisen eine angesehene Rolle zu spielen“.63 Doch bald schon merkt er, dass ihn dieses oberflächliche Leben nur bedingt befriedigt, dass sein Leben unausgefüllt ist, er verspürt „eine gewisse Leere und Müdigkeit“.64 Was hier geschildert wird, ist die Erfahrung von Entfremdung, oder in den Worten des Soziologen Hartmut Rosa, eine Weltbeziehung, in der das Subjekt „die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden und nichtresponsiv beziehungsweise als stumm erfährt“.65 Als Gegenbegriff zu ‚Entfremdung‘ etabliert Rosa den Terminus ‚Resonanz‘, der eine Weltbeziehung beschreibt, in der die Subjekte „mit etwas in der Welt in Berührung kommen, das für sie eine unabhängige Wertquelle darstellt, das ihnen als schlechthin wichtig und wertvoll entgegentritt und sie etwas angeht“.66 Resonanz beschreibt in diesem Sinne einen Modus des In-der-Welt-Seins, bei dem sich „Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren“.67 Zugespitzt ließe sich mit Blick auf den 59Keyserling: Die dritte Stiege, S. 11. S. 12. 61Ebd., S. 13. 62Ebd., S. 14. 63Ebd., S. 14 f.. 64Ebd., S. 15. 65Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2018, S. 306 (Hervorh. im Orig.). 66Ebd., S. 291 (Hervorh. im Orig.). 67Ebd., S. 298. 60Ebd., 102 C. Klein Protagonisten Lothar Die dritte Stiege letztlich auch als Roman der Suche nach Resonanzerfahrungen bezeichnen. Dafür ist zunächst wichtig, dass Lothar als Kind auf dem Gut seiner Tante Resonanzerfahrungen machen konnte, also eine Form der Weltbeziehung kennenlernte, die „durch die doppelte Bewegung des Affiziertwerdens und der (aktiven) Bezugnahme gebildet wird“.68 Die Welt seiner Kindheit und die verschiedenen sozialen Beziehungen gingen ihn etwas an, sie sagten ihm etwas, und auf der anderen Seite schien er für die Welt seiner Kindheit bedeutsam, machte es einen Unterschied, ob und wie er in ihr handelte. Diese Erfahrung des Aufgehobenseins geht mit dem Wechsel in die Stadt verloren. Schon die sprachliche Konstruktion, mit der dieser Umzug im Roman beschrieben wird („so ward Lothar in die Stadt fortgegeben“69), markiert, dass Lothar der resonanten Weltbeziehungen in diesem Moment verlustig geht: Er wird in ein neues Lebensumfeld geworfen und zum Objekt gemacht. Konsequenterweise heißt es im Roman dann auch wieder in einer Passivkonstruktion, dass Lothar nach seinem Umzug in die Stadt „beständig vom heißen Durst nach Vergnügungen geplagt und zerstreut“70 wird. Auch wenn er sich mit den Lebensgewohnheiten im städtischen Umfeld gut arrangiert und sozial reüssiert, vermisst er etwas und die „überfeinen und vornehmen Vergnügungen“,71 die ihn in der Regel erfreuen, widern ihn immer wieder an. Fritz Martini formuliert vor diesem Hintergrund, „die Dekadenz ist paradigmatisch ein Existenzproblem der Figur des Lothar von Brückmann“,72 und schlägt damit einen Bogen zu den späteren Texten Keyserlings. Doch diese negative Perspektive auf den fehlenden Sinn in Lothars Leben ist zu einseitig und berücksichtigt zu wenig Ausgangs- und Endpunkt von Lothars Entwicklung. In jener Lebenssituation, in der Lothar als alternder Student mit seinem Leben hadert, begegnet er dem Sozialdemokraten Rotter und ist von dessen Sendungsbewusstsein fasziniert. Ganz besonders attraktiv erscheint es Lothar aber, dass dieser Mann „ein bewegtes, wohlausgefülltes Leben“73 führt. Doch aus einer resonanztheoretisch informierten Perspektive wird schon früh im Roman deutlich, dass Lothars Begeisterung für die Sozialdemokratie in Enttäuschung enden muss, da sie letztlich äußerlich bleibt: „Eine eiserne Disziplin, ein Kreis von Genossen, der in Gefahr und Drangsal eng zusammenhielt, große Dinge, die im Werk waren, das reizte Lothar.“74 Inhaltliche Fragen spielen für ihn offenbar keine Rolle. Anziehend scheint ihm vor allem, dass er mit seiner Arbeit für die Genossen eine Aufgabe bekommt, gerade in jener Phase „da er nicht wußte, was er mit seinem 68Ebd., S. 296. Die dritte Stiege, S. 14. 69Keyserling: 70Ebd. 71Ebd., S. 15. „Die dritte Stiege“, S. 290. 73Keyserling: Die dritte Stiege, S. 21. 74Ebd., S. 22. 72Martini: Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz 103 Leben anfangen sollte“.75 Lothar gibt sich redlich Mühe, ist – wie es in ironischen Erzählerkommentaren heißt – „fest entschlossen, sich überzeugen zu lassen“,76 doch es gelingt ihm trotzdem nur „fast, an den Zukunftsstaat zu glauben“.77 In Lothars Wahrnehmung hat er mit dem Redaktionsposten in Wien einen „Lebensberuf“ gefunden: „Für den Rest seines Lebens war gesorgt…“78 Doch Lothars anfängliche Euphorie bei der Redaktionsarbeit bekommt durch die Konfrontation mit der Realität einen kräftigen Dämpfer. Beim Besuch einer Arbeiterkneipe,79 wird er Zeuge einer Szene, in der ein Streikbrecher fast gelyncht wird, und ist schockiert von der sich hier Bahn brechenden urwüchsigen menschlichen Brutalität. Noch stärker demotiviert ihn allerdings die erwähnte Einsicht in die Distanz zu den Arbeitern. Als sich Lothar im Laufe des Romans immer stärker für Tini interessiert, muss er sich mit dem Gedanken an seine Aufgabe zur Ordnung rufen: „Ihm war jetzt beschieden worden, wonach er so lange gesucht: eine Arbeit für’s Leben. Dieses schwarze Mädchen sollte seine Kreise nicht stören – oh, gewiß nicht!“80 Nur um ihr im Anschluss zu versprechen: „Ja, Mädchen, […] wir wollen versuchen, zueinander zu gehören“.81 Lothar verspürt, ungeachtet aller Bereitschaft sich für die Sache aufzuopfern, immer wieder Zweifel, hat immer Phasen, in denen er keine Lust hat, über den Aufbau einer künftigen Gesellschaft nachzudenken, und bemerkt bisweilen sogar „eine Art Widerwillen gegen die Unterdrückten und Enterbten“.82 Doch selbstkritisch betrachtet er diese Anflüge als Erbe „einer müßigen und in falschen Anschauungen verbrachten Jugend“.83 Gegen Ende des Romans, als ein Besuch bei ihrem vermeintlichen Genossen Oberwimmer, der seine Umsiedlung nach Ungarn vorbereitet, Gewissheit über dessen Spitzeldienste für die Polizei bringt, überkommt Lothar dann „ein Gefühl tiefster Traurigkeit“.84 In seiner Wohnung erwartet ihn im Anschluss die Nachricht vom Tod seiner Tante und Lothar denkt: Sie hatte recht gehabt, die alte Frau, sich vor der Welt in jenem stillen Winkel zu bergen und ihrem friedlichen Tagewerk nachzugehen. Dieses weise, gesunde Herz hatte bis zuletzt das Leben geliebt; war nie in Verlegenheit gewesen, was mit diesem Gut anzufangen. Eine große und schöne Kunst. […] Was die alte Frau dort, unter ihren Tannen, in ihrer ruhigen Art geschaffen, war vollwichtige Arbeit, und er?85 75Ebd. 76Ebd., S. 23. S. 24. 78Ebd., S. 25. 79Ebd., S. 100 ff. 80Ebd., S. 184 f. 81Ebd., S. 187. 82Ebd., S. 205. 83Ebd., S 206. 84Ebd., S. 250. 85Ebd., S. 257. 77Ebd., 104 C. Klein Lothar erkennt, dass sein Interesse an der politischen Arbeit einer inneren Leere entsprang, die auch durch seine ganze Euphorie und sein Engagement nicht substanziell gefüllt werden konnte. Erhellend ist ein Dialog kurz vor Ende des Romans, in dem einer der Genossen, Lothars Enttäuschung angesichts der persönlichen und beruflichen Rückschläge zu deuten versucht: „Höre, Freund – in dir hat es mächtig gewirkt – das arbeitet ja und löscht alles Dagewesene fort. Ich bin neugierig, was da Neues entsteht; der Gärung nach kann es etwas tüchtiges sein.“ Lothar schüttelte den Kopf: „Ach was – solche Grundsätze, mit denen wir uns vollsaugen, um unser leeres Ich aufzublasen, gehen auch alle wieder fort, wenn man in dieses Blasen-Ich hineinsticht.“86 Während der Genosse hier die typische Wechselwirkung im Rahmen einer resonanten Weltbeziehung beschreibt, in der die Erlebnisse in Lothar etwas verändern müssten, was dann wiederum produktiv in die Wirklichkeit einzuspeisen wäre, formuliert Lothar eine instrumentelle Art der Weltaneignung – so wenig er bewirken zu können meint, so wenig scheinen die Erfahrungen ihn zu verändern. Doch endet der Roman keineswegs so pessimistisch, wie diese Passage vermuten lässt. Denn wenn Lothar am Schluss des Romans (wie erwähnt) der Hoffnung Ausdruck verleiht, „einen Winkel“ zu finden, wo man das Leben lernt,87 dann bezieht sich diese Formulierung ausdrücklich auf die erste Erwähnung seiner Kindheitserinnerungen im Buch, wenn vom „lieben Winkel“88 die Rede ist, sowie auf Lothars Gedanken anlässlich des Todes seiner Tante und deren Leben im „stillen Winkel“.89 Da zu vermuten steht, dass Lothar das Erbe seiner kinderlosen Tante antritt, eröffnet das „Versuch’s!“90 am Romanende die Option eines Lebens im Rahmen der früheren Resonanzachsen. Schließlich hatte sich Lothar schon früher nach einem Brief der Tante erinnert: „Ja dort … dort hatte er auch leben können ohne Theorien – hatte er die Erde verstanden ohne Gedanken.“91 Geht man davon aus, dass sich „das gute Leben“ „nicht am Ressourcen- oder Verfügungsreichtum […] festmachen lässt, sondern am Grad der Verbundenheit mit […] anderen Menschen (und Dingen)“ und „Ergebnis einer Weltbeziehung [ist], die durch die Etablierung und Erhaltung stabiler Resonanzachsen gekennzeichnet ist, welche es den Subjekten erlauben und ermöglichen, sich in einer antwortenden, entgegenkommenden Welt getragen oder sogar geborgen zu fühlen“,92 dann ist es gerade die retrospektive Rede vom selbstverständlichen Verstehen, des gültigen Sinnzusammenhangs der Kindheitswelt, die auf die Chance künftigen Lebensglücks für 86Ebd., S. 293. S. 299. 88Ebd., S. 11. 89Ebd., S. 257. 90Ebd., S. 299. 91Ebd., S. 157. 92Rosa: Resonanz, S. 53 und 59. 87Ebd., Auf der Suche nach der verlorenen Resonanz 105 Lothar verweist. Inwieweit diese eher eskapistische Option angesichts der Herausforderungen der modernen Welt eine dauerhafte Lösung versprechen kann, bleibt dahingestellt. Insgesamt ist festzuhalten, dass der Roman unterschiedliche Reaktionen auf die zeittypischen Modernisierungserfahrungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsentiert. Ennui und Weltschmerz, Empfindungen, die Lothar immer wieder überkommen, sind als Topoi wesentliche Bestandteile des geistesgeschichtlichen Diskurses zur Mitte des 19. Jahrhunderts.93 Gleichzeitig stellt der ständige Rekurs auf „das Leben“ Bezüge her zu einem zentralen Begriff, der im Sinne einer historischen Mentalität die Kultur und Literatur ab 1890 geprägt hat.94 Wo die Vorstellung vom Menschen als unverwechselbarem Individuum im Strudel der Transformationsprozesse abhandenkam, fungierte ‚Leben‘ im Sinne einer „Urtatsache“ und „Wesen alles Seins überhaupt“ als Residualkategorie auf der Suche nach Sinnstiftung, wobei andauernder Wandel als positiver Wert akzentuiert wurde.95 Zentrales Element des Lebensdiskurses ist die Denkfigur vom ständigen Kampf um das Aufbrechen verkrusteter Formen, Harmonie hat in diesem Konzept keinen Platz. Zwischen diese Denkmodelle schaltet der Roman Resonanz als Vermittlerin, die die Entfremdungserfahrungen zu überwinden hilft, ohne deshalb auf das Ideal von Harmonie zu verzichten. Keyserlings zweitem Roman kommt – das sollte deutlich geworden sein – eine ganz besondere Position im Kontext des Gesamtwerks zu. Der Text nimmt die Nöte und Sorgen auch der einfachen Bevölkerungsschichten in den Blick und schildert zeitgenössisch aktuelle politische Debatten, wodurch ihm eher eine Ausnahmestellung zukommt. Gleichzeitig lassen sich verschiedene Verfahren und Stilmittel sowie thematische Akzente und inhaltliche Entwicklungen erkennen, die eine Brücke zum Spätwerk schlagen. Das problematisch gewordene Selbstverständnis des Protagonisten konnte als Resultat von Entfremdungserfahrungen erkannt werden, denen er mit der Suche nach Resonanz im Sinne einer Problemlösung begegnet, die im Roman gleichermaßen deskriptiv (als unmittelbares Bedürfnis des Protagonisten) und normativ (als Ideal seiner Weltbeziehungen) konzipiert ist. Am Ende lässt der Roman Resonanz als eine Möglichkeit am Horizont aufscheinen, die „vielleicht“ zu realisieren ist, wenn man sich darum bemüht und akzentuiert damit eindrücklich die fundamentale Bedeutung von Resonanz als „Versprechen der Moderne“.96 93Vgl. Frederick C. Beiser: Weltschmerz. Pessimism in German Philosophy 1860–1900. Oxford 2016. 94Martin Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Mit einer exemplarischen Analyse des Romanwerks von Arnolt Bronnen, Ernst Glaeser, Ernst von Salomon und Ernst Erich Noth. Stuttgart/Weimar 1994, S. 119. 95Georg Simmel: „Der Konflikt der modernen Kultur“. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 16: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Grundfrage der Soziologie. Vom Wesen des historischen Verstehens. Der Konflikt der modernen Kultur. Lebensanschauung. Hg. von Gregor Fitzi/Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1999, S. 181–208, hier S. 189. 96Rosa: Resonanz, S. 624. 106 C. Klein Literatur Beiser, Frederick C.: Weltschmerz. Pessimism in German Philosophy 1860–1900. Oxford 2016. Frank, Gustav: Krise und Experiment. Komplexe Erzähltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996. Gross, Gabriele: Der Neid der Mutter auf die Tochter. Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann. Frankfurt/M. 2002. Hasubek, Peter: „Der Zeitroman. Ein Romantypus des 19. Jahrhunderts“. In: Ders.: Vom Biedermeier zum Vormärz Arbeiten zur deutschen Literatur zwischen 1820 und 1850. Frankfurt/M. u. a. 1996, S. 43–72. Heilborn, Ernst: „Eduard Graf Keyserling, sein Wesen und sein Werk“. In: Eduard von Keyserling: Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Berlin 1922. Bd. 1, S. 1–31. Hesse, Christoph et. al.: Filmstile. Wiesbaden 2016. Hesse, Hermann: „Eduard von Keyserling: ‚Bunte Herzen‘ (1909)“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Bd. 12: Schriften zur Literatur 2. Hg. von Volker Michels. Frankfurt/M. 1987, S. 364. J. G. St.: „‚Die dritte Stiege‘“. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik 3. Quartal (1892), S. 948 f. Keyserling, Eduard von: Die dritte Stiege. Göttingen 1999. 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Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2018. Simmel, Georg: „Der Konflikt der modernen Kultur“. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 16: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Grundfrage der Soziologie. Vom Wesen des historischen Verstehens. Der Konflikt der modernen Kultur. Lebensanschauung. Hg. von Gregor Fitzi/Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1999, S. 181–208. Sprengel, Peter: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870–1900. Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende. München 1998. Sprengel, Peter: „Das erzählerische Werk Eduard von Keyserlings im Kontext der Epoche“. In: Michael Schwidtal/Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Heidelberg 2007, S. 173–184. Steinhilber, Rudolf: Eduard von Keyserling. Sprachskepsis und Zeitkritik in seinem Werk. Darmstadt 1977. Wilpert, Gero von (Hg.): Lexikon der Weltliteratur. Bd. 1: Biographisches-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken. A–K. München 1997, S. 790. Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ Die Dramen Eduard von Keyserlings Antonius Weixler Als Dramenautor ist Eduard von Keyserling heute ein fast vollkommen Vergessener: Weder wurde nach dem Ersten Weltkrieg eines seiner Stücke auf deutschen Theaterbühnen mehr aufgeführt, noch sind sie in neueren Buchausgaben erhältlich, die meisten seiner Dramentexte liegen nur in der Erstauflage vor.1 In den einschlägigen Literaturgeschichten zu Theater und Drama der Jahrhundertwende spielt er kaum eine Rolle, ja wird kaum je überhaupt (näher) erwähnt.2 Auch die Forschungslage zu seinen dramatischen Texten ist mit lediglich zwei 1Keyserlings Theaterstücke wurden allesamt bei S. Fischer in meist einer Auflage von 1000 bis 1150 Stück veröffentlicht. Der Coesfelder Elsinor-Verlag legte Keyserlings erstes Stück, Ein Frühlingsopfer, 2008 und sein letztes Stück, Benignens Erlebnis, 2009 neu auf. 2In folgenden exemplarischen Übersichtsdarstellungen fehlt Keyserling etwa vollkommen: Alo Allkemper (Hg.): Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Berlin 2000; Anette Delius: Intimes Theater. Untersuchungen zur Programmatik und Dramaturgie einer bevorzugten Theaterform der Jahrhundert-Wende. Kronberg/Ts. 1976; Hans Dietrich Irmscher/Werner Keller (Hg.): Drama und Theater im 20. Jahrhundert. Festschrift für Walter Hinck. Göttingen 1983; Norbert Jaron/Renate Möhrmann/Hedwig Müller: Berlin – Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschichte d. Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889–1914). Tübingen 1986; Dieter Kafitz: Grundzüge einer Geschichte des deutschen Dramas von Lessing bis zum Naturalismus. 2 Bde. Königstein/Ts. 1982; keine Erwähnung erfindet er zudem, besonders bezeichnend vielleicht für seine nicht erfolgte Kanonisierung als Dramenautor, im dem Reclam-Band Dramen des Naturalismus. Interpretationen. Stuttgart 1988. A. Weixler (*) Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: weixler@uni-wuppertal.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_8 107 108 A. Weixler Rezeptionsuntersuchungen,3 einer nur schwer greifbaren Dissertation,4 zwei Artikeln in Sammelbänden5 und einigen längeren Kapiteln in zwei Monographien6 recht übersichtlich. Dieter Kafitz, von dem sozusagen der Standardbeitrag – sofern man davon bei einer solchen Forschungslage sprechen kann – zu Keyserlings dramatischem Werk stammt, liefert in seinem Artikel gleich zu Beginn die einschlägige Begründung für diese kaum sichtbare literarhistorische Randstellung: „Theatergeschichte“, so Kafitz, habe Eduard von Keyserling „nicht geschrieben“, denn „neben Dramatikern wie Hauptmann, Wedekind, Schnitzler, Strindberg oder Tschechow vermag er kaum zu bestehen. Zu erwarten ist denn auch keine Wiederentdeckung, kein Plädoyer für einen vergessenen Autor“.7 Im zeitgenössischen Urteil zu den Uraufführungen seiner Stücke zeigt sich zunächst durchaus noch ein anderes und differenzierteres Bild: Gemessen an Keyserlings nur kurzer dramatischer Schaffensphase und seinem schmalen theatralen Werk von gerade einmal vier abendfüllenden Stücken und einem kleinen Einakter, die alle innerhalb von sechs Jahren entstanden sind, erreichte er einen nicht unerheblichen Bekanntheitsgrad und war somit (und einige Jahre lang sogar vor allem) im literarisch-dramatischen Feld durchaus sichtbar. Um nur zwei exemplarische Zeugnisse für diese Stellung zu nennen: Hugo von Hofmannsthal interessierte sich, wie er in einem Brief an Oscar Bie 1905 schreibt, außerordentlich für Keyserlings Benignens Erlebnis, denn: „Ich liebe diesen Autor sehr.“8 Und Thomas Mann zählt die Münchener Aufführung von Ein Frühlingsopfer in einem Brief an Paul Ehrenberg zu den „wichtigste[n] künstlerische[n] Ereignis[sen] der letzten Zeit“ 3William Webb Pusey III: „Eduard von Keyserling as a Dramatist“. In: Modern Language Quarterly 9 (1958), S. 204–212; Erika Hildegard Kockert: Das dramatische und erzählerische Werk Eduards von Keyserling im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Zugl: Amherst, Mass. Univ. of Massachusetts, Diss. [1974] 1984. 4Kyra-Lieselotte Schiffke: Das dramatische Werk Eduard von Keyserlings. Frauengestaltung im Kontext nicht nur naturalistischer Literatur. Ontario 1990. 5Dieter Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings. Zwischen Naturalismus, Biologismus und Dekadenz“. In: Ders. (Hg.): Drama und Theater der Jahrhundertwende. Tübingen 1991, S. 287– 303; Benjamin Breggin: „Baltisches und Heidnisches in Eduard von Keyserlings Theaterstück ‚Ein Frühlingsopfer‘“. In: Michael Schwidtal (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Beiträge eines internationalen Symposions in Tartu vom 19. bis 21. September 2003. Heidelberg 2007, S. 185–196. 6Rudolf Steinhilber: Eduard von Keyserling. Sprachskepsis und Zeitkritik in seinem Werk. Darmstadt 1977, S. 56–73; Thomas Homscheid: Eduard von Keyserling – Leben und Werk. Norderstedt 2009, S. 194–221. 7Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 287. 8Hugo von Hofmannsthal: Brief an Oscar Bie, 26.09.1905. In: Ders.: Hugo-von-HofmannsthalsBrief-Chronik. Regest-Ausgabe. Bd. 1: 1874–1911. Hg. von Martin E. Schmid. Unter d. Mitarbeit von Regula Hauser/Severin Perrig. Heidelberg 2003, S. 933. Wobei hier einschränkend angemerkt werden muss, dass Hofmannsthal mit dieser ‚Liebe‘ weniger den Dramatiker Keyserling als den Epiker vor allem der Erzählung Harmonie meint, die er noch mehr schätze als Schwüle Tage. Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 109 und fand die Darstellung der Hauptfigur durch die Schauspielerin Centa Bré gar „zum Heulen schön“.9 Mehr noch, Mann beginnt seinen Nachruf auf Keyserling 1918 immerhin damit, den Dramatiker vor dem Romancier zu erwähnen.10 Darüber hinaus zeugen die zeitgenössischen Aufführungsstatistiken – erneut gemessen an der kurzen Schaffensphase und den nur wenigen Stücken – von einer zumindest respektablen Resonanz.11 Das Urteil der zeitgenössischen Aufführungskritiken ist wenig eindeutig und reicht von Anerkennung und Lob bis zum polemischen Verriss. Zwar lässt sich dabei nur in geringem Ausmaß ein Rezeptionsverlauf ausmachen, tendenziell wurde Ein Frühlingsopfer als Erstling aber eher wohlwollend aufgenommen. Die mit diesem Debüt erzeugten Erwartungen konnte er dann mit Der dumme Hans nicht erfüllen, so dass sein zweites Stück bereits einen frühen, aber entscheidenden Karriereknick für den Dramatiker Keyserling bedeutet.12 Peter Hawel schrieb diese Rezeptionstendenz fort und wurde sodann erneut tendenziell als das Stück eines Talents aufgenommen, das die in ihn gesteckten Erwartungen nicht erfüllen konnte, Keyserling drohe, so die Tendenz der Rezensionen, ein unvollendetes Talent zu bleiben. Benignens Erlebnis schließlich konnte diesen Urteilstrend der enttäuschten Hoffnung nicht mehr drehen. Der Dramatiker Keyserling wurde von den Zeitgenossen also durchaus beachtet und von der Kritik geschätzt. Ja mehr noch, wenn man bedenkt, dass seine frühen epischen Texte nicht gerade Verkaufserfolge waren und auch Keyserling selbst diese ‚Jugendtexte‘ später gerne verleugnet hat,13 so hat sich Keyserling eigentlich zuerst als Dramenautor einen Namen gemacht, seine Stücke bilden den eigentlichen, da sichtbaren Eintritt in das literarische Feld: „it was as a writer of plays that he first achieved a reputation and a measure of fame“.14 Wenn er heute als Dramatiker eher als gescheitert und zu Recht als vergessen gilt,15 so ist dies 9Thomas Mann: Brief an Paul Ehrenburg, 20./21. August 1902. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 21: Briefe I: 1898–1913. Hg. von Thomas Sprecher/Hans R. Vaget/Cornelia Bernini. Frankfurt/M. 2002, S. 210. 10Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA). Bd. 15.1: Essays II: 1914–1926. Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 223–227, hier S. 223; vgl. auch Pusey: „Eduard von Keyserling as a Dramatist“, S. 204. 11Alle Stücke wurden mindestens in Berlin, München und Wien aufgeführt, aber auch an kleineren Bühnen und Städten, und teilweise kommen sie auch in nachfolgenden Jahren nochmals auf den Spielplan; allerdings, das muss man einschränkend anführen, meist auch nur mit einer oder mit wenigen Aufführungen. Eine detaillierte Liste der Aufführungen findet sich in: Kockert: Das dramatische und erzählerische Werk. 12Vgl. Homscheid: Leben und Werk, S. 206. Von Die schwarze Flasche sind keine Besprechungen überliefert. 13Vgl. ebd., S. 196. 14Pusey: „Eduard von Keyserling as a Dramatist“, S. 204. 15So lässt sich das oben zitierte Urteil von Kafitz zusammenfassen, ganz ähnlich urteilte aber 1977 auch schon Rudolf Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 50–55 und S. 71–73. 110 A. Weixler folglich ein Narrativ, das bereits in den zeitgenössischen Besprechungen angelegt ist. Wie sehr sich diese Lesart zum heute gültigen Bild verfestigt hat, zeigt sich etwa in Jochen Meyers Biogramm aus dem Killy Literaturlexikon, das auf Keyserling als Dramenautor mit nur einem Satz, und in diesem Satz auf eine ganz und gar typische Art und Weise eingeht: „Lange nach den beiden frühen Romanen“ heißt es dort bei Meyer, „u. erst, nachdem er sich um 1900 in vier bühnenfernen Dramen versucht hatte, fand K[eyserling] den unverwechselbaren Ton seiner ‚Schloßgeschichten‘“.16 Ziel des vorliegenden Beitrages wird es zunächst sein, diese literarhistoriographischen Wertungen, die sich in Meyers Urteil konzise zeigen, anhand einer kurzen Betrachtung der einzelnen Stücke kritisch zu evaluieren. Nach einem kurzen Überblick über die einzelnen Stücke Keyserlings wird in der zweiten Hälfte des Beitrages die Entwicklung von Motiven und Themen im Kontext seines epischen Früh- und Spätwerks nachzuzeichnen sein, bevor abschließend mit einer detaillierten Untersuchung der Handlungs- und Konfliktstruktur die Bewertung der ‚Bühnenferne‘ seiner Stücke (teilweise) zu relativieren ist. ‚Mischmasch der Stile‘ Nach der Uraufführung von Ein Frühlingsopfer am 12. November 1899 im Lessing-Theater Berlin erkennt Rudolf Steiner in seiner Rezension für das Magazin für Litteratur in dem Stück einen „Mischmasch aller möglichen Stile“, zudem ein „Bündel von Konzessionen […], [e]ine Konzession an den Naturalismus, die zweite an die Romantik, die dritte an den herrschenden Theatergeschmack“.17 Er setzt damit den Ton, der sich in zahlreichen weiteren Rezensionen zu diesem Stück, aber auch in den Besprechungen zu nahezu allen weiteren Theaterstücken von Keyserling und selbst noch in den wenigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten zu seinen Theatertexten beständig wiederfindet: Konstatiert (und meist bemängelt) wird stets die Vermischung von Naturalismus und Romantik, oder genauer: von naturalistischer Zustandsschilderung bzw. naturalistischem Determinismus einerseits und romantischer Mystik und/oder Märchenhaftem andererseits. In Bezug auf seinen vorgeblichen ‚Mischmasch der Stile‘ wird Keyserling also zum einen ein Verstoß gegen generischen Purismus vorgeworfen, ein Zuviel an lyrischem Stil bzw. lyrischer Atmosphäre bei einem Zuwenig an dramatischer Handlung. Zum anderen bezieht sich der Vorwurf der Stilvermischung 16Jochen Meyer: „Keyserling, Eduard Graf von“. In: Walther Killy (Hg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Bd. 6: Autoren und Werke von A bis Z. – Huh-Kräf. Gütersloh/ München 1990, S. 392–394, hier S. 393. 17Rudolf Steiner: „Das Jubiläum der Freien Bühne: ‚Ein Frühlingsopfer‘. Schauspiel in drei Aufzügen von E. von Keyserling“. In: Das Magazin für Litteratur 68/46 (18.11.1899), Sp. 1081–1088. Erika Kockert liefert in ihrer Dissertation auch Kurzzusammenfassungen der zeitgenössischen Rezensionen, vgl. Kockert: Das dramatische und erzählerische Werk, S. 37. Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 111 sowohl auf den Epochenstil als auch auf die Gegenstände und Darstellungsmodi: naturalistischer Stil und Determinismus auf der einen, romantischer Stil und Wunderbares, Mystisches und Märchenhaftes auf der anderen Seite. Allerdings wurden auch andere Stücke der Zeit, z. B. Gerhard Hauptmanns Hanneles Himmelfahrt, von der Kritik für ihre Stilvermischung zum Teil scharf kritisiert, ohne dass dies ihren Erfolg auf der Bühne geschmälert hätte. Dass Keyserling der breite Erfolg für seine Stücke verwehrt blieb, scheint also auf andere Gründe im Kontext des Theaters der Jahrhundertwende zurückgeführt werden zu müssen. Der eine Grund ist, dass Keyserling mit seiner spezifischen Ausformung des naturalistischen Stils schlicht zu spät kommt. Verspätet ist Ein Frühlingsopfer konkret durch seine großen Ähnlichkeiten mit Frank Wedekinds Frühlings Erwachen und vor allem mit Max Halbes Jugend sowie Gerhard Hauptmanns Vor Sonnenaufgang.18 Eduard Engel urteilt in seiner Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart von 1907 etwa bezeichnenderweise: Wäre das Schauspiel „Ein Frühlingsopfer“ (freie Bühne, 1899) von dem kurländischen Grafen Eduard Keyserling (geb. 1858) 10 Jahren früher erschienen, so hätte es vielleicht einen Erfolg wie Hauptmanns Vor Sonnenaufgang oder Hannele geerntet; so aber wirkte das Jammergeschick eines armen Mädchens, das sich als Opfer seiner Stiefmutter aus der Welt hinausschleicht, zu wohlbekannt. Der nicht unbegabte Graf, war zu spät gekommen: der mächtigste der Götter ist der Augenblick.19 Eigentlich hatte diese Lesart aber bereits Alfred Kerr in seiner Rezension zur Uraufführung des Stückes 1899 entwickelt. Das Stück wurde prominent platziert zur Feier des zehnjährigen Bestehens der Freien Bühne uraufgeführt, ein Bonus, der ungewollt zum Malus wird. Denn Kerr beginnt seine Rezension damit, die ersten zehn Jahre der Freien Bühne als den Ort der naturalistischen Dramenerneuerung zu feiern, um dann Keyserlings Stück als Symptom dafür anzuführen, dass der Naturalismus in die Literaturgeschichte zu verabschieden sei: „Die Freie Bühne ist dahin, das große Feuer ist tot. […] Ich feiere die vor zehn Jahren erfolgte Stiftung der Freien Bühne, doch keineswegs ihr zehnjähriges Bestehen.“20 Wenn Kerr in derselben Rezension das Stück als „oft sehr langweilig“21 kritisiert, verweist er auf das zweite Problem der Stücke, das sehr häufig in den Rezensionen genannt wird: das der mangelnden oder schlechten Dramaturgie. So urteilt 18Diese Ähnlichkeiten werden schon in zeitgenössischen Rezensionen beständig erkannt, vgl. Kockert: Das dramatische und erzählerische Werk, S. 34–47; Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 58; Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 289 ff. 19Eduard Engel: Von Goethe bis in die Gegenwart. In: Ders.: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen in die Gegenwart. Bd. 2. Wien/Leipzig 1907, S. 1118. 20Alfred Kerr: „E. v. Keyserling: ‚Ein Frühlingsopfer‘. (Freie Bühne, Lessingtheater) 13. November“. In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirthschaft und Litteratur 7 (1899), S. 96–97, hier S. 97. 21Kerr erkennt in dem Stück „nichts hervorragend Schlechtes. Und nichts auffallend Gutes. Es ist ganz hübsch, oft sehr langweilig, die Arbeit eines […] stimmungsvollen Dilettanten mit vieler Gemachtheit, mit Niedlichkeit, Rührsamkeit und mit frauenzimmerlicher Süße.“ Ebd., S. 97. 112 A. Weixler Erich Schlaikjer über Das Frühlingsopfer, dass das Stück einen „eigentlich tragische[n] Vorwurf“ vermissen lasse und „in der Psychologie stecken“ bleibe.22 Ähnlich lautet das Verdikt über Der dumme Hans, der Rezensent in der Allgemeinen Zeitung etwa gewann „den Eindruck des Bühnenwidrigen“, denn das Stück sei „[k]ein Drama, [k]eine Tragödie“, die untragische Stoffwahl beruhe auf der „Verwechslung des traurigen Ereignisses mit dem tragischen Schicksal“.23 Über Peter Hawel befindet Max Halbe sodann, dass dem Stück durch ein „bewussteres und kühneres Zugreifen nach der dramatischen, […] theatralischen Seite hin […] größere[] Wirkung“ sicher gewesen wäre.24 Nach all der Kritik kann kaum überraschen, dass auch Keyserlings letztes Stück, Benignens Erlebnis, mit denselben literaturkritischen Topoi abgeurteilt wurde.25 Für Siegfried Jacobsohn hat die Figur Benigne etwa „garnichts Ungewöhnliches“, weshalb aus dem Stück „nie oder beinahe nie eine Tragödie“ werde. „Es ist zu wenig für einen Theaterabend, zu wenig selbst für einen halben.“26 Überhaupt bezeichnet Jacobsohn den Autoren als den „Undramatiker[] Keyserling“,27 was aus heutiger Sicht wie ein abschließendes Urteil erscheint, war damit doch ein für alle Mal der Ruf der – wie Meyer es später formulieren sollte – „Bühnenferne“ seiner Theaterstücke festgeschrieben. Abschließend erscheint dieses Urteil aber auch deshalb, weil Keyserling sich danach nie wieder als Dramatiker versucht hat. Auffallend ist also, dass sich Keyserling innerhalb weniger Jahre – von 1899 bis 1906 – sehr intensiv darum bemüht hat, als Dramenautor auf den Bühnen Deutschlands Fuß zu fassen, und dass seine anschließende Abwendung vom Drama bis zu seinem Lebensende endgültig war. Max Halbe erklärt in seiner Autobiographie Jahrhundertwende Keyserlings konsequente Abkehr vom Drama mit einer Selbsteinsicht: Er war nicht zum Dramatiker berufen und ist sich dessen auch mit der ihm eigenen Schärfe der Selbstkritik bald bewusst geworden; denn er gab diese Versuche nachher entschlossen auf, um sich ganz seinem eigensten dichterischen Wesen zuzuwenden, der Novelle, der Erzählung, dem kleinen Roman.28 22Erich Schlaikjer: „‚Ein Frühlingsopfer‘ (Freie Bühne)“. In: Vorwärts („Berliner Volksblatt“) (14.11.1899), S. 890–891. 23∆ [= Rezensentensymbol; O. N.]: „‚Der dumme Hans‘“. In: Allgemeine Zeitung. (Vorabendblatt) 108/86 (22.02.1905), S. 1. Abrufbar: https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/ bsb00085791_00905_u001/1 (02.09.2019). 24Max Halbe: „Münchener Brief“. In: Der Tag 531 (12.11.1903). 25Alfred Polgar beispielsweise sieht ein Stück, in dem es keine Steigerung gebe, „[k]aum einen Konflikt. Kein Gegeneinander, nur ein Aneinanderstreifen zweier Weltanschauungen“. Alfred Polgar: „‚Benignens Erlebnis‘“. In: Schaubühne 1 (1907), S. 275–277, hier S. 275. 26Siegfried Jacobsohn: „Benigne und Hannele“. In: Schaubühne 1/4 (28.09.1905), S. 95–97. 27Ebd., S. 95–96. 28Max Halbe: Jahrhundertwende. Geschichte meines Lebens 1893–1914. Danzig 1935, S. 317. Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 113 Der Blick auf die biographischen Daten lässt es verlockend erscheinen, diesen generischen Abbruch als ein Scheitern zu interpretieren. Aber man kann selbstredend auch neutraler danach fragen, warum sich Keyserling überhaupt als Dramatiker versuchte, und warum er es dann nach wenigen Jahren auch schnell wieder sein ließ? So sehr dies letztlich natürlich Spekulation bleiben muss, kann eine mögliche Erklärung dafür ebenfalls eine biographische sein. Denn bereits von frühester Jugend an war Keyserling ein ausgesprochen begeisterter Theaterbesucher. Seine Theaterbegeisterung zeigt sich später dann darin, dass er, wann immer es ihm möglich war, auch stets an den Proben zu seinen Dramen teilnahm und sie teilweise sogar selbst leitete.29 Diese Form der Interaktion mit der Institution Theater aber musste mit seiner einsetzenden Erblindung ab 1908 enden. Eine weitere Motivation für seine Theaterversuche ist darin zu erkennen, dass seine literarische Sozialisation sowohl in Wien mit dem Kreis um Ludwig Anszensgruber als auch in München mit Max Halbe und Frank Wedekind ausgesprochen theaternah war. Abgesehen von der Sozialisation und persönlichen Vorliebe ist das Theater um die Jahrhundertwende 1900 aber natürlich auch der Ort schlechthin für innovative Schriftsteller. Grundsätzlich entsteht mit dem Naturalismus ja eine neue Hochphase des Dramatischen, hinzu kommen in dieser Zeit eine ganze Reihe von Theaterneugründungen wie etwa die Freie Bühne oder auch die Neue Freie Volksbühne in Berlin. So gesehen, ließe sich also vielleicht sagen, dass Keyserling ein vorrangig resonanztaktisches Interesse für die naturalistische Leitgattung hatte, dass er auf dem Place to be für innovative Literatur der Zeit um 1900 sein wollte – dass er aber, mit Goffman gesprochen, mit dieser Positionierung schlicht keinen sense of his place bewies. Norm und Abweichung Wenn man sich die Struktur der Stücke – sprich die Dramaturgie bzw. die Ausgestaltung des zentralen tragischen Konfliktes – genauer ansieht, müssen die Urteile der zeitgenössischen Rezensenten relativiert oder doch zumindest präzisiert werden. Anders formuliert: Die Stücke von Keyserling sind nicht so ‚bühnenfern‘ und ‚undramatisch‘ wie von den Kritikern moniert, sondern vielmehr bewusst als innovative Abweichung von dramatischen Normen – die indes die Bewertungskriterien der Rezensenten wie der Literaturhistoriker darstellen – gestaltet. In diesem Sinne fällt schon an der Makrostruktur der Stücke auf, dass Keyserling offensichtlich mit verschiedenen äußeren Formen experimentiert, also um eine Erneuerung der Gattung bemüht war. Ein Frühlingsopfer wird beispielsweise im Untertitel als „Schauspiel in 3 Aufzügen“ apostrophiert, tatsächlich handelt es sich allerdings um ein Stück in vier Akten. An diesem seltsamen 29Vgl. Kockert: Das dramatische und erzählerische Werk, S. 85. 114 A. Weixler Verhältnis ist dreierlei bedeutsam: Erstens wählt Keyserling eine ungewöhnliche Vier-Akt-Struktur, führt zweitens die Leser/Zuschauer mit dem Untertitel in die Irre, und betitelt drittens den – in der chronologischen Zählung – dritten Akt nicht als „Aufzug“, sondern als „Verwandlung“ und damit als eine Art Zwischenspiel, das nicht den vollgültigen Status eines Aktes habe. Deutlich wird damit eine bewusst gestaltete Spannung zwischen der äußeren Aktstruktur und der dramaturgischen Handlungsgestaltung des Stückes. In seinem zweiten Stück, Der dumme Hans, behält er die ungewöhnliche Vier-Akt-Struktur bei, dieses Mal aber ‚normal‘ durchgezählt und im Untertitel auch als „Trauerspiel in 4 Aufzügen“ markiert. Nach dem kurzen Einakter Die schwarze Flasche folgt mit Peter Hawel dann ein klassisch strukturiertes „Drama in fünf Aufzügen“, bevor er sich mit Benignens Erlebnis abschließend noch an einem Zweiakter versucht. Dieser beständige Wechsel der Aktstruktur lässt sich als ein Experimentieren mit der Form interpretieren. Aus dieser Perspektive sind die oft monierten Mängel in der Dramaturgie von Keyserlings Stücken nicht als ein Scheitern an der formalen Gestaltung, sondern als die Folge einer bewussten Entscheidung zu verstehen. Auch für Kafitz sind Keyserlings Stücke weniger durch eine übliche generisch vorgeprägte Handlungsmotivierung, als vielmehr thematisch bestimmt als typische Beispiele für eine „weltanschauliche Einstellung“ der Zeit um 1900 „[z]wischen Naturalismus, Biologismus und Dekadenz“. Kafitz erkennt darin eine „Abkehr vom rationalistisch-analytischen hin zu einem biologistisch-synthetischen Denken“.30 Keyserlings Theaterstücke müssen demnach weniger in der Nachfolge des Naturalismus als vielmehr als Ausdruck von „Biologismus“ gesehen werden, worunter Kafitz eine Sonderform der Lebensphilosophie bzw. des Lebenspathos der Zeit versteht.31 Dieser Biologismus lasse sich noch weiter differenzieren in eine „vitalistische“ Spielart einerseits, die das physische bzw. das „kraftvoll-gesunde körperliche“ des Menschen betont, und einer Fokussierung auf dem „[M]ystisch[]-[R]eligiöse[n] andererseits, [das] auf synthetisches Wahrnehmen und Erleben“ ausgerichtet ist.32 Wenn, mit Kafitz argumentiert, Keyserling wirklich in allen seinen Theaterstücken aber vornehmlich die immerselbe Thematik darstellen wollte, dann ist sein Experimentieren mit der äußeren Form und der Aktstruktur umso intrikater. Sehen wir uns, um dies genauer zu untersuchen, die einzelnen Stücke zunächst etwas genauer an, um dann die strukturelle Entwicklung näher in den Blick zu nehmen. 30Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 287. spricht von ‚Biologismus‘ und nicht von Lebenspathos, um den „naturwissenschaftlichen, speziell den evolutionistischen“ und sozialdarwinistischen „Bezugspunkt des Denkens und Fühlens“ zu betonen. Ebd., S. 288. 32Ebd., S. 287–288. 31Kafitz Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 115 Das kleine Glück des Augenblicks – Ein Frühlingsopfer Ein Frühlingsopfer, am 12. November 1899 im Lessing-Theater in Berlin uraufgeführt, spielt im niederen bäuerlichen Milieu, in der Stube eines sog. Häuslers. Die Szenerie wird zu Beginn als ärmlich, „kümmerlich[]“ und „dürftig“ beschrieben, Bauer und Familienoberhaupt Mikkel Kappel ist ein Säufer, in einem Alkoven liegt seine Frau im Sterben33 – alles in allem also eine aus der Dramatik des Naturalismus bestens bekannte Ausgangsituation.34 Im Mittelpunkt des Stücks steht die 17-jährige Orti, eine Halbwaise und die uneheliche Tochter Kappels. Ihre Mutter hatte sich umgebracht, nachdem sie von Kappel verstoßen worden war. Orti ist eine Außenseiterfigur, die sowohl in der Familie am Rand steht und misshandelt, als auch von der Dorfjugend ausgestoßen wird. Zum Kern der Dorfjugend gehören Mikkels schöne Schwester Madda und ihr Geliebter Indrik, der schönste, stärkste und reichste Bauernjunge des Dorfes. Orti muss ihre Liebe zu Indrik hingegen unterdrücken. Sie scheint bei alledem die einzige der Familie zu sein, die sich ernsthaft um die im Sterben liegende Stiefmutter Anne und damit um die Zukunft der Familie sorgt. Die Großmutter mit ihren, wie es eingangs heißt, „brennenden fanatischen Augen“35 nutzt dies aus, indem sie Orti von einem Volksaberglauben erzählt, demzufolge sie das Leben der Stiefmutter im Tausch gegen ihr eigenes retten könne, wenn sie ein entsprechendes Gelöbnis bei der schwarzen Madonna in einer schwarzen Kapelle im Wald ablege.36 Orti willigt in diesen „Teufelspakt“37 mit der als halb-christlich, halb dämonisch-volksabergläubisch markierten Madonna zunächst ein. Als sie danach allerdings einen Liebesabend mit Indrik verbringen und sie doch kurz die Hoffnung auf ein erfülltes (Liebes-)Leben haben kann, entsteht die tragische Spannung des Stückes schließlich dadurch, dass ihr Lebens- und Liebestrieb stärker als ihre religiöse Bindung an das Gelübde ist, sie sich aber zwischen beiden Bereichen – dem emphatischen (Liebes-)Leben hier und dem religiös verklärten Opfertod dort – entscheiden muss. Als am nächsten Morgen klar wird, dass Indrik nichts mehr von ihr wissen will, der Liebesabend für ihn nur ein einmaliges Abenteuer war und er zu Madda zurückkehrt, tötet Orti sich selbst. Da Orti mit diesem Selbstmord aus unerwiderter Liebe das Schicksal ihrer Mutter wiederholt, kann man darin eine Form naturalistischen Determinismus 33Eduard von Keyserling: Ein Frühlingsopfer. Berlin 1900, S. 7–8. Steiner: „Das Jubiläum der Freien Bühne“, Sp. 1082; Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 56–57; Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 291. 35Keyserling: Ein Frühlingsopfer, S. 8. 36Die Sozialisation ist damit typisch naturalistisch, die Episode mit der Stiefgroßmutter und der Schwarzen Madonna deutlich romantisch, wie schon Steiner in seiner Rezension polemisch bemerkt: „Aus diesen Voraussetzungen hätte ein naturalistisches Drama geschaffen werden können. Der Autor fügt diesem Stoffe einen romantischen Sauerteig bei.“ Steiner: „Das Jubiläum der Freien Bühne“, Sp. 1082. 37Schiffke: Das dramatische Werk, S. 37. 34Vgl. 116 A. Weixler erkennen. Ortis Entscheidung, sich für „einen anderen Menschen zu opfern“ sowie ihr „Freitod aus Verzweiflung“, lassen sich als „Manifestationen“ ihres „unbefriedigten Lebenstriebes“ und somit als die „sinnlich-vitale Komponente des Keyserlingschen Natur- und Lebensbegriffs“ deuten.38 Diese Interpretation ist zum einen für sämtliche Theaterstücke von Keyserling generalisierbar, in denen die Bedeutung des ‚Lebens‘ mal mit stärkerer Betonung auf dem vitalistischen, mal eher auf dem mystisch-religiösen Lebensbegriff, jeweils zentral ist. Zum anderen greift diese Deutung aber auch zu kurz, da hierbei der soziale Konflikt ignoriert wird. Dass dieser bedeutsam ist, zeigt sich etwa in der antithetischen Ausgestaltung der Raumsemantik und in Ortis Gebundenheit an das Innen, während die Dorfjugend im lebensvollen Außen situiert ist. Zu dieser sozialen Thematik kommt noch die dramaturgische Ausgestaltung des Kernkonfliktes hinzu, so dass es vielmehr das soziale und vitalistische Aspekte gleichermaßen umfassende ‚emphatische Leben‘ ist, das hier zentral ist. So dient der erste Aufzug zum einen der Etablierung einer sozialen Konfliktsituation: Mit dem Tod der Stiefmutter würde auch die weitere Existenz der gesamten Familie höchst prekär: Der Alkoholiker-Vater plant bereits ihre wirtschaftliche Basis, die beste Kuh, zu verkaufen, den Gewinn zu versaufen und eine alte Jungfer, Lotte, zu heiraten, die, so wird deutlich markiert, danach sämtliche Familienmitglieder aus dem Haus jagen würde. Ortis „Frühlingsopfer“ ist insofern ein Lebens-Tausch, bei dem sie nichts zu verlieren hat, ihre ‚Existenz‘ ist so oder so gefährdet. Zum anderen wird Orti im ersten Akt als Außenseiterin eingeführt, die nicht am ‚Leben‘ der Dorfjugend teilhat: „Wer wird dich [auf den Bittgang; A. W.] mitnehmen?“39 Im zweiten Akt wird Orti, indem sie Indrik vor einem Messerangriff eines mit ihm um Madda wetteifernden städtischen Beamten bewahrt, von diesem in die Gruppe der Dorfjugend aufgenommen und sogar kurz zu seiner Liebhaberin. Der dritte Akt beginnt entsprechend damit, diese Initiation und Inklusion zu bestätigen: „Jetzt gehörst Du zu uns.“40 Den Opfer-Selbstmord am Ende des Stückes begeht Orti, als Indrik wieder zu Madda zurückkehrt. Dadurch wird der soziale Konflikt handlungsmotivierend, Orti opfert sich in dem Moment ihrer erneuten Exklusion aus der Dorfgemeinschaft. Dem als „Verwandlung“ betitelten Zwischenakt zwischen dem zweiten und dem dritten Aufzug kommt in dieser Konstellation eine bedeutende Rolle zu. Denn während man eigentlich an dieser Stelle ein retardierendes Moment erwarten würde, an dem momenthaft ein Ausgleich des Konfliktes möglich erscheint, wird in diesem Aufzug vielmehr das genaue Gegenteil vorgeführt und in der orakelhaften Figur der sog. Kräuter-Lenore stattdessen die Unausweichlichkeit von Ortis Schicksal vorgeführt. Ein kurzer Moment der Retardation wird dann erst im letzten Akt nachgeholt, freilich nur um den Preis, dass Orti 38Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 291–292. Ganz ähnlich bereits Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 56–58. 39Keyserling: Ein Frühlingsopfer, S. 32. 40Ebd., S. 136–137. Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 117 ihre Stiefmutter ermorden müsste, um vom Pakt mit der schwarzen Madonna loszukommen. Dass Orti die Unausweichlichkeit ihrer Situation – und dramenhistorisch wie -strukturell bedeutet diese ja: ihre Tragik – durchaus bewusst ist, zeigt die mehrfach wiederholte Anspielung auf die Augenblicklichkeit ihres Liebes- und Lebensglückes. Denn was Orti beständig beteuert, ist, dass es ihr nicht um ein erfülltes langes Leben geht, sondern sie nur augenblickshaft41 nach einem kurzen Glücksmoment, einem momentanen emphatischen Lebensgefühl strebt: „Ja, ich weiß, ich werd’ wieder klein werden. Aber – jetzt – jetzt …“42 Als sie zwischenzeitlich den Pakt mit der schwarzen Madonna bereut und ebenso, wenn es ganz am Ende des Stückes um ein weiteres Zusammensein mit Indrik geht, fleht Orti in beiden Fällen nicht um eine gänzliche Auflösung des Paktes oder um eine feste Beziehung mit Indrik, sondern jeweils entsprechend nur um einen glücklichen Moment: „Indrik – noch – noch ein Weilchen, ein kurzes Weilchen … dann will ich ja wieder allein sein“.43 Nun kann man eine dramaturgische Schwäche des Stückes darin sehen, dass Keyserling zwar wie Wedekind in Frühlings Erwachen die „sinnliche Triebnatur junger Menschen“ thematisiert, anders als dieser aber noch dem klassischen „Aufbau- und Konfliktschema traditioneller Dramatik“ verhaftet bleibt, weshalb der Handlungsentwicklung ein „gleichwertiges Gegenspiel“ ebenso fehlt wie eine „innere Notwendigkeit“.44 Doch ist dies von einem klassischen Dramenaufbau aus geurteilt, für diese Bewertung muss der als „Verwandlung“ betitelte Zwischenakt als Teil des zweiten Aktes interpretiert werden. Dieser Akt ist durch Vorhang und Ortswechsel deutlich vom zweiten Akt getrennt, auch die bloße Textlänge spricht für einen vollgültigen ‚Akt‘, auch wenn Keyserling dies im Untertitel des Stückes selbst nicht so auszeichnet. Was sich hier exemplarisch zeigt, deutet auf eine andere (auch strukturelle) Schwäche des Dramatikers Keyserling hin: Zwar platziert er sich mit seinem Stück auf dem Gebiet des Dramas als jenem Ort für innovative Literatur der Jahrhundertwende 1900 bewusst mit einer experimentellen und ungewöhnlichen Akt-Struktur, er tut dies aber nicht konsequent genug. Anders formuliert: Keyserling greift für seine Darstellung einer zeittypisch lebensphilosophisch-biologistischen Geschichte auf die ungewöhnliche vier-Akt-Struktur zurück und verfährt insofern modern bzw. innovativ, doch waren Halbe und Wedekind im Aufbrechen klassischer, d. h. hierarchisch-chronologischer Akt-Strukturen bereits einige Jahre früher schon deutlich radikaler. 41Die Betonung des Augenblicks ist in der Literatur der Moderne ein zeittypisches Thema, eine strukturell vergleichbare Betonung eines nur augenblickshaften Liebesglückes findet sich etwa exemplarisch und deutlich in der Figur des Fritz in Arthur Schnitzlers Liebelei (1894, UA 1895) ausgestaltet. 42Keyserling: Ein Frühlingsopfer, S. 84. 43Ebd., S. 158. 44Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 292. 118 A. Weixler Das Scheitern des Naiven – Der dumme Hans Dass Keyserlings Abweichen von den üblichen drei- oder fünf-Akt-Schemata durchaus eine bewusste Entscheidung war, zeigt sich spätestens mit seinem nächsten Stück, dem „Trauerspiel in 4 Aufzügen“45 Der dumme Hans (uraufgeführt am 4. Mai 1901 im Residenztheater Berlin). Auch thematisch bleibt sich Keyserling in diesem Stück treu, der Fokus auf die biologistische Spezialform des Naturmonismus, der mit Orti – auch sie scheint in nahezu jeder Situation vermeintlich ‚natürlich‘ zu reagieren und aus einem ganzheitlichen Lebenszusammenhang heraus zu fühlen und zu handeln – bereits angedeutet wird,46 ist in Der dumme Hans noch einmal gesteigert präsentiert. Die Titelfigur Hans, der von allen anderen immer als „dumm“ bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit „naiv“47 – wie ihn die Figur Christof Graf von Schauen-Mursach beschreibt – naiv, versteht sich, im Schillerschen Sinne. Hans verkörpert einen reinen Naturmonismus und steht für den vollkommenen Einklang mit der Natur, er kann sich in Pflanzen und Tiere nicht nur einfühlen, sondern sogar mit ihnen kommunizieren, d. h. er spürt und hört, was die Tiere und die Bäume des Waldes denken und sagen. Graf Christof, der in seine Großcousine, die Tochter des Barons von Käferndorf, Anna, verliebt ist, hat durchaus ebenfalls Interesse an der Natur, wenn auch lediglich theoretischer Art: „Ich liebe so sehr die Natur. Immer habe ich am liebsten Geßner gelesen – und Rousseau“.48 Mit grauer Theorie kann er Annas Herz indes nicht gewinnen, sie ist mehr für die ‚grüne‘ Praxis der Naturverbundenheit, teilt Hans’ naturmonistische Einstellung und verbringt so viel Zeit wie möglich mit ihm im Wald. Erneut wird in diesem Stück der lebensphilosophische Themenfokus durch einen sozialen Konflikt sekundiert.49 Wie im Frühlingsopfer entstammt die Hauptfigur Hans dem unteren sozialen Milieu, den in Waldhütten lebenden sog. Waldhäuslern. Dieser Gruppe steht ein adliger Großgrundbesitzer gegenüber, Annas Vater, der Baron. Er will den Wald, in dem die Häusler wohnen und der ihren Lebensraum sowie ihre Lebensgrundlage bildet, roden lassen. Die ungezügelten ‚Naturmenschen‘ des Waldes sollen so zwangszivilisiert werden. Die Häusler wehren sich gegen diese „Domestizierung“50 mit einem Mordplan, dem der alte Baron schließlich zum Opfer fällt. Hans ist beim Mord nur zufällig in der Nähe, 45So der Untertitel des Stücks: Eduard von Keyserling: Der dumme Hans. Trauerspiel in 4 Aufzügen. Berlin 1901, S. 3. 46Vgl. Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 293. 47Keyserling: Der dumme Hans, S. 49. 48Ebd., S. 47. 49Vgl. Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 292. Für Kafitz ist der „sozialrevolutionäre[] Konflikt“ letztlich aber nebensächlich, da die Waldhäusler „kein proletarisches Bewußtsein“ entwickeln, sondern lediglich „ein vorrevolutionäres, geschichtlich überholtes Naturerleben“ verteidigen, „das sich jeder Dienstbarkeit verweigert“. Ebd., S. 293. 50Wortgleich bei Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 61; Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 293. Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 119 wird aber fälschlicherweise verhaftet und schließlich zum Tod verurteilt. Dass er den wahren Mörder nicht einfach verrät und sich von der Todesstrafe befreit, hängt letztlich – abgesehen von seiner Solidarität – auch mit seiner Hoffnung zusammen, dass er nach dem Tod eins mit der Natur und insbesondere mit den geliebten Bäumen des Waldes, ja er als Baum wiedergeboren werden könne. Dass Hans’ Naturverbundenheit und soziale Herkunft möglichst unverfälscht auch in seiner Sprache als eine Art „Natursprache“ ausgedrückt wird, führt zu konträren Interpretationen. Für Steinhilber scheitert Keyserling gerade daran, die zeittypische Sprachskepsis darzustellen, da die Sprachkritik „vorwiegend verbal und theoretisch zum Ausdruck gebracht wird“ und Keyserling „wie im traditionellen Drama Thesen und Gegenthesen argumentativ miteinander konfrontiert“.51 Für Kafitz hingegen, der im Stück Parallelen zu Lord Chandos’ Skepsis gegenüber jedem „diskursiven Sprechen[]“ sieht, kollidiert der sprachformale Fokus „mit der dramatischen Form […]. Eine Konfliktspannung ist durch das monistische Erleben letztlich ausgeschlossen.“52 Beide Interpretationen übersehen, dass Keyserling offenkundig gar keine klassische Konfliktspannung anstrebte, da er sonst eine drei- oder fünf-Akt-Struktur hätte wählen müssen, in der die üblichen Stationen Konfliktetablierung, -steigerung, Höhepunkt, Retardation und Katastrophe durch die äußere Form vorgegeben sind. Ein „Trauerspiel in 4 Aufzügen“ hingegen eignet sich weniger für einen Konfliktverlauf mit steigender und fallender Handlung als für eine antithetische Gegenüberstellung zweier Welten. In Der dumme Hans zeigt sich die Antithetik schon in der Ortswahl: Der erste und der dritte Akt spielt im Wald, der zweite und vierte auf dem Schloss des Barons. Das dramaturgische Problem des Stückes liegt folglich nicht so sehr in der gewählten Struktur, sondern – erneut – in der nicht konsequenten Durchführung der Formwahl: Als antithetische Gegenüberstellung von dekadenter, aber zivilisierter Adelswelt, und naiv-idealistischer, aber letztlich primitiv-atavistischer Naturwelt, hätte das Stück vielleicht mehr Potenzial gehabt. Oder auch in einer konsequenteren Gestaltung als offenes Drama, gegebenenfalls sogar als Stationendrama. Aber Keyserling bricht die Antithetik einerseits dadurch auf, dass Anna ebenso naturmonistisch gestaltet ist wie Hans, und andererseits dadurch, dass er auf diese vier-Akt-Struktur doch noch eine herkömmliche Konfliktgestaltung von Konflikteinführung im ersten Akt bis hin zum ‚tragischen‘ Ende mit dem Tod der Hauptfigur setzt. Beides – sowohl höchst unwahrscheinliche Liebe zwischen der Adelstochter und dem Waldjungen sowie der Tod von Hans am Ende des Stückes – muss durch diese Spannung zwischen äußerer und innerer Form letztlich unmotiviert wirken. 51Steinhilber: 52Kafitz: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 62–63. „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 293–294. 120 A. Weixler „Echtes und bestes Kabarett“ – Die schwarze Flasche Bei dem Einakter Die schwarze Flasche handelt es sich um einen nur wenige Seiten langen „Kabarett-Sketch“.53 Keyserling hat das Stück, wie ein Vermerk der preußischen Zensurbehörde vom 27. Mai 1902 zeigt, zunächst dem Berliner Reinhart-Theater angeboten, von dem es aber nicht aufgeführt wurde.54 Im Dezember 1902 wurde es dann im Münchener Kabarett „Die Elf Scharfrichter“ aufgeführt, eine deshalb legendäre und zudem für Keyserlings literarisches Netzwerk bezeichnende Aufführung, weil Frank Wedekind dabei die Hauptrolle spielte.55 Publiziert wurde es erst 1990 von Peter Sprengel in der Friedenauer Presse. In dem Stück geht es um ein junges Pärchen, Max und Milli, das gerade in einem Hotelzimmer angekommen ist, um sich dort nach einem letzten Abendessen mit dem Gift aus einer kleinen schwarzen Flasche gemeinsam das Leben zu nehmen. Ein typischer Romeo-und-Julia-Plot also, wie den Zuschauern schon nach wenigen Minuten klar wird, allerdings abgewandelt zum „Kabarett-Sketch“ in der „Struktur des gestörten Rendezvous“.56 Die Gründe für ihre Selbstmordpläne – Max ist ein gescheiterter Literat, der aufgrund eines geplatzten Wechsels seine soziale Zukunft verspielt hat, Milli musste sich daraufhin zwischen ihm und ihrer Familie entscheiden – werden indes nur sehr schwach angedeutet, erneut wirkt der Grundkonflikt des Stückes eher unmotiviert. Es geht hier nicht darum, eine neue Version des bekannten Romeo-und-Julia-Stoffes zu entwickeln, vielmehr soll das Publikum lediglich dieses Schema erkennen, um sodann die Abweichung davon als Farce und Parodie zu verstehen. Denn Max und Milli bringen es am Ende doch nicht über sich, das Gift zu schlucken, weil sie beständig von einem aufdringlichen Kellner gestört werden, der gemeinsam mit ihnen Selbstmord begehen möchte, weil er selbst nicht am ‚emphatischen Leben‘ teilhaben kann57 – ein gleichbleibendes Thema bei Keyserling offenkundig. Dadurch sprengt der 53Peter Sprengel: „Fin de siècle – selbstironisch. Zur Wiederentdeckung von Keyserlings verschollenem Einakter ‚Die schwarze Flasche‘“. In: Eduard von Keyserling: Die schwarze Flasche. Drama in einem Aufzug. Hg. und m. e. Nachwort versehen von Peter Sprengel. Berlin 1990, S. 29–31, hier S. 30. Sprengel bewertet das Stück als „echtes und bestes Kabarett“. 54Wie Peter Sprengel ausführt, war Keyserling auch hier wieder einmal „zu spät“ gekommen, denn das Reinhart-Theater durchlief in diesem Jahr gerade eine „radikale Metamorphose“ und wollte sich vom Kabarett zum „ernsthaften ‚Kleinen Theater‘ mauser[n]“. Sprengel: „Fin de siècle – selbstironisch“, S. 30. 55Vgl. Meyer: „Keyserling“, S. 393. Nach Peter Sprengel sei dies „der erste Auftritt Wedekinds in einer nicht von ihm selbst geschriebenen Rolle gewesen.“ Ob Wedekind bei der Aufführung wirklich auf der Bühne stand oder nicht doch kurzfristig verhindert war, lässt sich nicht mehr ermitteln, zumal er im einzigen überlieferten gedruckten Programmheft in der Besetzungsliste nicht genannt wird. Sprengel: „Fin de siècle – selbstironisch“, S. 29–30. 56Ebd., S. 30. 57Vgl.: „Ein Kellner ist kein schlechter Begleiter. Wir sind die Geprüften des Lebens. Wir servieren Diners, die wir nicht essen, bedienen schöne Frauen, die uns nicht gehören“. Eduard von Keyserling: Die schwarze Flasche. Drama in einem Aufzug. Hg. und m. e. Nachwort versehen von Peter Sprengel. Berlin 1990, S. 25. Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 121 Kellner aber die romantisch verklärte Vereinigung58 zweier Liebenden im Suizid. Ausgerechnet ein lebensmüder Kellner rettet die beiden Liebenden also vor dem Selbstmord und zerstört zugleich den klischeeartigen59 Inszenierungsversuch eines gescheiterten Literaten, so dass am Ende die Komik vor allem in der Abkehr vom bekannten Plotschema entsteht. Peter Hawel oder Langeweile vs. Pflicht In Keyserlings drittem abendfüllenden Theaterstück, das am 10. Oktober 1903 am Münchener Schauspielhaus uraufgeführt wurde, werden ebenfalls zwei Konfliktlinien miteinander verschränkt. Die titelgebende Figur Peter Hawel zeichnet sich durch körperliche Kraft, Gesundheit und Willensstärke aus. Er steht damit für Vitalismus und Sozialdarwinismus,60 die indes von zwei Seiten bedrängt werden: Hawel war durch seine Vitalität ein sozialer Aufstieg zum Gutsbesitzer gelungen. Seine Frau Marga, Tochter des vorherigen adligen Gutsbesitzers, hatte ihn allerdings verlassen, um in der Stadt als Sängerin Karriere zu machen. Das Stück beginnt mit der Rückkehr der Ehefrau und der langsamen Wiederannäherung der beiden. Zugleich muss sich Hawel gegen eine sozialistische Revolte seiner Landarbeiter wehren. Das Stück ist klar antagonistisch gestaltet, es kommt zu einem Konflikt zwischen „‚natürlichem‘ Mann und ‚kultivierter‘ Frau“, die zudem die Lebenswelten von Stadt und Land repräsentieren, sowie zwischen „instinktiv reagierendem Bauer und intellektuell argumentierendem Revolutionär“.61 Gegenüber der sozialistischen Revolte setzt Hawel sich dabei sozialdarwinistisch durch, während seine vitalistische Triebhaftigkeit zugleich zur Niederlage im Machtkampf mit seiner Frau führt, was ihn wiederum zunehmend in der Auseinandersetzung mit den Landarbeiterführern schwächt. Peter Hawel ist Keyserlings einziges Theaterstück, das in einer klassischen Fünf-Akt-Struktur gestaltet ist. Offenkundig wollte Keyserling der Kritik der Stilvermischung und ‚Undramatik‘ seiner bisherigen Theaterstücke damit begegnen, dass er sich dramaturgisch in einer klassischen Struktur und auch thematisch und stilistisch deutlich fokussierter als bisher einem Thema widmet. Im ersten Akt werden demgemäß die beiden zentralen thematischen Bereiche (Arbeiterrevolten und Ankunft der Frau) eingeführt, der zweite Akt sieht dann die Entwicklung des Konfliktes: Die Landarbeiter wollen die soziale Ordnung revolutionieren und Marga 58Sprengel: „Fin de siècle – selbstironisch“, S. 31. Homscheid: Leben und Werk, S. 213. 60Vgl. Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 295. 61Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 64. „Beide Handlungsstränge des Dramas sind [somit] durch das biologistische Menschenbild des Autors bestimmt, der sozialdarwinistischen Perspektive in der Auseinandersetzung mit den aufständischen Landarbeitern entspricht eine geschlechtsdarwinistische Sicht im Konflikt von Mann und Frau.“ Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 298. 59Vgl. 122 A. Weixler stellt die häusliche Ordnung auf den Kopf. Im dritten Akt hat als Höhepunkt ein Machtwechsel stattgefunden: Hawel ist der körperlichen Anziehung seiner Frau ausgeliefert und hierdurch im Kampf gegen die Revolte geschwächt. Aus Scham und Selbsthass, aber insbesondere auch aus Machterhaltungstrieb (sich selbst und den Landarbeitern gegenüber) tötet er seine Frau. Im vierten Akt wird als retardierendes Moment vorgeführt, wie durch die wiederhergestellte häusliche Ordnung Hawel auch seine beiden vitalistischen und sozialdarwinistischen Lebenskraftbereiche wiedergewinnt und die Arbeiterrevolte endgültig niederschlagen kann; eine positive Lösung des Konfliktes scheint für Hawel hier momenthaft möglich. Im letzten Akt kommt es dennoch zur dramenkonstitutiven Katastrophe, da der Landarbeiterführer Hawels Mord an seiner Frau beobachtet hat und ihn damit erpresst, dass er die sozialistischen Forderungen nun doch annehmen müsse, wenn er nicht für den Mord verhaftet werden möchte. Damit liegt eine tragische Zuspitzung im eigentlichen Wortsinne des Tragischen vor, da Hawel nun, egal, welche Handlungsoption er ergreifen würde, eine Niederlage erleben müsste. Dieser ‚tragischen Situation‘ entzieht er sich am Ende des fünften Aktes durch Selbstmord. Durch Hawels Ausführungen zur Macht des Stärkeren ist der Sozialdarwinismus deutlich als zentrales Motiv des Stückes erkennbar.62 Wenn aber auch die zweite Konfliktlinie des Stückes als darwinistischer Kampf von Mann und Frau beleuchtet und mit Nietzsches Ausführungen zu Geschlechterbeziehungen sowie mit Laura Marholms Zur Psychologie der Frau untersucht wird,63 so wird übersehen, dass Hawels vitalistische Anziehungskraft auf Marga nur momenthaft ist und schon nach wenigen Zeilen von einem anderen Aspekt abgelöst wird, der zudem den gesamten dritten Akt beherrscht und bereits prominent eingangs zu Beginn des ersten Aufzuges eingeführt wird. Als Gegenspieler Hawels um die Gunst Margas fungiert die Figur Gordon von Chalinsky, Margas Neffe, der als Volontär auf dem Hof mitarbeitet. Doch für die Landwirtschaft und für die biologistischen oder vitalistischen Aspekte des Lebens interessiert sich Gordon nicht, denn die sind ihm, wie Marga auch, zu langweilig, freudlos und für ihn als Adligen schlichtweg zu sozial niederstehend und bäuerisch. Der Kampf um Marga, den Hawel und Gordon miteinander austragen, dreht sich demnach weniger um die Frage nach einem lebensphilosophisch-vitalistischen, sondern auch hier nach einem ‚emphatischen‘ Leben. Erkennbar ist dies im Stück etwa an der ausführlichen Auseinandersetzung und Gegenüberstellung von Langeweile einerseits, die Marga und Gordon in diesem landwirtschaftlichen Leben verspüren, und Pflicht andererseits, die Hawel demgegenüber beständig ins Feld führt. 62Vgl. Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“; Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 66. 63Vgl. Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 297. Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 123 Benignens Erlebnis: das „Wilde, Heiße, Starke“ Der Ennui und die damit verbundene Ereignislosigkeit im Leben einer jungen adligen Frau ist auch im letzten Theaterstück von Keyserling, Benignens Erlebnis, das am 8. März 1905 am Münchener Schauspielhaus Premiere feierte, zentral. Das Geschehen spielt im Salon einer Wiener Villa während der revolutionären Aufstände im Oktober 1848, erstmals ist ein Theaterstück von Keyserling damit eindeutig zeitlich und räumlich im Kontext eines historischen Ereignisses verortet. Ein verwundeter Aufständischer wird im Garten der Villa aufgegriffen, auf Geheiß der jungen Baronesse Benigne in den Salon gebracht und dort so lange gepflegt, bis er am Ende des Stückes doch seinen Verletzungen erliegt. Für Benigne ist dies ein Erlebnis, das die ereignislose Langeweile ihres dekadenten Alltages durchbricht. Ja, der Aufständische verkörpert für sie das „Wilde, Heiße, Starke“,64 womit die Figur des revolutionären Studenten Alois Fischer erneut für einen vitalistischen Lebensbegriff steht, der in Keyserlings Theaterstücken anscheinend unvermeidlich ist. Davon abgesehen stellt Benignens Erlebnis aber auch in mehrfacher Hinsicht eine strukturelle Weiterentwicklung der Dramen Keyserlings dar. Noch deutlicher als bisher weicht er von üblicheren Dramenschemata ab, mit dem Zweiakter weist er schon über die Form auf eine antagonistische Konfliktkonstellation hin. Der erste Akt ist der Beschreibung der ereignislosen Zustandshaftigkeit einer als dekadent markierten Adelsfamilie gewidmet. Ähnlich wie in Ein Frühlingsopfer sind die Lebenswelten raumsemantisch antagonistisch gezeichnet: Während draußen die Straßenkämpfe der Oktoberrevolution 1848 toben, verharrt die Familie im Salon in vom alten Baron streng überwachten, althergebrachten Konventionen. Der Baron ignoriert auch die aktuellen politischen Ereignisse vollkommen. Seine Tochter Benigne hingegen verspürt „heißen“ Lebenshunger, und dieses Leben verkörpern für sie insbesondere die ihr Leben für eine Idee riskierenden Aufständischen. Die antagonistische Gegenwelt zum geräusch-, politik- und geschichtsunterdrückenden Salon sind somit die Geräusche und Ereignisse, die sich vor den Salonfenstern draußen auf der Straße abspielen, sie markieren gleichsam den Einbruch des ‚Lebens‘ in den nach außen abgeschlossenen Salon. Der erste Akt endet mit dem Auffinden des verletzten Studenten Alois Müller und Benignens gegenüber ihrem Vater geäußerten Bitte, diesen in den Salon bringen zu lassen. Mit Beginn des zweiten Akts hat sich dann die Machtkonstellation geändert. Der Baron musste sich in sein Schlafzimmer zurückziehen, im Salon herrscht nun die Baronesse eifersüchtig über die Pflege des Verletzten. Allerdings handelt es sich nicht um ein sozialkritisches Stück und die Veränderung der Machtverhältnisse ist nicht das Ergebnis einer (sozial-)revolutionären Entwicklung. Auch interessiert sich Benigne nicht für die politischen Forderungen des Aufständischen, für sie ist er nur ein Repräsentant des vollen Lebens, die Möglichkeit, in ihrer 64Eduard von Keyserling: Benignens Erlebnis. Zwei Akte. Coesfeld 2009, S. 48. 124 A. Weixler künstlichen Abgeschiedenheit im Adelssalon einmal etwas unbedingt ‚Wirkliches‘ zu erleben: Mit anderen Worten, es handelt sich für sie um das titelgebende „Erlebnis“, das von ihr konsumiert werden will. Nach dem Tod Alois Müllers wird die alte Adelswelt vollständig restauriert, der Aufständische war nur ein kurzes Tageserlebnis für Benigne. Der hier ausgestellte Antagonismus ist damit kein sozialer, sondern der zwischen dem wirklichkeitsfernen und dekadenten Adel auf der einen und Benignes Sehnsucht nach einem ‚emphatischen Leben‘, wie es u. a. von Alois Müller repräsentiert wird, auf der anderen Seite. Für Benigne leben sie und ihre Familie in ihrer Adelswelt wie „Gespenster“.65 Demgegenüber ist das „heiße“66 Leben der Aufständischen umso wahrhaftiger und authentischer: „[A]ber dieser ist wirklich – seine Wunden sind wirklich, und wenn er leidet, ist es wirklich und – und wenn er sich freut ist’s wirklich“.67 Die ‚Tragik‘ – wenn man in diesem Stück überhaupt davon sprechen kann – von Benignens außergewöhnlichem ‚Erlebnis‘ ist es, dass der verletzte Alois seinen Aufenthalt im Adelssalon nur als Traum wahrnimmt, Benigne für ihn aber ebenso das wirklich wahre Leben repräsentieren möchte, wie er für sie: „Ich will kein Traum sein und kein Gespenst … Ich bin für ihn wirklich“,68 fleht sie vergeblich, denn bis zu seinem Tod wird Benigne für Alois nichts weiter als nur ein „Traum“69 bleiben. „Nun sind wir wieder in unserer Ordnung“. Ordnung vs. Handlungsstruktur Mit Benignens Erlebnis hatte sich Keyserling einem neuen Sozialisationsbereich zugewendet, spielt hier die Handlung doch durchgehend in der Welt und den Räumlichkeiten des Adels. Da er die Dramenproduktion danach komplett einstellt und sich ganz seinen Schlossgeschichten zuwendet, ist es auf den ersten Blick naheliegend, Benignens Erlebnis als Text des Übergangs von einer Gattung zur anderen zu interpretieren. Mit der Darstellung der dekadenten Adelswelt in diesem Stück habe Keyserling, so in etwa lautet diese beliebte und eingangs bereits erwähnte Lesart, zwar noch nicht die Form, aber doch das Thema für seine späteren Erzähltexte gefunden (das er allerdings freilich bereits 1903 mit Beate und Mareile erstmals ausführte, wie gegen diese bisherige Interpretation einzuwenden ist). In diese werkbiographische Interpretation passt vermeintlich auch die Entwicklung des Figurenpersonals in seinen Theaterstücken. Die dramatis personae in Ein Frühlingsopfer entstammen fast alle der untersten Bauernklasse, in 65Keyserling: Benignens Erlebnis, S. 17, 37, 50. S. 17. 67Ebd., S. 37. 68Ebd., S. 50. 69Ebd., S. 50–54. 66Ebd., Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 125 Der dumme Hans mit den vorzivilisatorischen Waldbewohnern einer sozial sogar noch nieder stehenden Klasse. Doch hier kommt erstmals eine antagonistische soziale Gegenwelt und zudem zum ersten Mal der Adel als Gegenspieler mit auf die Bühne. Wenn wir Die schwarze Flasche als kleine komödien-kabarettistische Fingerübung in dieser Entwicklungslinie seiner Tragödien einmal ausblenden, liegt in Peter Hawel dann der komplexeste soziale Konflikt vor; auch in dieser Hinsicht – wie schon in der Form und in der thematischen Fokussierung – stellt dieses Stück also in mehrfacher Hinsicht eine Konsolidierung der Keyserlingschen Dramenentwicklung dar: Peter Hawel steigt durch seine Stärke und Vitalität vom einfachen Bauernsohn zum Gutsbesitzer auf, während die adlige Familie seiner Frau und ihres Neffen, die von Chalinskys, sich im wirtschaftlichen Abstieg befinden. Die gegenseitige Anziehungskraft dieser beiden Sphären zieht am Ende beide in den Abgrund. So lässt sich bereits in der Veränderung der dramatis personae eine Entwicklung der (sozialen) Konfliktgestaltung von naturalistischem Determinismus hin zur zunehmend in den Vordergrund rückenden Dekadenzthematisierung ablesen.70 Gegen diese beliebte werkbiographische Entwicklungsgeschichte ist indes einzuwenden, dass sich bereits in den beiden Romanen des Frühwerkes viele der Themen und sozialen Konfliktlinien vorgeprägt finden, die in den Theaterstücken wiederkehren und die im Spätwerk dann noch meisterhafter ausgestaltet sind. Im ersten Roman, Fräulein Rosa Herz (1887), ist eine Liebesverbindung über soziale Standesschranken hinweg ebenso zum Scheitern verurteilt, wie im Frühlingsopfer und in Peter Hawel, oder wie in den meisten Erzähltexten des Spätwerks, etwa in Wellen (1911) oder Fürstinnen (1917). Der zweite Roman, Die dritte Stiege (1892), ist wie Benignens Erlebnis eindeutig räumlich in Wien und zeitlich im Kontext eines je unterschiedlichen historischen Ereignisses verortet, in beiden Texten wollen Adlige mit sozialrevolutionär tätigen Protagonisten in Kontakt treten.71 Dass sich die Dramentexte entgegen der üblichen Interpretation also relativ bruchlos zwischen das erzählerische Früh- und Spätwerk einsortieren, lässt sich an zahlreichen Querverbindungen bis hinein in einzelne Motivbereiche zeigen. Eines dieser immer wieder auftauchenden Motive stellt zum Beispiel die Birke dar, der – wie der lettische Literaturwissenschaftler Benjamin Breggin zeigt – zudem in der „Widerspiegelung traditionellen baltischen, vor allem litauischen Glaubens“ eine spezifisch baltische Bedeutung zukommt.72 Nach Breggin wurde im altlitauischen Volksglauben jugendliche Lebenskraft mit jungen, grünen Birken verglichen. In Fräulein Rosa Herz etwa können sich die beiden Nebenfiguren Martha und Peter nur in einem Birkenwäldchen treffen, weil die Tante, bei der Martha wohnt, gegen diese Verbindung ist: „Wenn es Frühling ist, dann gehen 70Vgl. Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“. hierzu den Beitrag von Christian Klein in diesem Band. 72Breggin: „Baltisches und Heidnisches“, S. 194. 71Siehe 126 A. Weixler wir ins Birkenwäldchen“,73 heißt es etwa in dem frühen Roman, die Motive Frühling und Birkenwald kombinierend. Im Frühlingsopfer, diese Motivverbindung aufgreifend, versinnbildlicht die Birke erneut die jugendliche Lebensenergie, der Birkenduft sorgt für eine allgemeine Liebes- und Gefühlsverwirrung, die die eigentlich klare Rang- und Paarordnung des bäuerlich-dörflichen Kosmos kurzfristig durcheinanderbringt, die zwischenzeitliche Liebesszene zwischen Orti und Indrik findet in einem Birkenwald statt. Eine ähnliche symbolische Funktion haben die Birken (bzw. ein Birkenwäldchen) auch in Wellen als jenem Ort, an dem der Geheimrat Knospelius seine Geburtstagfeier abhält, deren Verlauf für die nachfolgenden und nachhaltigen Verwirrungen der Familien- und Beziehungsordnungen sorgt. Das Birkenmotiv wie auch das biologistisch-lebensphilosophische Themenspektrum sowie zahlreiche weitere Motivbereiche – zu nennen wären hier etwa die Ennui- und Pflichtdiskurse – sind dabei weniger ein stets gleichbleibender Themenfokus bei Keyserling, sondern dienen vielmehr, so soll abschließend gezeigt werden, vor allem als Mittel zum Zweck, um die Konfliktkonstellationen der jeweiligen Texte zu versinnbildlichen. Zentral ist in allen Theaterstücken und in sehr vielen der narrativen Texte, dass eine bestehende Ordnung gestört wird und die handelnden Figuren (in der Regel) darum bemüht sind, die alte Ordnung wiederherzustellen. In Wellen schafft das Fest im Birkenwäldchen, in dem, der Tradition der Fête Galante folgend, Vertraulichkeiten ausgetauscht werden können, etwa eine ‚eigene Welt‘, in der die sozialen Schranken sowie die gesellschaftlich-moralischen Normen und Regeln aufgehoben sind. Dass dies jedoch nur für die Dauer des Festes gilt, die gesellschaftliche Ordnung danach wieder hergestellt wird, zeigt sich unter anderem mit der Auflösung der Verlobung von Lolo und dem jungen Leutnant, nachdem Letzterer sich mit Doralice erneut in diesem Birkenwäldchen traf: „von der Seeseite kam ein Wehen, fuhr in die Birken und ließ sie erregt flüstern“, heißt es an einer ‚(natur-)sprechenden‘ Stelle hierzu.74 Ähnlich sind die Ordnungsstörung und die zwischenzeitliche Liebesgeschichte von Orti und ihre kurze Integration in die Dorfgemeinschaft im Frühlingsopfer ausgestaltet. Nicht zufällig findet dieses Ereignis im Birkenwäldchen außerhalb des Dorfes und während des Bittgangs statt. Dass dort andere Regeln und Normen gelten, der Bittgang somit ein ‚Ort‘ außerhalb der regulären Ordnung ist, ist allen Figuren klar: „Auf’m Bittgang, was geschieht da nicht alles …“75 Nicht immer wird die Ordnungsstörung mit dem Birkenmotiv verbunden. Aber auch Der dumme Hans ist im Kern ein Stück über die Kollision zweier Ordnungssysteme, die zudem beide als ‚natürlich‘ vorgeführt werden. Das Leben der Waldhäusler wird einerseits als einfach und primitiv gezeichnet, andererseits verkörpert die Hauptfigur jedoch wie keine andere bei Keyserling einen unbedingten Naturmonismus, ein Leben in vollkommenem Einklang mit der Natur. Dass der Baron 73Eduard von Keyserling: Fräulein Rosa Herz. Göttingen 2000, S. 244. von Keyserling: Wellen. München 142016, S. 91. 75Keyserling: Ein Frühlingsopfer, S. 157. 74Eduard Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 127 den Wald roden lassen will, erscheint vor diesem Hintergrund als eine versuchte Zerstörung der natürlichen Ordnung. Aus der Perspektive des Barons hingegen stellt die Lebensweise der Waldhäusler einen Verstoß gegen die zivilisatorische Ordnung dar, er sieht es daher als seine Pflicht an, diesen Zustand zu beenden: „Nichts leistet ihr. Rechtlos sitzt Ihr in Euren Buden. […] Das ist ungerecht gegen die anderen, die arbeiten und leisten. […] Lebt Ihr denn wie Menschen?“76 Peter Hawel beginnt im ersten Akt direkt damit, dass die titelgebende Figur ‚für Ordnung sorgt‘ und somit als Ordnungsinstanz etabliert wird: „Heute Abend muß alles in Ordnung sein.“77 Unmittelbar in den Zeilen danach wird – wie sich dies für einen ersten Akt gehört – der Kernkonflikt des Stückes erstmals genannt, in diesem Fall handelt es sich um zwei parallel auftretende Störungen dieser häuslichen wie sozialen Ordnung: die Rückkehr der Frau sowie die Revolte der Landarbeiter. Der Höhepunkt des Stückes im dritten Akt ist sodann dadurch gekennzeichnet, dass die ursprüngliche Ordnung suspendiert ist: „keiner gehorcht mehr“.78 Insbesondere aber der Selbstmord Hawels erscheint in dieser Lesart als die einzige Möglichkeit, die bestehende Ordnung irgendwie zu retten bzw. wiederherzustellen, denn nur so „kommt alles wieder in seine Ordnung. Die Ordnung ist doch stärker.“79 Und auch in Benignens Erlebnis wird der Verstoß gegen die „Ordnung“ an mehreren Stellen ausdrücklich thematisiert. Gegen das Außen und die Realität der revolutionären Straßenkämpfe schotten sich die Bewohner der Wiener Villa ab, symbolisiert dadurch, dass die Vorhänge zugezogen werden: Eine Figur kommentiert, während draußen die Revolution tobt: „Ziehen wir unsere Zugbrücken auf, legen wir Holz im Kamin nach, bestellen wir das Nachtmahl zur rechten Zeit, und dann soll einer noch sagen, daß in unserer Welt nicht alles in der Ordnung ist.“80 Diese Ordnung wird in der Folge durch den Repräsentanten des Lebens, den verwundeten Aufständischen, empfindlich gestört, was der Baron im zweiten Akt bezeichnenderweise wie folgt kommentiert: „Wir sind aus unserer Ordnung heraus.“81 Was hier offenbar wird, ist eine Konstellation, die in Keyserlings epischem Spätwerk ebenfalls beständig den Hintergrund der Erzählungen bilden wird: Der Adel lebt in einem alten Ordnungssystem, das sich aus einer geschichtlichen wie familiären Tradition herleitet, deren Zeitgemäßheit aber nicht reflektiert wird, der Anachronismus erreicht das Figurenbewusstsein nicht. Im starren Verharren und Beharren auf ihren ‚Ordnungen‘ und Regeln entfernt sich der Adel – in dieser Hinsicht ein 76Keyserling: Der dumme Hans, S. 55–56. von Keyserling: Peter Hawel. Drama in fünf Aufzügen. Berlin 1904, S. 12. 78Ebd., S. 99. 79Ebd., S. 173. Steinhilber, der den Selbstmord Hawels auch als „Bestätigung und Stabilisierung des Status quo“ interpretiert, sieht diesen Ordnungsdiskurs zudem als Indiz für Keyserlings „zunehmend konservative bis reaktionäre politische Orientierung“. Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 67. 80Eduard von Keyserling: Benignens Erlebnis. Zwei Akte. Coesfeld 2009, S. 12. 81Ebd., S. 32. 77Eduard 128 A. Weixler typisches Dekadenzphänomen – immer weiter vom ‚wirklichen‘ und/oder ‚emphatischen‘ Leben. Lediglich der Schwager des Barons sieht wenigstens kurz ein, dass ein zwischenzeitlicher Impuls von außen – und das heißt bei Keyserling ja stets: des Lebens –, durchaus auch der überverfeinerten Lebenswelt des Adels gut tut: „Du hast recht. Der junge Mann hat wirklich etwas zu uns hereingebracht, das unser Gleichgewicht stärkt, etwas, das uns aus unserer Ordnung bringt, sagt dein Vater.“82 Doch er ist mit dieser Einsicht, dass eine Ordnungsstörung positiv sein kann, von Benigne abgesehen selbstredend, eher allein. Die Tragik der Hauptfiguren in Keyserlings Stücken liegt vielmehr darin, dass sie stets der Ordnungswiederherstellung zum Opfer fallen. Orti ist insofern weniger ein ‚Frühlingsopfer‘ als ein Ordnungsopfer. In dieser Hinsicht ist Orti deutlich mit Rosa Herz aus Keyserlings Debütroman ‚verwandt‘: In beiden Fällen stehen ‚Frauenopfer‘ im Zentrum einer Ordnungswiederherstellung (auch wenn Rosa nicht stirbt, sondern ‚nur‘ auswandern muss), in beiden Fällen werden diese zu Opfern von selbstsüchtigen Männern, die (so unterschiedlichen Schichten sie auch angehören) vor allem auf ihre augenblickshafte vitalistische Triebbefriedigung aus sind. Auch was die Ordnungsstörung angeht, zeigt sich bei Keyserling dabei der in der Forschung wiederholt festgehaltene historische Verlauf: War die Ordnung in Fräulein Rosa Herz und, was die Dramen betrifft, Ein Frühlingsopfer noch vorwiegend naturalistisch-deterministisch semantisiert, ist es in Benignens Erlebnis und in den späteren Erzähltexten die Ordnung der Dekadenz.83 Auch von dieser für Keyserling so zentralen Thematik aus betrachtet, erscheinen einerseits seine Experimente mit der äußeren Dramenform intrikat und lässt sich andererseits der Vorwurf der ‚Bühnenferne‘ seiner Stücke aus einem neuen Blickwinkel betrachten. Sowohl Benignens Erlebnis als auch Der dumme Hans sind wesentlich durch eine solche antagonistische Struktur geprägt, und durch ihre Zwei- bzw. Vier-Akt-Aufteilung ist dies jeweils bereits in der Form angelegt. Ebenso sind Ein Frühlingsopfer durch den Außen-Innen-Kontrast sowie Peter Hawel bezüglich ihrer Ordnungsdiskurse wesentlich antagonistisch gestaltet. Generell lässt sich wohl sagen, dass ‚Ordnung‘ als thematischer Schwerpunkt sowohl in klassischen Dramenformen – sprich Drei- oder Fünf-Aktern mit den Stationen Ordnungsvorstellung, -verletzung und -wiederherstellung – wie auch in dichotom-antagonistischen Gegenüberstellungen in Zwei- oder Vier-Aktern grundsätzlich darstellbar ist. Und es ist eben bemerkenswert, dass Keyserling mit all diesen Formen experimentiert, sie gleichsam alle durchdekliniert. Darin scheint aber nicht der Kern der dramaturgischen Schwäche der Keyserlingschen Stücke zu liegen. Problematischer scheinen vielmehr die langen diskursiven Ausführungen, 82Ebd., S. 52. Kafitz liegt auch hierin ein Grund für Keyserlings Gattungswechsel: „Keyserling scheint in solchen Neuerungen seines letzten Dramas keinen Fortschritt über die traditionelle Handlungsdramatik hinaus gesehen zu haben, sondern ein Überschreiten der Gattungsgrenzen zum Roman hin als dem geeigneteren Medium für die Darstellung der Dekadenz.“ Kafitz: „Die Dramen Eduard von Keyserlings“, S. 300. Vgl. Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 50–55 und S. 71–73. 83Für Ein „Mischmasch aller möglichen Stile“ 129 Zustandsbeschreibungen und Unterhaltungen, die als Charakterstudien funktionieren mögen, die auf einer Theaterbühne aber als ereignislose Passagen ohne Handlungsentwicklung erscheinen.84 Letztlich passiert in den Dramen in diesen lang wirkenden Passagen schlicht zu wenig, ja „zu wenig für einen Theaterabend, zu wenig selbst für einen halben“, wie Jacobsohn so prägnant mit Blick auf Benignens Erlebnis formulierte.85 Bei allen Experimenten mit den unterschiedlichen Dramenformen, scheint Keyserling nicht die passende gefunden zu haben. Und vielleicht geben alle die von ihm ausprobierten Dramenvarianten für seine zentralen Themen bereits eine zu starre Akt- und Konfliktstruktur vor, weshalb er in der epischen Gattung die Freiheit fand, die das Drama nicht ermöglichte. Denn die wichtigste Antithetik im Werk Keyserlings, das ist mit diesem abschließenden Überblick über Ordnungsverletzung und -wiederherstellung deutlich geworden, ist wesentlich eine thematische: Die Gegenüberstellung von Ordnung bzw. gesellschaftlicher, moralischer, ethischer, sozialer etc. ‚Form‘ einerseits und dem Streben nach einem emphatischen Leben andererseits zieht sich durch sein gesamtes Werk. Dabei müssen sich die Figuren stets auch mit dem Antagonismus von Dauer und Augenblick auseinandersetzen: Während dauerhafte Sicherheit scheinbar nur in einer überlieferten und von der Gesellschaft vorgegebenen Ordnung und ‚Form‘ gelingt, scheint das angestrebte Glück nur in der Offenheit bzw. außerhalb der Ordnung (z. B. in einem Birkenwäldchen) und insbesondere nur augenblickshaft möglich zu sein.86 Sobald der Augenblick vergangen ist, erweist sich auch das Glück in der Offenheit als Illusion, restituiert sich die Ordnung gleichsam von selbst. Literatur Allkemper, Alo (Hg.): Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Berlin 2000. Bohrer, Karl Heinz: „Zur Vorgeschichte des Plötzlichen. Die Generation des ‚gefährlichen Augenblicks‘“. In: Ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/M. 1981, S. 43–67. Breggin, Benjamin: „Baltisches und Heidnisches in Eduard von Keyserlings Theaterstück ‚Ein Frühlingsopfer‘“. In: Michael Schwidtal (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche 84Vgl. Steinhilber: Sprachskepsis und Zeitkritik, S. 70–73. „Benigne und Hannele“, S. 95–96. Dass dieser Eindruck nicht von der Handlungsentwicklung abhängt, lässt sich im zeitgenössischen Konversationstheater erkennen, das ohne eine solche Entwicklung auskommt und in dem dennoch nicht der Eindruck von dramaturgischen ‚Längen‘ entsteht. 86Wie Karl Heinz Bohrer in seinen Studien zur „Plötzlichkeit“ gezeigt hat, ist die „charakteristische[], der Dekadenz entstammende Beschreibung des ‚Augenblicks‘“ gerade im „Verzicht auf eine psychologische Motivierung“ zu erkennen; ein Verzicht, der in Keyserlings Dramenstücken zu dramaturgischen Lücken und unmotiviert wirkenden Schlüssen führt, ihm in seinen epischen Texten aber die Freiheit gibt, seine erzählerische Meisterschaft in der motivischen Ausgestaltung zu zeigen. Karl Heinz Bohrer: „Zur Vorgeschichte des Plötzlichen. Die Generation des ‚gefährlichen Augenblicks‘“. In: Ders.: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/M. 1981, S. 43–67, hier S. 61. 85Jacobsohn: 130 A. 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Und gewiss, die Muster, auch die Seichtheiten und Untiefen dieses unter Trivialitätsverdacht stehenden Genres – junge, schöne, lebenslustige Frau betrügt ihren deutlich älteren Gatten mit einem jungen, standesungemäßen Liebhaber, Spaziergänge am Meer im roten Schein der untergehenden Sonne, gespannte Erwartungen, unstatthafte, erotisch aufgeladene Treffen im Wald samt fiebriger Liebeserklärungen –, kurzum: dieses ganze seit dem ersten Biss in den Paradiesapfel immergrüne Programm des ewig wogenden Hin und Hers zwischen den Geschlechtern wird auch in Wellen noch einmal durchgespielt. Aber doch, 1Lou Reed: Modern Dance. Auf: Ders.: Ecstasy. Reprise Records 2000. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M. 1971, S. 462. Foucault spricht hier freilich nicht vom baltischen Landadel, sondern vom Menschen überhaupt. 2Michel G. Kaiser (*) Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: gerhard.kaiser@phil.uni-goettingen.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_9 133 134 G. Kaiser zum Glück, ganz anders als vermutlich in einem jener „englischen Roman[e]“,3 den die Protagonistin Doralice zwar mit in die Birkeneinsamkeit nimmt, zu dessen Lektüre sie aber nicht mehr kommt, weil der sie ins Heidekraut verfolgende Heißsporn Hilmar von dem Hamm nicht nur Begehrliches in den Sinnen hat, sondern zugleich auch – so viel genrebezogene Selbstreflexivität darf man in einem Roman des frühen 20. Jahrhunderts schon erwarten – den Leserinnen klar macht, mit welcher Art von Liebesroman man es bei Wellen nicht mehr zu tun hat: „Nun“, so rechtfertigt der egozentrische Hedonist sein stalking (und damit zugleich der Autor sein ironisches Wildern im seichten Genre), weil ich glaubte, dass Sie sich langweilen würden […] weil ich sah, dass Sie nur dieses Buch da mit hatten und ich annahm, dass an diesem schwülen, etwas traurigen Tage das Schicksal der Miss mit den zu rosa Wangen und zu goldenen Haaren, die sich einen ganzen Band darüber kränkt, dass sie sich in einem Park von einem Herrn hat küssen lassen, Sie auch traurig stimmen würde. (96) Dass sich die meisten Leserinnen von Keyserlings Liebesroman gerade nicht langweilen, obwohl er – wie gesagt – mit Versatzstücken des Genres durchaus jongliert, hat vor allem drei Gründe. Erstens wird dadurch, dass die histoire in Wellen genau zu jenem Zeitpunkt einsetzt, an dem in den seriellen Exemplaren des Genres sonst üblicherweise der gnädige Vorhang fällt – Doralice und ihr Liebhaber, der junge Maler Hans Grill, sind ein Paar geworden, die Geschichte des dafür notwendigen Ehebruchs wird im zweiten Kapitel analeptisch nachgereicht – die Grundfrage (und damit das Handlungsschema) des Liebesromans grundsätzlich verschoben. Sie lautet nun nicht mehr: Wie kommen die beiden Liebenden über alle Hindernisse hinweg endlich zusammen, sondern, und perfiderweise: Wie bleiben sie zusammen, oder wie die Generalin von Palikow in pragmatisch abgeklärter Altersweisheit es formuliert: „Sich entführen zu lassen, das geht schnell. […] Aber mit dem Herrn, der einen entführt, leben, das ist die Kunst.“ (128) Perfide ist diese Frage, weil der Roman nun, zweitens, gerade die Unmöglichkeit des Unterfangens ausleuchtet, die Außeralltäglichkeit der Liebe und des erotischen Begehrens auf Dauer zu stellen. Das Handlungsschema von Wellen folgt also gerade nicht der genreüblichen und – wie die Forschung gezeigt hat4 – für Keyserlings 3Eduard von Keyserling: Wellen. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Radecke. Stuttgart 2018, S. 93. Im Folgenden werden die Zitate aus diesem Roman mit Seitenangabe in Klammern im Fließtext belegt. 4Siehe dazu etwa Rolf Parr: „Topographien von Grenzen und Räume der Liminalität. Eduard von Keyserlings Roman ‚Wellen‘“. In: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Grenzräume der Schrift. Bielefeld 2008, S. 143–165. Parr spricht hier – unter Berufung auf Irmelin Schwalb (Eduard von Keyserling. Konstanten und Varianten in seinem erzählerischen Werk ab 1903. Frankfurt/M. 1993) – von einem „abstrahierende[n] ‚Handlungsschema‘ […], das solche Grenzüberschreitungen als Normverletzungen mit meist anschließender Wiederherstellung sozialer und räumlicher Ordnungen ausweist.“ (S. 145). Erzählstrategien in Eduard von Keyserlings Wellen (1911) 135 Erzählungen in der Regel typischen dreischrittigen Phasierung aus Ausgangsordnung, Zerfall der Ordnung durch Grenzüberschreitungen und Wiederherstellung der Ordnung, weil der Roman sich ganz der dritten Phase, sozusagen den Nöten der Restitution widmet. In der Theorie hat Keyserling dem restitutiven Potenzial der Liebe, wie sein 1907 in der Neuen Rundschau veröffentlichter Essay Über die Liebe zeigt, durchaus einiges zugetraut. Sieht er doch in der Liebe jene letztlich gesellschaftsstiftende Macht, die allein dazu in der Lage ist, die ganz im Sinne des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Positivismus als egozentrisch und triebgesteuert gedachten Individuen überhaupt aus ihrer Isolation und Vereinzelung zu befreien. Aber auch hier, also schon in der Theorie, kommt jene potenziell liebesgefährdende Ambivalenz des Eros ins Spiel, die in der Praxis des Romans dann wie in einer Versuchsanordnung5 durchgespielt wird: „Jetzt“, so Keyserling, beherrscht das Erotische alle Verhältnisse des menschlichen Daseins, gibt ihm die Farbe, kompliziert sie, legt in sie sein beglückendes oder vernichtendes Fieber, wird zur treibenden Kraft des gesellschaftlichen Lebens. Wollen wir ein Menschenleben verstehen, so müssen wir wissen, welche Rolle das Erotische in ihm spielt.6 Der Roman zeigt nun gerade an den Geschicken Doralices und Hans Grills, dass die Liebe, wie der Maler es in einem seiner einsichtsvollsten Momente selbst formuliert, „eine Einrichtung [ist], die zwei Menschen aneinander bindet, damit sie einander quälen.“ (104) Dass die lesende Beobachtung dieser Chronik eines sich ankündigenden Scheiterns – „It’s all downhill after the first kiss“ – nun alles andere als ein reines Missvergnügen ist, hängt drittens, um nun zur Ebene des discours und somit zu den Erzählstrategien zu kommen, vor allem damit zusammen, wie der Roman seine erzählte Welt präsentiert. Drei Erzählstrategien, auf die ich im Folgenden genauer eingehen möchte, sind konstitutiv für die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen in Wellen erzählt wird: 1) die konsequente, d. h. für den Roman strukturkonstitutive erzählerische Einschreibung der Liebeshandlung zwischen Doralice und Grill in ein antithetisches anthropo-topologisches Modell, 2) die Relativierung (fast) sämtlicher im Roman entwickelter Standpunkte durch eine konsequente ironische Erzählhaltung und 3) die gleichsam experimentelle Anordnung des Erzählens,7 die innerhalb der Diegese in der Figur des Knospelius ihre das Geschehen in Gang haltende Repräsentanz findet. 5Armin von Ungern-Sternberg charakterisiert die Erzählsituation der Wellen als „planvolle Anordnung für eine methodische Fragestellung“ nach den Möglichkeiten eines gelingenden Lebens („‚Das rätselhafte Leben zu einer fruchtbaren Wirklichkeit zu gestalten‘. Eduard von Keyserlings Erzählungen: Scherz, Melancholie und tiefere Bedeutung“. In: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne, 12 (2004), S. 255–286, hier S. 267). 6Eduard von Keyserling: „Über die Liebe“ [1907]. In: Ders.: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen. Hg. von Klaus Gräbner. Göttingen 2009, S. 131–150, hier S. 140. 7Der Erzähler, so betont etwa Hannelore Gutmann, „beobachtet die dekadenten Charaktere in einer ihnen unvertrauten Umgebung, als verfolge er den Ablauf eines naturwissenschaftlichen Experiments“ (Hannelore Gutmann: Die erzählte Welt Eduard von Keyserlings. Untersuchung zum ironischen Erzählverfahren. Frankfurt/M. 1995, S. 187). 136 G. Kaiser Anthropo-Topologisierung des Erzählten Wenn die Anthropologie das Sprechen bzw. das Nachdenken über die Grundbefindlichkeiten, die Möglichkeiten und Zumutungen des Menschseins in dieser Welt ist, dann wird man Wellen mit einigem Recht auch als einen anthropologischen Roman bezeichnen können. Geht es in ihm doch nicht oder nie nur um die moralische wie gesellschaftliche Grenzen überschreitende Liebesgeschichte zwischen der gesellschaftlich ausgegrenzten Gräfin Köhne-Jasky, die den ebenso ungewöhnlichen wie sprechenden Vornamen der verführerischen und entführten Sarazenenprinzessin aus Ariosts Orlando Furioso (1516) trägt, und dem – nicht nur in namenstechnischer Hinsicht eher unpoetischen – Bürgerkünstler Hans Grill. In Wellen fungiert die Liebesgeschichte sozusagen als Oberflächenemplotment für die, ganz in zeitgemäßer lebensphilosophischer Antithetik8 ausgestaltete Grundfrage, was der Mensch, angesichts seines Zwitterwesens, anthropologisch eingeklemmt zwischen Natur und Geist, Leben und Form, triebgebundener Notwendigkeit und Freiheit, Rausch und Klarheit, Sehnsucht nach Außeralltäglichkeit und Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung, in dieser Welt überhaupt erkennen, tun und hoffen darf. Dass es eben darum und weniger um eine weitere jener Liebesgeschichten, von deren „schauderöser Ähnlichkeit“9 schon Fontane sprach, gehen würde, darauf hatte Keyserling die Leserinnen des Erstdrucks in der Neuen Rundschau noch geradezu mit der Nase gestoßen, wenn er den anthropologischen Tiefgang und Mehrwert seines Liebesromans paratextuell ausflaggte, indem er dem Text die dritte Strophe aus Baudelaires L’Homme et la Mer (1857) aus dessen Les Fleurs du Mal voranstellt: Vous êtes tous les deux ténébreux et discrets: Homme, nul n’a sondé le fond de tes abimes, Ô mer, nul ne connaît tes richesses intimes, Tant vous êtes jaloux de garder vos secrets. [6; kursiv im Original]10 Nicht nur, dass, wer dem sound gleitender Signifikanten zugeneigt ist, den französischen Diskursbegründer der literarischen Moderne als verballhornten Abglanz 8Siehe dazu Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt/M. 1983, S. 174–196. 9So Fontane über jene realgeschichtliche Ehebruchsgeschichte, die als Anlass für seinen Roman Effi Briest fungierte (Theodor Fontane an Friedrich Stephany, 02.07.1894. In: Theodor Fontane – Werke, Schriften und Briefe. Bd. 4: Briefe. 1890–1898. Hg. von Otto Drude/Helmuth Nürnberger. München 1982, S. 370). 10In der Übersetzung von Monika Fahrenbach-Wachendorff lautet diese Strophe: „Verschwiegen beide, dunkel wie die Nacht: / Mensch, wer kann deine Tiefen je ergründen, / Meer, wer kann deinen innern Reichtum finden, / Da ihr Geheimnisse mit Eifersucht bewacht!“ (Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen. Frz./dt. Übers. von Monika Fahrenbach-Wachendorff. Stuttgart 2014 (frz. 1857), S. 55). Erzählstrategien in Eduard von Keyserlings Wellen (1911) 137 im Namen des gerade in künstlerischen Fragen so wenig geistvollen Barons von Buttlär noch aufscheinen sehen kann, auch Baudelaires Parallelschaltung von Mensch und Meer wird für Keyserlings Gestaltung der Erzählsituation in zweierlei Hinsicht strukturkonstitutiv: Zum einen liefert sie das in vielfachen Anläufen immer wieder neu besungene Zentralsymbol des Textes, eben das Meer bzw. die Wellen; und dies durchaus im lebensphilosophischen und zugleich anthropologisierenden Sinne Georg Simmels, der im Erscheinungsjahr des Romans, wenn er in einem Essay über die kulturgeschichtliche Bedeutung der Alpen nachdenkt, auch die spezifische Erhabenheit des feuchten Elements in den Blick nimmt: Allenthalben wird das Bild der Welle als Symbol des Lebens empfunden; seine ewig formveränderliche Bewegung, die Unergründlichkeit seiner Tiefen, der Wechsel zwischen Glätte und Aufgewühltsein, sein Sichverlieren am Horizont und das ziellose Spiel seines Rhythmus – alles dies gestattet der Seele, ihr eigenes Lebensgefühl in das Meer zu transponieren.11 Zum anderen ist das Meer, das gleich auf der ersten Seite des Romans als gar nicht einmal allzu heimlicher Hauptakteur des Textes eingeführt wird,12 der strukturkonstitutive Bezugspunkt für die topologische Ordnung des Romans und die damit verbundene Charakterisierung der Figuren.13 Dem Meer, als dem ebenso verheißungsvollen wie riskanten ‚wilden Außen‘ folgen in der Textraumordnung von Wellen – landeinwärts gestaffelt – die beiden Sandbänke, an deren äußerer die Kindfrau Lolo, die sich, allerdings nur fälschlicherweise, dem Elemente zugehörig fühlt, von Doralice gerettet werden muss; dann der Strand, der in seiner Liminalität und unter der Obhut von Knospelius, dem „Hausherr[n] des Meeres“ (94), zum zentralen Begegnungsraum der Figuren des Romanes wird; die Dünen mit den engen Fischerhäusern (in einem davon leben Doralice und Hans Grill), der Bullenkrug, in dem die Generalin von Palikow, die Buttlärs und Hilmar logieren, sowie schließlich das Hinterland, d. h. hier die Güter der Sommerfrischler, auf die 11Georg Simmel: „Die Alpen“. In: Ders.: Philosophische Kultur [1911]. Gesammelte Essays. Leipzig ²1919. S. 134–141, hier S. 137. Siehe dazu auch Christian von Zimmermann (Ästhetische Meerfahrt. Erkundungen zur Beziehung von Literatur und Natur in der Neuzeit. Hildesheim/ Zürich/New York 2015, S. 196–214), der konstatiert: „Das Meer wäre also […] als das Lebenselement erkennbar, welches die körperlich-emotionalen Lebenskräfte symbolisiert, die eben auch wie eine Naturgewalt den Menschen beherrschen – und zwar besonders in einem bestimmten Entwicklungsstadium, in der Adoleszenz. Die Blicke auf das Meer wären dann solche, welche die betrachtende Person jeweils auf den Untergrund des eigenen Selbst hinführen, ihm die Gewalten zeigen, die irrational auch in ihm wirken.“ (204). 12„Dahinter der Strand grell orange in der Abendsonne, endlich das Meer undeutlich von all dem unruhigen Glanze, der auf ihm schwamm, von den zwei regelmäßigen weißen Strichen der Brandungswellen umsäumt. Und ein Rauschen kam herüber, eintönig, wie von einem schläfrigen Taktstock geleitet“ (7 f.). 13Diese topologische Ordnung rekonstruiert anschaulich Rolf Parr (siehe Ders.: „Topographien von Grenzen und Räume der Liminalität“, v. a. S. 147), an dessen Darstellung ich im Folgenden anknüpfe. 138 G. Kaiser gesprächsweise verwiesen wird. Semantisiert, also mit Bedeutung aufgeladen wird diese topologische Ordnung der räumlichen Meernähe und -ferne nun durch das rein räumliche Aspekte überschreitende Verhältnis der jeweiligen Figuren zum Meer. Wie man’s mit dem Meer hält, das ist so etwas wie die Gretchenfrage in Keyserlings Roman, oder, etwas technischer ausgedrückt: Die Darstellung des Verhältnisses zum Meer ist eine der zentralen textuellen Strategien sowohl zur psychologischen Charakterisierung der Figuren, als auch zur anthropologischen Verortung der möglichen Positionen innerhalb der oben umrissenen, lebensphilosophischen Antithetik. Dass Unwissenheit ein Segen sein kann, demonstriert der Text in diesem Zusammenhang etwa am Baron von Buttlär, der – ohnehin in der Regel lieber über „Steuern und […] Branntwein“ (77) parlierend – ein einziges Mal sich zum ansonsten nahezu allgegenwärtigen Meer äußert und dabei über anlassbezogen gefühlige und tautologische Phrasen nicht hinauskommt: „Mondschein und Meer, Mondschein und Meer […] da kann man gefühlvoll werden, ja, da muss man gefühlvoll werden. Das Meer macht immer Eindruck. Die Unendlichkeit ist eben die Unendlichkeit, nicht wahr?“ Alle schwiegen einen Augenblick und sahen das Meer an. (59) Gefeit gegenüber den rauschhaften und „gewaltsamen“ (11) Anbrandungen und Abgründen des Lebens ist der Baron in seiner schlichten wie überheblichen Einfalt ebenso wie – wenn auch aus ganz anderen Gründen – die Generalin von Palikow, die sich in ihrem lebensweisen, aristokratischen Haltungsethos dezidiert als würdevolle „Festung“ (15) begreift. Deshalb untersagt sie ihrer Gesellschafterin jegliche Poetisierungen von Doralices Triebschicksal: „[W]enn Sie sie mit Ihren Phantasien zur Heldin des Strandes machen, verdrehen sie den Kindern den Kopf.“ (13) Und dies – wie der Text von Beginn an zeigt – zumindest mit Blick auf die adoleszente, erotisch erwachende Lolo völlig zu Recht: Denn den Kopf verdrehen ihr im wahrsten Sinne des Wortes zwar nicht die Worte der Gesellschafterin – hat sie doch eigentlich, wie Hilmar, ihr Bräutigam in spe, bemerkt, mehr etwas von einem „friedliche[n] Pfingstsonntag auf dem Lande“ (63), „vom Lande und vom Tageslicht an sich“ (76) –, aber eben doch die Wellen und das Meer, in dem sie zweimal fast ertrinken wird. Bereits im ersten Kapitel schauen die Mädchen, zunächst noch bewehrt durch die „Holzbrüstung der Veranda“ (9), „unverwandt auf das Meer und öffneten die Lippen, als wollten sie lächeln, aber das große bewegte Leuchten vor ihnen machte sie schwindelig“ (ebd.) und „das Paar, das dort unten an den blanken Säulen der brechenden Wellen hinschritt, gehörte mit zu dem Erregenden und Geheimnisvollen da draußen, das den beiden Mädchen ein seltsames Fieber in das Blut legte.“ (15) Vorübergehend zumindest, nach ihrer lebensgefährlichen Schwimmexkursion zur zweiten Sandbank, erkennt die Landfrau Lolo in einer sentenzartigen Zusammenfassung ihrer Position, dass sie den Abgründen des Dionysischen nicht gewachsen sein wird und ihre Nähe zum Meer eher eine Velleität Erzählstrategien in Eduard von Keyserlings Wellen (1911) 139 als eine Realität ist: „[I]ch bin das Meer nicht gewohnt und ich wollte dort im Blanken schwimmen und das war ein wenig zu weit.“ (43) Erfahrener im Umgang mit der elementaren Naturgewalt fühlt sich freilich Hilmar, dies allerdings in einer Weise, die ihn als Repräsentanten jenes Typus eines dekadenten Hochleistungserotikers erscheinen lässt, als dessen Beispiel Keyserling in seinem Essay Über die Liebe Casanova bezeichnet. Letzterer, so heißt es dort, sei das „genialste Beispiel eines leeren Erotikers […]. Er mußte seine fieberhafte Vitalität beständig von außen her nähren, da er von innen heraus nichts beizutragen vermochte.“14 Nun mag Genialität nicht das erste sein, das man mit der Figur Hilmars verbindet, dass er jedoch in erotischen Angelegenheiten von einem geradezu aggressiven Narzissmus befeuert wird, daran lässt der Text keinen Zweifel: „[E]rst wenn ich ihm [dem Meer] ein Dutzend Steine ins Gesicht geworfen habe“, verkündet er, „kriege ich ein Verhältnis zu ihm“ (59), und Doralice lässt er bei der Ausfahrt mit den Fischern wissen: „[V]orhin im Boot war der Trieb in mir, zu imponieren, so stark, dem Meere zu imponieren oder den Fischen, gleichviel, denn die sind doch die Repräsentanten des Meeres, daß ich auf die Spitze des Bootes stieg und dort frei balancierte.“ (73) Eine ganz andere Art der Balance als Hilmars talmidionysisches Herren- und Wellenreitertum, eine Art Gleichgewicht zwischen Rausch und Geborgenheit, scheint indes Doralice vorzuschweben. Es ist ein Zeichen ihres komplexen, zwischen femme fatale und femme fragile mäandernden Figurenprofils, dass ihr Verhältnis zum Meer durchaus nicht eindeutig ist. Gewiss, sie ist die geübteste Schwimmerin von allen (immerhin rettet sie Lolo das Leben) und sie ist sich sicher, dass sie „dies dumme Land nicht mehr [verträgt].“ (19) Auch gibt es bisweilen deutlich erotisch konnotierte Epiphanien der Wesensverwandtschaft mit dem Element und der Ich-Auflösung und -Entgrenzung im Angesicht des Meeres, etwa am Strand angesichts des „Atmens des Meeres“: Sie begann am Strande entlang zu gehen, der Wind fuhr ihr in die Röcke, er trieb sie, sie spürte es deutlich, wie er zu kleinen Stößen ausholte, bald von hinten, bald von der Seite sie anfiel und das war ein köstlich erfrischendes Spiel, so muß es den Wellen zumute sein, sie wiegte sich im Gehen; es war ihr, als wogte sie, jetzt fuhr ihr ein stärkerer Windstoß in die Haare, schüttelte sie. Doralice machte einen Satz, stieß einen lustigen kleinen Schrei aus. Jetzt brande ich, jetzt brande ich, dachte sie. (33 f.) Ozeanische Gefühle, einerseits, deren Unmittelbarkeit jedoch andererseits durch den Zusatz „dachte sie“ sogleich wieder relativiert werden. Denn dergleichen Entgrenzungs- und Verschmelzungsepiphanien, in denen „die engen, heißen Schranken des Ich sich verwischten und lösten“ (71), gehören dem Augenblick an und sind im nächsten schon wieder vorbei, schlagen bei Doralice gar in ihr Gegenteil um: „Wie gewaltsam das alles war“, so denkt sie auf dem Fischerboot – Hans 14Keyserling: „Über die Liebe“, S. 140. 140 G. Kaiser hält einen großen Dorsch an den Kiemen, wiegt ihn und lacht ihn an (auf die Entschlüsselung des sexuellen Konnotationsraums sei hier verzichtet) – [w]elch ein starkes, rücksichtsloses Leben das alles atmete, zu stark für Doralice, es machte sie plötzlich ganz schwach, es machte sie krank, der Geruch des Seewassers, der Fische, der feuchten Fischerjacken, all dieses Fleisch der Männer und feisten Fische bedrückte sie. (72) Kurzum: Doralice will mit dem Element spielen können, ohne dabei nass zu werden, bzw. ohne in ihm unterzugehen. Wie in einem tableau vivant versinnbildlicht der Text dieses Begehren nach einem prekären Zwischen-, Schwebe- oder, wie Doralice es bezeichnet, „Hängematten“ (19)-Zustand, wenn sie sich gleich im ersten Kapitel, gleichsam mit Hans als Hängematte, in den Wellen halten lässt. Es sei hier eine etwas längere Passage zitiert, weil sie – wie in einer Nussschale – das Handlungsschema des gesamten Romans enthält: „So, so, weiter, weiter, jetzt sind wir ganz bei ihnen, mitten unter ihnen, das dumme Land ist fort.“ Doralice sprach mit einer Stimme, wie Schlafende es tun, lachte ein leises, ganz helles Lachen, wie Kinder, die [hier lässt Fontanes „Tochter der Luft“ grüßen] auf einer Schaukel sitzen. Sie ließ ihre Hand herabhängen, griff in den Schaum der Wellen, schnalzte mit den Fingern, als wollte sie kleine Hunde springen lassen. „Wie sie zu mir heraufwollen“, rief sie, „kommt, kommt, nein, das ist zu hoch.“ Hans stand bis über die Knie im Wasser und lächelte, das Gesicht rot vor Anstrengung. Aber allmählich wurde er müde, es war nicht leicht, sicher im Wasser zu stehen, und langsam zog er sich an das Ufer zurück. (ebd.) Hans wiederum, in mancherlei Hinsicht das bürgerliche Pendant zum adligen Haltungsethos der Palikow,15 scheitert an dem Versuch, Doralice „in das Hans Grillsche um[zu]rechnen“ (52), d. h. an dem Bemühen, die rauschhafte Außerordentlichkeit ihres Liebesbeginns in die enge Ordnung der bürgerlichen Alltäglichkeit zu transformieren. Er scheitert daran, Doralice „in unsere[] Ordnung zu bringen“ (49) genauso, wie an der künstlerischen Erfassung des Meeres. Seine idealrealistische Ästhetik, „in dem Modell ein Durchschnittsgesicht [zu] konstruieren, das die Möglichkeit aller Augenblicksgesichter in sich schließt“ (134), zerschellt an der wechselhaften und letztlich wesenlosen Vielgestaltigkeit des Objektes. Das Meer, in dem er schließlich ertrinken wird, „es lässt sich nicht fassen.“ (ebd.) Zumindest nicht so. Lässt man nämlich das Entsagungsmodell des „Hausherrn des Meeres“, Knospelius, sowie die unbewusste Selbstverständlichkeit der Fischer im täglichen Umgang mit ihrem Element beiseite, dann scheint es letztlich nur eine Instanz zu geben, die zu einem angemesseneren Verhältnis zum Meer in der Lage ist: der literarische Text selbst, der anders als die durch Grill repräsentierte, freilich in ihren ästhetischen Grundannahmen überholte Zeichenkunst, in dieser unausgesprochenen Medienkonkurrenz obsiegt; er kann dies, da 15So auch Susanne Scharnowski: „Wahrnehmungsschwellen. Krise des Sehens und Grenzen des Ich bei Eduard von Keyserling“. In: Nicholas Saul/Daniel Steuer/Frank Möbus u. a. (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 46–61, hier S. 55. Erzählstrategien in Eduard von Keyserlings Wellen (1911) 141 er gar nicht erst und gar nicht mehr nach der Idee, dem Wesen des Meeres fragt, sondern sich dessen Vielgestaltigkeit aus wechselnden Figurensichten gleichsam immer neu anschmiegt. Die multiple interne Fokalisierung, die die Meerwahrnehmungen, die wiederum einen üppigen Teil des Gesamttextes einnehmen, konfiguriert, zeitigt ein hohes Maß an Beschreibungsbeweglichkeit und -ausdauer. Am Verhältnis des Textes zum ständig bewegten, vielleicht veränderlichsten aller Objekte, beweist somit die impressionistische Poetik nicht zuletzt: ihre eigene Leistungsfähigkeit. Ironisierung des Erzählten Ironie soll hier, da sie immer einer sie als solche erkennenden Leserin bedarf, verstanden werden als ein potenzieller Effekt eines bestimmten Verhältnisses der Erzählinstanz zum Erzählten, mithin als potenzieller Effekt einer bestimmten Erzählhaltung.16 Lässt sich eine Erzählhaltung beobachten, bei der die Aussageoder Handlungsintention der Figuren durch den Aussage-Gehalt des Erzählten, in das die Figurenrede oder -handlung eingebettet ist, konterkariert wird, ohne dass dies offen von einer übergeordneten Erzählinstanz ausgesprochen wird, dann soll hier die entsprechende Erzählhaltung als ironisch bezeichnet werden, die eingesetzten Erzählstrategien als ironisierend und die sich einstellende Wirkung als Ironie. Erscheinen sämtliche Aussagen und Handlungen eines Textes im Lichte einer solchen ironischen Erzählhaltung, wahrt der Text in seiner Gesamtheit also einen distanzierten „Standpunkt der Standpunktlosigkeit“17 gegenüber sämtlichen in ihm artikulierten Positionen, dann läge jenes erzählstrategische Phänomen vor, das vor allem in der Thomas-Mann-Forschung als „epische Ironie“ bezeichnet wird.18 Thomas Mann selbst hat dieses Verhältnis als das einer „zärtlichen Verachtung“19 des schöpferischen Intellektes zum Leben beschrieben, eines Lebens, nach dem der Intellekt zwar beständig ein geradezu sehnsüchtiges Verlangen entwickelt, von dem ihn aber zugleich – da er eben als sich seiner selbst bewusster, mittelbarer Geist der vermeintlichen Unmittelbarkeit des Lebens nicht teilhaftig werden kann – eine unüberwindliche Kluft trennt. 16Die Erzählhaltung manifestiert sich nach Petersen 1993 in einem qualitativen bzw. qualifizierenden Verhältnis zwischen Erzählinstanz und Erzähltem. Sie bezeichnet die wertende Einstellung des Erzählers zum erzählten Geschehen bzw. zu den Figuren und bringt sich im jeweiligen Erzählverhalten und den unterschiedlichen Darbietungen des Erzählten zum Ausdruck. Thematisiert wird mit diesem Begriff also das Licht, in dem der Erzähler das Erzählte erscheinen lässt (z. B. in einem neutralen oder eben in einem ironischen Licht). 17Helmut Koopmann: „Humor und Ironie“. In: Ders. (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart 1990, S. 836–854, hier S. 846. 18Siehe dazu Gerhard Kaiser: „…und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine.“ Erzählstrategien in Thomas Manns Doktor Faustus. Stuttgart/Weimar 2001, S. 84 f. 19Thomas Mann: „Goethe und Tolstoi“ [1921]. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 9: Reden und Aufsätze 1. Frankfurt/M. 1990, S. 58–173, hier S. 99. 142 G. Kaiser Meine These ist nun, dass wir es bei Keyserlings Wellen mit einem Text zu tun haben, der nachhaltig geprägt wird von einer ironischen Erzählhaltung und in eminentem Maße Gebrauch macht von ironisierenden Erzählstrategien. Ob wir es allerdings mit epischer Ironie im Thomas Mannschen Sinne, also mit einer völligen Relativierung aller Standpunkte zu tun haben, ist durchaus diskutabel.20 Relativ eindeutig scheint mir die ironische Erzählhaltung im Blick auf einige Nebenfiguren zu sein. Lediglich zwei Beispiele sollen hier angeführt werden: Dass etwa die abendliche, vor allem vom ein wenig selbstgefälligen Baron von Buttlär bestrittene Konversation bei Tisch alles andere als „anregend“ ist (und somit ironisch dargestellt wird), dieser Verdacht wird sich wohl den meisten Leserinnen aufdrängen, wenn es heißt: Bei der Mahlzeit saß der Baron Buttlär zwischen seiner Schwiegermutter und seiner Frau, er strich seinen langen blonden Schnurrbart, schüttelte vor Behagen leicht seine breiten Schultern und war sehr liebenswürdig, sehr anregend, erzählte mit lauter, klingender Stimme Geschichten, die allgemein interessieren sollten, und Frau von Buttlär interessierte sich sehr angelegentlich für diese Geschichten. (58) Dass, zweitens, die unbedarfte Kindfrau Lolo alles andere als „weise“ ist, weiß der Leser aus dem Gesamtkontext ihrer bisherigen ‚Abenteuer‘, so dass er die Ironie in der folgenden Passage, in der Lolo über Doralice spricht, nicht überlesen können wird: „‚Ja, weil es eine furchtbare Verantwortung ist, so schön zu sein‘, klang es feierlich und weise aus Lolos Bett zurück.“ (110) Überhaupt: das Sprechen. „[H]eute ist kein glücklicher Sprechtag. Sobald wir zu sprechen anfangen, streiten wir uns“ (56), bemerkt Doralice gegenüber Hans während einer ihrer zahlreichen Abendspaziergänge am Strand. Der Roman indes zeigt nun gerade – mit einiger Lust und, erzähltechnisch gesehen: vor allem mit Hilfe der wechselnden, internen Fokalisierung –, dass und wie eigentlich vor allem für die beiden Liebenden so gut wie nie ein „glücklicher Sprechtag“ ist. Die von der heterodiegetischen Erzählinstanz nicht direkt kommentierte Darstellung von Missverständnissen ist eine der zentralen ironisierenden Erzählstrategien des Textes. Auch hier nur ein Beispiel von vielen, das gleich am Ende des ersten Kapitels zeigt, dass der kommunikative, gestische wie sprachliche Austausch der beiden Protagonisten unter dem Stern des Missverstehens steht. Doralice hat Hans soeben 20So kommt etwa Hannelore Gutmann – bei allen Gemeinsamkeiten, die auch sie zwischen den ironischen Erzählverfahren Manns und Keyserlings herausarbeitet – zu dem Schluss, dass es doch einen grundlegenden Unterschied zwischen den ironischen Erzählhaltungen bei beiden Autoren gebe: Während Thomas Manns Ironie eine grundsätzliche Äquidistanz zu allen in seinen Romanen erzählten Positionen wahre, finde Keyserlings Ironie ihre Grenze im Blick auf das (nicht mehr ironisierte) Leben selbst: „Anstelle des ‚Pathos der Mitte‘ [Thomas Manns; GK] vertritt Keyserling mit einem ironischen Erzählverfahren das zeittypische Lebenspathos. Die epische Distanz des Erzählens beruht auf der indirekt objektivierenden Darstellung der subjektiven Personenperspektive, deren geistige Fiktionen unter der ‚einfachen‘ Optik des Lebens beleuchtet werden. Eine relativierende Sicht auf ein ‚geistloses Leben‘ ist in der ironischen Darstellung nicht enthalten.“ (Gutmann: Die erzählte Welt, S. 193). Erzählstrategien in Eduard von Keyserlings Wellen (1911) 143 wegen seines sie mittlerweile langweilenden Freiheitspathos kritisiert und es entspinnt sich eine Szenerie, in der deutlich wird, wie unterschiedlich, gar entgegengesetzt die Erwartungen sowie die Rede-, Gesten- und Situationsdeutungen der Partner sind: Jetzt war er zornig, jetzt würde er leidenschaftlich losbrechen, sie freute sich darauf, sie liebte es, wenn er die Worte so heiß hervorsprudelte […] Das hatte ihr an ihm gefallen dort in der Welt der beständigen Selbstbeherrschung. Aber es wollte nicht kommen, immer noch ging er schnell und schweigend in dem engen Raume umher. Plötzlich blieb er vor Doralice stehen, kniete nieder […] und legte seinen Kopf auf Doralicens Knie […] und so begann er zu sprechen […]: „Wie kannst du das sagen […]. Aber wenn du zu dieser Tür hinausgingst, dann wäre es aus, dann hätte nichts mehr einen Sinn […].“ Doralice strich mit der Hand ihm leicht über das krause Haar. „Nein, nein“, sagte sie und das klang müde und mitleidig zugleich, „zusammen, wir bleiben zusammen, wir beide sind ja doch miteinander ganz allein.“ Hans richtete sich auf, er lachte wieder, zuversichtlich und triumphierend, indem er Doralices Arm fasste und ihn schüttelte: „Das will ich meinen und ich werde auch dafür sorgen, dass niemand an dich herankommt.“ Dann nahm er ihre kleine Gestalt auf seine Arme, wie man ein Kind nimmt, und trug sie in das Schlafzimmer hinüber. (24 f.) „Aber so geht es immer“, es ist dann ausgerechnet Hans selbst, der einige Tage später die grundsätzliche Missverständnisanfälligkeit ihrer Kommunikation auf den Punkt bringt: „[W]ir reden und reden, als ob der eine auf der ersten Sandbank steht und der andere auf der zweiten. Und keiner versteht, was der andere sagt, und wir rufen uns nur immer: was? was? zu.“ (51) Dass menschliche Kommunikation in der Regel misslingt, weil die Sprache ein inadäquates Medium zur Erfassung und Wiedergabe der äußeren und inneren Wirklichkeiten ist, diese 1911 sehr zeitgemäße und im Roman an den Dialogen der beiden Liebenden immer wieder ironisierend ventilierte sprachskeptische Einsicht, teilt der Protagonist natürlich mit seinem Erfinder, der in einer Rezension über die „Moral der Musik“ in geradezu nietzscheanischem Duktus zu dem sprach- wie vernunftkritischen Schluss kommt: „Begriffe, sie sind da, um gebraucht zu werden, aber sie sagen über das Wesen der Dinge nichts aus. Sie sind Kompromisse, die die Vernunft schließt. […] Die Vernunft beschränkt und beschneidet die Dinge.“21 Experiment zwischen „epischer Ironie“ und „Lebenskommunismus“ Dass Keyserlings Romane gleichsam ‚Laboratoriumssituationen‘ kreierten, ist in der Forschung wiederholt zur Sprache gebracht worden22 und scheint für Wellen in besonderem Maße zutreffend zu sein. Während der unbenannte Badeort, in 21Eduard von Keyserling: „Die Moral der Musik“ [Rezension]. In: Die neue Rundschau, 17 (1906), S. 379–382, hier S. 380. 22Etwa bei Gutmann: Die erzählte Welt, S. 187. 144 G. Kaiser Sonderheit aber dessen Strand als literarisches Laboratorium figurieren, besteht das Experiment selbst in der künstlichen (d. h. hier: literarischen) Erzeugung einer Problemsituation, in der erprobt und beobachtet wird, wie unterschiedliche Probanden auf engem Raume auf eine moralische wie gesellschaftliche Grenzüberschreitung reagieren und welche Verortungsmöglichkeiten und Identitätsentwürfe sich im Spannungsfeld zwischen rauschhafter Selbstverwirklichung und vernunftbestimmter Selbstdisziplinierung als lebbar erweisen. Die heterodiegetische Erzählinstanz erscheint dann wie ein Versuchsleiter, der allerdings in Wellen ein in die Diegese hinein verlängertes, agierendes Pendant findet: Die Rede ist hier vom Geheimrat Knospelius, jenem facettenreichen „outsider“ (82), in dessen Konzeption Elemente aus den Textwelten E.T.A. Hoffmanns (der gehandicapte, beobachtende Vetter aus Des Vetters Eckfenster, der dämonische Coppelius/Coppola aus dem Sandmann), Goethes (der Mittler-Figur aus den Wahlverwandtschaften), Fontanes (Alonzo Gießhübler aus Effi Briest) sowie Ansichten und Haltungen des Autors miteinander verschmelzen. Im Beobachterblick Knospelius’ darauf, „wie dort auf dem gelben Sande die bunten Figürchen hin und her gingen, sich suchten, sich trafen, beieinander standen, sich wieder trennten“ (93), verdoppelt sich noch einmal die ironische Erzählhaltung des Erzählers, ist dieser Blick doch ein wahlweise ästhetisch oder szientifisch erkalteter: „[D]ieses kleine Ungeheuer neben sich“, so bemerkt etwa Doralice, „das sie von unten auf ansah, unbekümmert, wie man einen Kupferstich, nicht wie man einen Menschen anschaut“ (35), und die Generalin befindet: „Sie sehen unsere Mädchen an, wie man Käfer ansieht, die man sammelt.“ (89) Und auch das Experimenthafte der gesamten Erzählsituation spiegelt sich in Knospelius’ eigener, gleichsam naturwissenschaftlicher Lesart der Ereignisse, die er durch sein Agieren in Gang setzt oder beschleunigt: „[I]ch habe bemerkt, wenn in unsere Gesellschaft mal ein fremdes Element kommt, ein outsider, das wirkt erregend wie Zitronensäure auf Soda.“ (82) Wie weit geht nun aber die aus diesem kalten Blick resultierende Ironie? Betrifft die „zärtliche Verachtung“, so, wie es der ‚epischen Ironie‘ Thomas Manns nachgesagt wird, sämtliche Positionierungs- und Lebensentwürfe im Text? Gewiss, ironisch relativiert wird das biedere, bisweilen an Schillers Ferdinand aus Kabale und Liebe erinnernde Freiheitspathos eines Hans Grill, der priapische Herrenreiter-Hedonismsus eines Leutnants von dem Hamm genauso wie die dionysischen Verschattungen junger Mädchenblüte bei Lolo und das zwischen erotischer Selbstentbrandung und blasierter Ermattung schwankende „Ja – ja – nein“ Doralices. Diejenigen, die angesichts der Zumutungen des Lebens geruhen, sich eine Verfassung zu geben, werden ebenso in Frage gestellt, wie diejenigen, die sich – vermeintlich oder tatsächlich – in seine Fluten stürzen. Dass, wie Hannelore Gutmann behauptet, bei Keyserling „[e]ine relativierende Sicht auf ein ‚geistloses Leben‘ […] in der ironischen Darstellung nicht enthalten“23 sei, scheint mir 23Gutmann: Die erzählte Welt, S. 193. Erzählstrategien in Eduard von Keyserlings Wellen (1911) 145 zumindest für Wellen daher nicht zuzutreffen. Nicht ganz sicher indes kann sich der Leser sein, ob diese insgesamt recht starke Relativierungsgeste auch für das Schlusstableau des Romans gilt, wenn Knospelius, der es angesichts seiner körperlichen Konstitution „leichter [hat], der Welt zu entsagen“ (159), sich Doralice als uneigennütziger Begleiter, Beschützer und Vormund ohne alle Ansprüche anbietet. Möglicherweise scheint in dem „wunderlichen Paar“, das am Ende des Romans Tag für Tag am Strand entlanggeht und darauf wartet, „dass das Meer sie freigäbe“ (160), im anspruchslosen, fürsorglichen Beieinandersein der beiden outsiders und misfits der nicht mehr ironisch relativierte und quasi-experimentell auf die Probe gestellte Gedanke des Mitleids, der uneigennützigen Fürsorge, der caritas und der Agape auf, den Knospelius im Roman ironisch als Lebens-„kommunismus“ (36) bezeichnet. Sein Autor, von dem er ihm in den Mund gelegt wird, sollte diesen Begriff fünf Jahre später in einem kleinen Essay Über den Haß immerhin wieder aufgreifen, gänzlich unironisch übrigens: Dieses Hinüber und Herüber [zwischen den Menschen; GK] bildet die Möglichkeit menschlicher Gemeinschaft, vollzieht sich jeden Augenblick, oft nur flüchtig und orientierungsweise, bis es sich zu den tiefen Gefühlen des Mitleids und der Liebe steigert. Mitleid und Liebe aber sind recht eigentlich Lebenskommunismus, in ihnen erlebt der Mensch den Menschen.24 Literatur Baudelaire, Charles: Les Fleurs du Mal / Die Blumen des Bösen. Frz./dt. Übers. von Monika Fahrenbach-Wachendorff. Stuttgart 2014 (frz. 1857). Fontane, Theodor: Werke, Schriften und Briefe. Bd. 4: Briefe. 1890–1898. Hg. von Otto Drude / Helmuth Nürnberger. München 1982. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M. 1971. Gutmann, Hannelore: Die erzählte Welt Eduard von Keyserlings. 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Paderborn 1996, S. 133 f., hier S. 133. 146 G. Kaiser Mann, Thomas: „Goethe und Tolstoi“ [1921]. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. 9: Reden und Aufsätze 1. Frankfurt/M. 1990, S. 58–173. Parr, Rolf: „Topographien von Grenzen und Räume der Liminalität. Eduard von Keyserlings Roman ‚Wellen‘“. In: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Grenzräume der Schrift. Bielefeld 2008, S. 143–165. Petersen, Jürgen H.: Erzählsysteme. Eeine Poetik epischer Texte. Stuttgart/Weimar 1993. Reed, Lou: Modern Dance. Auf: Ders.: Ecstasy. Reprise Records 2000. Scharnowski, Susanne: „Wahrnehmungsschwellen. Krise des Sehens und Grenzen des Ich bei Eduard von Keyserling“. In: Nicholas Saul/Daniel Steuer/Frank Möbus (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 46–61. Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt/M. 1983. Schwalb, Irmelin: Eduard von Keyserling. Konstanten und Varianten in seinem erzählerischen Werk ab 1903. Frankfurt/M. 1993. Simmel, Georg: „Die Alpen“. In: Ders.: Philosophische Kultur [1911]. Gesammelte Essays. Leipzig 21919, S. 134–141. Ungern-Sternberg, Armin von: „‚Das rätselhafte Leben zu einer fruchtbaren Wirklichkeit zu gestalten‘. Eduard von Keyserlings Erzählungen: Scherz, Melancholie und tiefere Bedeutung“. In: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 12 (2004), S. 255–286. Zimmermann, Christian von: Ästhetische Meerfahrt. Erkundungen zur Beziehung von Literatur und Natur in der Neuzeit. Hildesheim/Zürich/New York 2015, S. 196–214. Spätadelige Skepsis Zur Modernereflexion in Keyserlings Erzählung Am Südhang (1911) Jens Ole Schneider Wenn Dichter über Dichter schreiben, dann sind die Texte, die dabei entstehen, immer mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Oft geht es den Autoren darin nämlich nicht um eine sachliche Beschreibung der Literatur ihrer Kollegen, sondern um eine über die Bande gespielte Form der Selbstinszenierung. In Thomas Manns Charakterisierung von Keyserlings Werk als „Kunstwerdung seines feudalen Heimatmilieus“1 und als eine „Vergeistigung adeliger Lebensstimmung“2 könnte man entsprechend – kritisch betrachtet – ein vergiftetes Lob sehen, den Versuch, Keyserling als bloßen Chronisten einer fernen und historisch untergegangenen Lebensform zu beschreiben und ihn damit als möglichen Konkurrenten obsolet zu machen. In diesem Sinne liest jedenfalls Florian Illies Manns Nachruf auf Keyserling. Wer solche Freunde wie Thomas Mann habe, so formuliert Illies in der Zeit, der brauche keine Feinde mehr. Denn, so, Illies, wenn das alles wäre, also untergehendes Baltikum, untergehende Aristokratie, beschrieben vom Westentaschen-Fontane, Liebesgeschichten zur Löschung des Schönheitsdurstes, Champagnerliteratur eben, dann würde Eduard von Keyserling zu Recht immer wieder vergessen.3 1Thomas Mann: „Zum Tode Eduard von Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Bd. 15.1: Essays II (1914–1926). Hg. von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 223–227, hier S. 224. Siehe hierzu ausführlich den Beitrag von Friedhelm Marx in diesem Band. 2Ebd. 3Florian Illies: „Die Ironie der schwülen Tage. Der Autor dieses Sommers heißt Eduard von Keyserling“. In: Die Zeit 27 (2009). Hier zit. nach der Online-Ausgabe: https://www.zeit. de/2009/27/L-Keyserling. J. O. Schneider (*) Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: jens.ole.schneider@uni-jena.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_10 147 148 J. O. Schneider Um das Vergessen Keyserlings zu verhindern, ihn vor dem Überzug mit einer historischen Staubschicht zu bewahren, ist man häufig – und ist auch Illies – darum bemüht, die Adeligkeit von Keyserlings Protagonisten ein wenig kleinzureden, sie als normale Repräsentanten einer bürgerlichen Gesellschaft aufzufassen.4 In diesem Beitrag möchte ich hingegen versuchen, gerade in der Adeligkeit – und zwar konkreter in einer Form der späten Adeligkeit – ein Merkmal in Keyserlings Texten zu beschreiben, das sie als Reflexionen der Moderne schlechthin lesbar macht. Keyserlings Texte, so die These, sind von einer besonderen Sensibilität für die Unentrinnbarkeit sozialer Rollen und Codes in modernen Gesellschaften geprägt. Diese Sensibilität, die sich nicht zuletzt in einer gewissen Distanz gegenüber Eigentlichkeitsemantiken wie etwa dem ‚Leben‘ äußert, lässt sich als eine spezifisch spätadelige Skepsis beschreiben. Wie zu zeigen sein wird, korrespondiert die spätadelige Skepsis Keyserlings mit einer grundsätzlichen erkenntnisbezogenen Skepsis, wie sie sich um 1900 vor allem im Rahmen der sog. ‚Décadence‘ herausbildet. In diesem Sinne kommt es denn auch in Keyserlings Texten zu einer Engführung von Décadence- und Adelssemantiken. In einem ersten Abschnitt wird dieser Aufsatz die Entwicklung der Adelssemantik im 19. Jahrhundert beleuchten, ein zweiter Abschnitt geht auf das Verhältnis von Adeligkeit und Décadence um 1900 ein, während ein dritter Abschnitt schließlich die Semantisierung der Adeligkeit in Keyserlings Erzählung Am Südhang (1911) untersucht – ein Text, in dem, wie zu zeigen sein wird, die genuin adelige Moderneerfahrung in bildlich konzentrierter Form modelliert wird. Ein abschließender Abschnitt wird die spätadelige Skepsis Keyserlings kurz zu grundsätzlichen erkenntnisskeptischen Reflexionen dieses Autors in Beziehung setzen und die Hauptergebnisse dieses Beitrages noch einmal zusammenfassen. Adelssemantiken im 19. Jahrhundert In der Reflexion von Adeligkeit auch eine Reflexion der Modernität zu sehen – dies hat in Bezug auf andere Autoren durchaus schon Tradition. So konstatiert etwa Günter Blamberger, dass in Heinrich von Kleists Werk die starken Reflexionen über 4Dies wird etwa deutlich, wenn Illies die Figuren Keyserlings schlicht als „Menschen“ bezeichnet, „die nach Schönheit dürsten“ (ebd.) oder als „in ihrer Subjektivität gefangene[ ] Romangestalten“, deren Erfahrungen des „Sinnverlust[s]“ und der „Orientierungslosigkeit“ so allgemein sind, dass sie sich direkt „auf den Leser übertragen“ (ebd.). Das spezifisch Adelige der Romangestalten und ihrer Erfahrungen wird hier unterschlagen, um eine größere Nähe zu den gegenwärtigen (meist nicht-adeligen) Lesern herzustellen. Diese Form der Nivellierung ist aus Sicht einer aktuellen Literaturkritik gut nachvollziehbar, verdeckt aber den sozialspezifischen Kern der Problemreflexion in Keyserlings Texten. Auch in Beiträgen der genuin literaturwissenschaftlichen Forschung wird eher auf die Anschlussfähigkeit von Keyserlings Texten an moderne und ständeunabhängige Wahrnehmungs- und Identitätsprobleme abgezielt. Vgl. etwa Susanne Scharnowski: „Wahrnehmungsschwellen. Krise des Sehens und Grenzen des Ichs bei Eduard von Keyserling“. In: Nicholas Saul/Daniel Steuer/Frank Möbus u. a. (Hg.): Schwellen. Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 46–61; Patrick Fortmann: „Impressionismus und Identität bei Eduard von Keyserling“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 16 (2008), S. 157–195. Spätadelige Skepsis 149 Evidenz und Schein, Authentizität und Verstellung nicht nur erkenntnistheoretisch – also etwa in der Kantrezeption Kleists – begründet sind, sondern ihr Fundament auch in der Adeligkeit Kleists haben. Die adelige Kultur und Lebensform gerät während der Aufklärung in die Kritik, besonders die Empfindsamkeit setzt der adeligen Verstellungskunst und Affektkontrolle eine als bürgerlich verstandene Idee der Natürlichkeit, Authentizität und Moral entgegen.5 Im Zuge der zunehmenden Differenzierung von Kultur und Gesellschaft in divergierende soziale Systeme6 geraten die Ideen des natürlichen und authentischen bürgerlichen Ichs aber schnell in eine Krise, denn die moderne differenzierte Gesellschaft scheint nicht in jeder Hinsicht Authentizität, sondern auch eine ausgeklügelte und bewusste Rollenkompetenz zu verlangen.7 Angesichts solcher Entwicklungen gewinnt die „ästhetische[] Erziehung des Adels“,8 bei der „Identität“9 nicht, wie in der „Erziehung des Bürgertums“,10 als „eine Frage der Substanz“,11 sondern als „eine Frage der Performanz“12 behandelt wird, an neuer Aktualität. Kleist „transkribiert“ in seinen Dichtungen entsprechend, so Blamberger, „die aristokratischen Klugheitslehren eines Machiavelli, Castiglione, Gracián, Montaigne oder La Rochefoucauld“13 – also moralistische Lehren der bewusst kalkulierten Außenwirkung, der Performanz und des willentlich inszenierten Scheins – und refunktionalisiert sie im Sinne einer ästhetischen Modernereflexion. Wie Jochen Strobel gezeigt hat, wird um 1800 nicht nur bei Kleist, sondern auch in Texten der Romantik Adeligkeit zu einem wichtigen poetischen Topos. Die Literarisierung des Adels in Texten der Romantik wird, folgt man Strobel, vor allem dadurch ermöglicht, dass sich der Begriff des ‚Adels‘ zu Beginn des 18. Jahrhunderts von der Bezeichnung einer „sozialen Schicht“ zur Bezeichnung einer „kulturellen Semantik“14 wandelt. 5Distanziert dargestellt wird diese moralische Selbstbeschreibung der bürgerlichen Aufklärung bekanntlich in Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt/M. 1973. 6So zumindest die systemtheoretische Modernisierungsdarstellung bei Niklas Luhmann: „Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition“. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M. 1980, S. 9–71. 7Individualität und Identität sind in der Moderne daher keine Selbstverständlichkeiten, sondern werden gerade zu einer komplexen Herausforderung. Vgl. dazu Niklas Luhmann: „Individuum, Individualität, Individualismus“. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3. Frankfurt/M. 1989, S. 149–258. 8Günther Blamberger: „Adel und Adelskultur“. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009, S. 241–243, hier S. 242. 9Ebd. 10Ebd. 11Ebd. 12Ebd. 13Ebd., S. 242 f. 14Jochen Strobel: Eine Kulturpoetik des Adels in der Romantik. Verhandlungen zwischen ‚Adeligkeit‘ und Literatur um 1800. Berlin/New York 2010, S. 16. 150 J. O. Schneider Eine Semantik, die – etwa neben der Semantik des Dynastischen – besonders eng mit der Semantik der Adeligkeit in Verbindung steht, ist dabei die Semantik des Spiels:15 „[D]as Glücksspiel und, weniger geregelt, das Rollenspiel, das SchauSpiel als weitgehende Identifikation von Ich und Rolle“ werden zu wichtigen Attributen der Adeligkeit, weshalb „[z]ahlreiche romantische Texte […] die beliebige Ersetzbarkeit von ‚Adeligem‘ durch den ‚Künstler‘, aber auch durch den ‚Spieler‘“ „erproben“.16 Adeligkeit wird dergestalt zu einem Deutungsmuster, mit dem sich moderne Identitätsformen und -probleme zu Beginn des 18. Jahrhunderts poetisch verhandeln lassen. Mit dem Abklingen des Deutschen Idealismus und der zunehmenden Reflexion über die Grenzen der aufgeklärten Vernunft- und Moralphilosophie gewinnt zudem die – schon bei Kleist aufgegriffene – frühneuzeitlich-aristokratische Moralistik an neuer Bedeutung und erfährt durch das 19. Jahrhundert hindurch eine stete philosophische Rezeption. In den Jahren 1828–1832 übersetzt Arthur Schopenhauer etwa Balthasar Graciáns Oráculo manual y arte de prudencia (Handorakel und Kunst der Weltklugheit) (1647) ins Deutsche. Und auch bei Nietzsche verschränken sich Reflexionen über die Divergenz von performativem Schein und anthropologischer ‚Natur‘ mit der Rezeption aristokratisch-moralistischen Schrifttums. „La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung“ werden in neuer Weise interessant, weil sie die Rede von der humanen Aufrichtigkeit menschlichen Handelns als ‚Schein‘ entlarven und gleich „scharf zielenden Schützen“ „in’s Schwarze der menschlichen Natur“ zielen.17 Nicht nur die aristokratischen Klugheitslehren, sondern auch die Adeligkeit selbst wirkt im 19. Jahrhundert zudem in Form einer zur Bürgerlichkeit komplementär stehenden Moderne-Semantik fort. Besonders plastisch werden Adeligkeit und Bürgerlichkeit etwa in Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855) gegenübergestellt. Während die Bürger in Freytags Roman sich in ihrem Verhalten an Normen der moralischen Aufrichtigkeit sowie an einer Ethik der Arbeit und des Fleißes orientieren, kennzeichnet sich der Typus des Adeligen eher durch Müßiggang und durch eine Neigung, „mit Allem zu spielen, was anderen Menschen heilig ist“.18 Dem bürgerlichen ‚Ernst‘ wird mit dem Adel folglich abermals eine Semantik des Spiels gegenübergestellt. Was sich in Freytags Roman zudem zeigt, ist eine für das 19. Jahrhundert typische Biologisierung der Diskurse: Dem Roman als Ganzem liegt die biologische Vorstellung einer „Lebenskraft“ zu 15Die Adeligkeit ist somit Teil jener modernen Kultur- und Wissensgeschichte des Spiels, die Peter Schnyder allgemein sowie in ihrer Rolle für das Erzählen seit dem 17. Jahrhundert in den Blick nimmt: Peter Schnyder: Alea. Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels. 1650–1850. Göttingen 2009. 16Ebd., S. 219. 17Friedrich Nietzsche: „Menschliches, Allzumenschliches“. In: Ders.: Kritische Studienausgabe (KSA). Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München 1999b, S. 59. 18Gustav Freytag: „Soll und Haben. Roman in sechs Büchern“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4–5. Leipzig 1887, hier Bd. 4, S. 146. Spätadelige Skepsis 151 Grunde, die sich „die Stellen“ „sucht“, „wo sie sich gesund und zum Guten entwickeln kann“.19 Vor diesem Hintergrund wird dem Typus des Adeligen attestiert, dass er „seine Lebenskraft in raffinirtem Genuß vergeudet“,20 dass er ein „Gegner der gesunden Entwickelung unseres Staates“21 ist und insgesamt also zu den „Kranken“22 zählt, die gegen die gesunden, mit einer „Fülle der Jugendkraft“23 ausgestatteten Bürger nicht bestehen können. Mit dieser biologischen Semantisierung der Adeligkeit als ‚krank‘ und der Bürgerlichkeit als ‚gesund‘ ist ein diskursives Feld vorbereitet, das in der Literatur der Jahrhundertwende aufgegriffen und weiter spezifiziert werden wird. Bürgerliches ‚Leben‘ vs. adelige ‚Décadence‘. Semantische Konstellationen der Jahrhundertwende Die Jahrhundertwende um 1900 ist in mancher Hinsicht durch einen ähnlichen Modernisierungsschub24 gekennzeichnet wie schon die Zeit um 1800, und sie findet ähnliche Konzepte, solche Erfahrungen zu kompensieren. Was um 1800 etwa durch den Diskurs der ‚Natur‘ geleistet wird, stellt um 1900 – als Fortsetzung der im 19. Jahrhundert einsetzenden Biologisierung der Diskurse über den Menschen und die Gesellschaft – der Diskurs des ‚Lebens‘ bereit. Mit dem Schlagwort des ‚Lebens‘ wird um 1900 die Idee einer umfassenden organischen Dynamik proklamiert, die im Sinne eines ‚verzeitlichten Seins‘ die sozialen, kulturellen und biologischen Erscheinungen gleichermaßen durchströmt. Der „grenzenlose[ ] Strom des Lebens“25 ist dem allgemeinen rationalen Bewusstsein allerdings nicht zugänglich, sondern kann nur durch gesteigerte individuelle Erfahrungen für das Ich erlebbar gemacht werden.26 Das Erlebnis ist somit eine höchste Evidenzerfahrung, der Moment, in dem man eine Eigentlichkeit des ‚Ichs‘ jenseits der gesellschaftlichen Rolle und 19Ebd., S. 133. S. 148. 21Ebd., S. 561. 22Ebd., S. 554. 23Ebd., S. 13. 24Vgl. dazu etwa Horst Thomé: „Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siècle“. In: York-Gothart Mix (Hg.): Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus: 1890–1918. München u. a. 2000, S. 15–27. 25„Wir fühlen in uns den grenzenlosen Strom des Lebens“, so heißt es in Karl Joëls 1912 erschienener Monographie Seele und Welt, „unsere Gemeinschaft mit Nahem und Fernem, wir fühlen uns eins mit allem Sein, wir tragen in uns das ewige Leben, wir haben in unserem Gefühl das Unendliche gegenüber allem Einzelnen und Vergänglichen, das uns in den Sinnen vorüberzieht.“ Karl Joël: Seele und Welt. Versuch einer organischen Auffassung. Jena 1912, S. 386. 26Die Idee, dass ‚Leben‘ sich in Form von ‚Erlebnissen‘ offenbart, wird v. a. in der Philosophie Diltheys formuliert. Insbesondere Benjamin Specht zeigt, dass Autoren wie Hofmannsthal, wenn sie emphatisch vom poetisch evozierten ‚Erlebnis‘ sprechen, von dem Diltheyschen ‚Erlebniskonzept‘ inspiriert sind. Vgl. dazu Benjamin Specht: ‚Wurzel allen Denkens und Redens‘ Die Metapher in Wissenschaft, Weltanschauung, Poetik und Lyrik um 1900. Heidelberg 2017, S. 279–287. 20Ebd., 152 J. O. Schneider eine Eigentlichkeit der ‚Welt‘ jenseits aller subjektiven Projektionen erfährt. Neben solchen gesteigerten Evidenzerlebnissen meint ‚Leben‘ um 1900 aber auch schlichtweg die Fähigkeit zu vitalen – und das heißt skepsisfreien – Entscheidungen und Handlungen.27 Mit dem Schlagwort des ‚Lebens‘ wird um 1900 nicht zuletzt gegen eine Form der skeptischen Reflexivität polemisiert, die vor lauter theoretischen Erwägungen zu keiner authentischen Lebenspraxis mehr fähig zu sein scheint.28 Wie in dem repräsentativen Aufsatz von Wolfdietrich Rasch über Aspekte der deutschen Literatur um 190029 dargelegt wurde, gewinnt der Begriff des ‚Lebens‘ auch für die literarischen Autoren der Jahrhundertwende starke Relevanz und wird in vielen Texten dieser Zeit zum einem wichtigen poetischen Gegenstand. Durch ihre starke Fokussierung auf die Lebensphilosophie und die damit verbundene leibemphatische Anthropologie der Jahrhundertwende30 hat die Forschung indes etwas aus dem Blick verloren, dass nicht alle Texte um 1900 das ‚Leben‘ literarisch zur Präsenz bringen wollen, sondern dass es in diesen Jahren auch eine Literatur gibt, die gerade die Unverfügbarkeit und die permanente Verfehlung dessen, was um 1900 mit ‚Leben‘ gemeint ist, poetisch zum Thema macht. Die Lebensverfehlung ist insbesondere ein Topos der sog. Décadence, einer intellektuellen und literarischen Tendenz der Jahrhundertwende, die eine besondere Vorliebe für das Künstliche, die Maskerade und das ästhetische Rollenspiel entwickelt und aus einem dezidiert skeptischen Bewusstsein heraus dem zeitgenössischen Lebenspathos entgegensteht.31 27In Nietzsches Philosophie wird dieses Prinzip v. a. mit der Kategorie des individuellen Willens ausgedrückt: „Mein Wollen kommt mir stets als mein Befreier und Freudebringer. Wollen befreit“, so heißt es etwa in Also sprach Zarathustra. Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“. In: KSA. Bd. 4: Also sprach Zarathustra I–IV, S. 111. Und an früherer Stelle ist es die Kategorie des instinktiven ‚Willens zur Macht‘, die mit der Kategorie des ‚Lebens‘ in Verbindung gebracht wird: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht“. Ebd., S. 147. 28Zum Lebensbegriff der Jahrhundertwende vgl. etwa Wolfdietrich Rasch: „Aspekte der deutschen Literatur um 1900“. In: Ders.: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Stuttgart 1967, S. 1–48 sowie Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. 1831–1933. Frankfurt/M. 1983, S. 174–196. 29Vgl. Rasch: „Aspekte“. 30Diese wird etwa in den Fokus gerückt bei Wolfgang Riedel: ‚Homo Natura‘. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996; Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995. 31Die Grundzüge dessen, was um 1900 mit der ‚Décadence‘ verbunden wird, treten sehr deutlich in Nietzsches Anti-Décadence-Schrift Der Fall Wagner (1888) hervor. Die „Décadence“ wird in dieser Schrift als eine spätzeitliche, entkräftete und ermüdete Existenzweise beschrieben, die „arm an Leben“ ist und die anstelle vitaler Spontanität durch das rationale Kalkül, die Rhetorik und das Rollenspiel dominiert wird. Wenn Nietzsche vor einem Zeitalter der Décadence warnt, dann meint er damit entsprechend eine Kultur, in der „das Theater […] Herr über die Künste“ sowie „der Schauspieler […] zum Verführer der Echten“ zu werden droht, und in der sich – etwa in der „Musik“ – eine „Kunst zu lügen“ (ebd.) ausbreitet. Friedrich Nietzsche: „Der Fall Wagner“. In: Ders.: KSA. Bd. 6: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos Dithyramben. Nietzsche contra Wagner, S. 9–54, hier S. 27 und 39. Spätzeitliche Lebensarmut, Rollenspiel und Rhetorik erscheinen bei Nietzsche als Inbegriffe der Décadence und sind um 1900 auch insgesamt die zentralen Inhalte des Décadencediskurses. Zum Décadencediskurs um 1900 vgl. insbesondere: Dieter Kafitz: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004; Wolfdietrich Rasch: Die literarische Décadence um 1900. München 1986. Spätadelige Skepsis 153 Gemäß der Biologisierung der Diskurse seit dem späten 19. Jahrhundert erscheint die Décadence zudem als eine Semantik der Krankheit: Als ‚Décadents‘ werden um 1900 Menschen bezeichnet, die ein im Grunde modernes Rollenbewusstsein herausbilden, dabei aber den vitalen ‚Kern‘ ihres Ichs verlieren und Eigenschaften der Nervosität und Lebensschwäche entwickeln. Bezeichnend ist, dass die nervöse Skepsis der Décadence um 1900 durchaus häufig mit Modellen von Adeligkeit in Verbindung steht. In vielen Texten Hofmannsthals wie dem bekannten Brief des Lord Chandos (1902), dem (weniger bekannten) Brief des letzten Contarin (1903) oder der Erzählung Lucidor (1910) sind es Adelige, anhand derer anstelle einer unproblematischen Vitalität die Divergenz von Schein und Sein, Sprache und Welt oder Rolle und Identität ausgehandelt wird. In Texten Thomas Manns wiederum sind es Adelige, die eine skeptische Distanz zu den wiederum als ‚vital‘ dargestellten Bürgern aufbauen und damit eine strukturelle Verwandtschaft mit dem Typus des skeptischen Décadencekünstlers entwickeln.32 Dies gilt etwa für das Verhältnis zwischen dem jungen Grafen Kai Mölln und dem jungen Hanno Buddenbrook in Buddenbrooks (1901) sowie für den lebensfernen Prinzen Klaus Heinrich, an dessen Beispiel Mann in dem Roman Königliche Hoheit (1909) Probleme des dekadenten Künstlertums vorführt. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist, dass mit der Décadence und ihren Topoi des Künstlichen und Rollenhaften auch Schwierigkeiten moderner Subjektivität und Identität reflektiert werden. Der Adel ist dort, wo er zum Aushandlungsobjekt von Décadencephänomenen wird, ein Synonym für die Probleme der Moderne. Inwiefern auch bei Eduard von Keyserling Adeligkeit, Décadence und Modernereflexion eine poetische Engführung erfahren, sei im Folgenden anhand seiner Erzählung Am Südhang diskutiert. Am Südhang Erzählt wird in Keyserlings Erzählung Am Südhang (1911)33 die Geschichte des jungen Leutnants Karl Erdmann von West-Wallbaum, der seine Sommerferien auf dem elterlichen Landgut verbringt, wo er vergeblich versucht, einer Stimmung melancholischer Reflexivität zu entkommen und ein starkes und authentisches ‚Erlebnis‘ zu haben. 32Zur vitalistischen Semantisierung des Bürgerlichen und zur Pathologisierung der ‚Entbürgerlichung‘ in Manns Buddenbrooks vgl. Jens Ole Schneider: „Bürgerlichkeit als semantische Konstruktion. Zur narrativen Inszenierung moderner Identitäten in Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘ und Theodor Storms ‚Die Söhne des Senators‘“. In: Heinrich Detering/Maren Ermisch/Hans Wisskirchen (Hg.): Verirrte Bürger. Thomas Mann und Theodor Storm. Tagung in Husum und Lübeck 2015. Frankfurt/M. 2016, S. 29–50. 33Die Erzählung Am Südhang ist erstmals in der Österreichischen Rundschau, Januar–März 1911, erschienen. Die erste Buchausgabe erschien im Jahr 1916 im Verlag S. Fischer. Die Erzählung wird hier zit. nach: Eduard von Keyserling: „Am Südhang“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973, S. 155–216. 154 J. O. Schneider Der Topos der Lebensverfehlung wird dabei im Text explizit mit der adeligen Lebensform in Verbindung gebracht. Gegenüber dem Leben im Militär erzeugt, wie Karl schnell klar wird, das Leben in den Adelshäusern gerade jene empfindlich-skeptische Stimmung, die unfähig zu praktischen Handlungen und unverfälschten Erlebnissen macht. „Draußen“, so heißt es, „konnte Karl Erdmann zynisch und schneidig sein, hier wurde er empfindlich und feinschalig wie eine Frucht, die auf dem Südhange gereift ist.“34 Mit der titelgebenden Metapher des Südhanges wird das Adelsmilieu gewissermaßen als Existenzform gedeutet, die durch zivilisatorische Daseinserleichterungen ihre Robustheit und Widerständigkeit verloren hat und dem Einzelnen Züge einer überreifen und zerbrechlichen Frucht verleiht. Das Bild der überreifen Frucht ist ein deutliches Décadencemotiv, es bringt die adelige Lebensform in ein organologisches Bild von Blüte und Verfall – wobei das ‚Überreife‘ der Frucht den Übergang zu einem fäulnishaften Verfallsprozess andeutet. Zudem ist das Bild einer am Südhang überreiften Frucht auch das Bild für ein gewissermaßen treibhaushaftes künstliches Leben, das mit rationalen Mitteln erhalten wird, aber keine inneren vitalen Kräfte besitzt. Der décadencetypische Topos der Künstlichkeit kann dabei auf die konventionell-rollenhaften Umgangsformen im adeligen Milieu35 bezogen werden: Der „Südhang“, so formuliert Frank Zimmer, ist in Keyserlings Erzählung ein „stilisierte[r]“ „Idealraum“, bei dem sofort Zweifel aufkommen, ob er „ein ‚emphatisches Leben‘ ermöglichen“ kann, „ist dieser [dem ‚Draußen‘ gegenübergestellte, J.O.S.] Innenraum doch durch konventionalisiertes Fühlen und Sprechen, durch Künstlichkeit und durch die Ausblendung des (Arbeits-)Alltags gekennzeichnet […].“36 Das solchermaßen für die Eigenschaften der Lebensschwäche und Künstlichkeit stehende Bild der überreifen Frucht wird an mehreren Stellen des Textes aufgegriffen, so etwa in einem Gespräch zwischen Karl Erdmann von West-Wallbaum und dem Hauslehrer Aristide Dorn. Gegenüber Karl kritisiert Dorn das adelige Leben als eine durch zu große Gefahrenlosigkeit verweichlichte Daseinsform und veranschaulicht diese Deutung mit dem Bild von allzureifen Früchten: […] Im Mai, glaube ich, war es, daß der Geburtstag von Fräulein Oda gefeiert wurde. Für das Diner waren Birnen aus der Stadt geholt worden. Es waren die größten Birnen, die ich je gegessen habe, und auch wohl die süßesten und die saftigsten, wundervollen Birnen, aber genau genommen, sind solche wundervollen Birnen kranke Birnen. Es sollte vielleicht solche Birnen nicht geben. […] [Es] scheint […] mir denn, daß hier das Lebensbild einigermaßen gefälscht wird. Das Leben ist doch eine gefährliche, drohende Sache […]. Hier soll es nur weich und hübsch sein und ganz aus dem Hinwegdenken über das Schlimme bestehen.37 34Ebd., S. 156. Rhetorizität der dargestellten adeligen Kommunikation vgl. auch die Ausführungen weiter unten. 36Frank Zimmer: „Das inszenierte Leben. Raumsemantik und Subjektkonstituierung in Eduard von Keyserlings Erzählung ‚Am Südhang‘“. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 36/3 (2003), S. 191–216, hier S. 198. 37Keyserling: „Am Südhang“, S. 171 f. 35Zur Spätadelige Skepsis 155 Die Nietzscheanische Kritik an der modernen Zivilisation, sie habe den Sinn für den tragischen Urgrund des Seins verloren und befinde sich in einem Zustand harmloser Gefahrenlosigkeit,38 wird hier auf die adelige Lebensform projiziert. Der Adel erscheint somit als modellhaftes Sinnbild für die um 1900 kulturkritisch in den Blick genommene moderne Zivilisation schlechthin und es ist bezeichnend, dass es ein ‚einfacher Bürger‘39 ist, nämlich eben der Hauslehrer Aristide Dorn, der diese Kritik formuliert. Glaubt man allerdings den Worten der älteren Angehörigen des erzählten Adelsmilieus, dann ist es vor allem der gegenwärtige Adel, eine späte und vermeintlich zu Ende gehende Adeligkeit, die das Gefährliche des ‚Lebens‘ nicht mehr kennt. In diesem Sinne äußert sich etwa Herr von West-Wallbaum, der Vater des Protagonisten: Na ja, früher, meine Generation die war nicht so feingliedrig wie ihr Heutigen. Damals eine Entenjagd war doch eine andere Sache. Man band sich Bastschuhe an die Füße, ging am Seeufer entlang und sank jeden Augenblick bis zur Brust in den Sumpf ein. Da war noch was von Gefahr, ein bißchen Wildheit dabei, so was von Urinstinkten. Heute gehen Damen und Kinder auf die Jagd.40 Es scheint also die spätadelige Lebensform zu sein, die in besonderer Weise als Träger von Décadencesemantiken fungiert. Erzählt wird von einem Adel, der weitgehend gesellschaftlich funktionslos geworden ist und der seine rituellen Praktiken, wie etwa die Jagd, nicht mehr mit individuell erlebbaren Inhalten zu füllen weiß, sondern ihnen nur noch im Sinne von symbolischen Formpraktiken nachgeht. Die zentralen adeligen Figuren der Erzählung sind solche, die nicht mehr durch ihren Stand mit einer konkret gefüllten Identität versehen werden, gleichzeitig aber auch nicht über bürgerliche Selbstbeschreibungen im Sinne eines ‚wahren‘ und ‚authentischen‘ Ichs verfügen. Es ist das Fehlen einer ständischen wie auch einer bürgerlichen Identität, aus der heraus sich eine – im Text mit Décadencesemantiken versehene – Halt- und Orientierungslosigkeit der Figuren ergibt. 38Dieser kulturkritische Gedanke ist insbesondere in Nietzsches frühem und mittlerem Werk präsent. So wird bekanntlich in der Geburt der Tragödie (1872) die zeitgenössische Gegenwart als Zeitalter einer durch „schwächliche Bildung“ „ermüdeten Cultur“ gedeutet, der es an Bewusstsein für die tragischen Urgründe des Seins fehle, und die deshalb im Rahmen einer „Wiedergeburt der Tragödie“ mit neuem „dionysische[n] Leben“ angereichert werden müsse. Friedrich Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie“. In: Ders.: KSA. Bd. 1, S. 9–156, hier S. 130 f. und 132. In Also sprach Zarathustra (1883) bringt Nietzsche die Diagnose einer untragisch-seichten kulturellen Gegenwart in das Bild des „letzten Menschen“, der „die Gegenden verlassen“ hat, „wo es hart war zu leben“ und der den „Boden“, auf dem er lebt, „arm und zahm“ gemacht hat. Friedrich Nietzsche: „Also sprach Zarathustra“. In: Ders.: KSA. Bd. 4, S. 19. 39Dass Keyserling die Adelskritik einem ‚einfachen Bürger‘ und nicht etwa einem Großbürger, also einem Professor oder Großindustriellen, in den Mund legt, hat sicher auch etwas damit zu tun, dass das Großbürgertum im späten 19. Jahrhundert anstelle von Adelskritik häufig eher zur Adelsimitation neigt. Vgl. dazu etwa Arno J. Mayer: Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848–1914. München 1984. 40Keyserling: „Am Südhang“, S. 183 f. 156 J. O. Schneider Der Protagonist, der junge Karl Erdmann von West-Wallbaum, markiert nun eine Sonderposition in der Erzählung, weil er zwar selbst in die symbolischen Formpraktiken der adeligen Gesellschaft involviert ist, jedoch eine Sehnsucht nach einem ‚eigentlichen‘ vorsymbolischen Erleben hat. Die Sehnsucht wird durch die Szenerie eines Fensterblicks veranschaulicht, die man als Sehnsuchts-Motiv bereits aus Texten der Romantik, etwa aus Eichendorffs Gedicht Sehnsucht (1834), aber auch aus Texten um 1900, beispielsweise aus Hofmannsthals lyrischem Drama Der Tor und der Tod (1893) oder Thomas Manns Erzählung Tonio Kröger (1903), kennt: Die Nacht war schwül, und Karl Erdmann konnte sich nicht entschließen, sich niederzulegen. Er stand am geöffneten Fenster seines Schlafzimmers und schaute in den Garten hinab, und in das tiefe Dunkel fuhr zuweilen das Wetterleuchten wie eine plötzliche Erregung. Karl Erdmann fühlte in sich eine quälende Lebensungeduld, ein zorniges Verlangen, als würde ihm versagt, worauf er doch ein Recht hatte, und allerhand seltsame waghalsige Pläne gingen ihm durch den Kopf. Diese Gewitternacht regte ihn auf wie eine Nacht am Spieltische.41 Das Motiv des Fensterblicks als Bild für eine unstillbare Sehnsucht wird hier kombiniert mit dem Motiv der Schwüle und des fernen Gewitters, um 1900 ein besonders oft gebrauchtes Bild für die nervliche Anspannung des modernen Daseins und des gleichzeitigen Wartens auf das große befreiende Ereignis.42 Das Gewitter zieht in diesem Fall allerdings vorüber, ohne dass es zu dem erhofften ‚großen Donnerschlag‘ kommt.43 Karl Erdmann von West-Wallbaum kann das Wetterleuchten nur von Ferne beobachten, nicht die Entladung der Energien ‚wirklich‘ erleben. Wenn die nervöse Erregung und Lebensungeduld des Protagonisten zudem mit einer „Nacht am Spieltische“ verglichen wird, dann ist dies eine Form des veruneigentlichenden Vergleichs, wie er in Keyserlings Text mehrfach zum Einsatz kommt.44 Keyserling greift in seinen Vergleichen nicht zu Bildern mit einem erhöhten Eigentlichkeitspotenzial (das wären etwa Naturbilder oder Bilder grundsätzlicher menschlicher Grenzerfahrungen wie Krankheit, Tod oder Liebe);45 vielmehr verwendet er selbst in solchen Situationen, in denen inhaltlich-thematisch durchaus von Eigentlichkeitserfahrungen die Rede ist, Vergleiche aus der Welt des 41Ebd., S. 170 f. plastisch kommt das solchermaßen semantisierte Gewittermotiv in Hofmannsthals nachgelassenem (wohl aus dem Jahre 1890 stammenden) Gedicht Als sich das Gewitter zertheilte zum Einsatz: „Sollt ein Gewitter kommen / Wir haben’s wohl gefühlt / Das hätt uns den Zweifel genommen / Das Misstrau’n weggespült. / Die Wolken sind verschwommen / Die Luft bleibt schwül und trüb/Der Sturm ist nicht gekommen / Und Zweifel, Misstraun blieb.“ Hugo von Hofmannsthal: „Als sich das Gewitter zertheilte“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2: Gedichte. Hg. von Rudolf Hirsch/Edward Reichel/Christoph Perels/Mathias Mayer/Heinz Rölleke. Frankfurt/M. 1975 ff., S. 32. 43Hierin gleicht die Szene dem in der letzten Anmerkung zitierten Gedicht Hofmannsthals. 44Siehe auch andere Beispiele weiter unten. 45Dass der Vergleich und insbesondere auch die Metapher um 1900 oft die Funktion haben, ein Eigentlichkeitspotenzial freizusetzen, zeigt Specht: ‚Wurzel allen Denkens und Redens‘. 42Besonders Spätadelige Skepsis 157 gesellschaftlich geformten und damit ‚uneigentlichen‘ Alltags. Die Unentrinnbarkeit soziokultureller Codes und Konventionen wird damit in besonderer Weise angezeigt. Konkret erfolgt die Veruneigentlichung in diesem Fall dadurch, dass das Verlangen nach einem eigentlichen ‚Leben‘, das Karl beim Stehen am Fenster empfindet, ausgerechnet mit jenem Glücksspiel verglichen wird, das Jochen Strobel zufolge bereits um 1800 als konventionelle Tätigkeitsform des Adels gilt.46 Um die symbolische Uneigentlichkeit der adeligen Lebensweise zu überwinden, verschreibt sich Karl nun einem zutiefst bürgerlichen Konzept, nämlich dem Konzept der romantischen Liebe. Damit folgt er gewissermaßen seinem Autor Keyserling, der in seinem 1907 erschienen Essay Über die Liebe formuliert: Die Liebe allein schafft außer uns ein dem unsern ebenbürtiges Leben, sie schlägt die Brücke vom Ich zu dem anderen, sie ist es, die uns eine verwandte Welt schafft. Hesiod nennt Eros den Schöpfer der Welt, und er ist es allerdings, der uns die Welt eigentlich belebt, uns eine Welt gibt, von der wir nicht nur logisch überzeugt sind, sondern die wir auch empfinden.47 Die Frau, die für den Protagonisten des Südhangs nun zur Inkarnation einer solchen liebenden Lebens- und Welterfahrung werden soll, ist die geschiedene Adelige Daniela von Bardow. Die Exklusivitätsansprüche, die Karl Erdmann von West-Wallbaum mit seiner Liebe zu Daniela von Bardow verbindet, stehen allerdings im Widerspruch zu dem Umstand, dass er eigentlich jeden Sommer in Daniela verliebt ist, das Verliebtsein also schon zu einer Art Sommergewohnheit geworden ist. Hinzu kommt, dass Karl keine besonders individuelle Wahl in seiner Liebe getroffen hat, denn „[e]igentlich“, wie es heißt, „waren alle zu Hause in Frau von Bardow verliebt, selbst der Vater holte, wenn er mit ihr sprach, seine alten ritterlichen Gardedukorpsmanieren hervor […].“48 Auch die Liebe, die in ihrer bürgerlichen Konzeption für das authentische individuelle Empfindungsvermögen steht, wird in der erzählten Adelsgesellschaft also zu einem konventionell kodierten Ritual, an dem auch Karl Erdmann durch seine Verehrung Danielas partizipiert. Auf das Verliebtsein der Männer reagiert die ihrerseits adelige Daniela von Bardow denn auch einigermaßen ungerührt. Als der Graf Lynck Daniela in der Bibliothek eine Liebeserklärung macht, kommentiert sie das wenig später mit den Worten: […] Eine Liebeserklärung? Natürlich. Diese Herren der großen Welt sind alle Pedanten, weil sich in ihrem Leben so oft die gleichen Lebenslagen wiederholen. Man ist eben nicht erfinderisch in der großen Welt, deshalb tun sie in der gleichen Lebenslage immer das gleiche. Eine gewitterschwüle Sommernacht, es ist spät in der Nacht, eine Dame ist allein in einer Bibliothek, da nicht eine Liebeserklärung zu machen ist für diese Herren ebenso unmöglich, wie zum Frack eine schwarze Krawatte umzulegen.49 46Siehe die Ausführungen dazu weiter oben. Tatsächlich ist auch die Hauptfigur in Keyserlings Abendliche Häuser (1913) ein Glücksspieler. 47Eduard von Keyserling: „Über die Liebe“. In: Die neue Rundschau 18 (1907), S. 129–140, hier S. 130. 48Keyserling: „Am Südhang“, S. 156. 49Ebd., S. 174. 158 J. O. Schneider Die Liebeserklärung wird von ihr als Teil einer aristokratischen Erziehung gedeutet, die kompatible Verhaltensmuster für alle eventuellen „Lebenslagen“ vermittelt. Wenn das Aussprechen einer Liebeserklärung hier mit einem Dresscode verglichen wird, dann ist dies wiederum ein für Keyserlings Texte typischer veruneigentlichender Vergleich. Indem es zudem die adelige Daniela von Bardow ist, die diesen Vergleich ausspricht, wird die Adeligkeit in Keyserlings Erzählung nicht nur mit einem rollenhaften Habitus in Verbindung gebracht, sondern in besonderer Weise auch mit dem Durchschauen des scheinbar Authentischen als ein konventionell erlerntes Verhalten. Die Abgebrühtheit Danielas will Karl nun durch das Schreiben eines Briefes durchbrechen. „Das sollte ein Brief werden“, so heißt es, „der mit einem Male die schöne spielerische Sicherheit dieser grausamen kleinen Frau in Stücke riß und ein Menschenschicksal schwer und furchtbar in ihre Hände legte.“50 Der Semantik des Spiels wird eine Semantik des Schicksalhaften entgegengesetzt. In der Art, wie Karl den Effekt seines Briefes kalkuliert, erweist er sich trotz allen Liebespathos indes doch als typischer Repräsentant des Adels, als jemand eben, der im Sinne aristokratischer Klugheitslehren seine Wirkung auf andere bewusst plant und inszeniert. Der schließlich entstehende Brief wird entsprechend als eine „Musik der großen Worte“51 bezeichnet, als ein rhetorisch gemachtes und suggestiv-wirkungsorientiertes Sprachwerk. Auf Karl selbst verfehlt der Brief seine Wirkung nicht: Dezidiert ist es, wie der Erzähler anmerkt, die „Musik der großen Worte“52 – und nicht etwa die Emotionalität selbst –, von der sich Karl beim abschließenden Lesen seines Briefes „das Blut erwärmen“53 lässt. Hinsichtlich der eigentlichen Adressatin geht das Wirkungskalkül allerdings nicht auf: Im Gegensatz zu Karl zeigt sich Daniela einigermaßen unbeeindruckt von dem Brief. Anlässlich von Karls Besuch am folgenden Tag kommentiert sie das Schriftstück wie folgt: Also […], solche Briefe dürfen Sie nicht schreiben, wenn es einmal Ernst wird. Wenn Sie ihn schreiben, fühlen Sie vielleicht stark und wird Ihnen warm ums Herz, aber glauben Sie mir, solch ein hübscher Brief macht keinen Eindruck. Wir lesen darüber hinweg wie über eine Romanseite.54 Danielas Kommentar liest sich wie die Dekonstruktion einer Sprache der Liebe.55 Der Authentizitäts- und Originalitätsanspruch des Liebesbriefes wird als lediglich 50Ebd., 51Ebd., S. 178. S. 179. 52Ebd. 53Ebd. 54Ebd., S. 181. fast postmoderner Manier“, so auch Frank Zimmer, „deutet Daniela […] an, daß ein stilisiertes, pathetisches Liebesbekunden künstl(er)i(s)ch und fiktional, nicht aber authentisch sei, da es sich einer präformierten, notwendig (im Sinne Kristevas) intertextuellen Sprache bediene und somit nicht originär sein könnte.“ Zimmer: „Das inszenierte Leben“, S. 202. Anstatt Keyserlings Texte indes als ‚Vorwegnahme‘ dekonstruktivistischer oder poststrukturalistischer Ideen zu lesen, 55„In Spätadelige Skepsis 159 überlieferte Semantik und Konvention beschrieben, die vermeintliche Echtheit als bloße Rhetorik: Man kann, so Danielas Credo, den Brief lesen, wie man einen Roman liest, also als etwas ästhetisch Gemachtes und Inszeniertes. Wiederum ist es bezeichnend, dass der Hinweis auf die rhetorische Gemachtheit eines Liebesbriefes einer Adeligen in den Mund gelegt wird. Mit der Deutung der Liebe als konventionell-artistisches ‚Spiel‘, das man in seinen rhetorischen und habituellen Regeln beherrschen muss, steht die Figur Daniela von Bardow eben nicht in der Tradition bürgerlicher Tugendlehren und Liebessemantiken, sondern vielmehr in einer Linie mit moralistisch-aristokratischen Rhetoriken und Psychologien der Liebe, wie man sie schon in La Rochefoucaulds Maximes (1664)56 findet, aber auch noch – in Form von fiktionalisierten Figurenpositionen – in Choderlos de Laclos’ Les Liaisons dangereuses (1782).57 Der ‚Angriff‘ auf die Abgebrühtheit erscheint es mir plausibler, sie auf die Tradition aristokratischer Moralistiken rückzubeziehen. Man könnte in diesem Sinne anders herum überlegen, ob und inwiefern der französisch dominierte Poststrukturalismus seinerseits an die ebenfalls französisch dominierte moralistische Tradition anschließt. Immerhin ist etwa Roland Barthes Herausgeber einer 1961 erschienenen Ausgabe von La Rochefoucaulds Maximes: François de La Rochefoucauld: Maximes et réflexions. Texte présenté par Roland Barthes. Paris 1961. Zu Barthes Auseinandersetzung mit La Rochefoucauld vgl. auch: Roland Barthes: „La Rochefoucauld“. In: Ders.: Le Degré zéro de l’écriture suivi de Nouveaux Essais critiques. Paris 1972, S. 69–88. Man könnte also gewissermaßen eine Tradition der Subjekt- und Authentizitätsskepsis beschreiben, die sich von der Moralistik der frühen Neuzeit über Schopenhauer, Nietzsche und die Moderne um 1900 bis in die Reflexionen des Poststrukturalismus zieht. Daneben verläuft seit der Aufklärung ein ‚bürgerlicher‘ Traditionsstrang, bei dem gerade der Idee des autonomen und authentischen Ichs eine unhintergehbare Evidenz und ein emanzipatorisches Potenzial zugesprochen wird. 56Das Wissen um die sprachliche Vorstrukturierung der Liebe im Sinne eines ‚Liebesdiskurses‘ wird von La Rochefoucauld präzise auf den Punkt gebracht, wenn er in seinen Maximes schreibt: „Il y a des gens qui n’auraient jamais été amoureux s’ils n’avaient jamais entendu parler de l’amour.“ [Es gibt Menschen, die nie verliebt gewesen wären, hätten sie nie von der Liebe reden hören, J.O.S.]. La Rochefoucauld: „Réflexions ou sentences et maximes morales Nr. 136“. In: Ders.: Œuvres complètes. Éd. établie par L. Martin-Cháffier. Revue et augmentée par Jean Marchand. Paris 1964, S. 385–471, hier S. 421. Vgl. auch die Maximen 68–77 (ebd., S. 412 f.), in denen La Rochefoucauld ein psychologisches Regelwissen über das Entfachen und Erkalten der Liebe, über die Gefahren der Täuschung und über das subtile Verhältnis von Liebe und Hass formuliert. Für den Hinweis auf La Rochefoucauld danke ich Alexandra Pontzen. 57Wolfgang Matzat arbeitet in seiner Analyse von Laclos’ Roman deutlich die dort wirksamen „semantischen Oppositionsbeziehungen“ heraus, die durch die beiden sich gegenüberstehenden Figurengruppen, nämlich das altadelige Paar Valmont und Merteuil auf der einen Seite, und das bloß amtsadelige und quasi bürgerliche Trio de Volanges, de Tourvel und de Danceny auf der anderen Seite, zu Stande kommen. Während die beiden altadeligen Libertins die Liebe als manipulatives Spiel auffassen und dabei im „psychologischen Skeptizismus der Moralistik“ verwurzelt sind, fußen die Haltungen der bloß amtsadeligen Gruppe letztlich auf bürgerlichen, „vom Menschenbild der Empfindsamkeit geprägten positiven Werten wie Tugend und echter Liebe.“ In Laclos’ Roman wird also ein „Wertkonflikt“ erzählt, der sich aber gleichzeitig „mit einer klaren soziologischen Differenzierung der Figuren“ – nämlich zwischen altem „Schwertadel“ und bürgerlich geprägtem „Amtsadel“ – „verbindet“. Wolfgang Matzat: „Die moralistische Affektkonzeption in Choderlos de Laclos’ ‚Les Liaisons dangereuses‘“. In: Romanische Forschungen 104 (1992), H. 3/4, S. 293–312, hier 293. Für den Hinweis auf Laclos’ Les Liaisons dangereuses danke ich Alexandra Pontzen. 160 J. O. Schneider Danielas im Medium einer ‚Musik der großen Worte‘ (s. o.) scheitert, weil die adelige Daniela von Bardow zu starke Einblicke in das rhetorisch-manipulative Kalkül dieser Wortmusik hat, um ihr tatsächlich zu verfallen. Weil Karl Erdmann wenige Tage später ein Duell hat und die Möglichkeit seines Todes in der Luft liegt, kommt es zwar doch noch zu einem Rendezvous draußen im Garten; welche genauen Motive Daniela dabei hat, wird allerdings nicht ganz klar und schon kurz danach erscheint Karl die Zusammenkunft mit Daniela wie ein unwirkliches Ereignis: Karl Erdmann blieb auf der Bank sitzen und schloß wieder die Augen, wie jemand, der einen schönen Traum geträumt hat und, einen Augenblick erwacht, nun diesen Traum weiterträumen will. Allein das Weiterträumen solcher Träume ist mühsam und will nie recht gelingen.58 Die Liebe kann Karl Erdmann von West-Wallbaum folglich nicht aus seinem Gefühl der Uneigentlichkeit herausreißen, selbst das Rendezvous mit Daniela von Bardow kommt ihm wie etwas bloß Imaginiertes vor. Neben der Liebe gibt es im Text noch eine zweite Instanz, durch die die Uneigentlichkeit der spätadeligen Existenz überwunden werden soll: der Tod. Im Sinne der Philosophie Schopenhauers wird der Tod um 1900 bekanntlich als Überwindung der Subjektivität, als ein emphatisches Aufgehen in der Universalität des ‚Lebens‘ verstanden. Bezeichnenderweise ist es wiederum ein Bürger, nämlich der Arzt Doktor Ulich, der die Eigentlichkeitssemantik des Todes aufgreift und vom Tod als einem Moment spricht, in dem man als „das große Wesen, als die große Finsternis, als das große Sein“ sein „Wesen treiben“ könne.59 Tatsächlich versucht Karl Erdmann von West-Wallbaum sich am Vorabend des Duells in eine Art todesmetaphysische Stimmung zu bringen, ein Versuch, der indes nicht so recht gelingen mag: Gespannt lauschte er in sich hinein, er wollte etwas von den Gefühlen entdecken, von denen der Doktor gesprochen hatte; dieses Hinschmelzen, dieses Lösen war etwas, das er gern erlebt hätte. Allein er spürte nichts, immer nur fand er sich selbst mit seiner Freudlosigkeit, die ihn heute quälte, mit einer kindischen Neigung, sich selbst zu bemitleiden, etwas Großes, Befreiendes wollte sich nicht einstellen, es war recht ärgerlich.60 Das Duell selbst erweist sich folgerichtig als Enttäuschung. Dient das Duell innerhalb des adeligen Standes und im höheren Bürgertum zur Wiederherstellung der Ehre und somit zur Rehabilitation eines äußeren sozialen Status,61 so wird es in 58Keyserling: „Am Südhang“, S. 195. S. 203. 60Ebd., S. 204. 61Die Geschichte des Duells von der frühen Neuzeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verfolgt Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1995. Die Kategorie der Ehre und insbesondere die Divergenz zwischen äußerer und innerer Ehre wird bekanntlich – gebunden an den Topos des Duells – verhandelt in Artur Schnitzlers Leutnant Gustl (1900). 59Ebd., Spätadelige Skepsis 161 der Novelle zum bloß symbolhaften Ritual. Beide Duellanten schießen absichtlich daneben, womit die Grundlage der Ehre, nämlich die generelle Bereitschaft einerseits zu sterben und andererseits für das eigene Ansehen zu töten, nicht mehr gegeben ist. Auch die emphatischen Todessemantiken, mit denen das Duell zuvor aufgeladen wurde, laufen damit ins Leere. Doktor Ulich zeigt sich entsprechend enttäuscht: [I]ch hatte mich ein wenig aufgeregt, ich hatte sozusagen innerlich zu große Vorbereitungen getroffen; wir sind doch auch geizig mit unsern Erregungen, es verstimmt ein wenig, wenn wir an ein Erlebnis mehr Erregung gewandt haben, als nötig war. Es ist vielleicht, obgleich der Vergleich gewiß unpassend ist, es ist vielleicht doch etwas Ähnliches wie der Ärger, den wir fühlen, wenn wir uns im Hotel durch eine unnütze Anwandlung von Großartigkeit haben hinreißen lassen, dem Oberkellner ein zu großes Trinkgeld zu geben.62 Die in Keyserlings Text so überaus präsente Technik der Entdramatisierung durch den inadäquaten Vergleich wird gewissermaßen metapoetisch kommentiert, wenn Graf Lynck seine Analogisierung von zu großer Duell-Erwartung und zu großem Trinkgeld als einen „Vergleich“ bezeichnet, der „gewiß unpassend ist“. Die Todessemantik wird in die Sphäre der kulturellen Konventionen gerückt und dies entspricht auch dem Kommentar, den der Hauslehrer Aristide Dorn angesichts der vor dem Duell aufgekommenen Gespräche über den Tod formulierte. Das Duell bezeichnete er dort als eine […] fein erfundene Einrichtung. Sie erreicht ihren Zweck, sie drapiert, möchte ich sagen. Gefahr drapiert immer. Die Todesmöglichkeit als Dekoration, aha. […] Aber das ist nun die Regel dieses Lebens hier, immer ausschmücken, und da muß denn so etwas Dramatisches Effekt machen, Todesgefahr ist eine Art bengalischer Beleuchtung. Dagegen kommt natürlich ein einfacher Werktagsmensch wie ich nicht auf. Solch einer nimmt sich ebenso lächerlich aus wie ein Theaterarbeiter, der sich auf der Bühne verspätet hat, wenn das Drama schon anfängt. Ich habe das einmal bei einer Vorstellung gesehen, und hier habe ich oft an diesen grauen Arbeiter auf der Bühne denken müssen.63 Aristide Dorn deutet das Duell als ein Theater, bei dem es selbst angesichts des Todes nicht um das Eigentliche, sondern um das Erzeugen bloßer dramatischer Effekte geht. Sich selbst sieht der nicht satisfaktionsfähige Hauslehrer Dorn als autonomen Betrachter, der gleich einem vor der Bühne stehenden Theaterarbeiter das Geschehen von außen beobachtet und den bloßen Scheincharakter oberschichtenspezifischer – und in diesem Fall adeliger – Verhaltensformen durchschaut. Die Selbstbeschreibung als „einfacher Werktagsmensch“ konfligiert indes mit der erzählerischen Beschreibung dieser Figur. Immer wieder wird Dorn nämlich als manierierter Décadent geschildert, der besonders durch seine künstlich-blasse Haut und durch seine lange Haarlocke auffällt, die er sich gern mit 62Keyserling: 63Ebd., „Am Südhang“, S. 208. S. 195 f. 162 J. O. Schneider einer exaltierten Bewegung aus dem Gesicht streicht.64 Er verfügt zudem über die typisch dekadente Entscheidungsschwäche, wie er selbst eingesteht, wenn er formuliert, dass „ich etwas tun will und Abend für Abend umhergehe und mich nicht dazu entschließen kann“.65 Der Unterschied zwischen Adeligem und einfachem Bürger wird also nicht als eine objektive Differenz dargestellt, sondern als ein Unterschied in der Selbstbeschreibung. Während die Adeligen ihre Lebensferne hinnehmen und ironisch kommentieren, hält der ‚einfache Bürger‘ Aristide Dorn an der Rolle des lebensnahen und moralischen Kritikers fest. Seine auf Ernsthaftigkeit und ‚Tiefe‘ hinzielende Selbstbeschreibung geht sogar so weit, dass er, der wie die Adeligen in Daniela von Bardow verliebt ist, sich ihretwegen am Ende der Erzählung umbringt: ein Akt des Ernstes, mit dem er sich von den Adeligen absetzt. Deren spielerisch-uneigentliche Daseinsform wird durch den Tod Dorns, so scheint es, unterbrochen. Daniela von Bardow ‚überwindet‘ ihre skeptisch-distanzierte Haltung demonstrativ, sie hält nachts eine Totenwache bei Dorn ab und pflückt am nächsten Tag weiße Lilien für ihn. Ob ihre Trauerhandlungen allerdings den eigentlichen Kern ihres Ichs repräsentieren oder nicht wiederum eine Form der Selbstinszenierung sind, steht dabei durchaus in Zweifel. Die umstehenden Personen zumindest sehen in Danielas Verhalten lediglich ein Verliebtsein in das Dramatische. „Es gibt eben Frauen“, bemerkt Graf Lynck ironisch, „die nicht genug fünfte Akte erleben können.“66 Passend zu dieser ins Spiel gebrachten Semantik des Theatralen wird das Blumenpflücken Danielas nicht durch den Erzähler selbst dargestellt, sondern durch den Grafen Lynck im Sinne einer Art ‚Mauerschau‘67 referiert: Graf Lynck trat an das Fenster, um hinauszuschauen. „Was tut sie?“ fragte Herr von Wallbaum leise. – „Jetzt pflückt sie die Lilien“, berichtete Graf Lynck. – „Meine Lilien!“ klagte Frau von Wallbaum leise. – „Jetzt geht sie in den Wintergarten“, meldete Graf Lynck weiter. Herr von Wallbaum schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie: „Ist denn heute alles toll geworden! Weiß einer, was die Daniela mit diesem jungen Menschen zu tun hat. Lauter ganz unverständliche Sachen!“68 Die Trauerarbeit Danielas wird zu einem rein theatralen Phänomen, dem man, gerade weil es in seiner Bedeutung unverständlich ist, zuschauen kann. Gemäß dieser Ästhetisierung der Trauer ist auch der Tod Aristide Dorns selbst nurmehr ein folgenloses ästhetisches Ereignis. Die erzählte Adelsgesellschaft wird dadurch keineswegs aus ihren eingespielten Abläufen herausgerissen. Als Daniela am nächsten Morgen abreist, reagiert Frau von Bardow darauf mit den Worten: 64Vgl. ebd., S. 158 und 171. S. 173. 66Ebd., S. 213. 67Vgl. dazu auch Zimmer: „Das inszenierte Leben“, S. 209. 68Keyserling: „Am Südhang“, S. 213. 65Ebd., Spätadelige Skepsis 163 Nun sind wir wieder in unserer Ordnung, nur meine Lilien sind fort. […] [W]ir haben wieder unser gutes bekanntes Leben. Morgen, denke ich, lasse ich die Pflaumen abnehmen, es wird Zeit sein, ich will noch einmal nachsehen.69 Man kann nun diese Ordnung als eine historisch überholte Ordnung begreifen. Die „Ordnung“, in der sich die Figuren befinden und die sie offenbar nicht überwinden können, lässt sich aber eben auch als Struktur der kulturellen Codes schlechthin beschreiben, in die das moderne Subjekt immer schon eingefasst ist und die es bei allem Originalitäts- und Natürlichkeitsstreben offenbar niemals ganz überschreiten kann. Mittels der Darstellung adeliger Konversations- und Interaktionsordnungen werden bei Keyserling also Probleme verhandelt, die auch die Sprachphilosophien70 und die kulturalistischen Reflexionen71 des 20. Jahrhunderts zum Thema machen werden. Spätadelige und erkenntnistheoretische Skepsis Dass es Keyserling in seinen Texten nicht bloß um die Darstellung eines historischen Milieus geht, sondern um die Reflexion erkenntnistheoretischer und legitimatorischer Probleme – dies wird auch durch seine essayistischen Äußerungen immer wieder nahegelegt. Die in den dargestellten Adelsmilieus so präsente Ästhetik der Oberfläche, der Performanz und des symbolischen Spiels bringt er etwa in seiner Rezension über Rudolf Kassners Moral der Musik mit Kants Erkenntnistheorie in Verbindung. Kants Unterscheidung zwischen Erscheinung und ‚Ding an sich‘ übersetzt er dabei in den Antagonismus von Oberfläche und Tiefe: Kant hat die reinliche Scheidung der Oberfläche von der Tiefe vorgenommen, und weil wir, die wir in seiner Schule gesessen, die Oberfläche so deutlich als Oberfläche erkennen, deshalb, gerade deshalb müssen wir uns umso stärker nach der Tiefe sehnen.72 Keyserling begreift sich offenbar als Teil einer Autorengeneration, die ein besonders Sensorium für den bloßen Oberflächencharakter des vermeintlich Wahren und Evidenten herausgebildet hat. Gerade aufgrund dieses Sensoriums entsteht eine besondere Sehnsucht nach einem hinter der Oberfläche situierten metaphysischen Fundament des Daseins. Allerdings steht diese Sehnsucht wiederum unter der von 69Ebd., S. 215. dem Schlagwort eines ‚linguistic turn‘ wurde bekanntlich mehrfach jene Wende zur wirklichkeitskonstruierenden oder zumindest -rahmenden Funktion der Sprache in den Blick genommen, die sich im frühen 20. Jahrhundert auf im Einzelnen ganz unterschiedliche Weisen in den Sprachkonzeptionen und -untersuchungen Wittgensteins, de Saussures oder John Langshaw Austins zeigt. 71Ein Werk des frühen 20. Jahrhunderts, das die ‚Kultur‘ und ihre verschiedenen symbolischen Systeme als A Priori jeder Weltwahrnehmung beschreibt, ist bekanntlich Ernst Cassirers 1923– 1929 erschienene Philosophie der symbolischen Formen. 72Eduard von Keyserling: „Die Moral der Musik“ [Rezension]. In: Die neue Rundschau 17 (1906), S. 379–382, hier S. 379. 70Unter 164 J. O. Schneider Kant gesetzten Prämisse, dass „die Vernunft“ in Bezug auf metaphysische Fragen „nichts beweisen und erklären kann“.73 Keyserling beschreibt hier also eine Sehnsucht, die aus der Skepsis heraus entsteht und ihrerseits durch skeptische Vorbehalte eingeklammert wird. In seinen Essays benennt Keyserling – etwa mit der Liebe – durchaus Formen, mit denen man die skeptische Isolation des Ichs überwinden und Zugang zu einer metaphysischen Totalität – etwa im Sinne eines universalen ‚Lebens‘ – finden kann. In seinen Erzähltexten stellt er indes zwar die Sehnsucht, aber doch die gleichzeitige Unerlangbarkeit eines jenseits der kulturell-symbolischen Ordnungen situierten Seins aus, und mit der späten Adeligkeit findet er ein Motivreservoir zur poetischen Modellierung der ewigen Lebensverfehlung. Thomas Manns eingangs zitierte Charakterisierung von Keyserlings Werk als „Vergeistigung adeliger Lebensstimmung“ muss folglich nicht zwangsläufig als Historisierung und Antiquierung Keyserlings verstanden werden – man kann sie andersherum ebenso gut auch als Beschreibung der spezifischen Modernität von Keyserlings Texten lesen. Dass Mann Keyserling durchaus als Autor einer lebensskeptischen Décadence und damit als einen dem eigenen Schreiben verwandten Autor liest, wird deutlich, wenn er Keyserling von dem bürgerlichen Realisten Fontane abhebt: „Sein Werk […] hat nervöseren Puls; der Blick auf das Leben ist kälter geworden, die Ironie geistiger, das Wort präziser […]“.74 Nervosität, Kälte, Ironie: Hier erkennt ein Skeptiker den anderen. Handelt es sich bei Mann aber um die Skepsis eines ‚entlaufenen Bürgers‘,75 ist die Grundhaltung in Keyserlings Texten die einer noch-ständischen, form- und rollenbewussten, eben spätadeligen Skepsis. Literatur Barthes, Roland: „La Rochefoucauld“. 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In: Ders. u. a. (Hg.): Verirrte Bürger. Thomas Mann und Theodor Storm. Frankfurt/M. 2016, S. 51–67. 75Vgl. Spätadelige Skepsis 165 Hofmannsthal, Hugo von: „Als sich das Gewitter zertheilte“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Bd. 2: Gedichte. Hg. von Rudolf Hirsch/Edward Reichel/Christoph Perels/Mathias Mayer/Heinz Rölleke. Frankfurt/M. 1975ff. Illies, Florian: „Die Ironie der schwülen Tage. Der Autor dieses Sommers heißt Eduard von Keyserling“. In: Die Zeit 27 (2009). Joël, Karl: Seele und Welt. Versuch einer organischen Auffassung. Jena 1912. Kafitz, Dieter: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004. Keyserling, Eduard von: „Die Moral der Musik“ [Rezension]. In: Die neue Rundschau 17 (1906), S. 379–382. Keyserling, Eduard von: „Über die Liebe“. In: Die neue Rundschau 18 (1907), S. 129–140. Keyserling, Eduard von: „Am Südhang“. In: Ders.: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. 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Auch Elemente der Natur, Tiere, Farben und andere Sinneseindrücke gehören in diese Entwürfe besonderer Stimmungsbilder mit hinein. Allerdings erzählen Keyserlings Texte im Gegensatz zu ‚herkömmlichen‘ Idyllen nicht von harmonischen Symbiosen von Figuren und Umwelt. Sie teilen die utopistischen Verheißungen nicht, dass ein solches Landleben Glück bedeuten, eine positiv konnotierte Ruhe befördern oder der Gesundheit dienlich sein würde. Keyserlings erzählte Welten sind bemerkenswert häufig von „Herrschaften ohne Hoffnung“2 bevölkert, 1Vgl. Niels Penke/Niels Werber: „Idyllen der klassischen Moderne“. In: Jan Gerstner/Jakob C. Heller/Christian Schmitt (Hg.): Handbuch Idylle. Traditionen – Verfahren – Theorien. Stuttgart 2020 (im Druck). 2Vgl. Michael Schwidtal: „Herrschaften ohne Hoffnung. Sterbende Geschlechter bei Herman Bang und Eduard von Keyserling“. In: Ders./Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Heidelberg 2007, S. 241–252. N. Penke (*) Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: penke@germanistik.uni-siegen.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_11 167 168 N. Penke denen das Landleben ein Alptraum geworden ist. Auf das Warten kann nur noch der kollektive Untergang folgen. Keyserlings Erzählungen stehen trotz einiger zentraler Bestandteile der Idylle in einem disharmonischen Verhältnis, nicht nur zur Gattung der Idylle, sondern auch zum Idyllischen insgesamt – in einer umfassenden Umcodierung von Material, Raum- und Zeitsemantik. Vor dem Traditionshintergrund der Idylle werden Keyserlings Gegenentwürfe am Beispiel der Erzählung Das Landhaus (1913) und dem Roman Abendliche Häuser (1914) im Folgenden untersucht. Zeit und Raum der Idylle Die neuzeitliche Idylle wird seit Salomon Geßner darüber bestimmt, dass sie die „epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“3 realisiert. Die ungebrochene Idylle entwirft Bilder einer „heilen Welt“,4 die notwendigerweise „partikular, einseitig und beschränkt“5 sein muss. Daher „insistiert [sie] auf den eng gezogenen Grenzen ihres Weltausschnitts“, um sich in der kleinen, geschlossenen Form „menschlicher Glücksmöglichkeiten zu versichern.“6 Die Idylle unterliegt damit nicht nur einer räumlichen, sondern auch notwendigerweise einer zeitlichen Begrenzung, wie es bereits bei Jean Paul exemplifiziert wird: Das Schulmeisterlein Wutz verlässt sein Heimatdorf nie und bleibt zeitlebens Kind. Diese größtmögliche Beschränktheit einer Figur dient als negative Explikation der eigenen Idyllen-Theorie aus der Vorschule der Ästhetik. Im Fokus der Idylle steht daher ein Moment, der einen vorübergehenden, anderen Zustand gegenüber den Routinen des Alltags bedeutet, der von Sorgen, Nöten und Verpflichtungen frei ist und funktional von diesen entlastet. In Jean Pauls Verständnis können „alle diese Tage […] Idyllen werden“ und alle, die in „eine volle blühende Einsiedelei“ hinausfahren, können daher „singen: auch wir waren in Arkadien“.7 Raum und Zeit der Idylle stehen also in einem spezifischen Verhältnis zueinander, das sich als Chronotopos beschreiben lässt. Den Chronotopos definiert Michail M. Bachtin als eine spezifische „Form-Inhalt-Kategorie der Literatur“,8 in der 3Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hg. von Norbert Miller. Darmstadt 2000, S. 7–456, hier S. 258; Kursivierung im Orig. 4Günter Häntzschel: „Idylle“. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2: H – O. Berlin 2000, S. 122–125, hier S. 123. 5Helmut J. Schneider: „Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder“. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen. Frankfurt/M. 1978, S. 353–423, hier S. 364. 6Ebd. 7Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 259. 8Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. von Edward Kowalski/Michael Wegner. Aus dem Russ. von Michael Dewey. Frankfurt/M. 1989, S. 7. Landhaus und Landleben 169 „räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen verschmelzen“.9 Dieses ‚sinnvolle und konkrete Ganze‘ bildet in der Wiederholung Muster aus, die, wie Bachtin Formen der Zeit im Roman ausführt, insbesondere für „das Genre von grundlegender Bedeutung“ sind, da „das Genre mit seinen Varianten vornehmlich vom Chronotopos determiniert wird.“10 Von hier aus lassen sich zwei verschiedene Chronotopoi des Genres der Idylle differenzieren: zum einen der Chronotopos einer mythischen Vergangenheit, der in der antik(isierend)en Bukolik realisiert ist; zum anderen in der, vor allem biedermeierlichen, gegenwartsbezogenen Familienidylle, wie sie im Anschluss an Goethes Hermann und Dorothea, von Johann Heinrich Voss und Eduard Mörike weitergetragen, paradigmatisch durch Heinrich Seidels Leberecht Hühnchen (1880–1893) vertreten wird. Diese Beispiele für resonanz- wie erfolgreiche Idyllen bestätigen auch Jean Pauls These, dass es „unrichtig und unnütz“ sei, dass das „Personal außerhalb bürgerlicher Gesellschaft steht“11 – entscheidend sind nicht Herkunft und Standeshintergrund der Figuren, sondern ein Handlungsraum, der die Idylle vorübergehend in Form eines „umzäunte[n] Gartenleben[s]“12 ermöglicht. Die Wohnstube und der eigene Garten taugen daher als die letzten glückverheißenden Residuen in einer zunehmend industriell mobilisierten Welt, die den „Glauben an die Existenz geschützter Freiräume […] immer mehr illusorisch“13 werden lässt. Diese Dynamik setzt die Idylle als Gattung wie auch das momenthafte-idyllische Vollglück unter großen Legitimations- bzw. Plausibilisierungsdruck, wenn unter der expliziten Gattungsbezeichnung der Idylle im späten 19. Jahrhundert „nur noch Werke entstehen, die entweder das Bewußtsein der Gebrochenheit jenes Glaubens zu erkennen geben oder aber den Eindruck flagranter Unwahrhaftigkeit erwecken.“14 Idyllisches Landleben Wie ein solches glückliches Land- und Gartenleben im Idealzustand aussehen kann, hat Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742–1792) in Das Landleben (erstmals 1767, in der Folge mehrfach überarbeitet und erweitert) beschrieben. Hirschfelds Selbsterfahrungsbericht, „das Landleben mit den Freunden […] in seiner ganzen Ruhe und Suessigkeit zu geniessen“, ist nicht nur „ein Wunsch, der mich 9Ebd., S. 8. 10Ebd. 11Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 261. 12Ebd. 13Renate S. 143. 14Ebd. Böschenstein-Schäfer: Idylle. 2. durchges. und ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1977, 170 N. Penke entzückt, ein Traum“,15 sondern deren beider Einlösung zugleich. Als Idealbild des Landguts dient Sabinum, das, von seinem Besitzer Horaz besungen, zum Topos wurde.16 Horaz ist dementsprechend eine der Autoritäten, auf die sich Hirschfeld wiederholt bezieht.17 Eine andere ist Jean-Jaques Rousseau, an dessen Emphase des Landlebens (Lettres de deux amans. Habitans d’une petite Ville au pied des Alpes, 1761) Hirschfeld mit seiner umfangreichen Darstellung einer Gegenwelt zur Stadt anschließt. Mehr noch als ein theoretischer Entwurf ist das Landleben aber Zeugnis einer bestimmten Wahrnehmungs- und Empfindungsweise, einer „Moral des Landlebens“.18 Diese steht im Zeichen eines Imperativs: „[…] vergesset nun die Unlust der rauhen Monate, verlaßt die Mauern der Stadt, und komt in die Gefilde des Fruehlings, wo ueberal Freude bluehet, und der ganze Himmel mit einer neuen Heiterkeit laechelt.“19 Dem „staedtischen Kerker“ stehen die „Ergoetzungen der Natur“20 entgegen, die in den mit dem Frühling neu heraufziehenden optischen Eindrücken, angenehmen Gerüchen und Geräuschen, und der immer wieder Heiterkeit befördernden Wärme, bestehen. Um das Landhaus herum organisiert stellt der Garten das Zentrum der Wahrnehmung dar und verspricht für den „fuehlenden Theil der Menschen“21 ein irdisches Paradies, „wo sich das Nuetzliche mit dem Schoenen verbindet“.22 Das Horazische Ideal des prodesse et delectare wird hier auf den Garten übertragen. „Scenen ländlicher Arbeiten“23 stehen entsprechend neben „suesse[n] Vergnuegungen“.24 Zusammen haben sie einen versöhnenden Einfluss auf die „muntere Geselschaft“, denn „die Freude“ vermag, „das Alter und die Jugend“25 zu vereinigen. Geeint sind sie in der Empfindung als einer unversiegbaren Quelle des Vergnügens und der Rührung, die dafür sorgen, dass sich die Einzelnen letztlich auch „wieder selbst [besitzen]“.26 Dies kann aber nur gelingen, wenn die generationenübergreifende Gefühls- zugleich auch eine Kommunikationsgemeinschaft ist. „Wir waren“, schreibt Hirschfeld, „aufrichtig genug, uns das, was wir so edel fuehlten, nicht zu verschweigen.“27 Eintracht, so ließe sich festhalten, ist nur dann möglich, wenn alle im Bewusstsein der 15Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Das Landleben. 3. verbesserte Auflage. Frankfurt/Leipzig 1787, S. 6. 16Ernst A. Schmidt: Sabinum. Horaz und sein Landgut im Licenzatal. Heidelberg 1997. 17Vgl. Hirschfeld: Das Landleben, u. a. S. 12, 137 und 139. 18Ebd., S. 5. 19Ebd., S. 11. 20Ebd. 21Ebd., S. 12. 22Ebd., S. 21. 23Ebd., S. 7. 24Ebd., S. 12. 25Ebd. 26Ebd., S. 25. 27Ebd., S. 14. Landhaus und Landleben 171 „harmonischen Verbindungen unter einander“28 – sowohl der gleichempfindsamen Menschen als auch der von Mensch und Natur – leben. Hirschfeld beschreibt ein Wahrnehmungsparadies, das er und seine Mitreisenden durch ihre Empfindsamkeit selbst herstellen; die natürlichen Gegebenheiten stellen nur die Projektionsfläche für ihre Beobachter bereit, um über das Gegebene singend oder sprechend den idyllischen Zustand zu beschwören. Um diese Empfindungen und ihren Austausch herum ruft Hirschfeld viele Motive aus dem Inventar der Idylle auf: Hirten und Lämmer, Nymphen, Nachtigallen und Tauben erschaffen so manchen locus amoenus, in dessen Hintergrund die erhabenen Alpen aufscheinen.29 Das Landleben entwirft eine ideale Konstellation von Raum, Zeit (Frühling und Sommer), klimatischen Faktoren und dem entsprechend gestimmten Personal, das sich in einem scheinbar herrschaftsfreien30 Zusammenhang begegnet. So, und nur so, kann das Land in die idealische Differenz zur Stadt treten, um dort „Ruhe und Suessigkeit“ genießen zu können. Denn auch von problematischen Dispositionen ist bei Hirschfeld bereits die Rede. „Schwäche des Geistes, Mangel des Geschmacks, Unruhe der Begierden, Verwoehnung an betaeubende Ergoetzungen“ machen es möglich, das „Vergnuegen zu zernichten“.31 Der Genuss des Landlebens ist daher äußerst prekär; nur wenn alle Bedingungen erfüllt sind, können sich die gewünschten Effekte einstellen. Die willentliche Beschränkung auf das Gegebene ist ihre Voraussetzung. Wer sich aber von „jeder kleinen Neuigkeit“32 den Geist verwirren lässt, stört die Harmonie der Idylle. Und Hirschfelds Darstellung will Idylle sein, ein „cleines Gemaehlde“33 für die Gleichgesinnten. Wer sich nicht darauf einzulassen vermag, bleibt ausgeschlossen; „wer auf dem Teppiche gruenender Felder nur nach dem Getuemmel der Staedte zurueckseufzet, der fuehlet nicht den Werth der mahlerischen Idylle.“34 Als solche erscheint sie in chronotopischer Form der Gegenwarts-Idylle, die, in Relation zum Ausgangspunkt des Stadtlebens, des Verkehrs, der Geschäfte etc., mit einer alternativen Zeitsemantik ausgestattet ist. Sie stellt daher einen zeitlich beschränkten Kompensationsraum dar, der nur so lange existiert, wie das alternative Landleben gepflegt und die Idylle über die empfindsame Wahrnehmung 28Ebd., S. 18. Erhabenheitstopos vgl. Torsten Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Handke, Ransmayr, Schrott, Strauss). Berlin 2006, v. a. S. 19–68. 30Vgl. Michael Gamper: ‚Die Natur ist republikanisch.‘ Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert. Würzburg 1998, S. 264 ff. 31Hirschfeld: Das Landleben, S. 27. 32Ebd., S. 29. 33Ebd., S. 20. 34Ebd., S. 25. 29Zum 172 N. Penke erzeugt werden kann. Am Ende von Hirschfelds Ausführungen zieht der Winter heran, „der Vorhang faelt, und das Spiel der laendlichen Freuden ist geendigt“.35 Die darüber transportierten Werte und Ideale erscheinen bald als überkommen und schließlich obsolet. Die ‚heile Welt‘ wird zum einen in der Fortschreibung stereotyper Muster, zum anderen angesichts sozialer Dynamiken zunehmend unglaubwürdiger.36 Ihre Ausrichtung auf das kleine, häusliche Glück in der biedermeierlichen Selbstbescheidung tritt angesichts neuer Semantiken, die durch zunehmende Technisierung und Urbanisierung, aber auch psychoanalytischer und kulturkritischer Reflexionen der Moderne und des Menschen befördert werden, zurück. Gegen 1900 bleibt der Idyllendichtung also, um mit Renate Böschenstein-Schäfer zu sprechen, die Entscheidung zwischen dem Bewusstsein für die „Gebrochenheit“ der Gattung oder einem Festhalten an ihren Mustern im Modus „flagranter Unwahrhaftigkeit“.37 Versteht man die Gattungsgeschichte der Idylle zudem als Ursprungsgeschichte des bürgerlichen Bewusstseins in Deutschland,38 dessen Emanzipation im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzogen wird, rücken die Figuren Eduard von Keyserlings, die in der Peripherie ansässigen Adeligen, in zweifacher Hinsicht auf einen rettungslosen Posten. Sie sind nicht nur räumlich abgeschieden, sondern stehen zudem unter der Bedrohung, auch ständisch überholt und abgehängt zu werden. Auf die Idylle als bürgerliche Gattung übertragen hieße dies: Das Glücksversprechen gilt jenen, die den gesellschaftlichen Aufstieg vollziehen, nicht jenen, die diese gesellschaftliche Dynamik reziprok als Abstieg erfahren. Von dieser Umwertung erzählt Keyserling, mit den motivischen und narrativen Mitteln der Idylle, gegen die ideologische Konzeption der Idylle. Das Landhaus (1913) als Fluchtort Keyserlings am 24.09.1913 in der Neuen Freien Presse veröffentlichte Erzählung Das Landhaus wiederholt die strukturelle Opposition aus Hirschfelds Landleben. Das Land ist auch hier Gegenentwurf zur Stadt und Sehnsuchtsraum der Protagonistin. Dieser Raum wird jedoch mit gänzlich anderen Intentionen aufgesucht. Die depressive Alda, in deren Namen bereits Adel und Alter miteinander verknüpft sind, flieht nach einem Ball erschöpft aus der Stadt. Sie will „ganz fort in ihre ländliche Einsamkeit“,39 um sich dort, so der Vorsatz, in ihrem Landhaus das Leben zu nehmen. Das Dasein in der Stadt ist gekennzeichnet von Langeweile, Müdigkeit und Überdruss, die Alda jede Tätigkeit unmöglich machen, in einem 35Ebd., S. 227. Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 143 ff. 37Ebd., S. 143. 38Vgl. Schneider: „Die sanfte Utopie“, S. 367. 39Eduard von Keyserling: „Das Landhaus“. In: Ders.: Sommergeschichten. Hg. von Klaus Gräbner. Frankfurt/M. 1991, S. 70–82, hier S. 71. 36Vgl. Landhaus und Landleben 173 „Leben, das häßlich und widerwärtig war, das ihr vor Ekel die Kehle zusammenschnürte“.40 Ihr Mann, von dem sie emotional deutlich entfremdet ist, tut ihren „Einsamkeitsfanatismus“ als eine der typischen „romantische[n] Capricen der Frauen“41 ab, lässt sie aber alleine abreisen. In der Erzählung ist das Landhaus nicht als Ort der Geselligkeit entworfen, sondern konträr als Fluchtpunkt, um in der „ländliche[n] Einsamkeit“ auf Distanz zu gehen und gerade „ein wenig weit von uns anderen zu sein“.42 Alda beschreibt sich selbst als „so unglücklich, wie nie ein Mensch es war, so unglücklich zu sein erträgt kein Mensch, und ich ertrage es auch nicht“; ihr Ausweg ist das Morphium, nach dessen Einnahme „[sieht] man Sonnen und Sterne und schläft ein“. In „den Nebeln der Einsamkeit“ des Landhauses, so hofft sie, „sollte es geschehen.“43 Doch auf dem Land angekommen wird Aldas Vorsatz bald zunichtegemacht. Die alte, lebenspraktische Amme schimpft über die „Stadtdummheiten“44 und trägt damit ebenso zur Läuterung Aldas bei wie die dortigen Naturerfahrungen. Das Landleben ist gekennzeichnet durch ein harmonisches Dasein aller inmitten einer geordneten Welt, die durch ihre auffällige Farbigkeit besticht. Das Gelb des Strohs und der Sonne, das Braun der Kühe und der durch die Feldarbeit gebräunten Gesichter treten in Opposition zu den Farben des Stadtlebens, Grau und Weiß. Das Glück des Landlebens wird zumindest als Möglichkeit eröffnet. Gelächter, der Geruch des Frühlings, Lust und Sonnenstrahlen sind seine Indizien, aber „[w]as hatte sie mit dem, was lustig war, zu tun. Zu ihr gehörte ja diese Alda mit ihrem Unglück, ihrer Schuld, ihrem Schmerz, ihrem dunklen, unheimlichen Vorhaben.“45 Daher gelingen ihr die vollständige Gesundung und der Übertritt in die Sphäre der Zufriedenheit nicht. Eine Reihe von Konjunktiven verdeutlicht, dass es weiterhin ein Hindernis gibt, „als stünde etwas da, das sie zu dieser Behaglichkeit und Gemütlichkeit nicht hineinließ.“46 Dennoch ist das Landhaus ohne Einschränkung positiv konnotiert; dort „gab [es] vielleicht eine kleine Ferienzeit im Unglück, in dem furchtbaren Schicksal, das zu ihr gehörte“, die es ihr erlaubte, „für eine kleine Weile“47 den Schmerz und ihr Vorhaben „ein wenig beiseite legen, wie wir ein Buch beiseite legen für kurze Zeit“.48 Das momenthafte Aufscheinen von Glück besteht in der Abwesenheit von Unglück, das vorübergehend durch das „Festtagsgefühl“ vertrieben wird. Das Sonnenlicht „liebkoste und schmückte“, Alda „öffnete die Lippen, als sollte 40Ebd., 41Ebd., S. 72. S. 71. 42Ebd. 43Ebd., S. 73. S. 76. 45Ebd., S. 78. 46Ebd., S. 76. 47Ebd., S. 79. 48Ebd., S. 78. 44Ebd., 174 N. Penke dieses Licht ganz in sie hineinfließen. Wie schön, wie schön! fühlte sie.“49 Es sind dieselben Erlebnispotenziale und Eindrücke, wie sie bei Hirschfeld beschrieben werden: optische, olfaktorische, thermische und akustische. Zu den letzteren Sinneswahrnehmungen tragen die Stare durch ihr Flügelschlagen und ihren Pfeifgesang bei,50 die Alda ins Leben zurückholen, auch wenn ihre innere Disposition ein unbefangenes Glücklichsein verhindert. Letztlich setzt sie ihren Plan aber nicht um, denn „dieses Leben hielt sie unbezwinglich fest, sie gehörte zu ihm, was es ihr auch antun mochte. Man lebt so oder so, […] aber man lebt – man kann nicht anders.“51 Dieses Landhaus markiert zwar auch eine Gegenwelt zur Stadt; sie wird aber über Einsamkeit anstelle von Geselligkeit eingeführt, der Suizidvorsatz Aldas steht der Suche nach Vergnügungen deutlich entgegen. Obwohl die Erzählung eine Reihe positiver Effekte des Landlebens beschreibt, die Alda zumindest „Ferien“ von ihrem Unglück bescheren, wird es nicht in Gänze idyllisch verklärt. Das wohlige Gefühl, das „wie schön“-Erlebnis, währt nur einen kurzen Moment. Die Menschen werden dort keine anderen als sie es in der Stadt waren. Sie werden allerdings stärker in natürliche Kreisläufe – der Tages- und Jahreszeiten, von Saat und Ernte, von vegetativem Leben und Tod – eingebunden. Dieser blinde ‚Wille‘,52 der sich unverstellter äußert und die Sinne starken Reizen aussetzt, nimmt den Figuren ihre Handlungsmacht. Das Leben als Prinzip erscheint auf dem Land ohne Alternative; der Selbstgenuss der Figuren und das Glück in der empfindsamen Betrachtung stellt sich jedoch nur ausnahmsweise ein. Das Landleben wird in Keyserlings Landhaus nicht mehr idyllisch überformt, sondern durch das Wirken einer besonderen Lebenskraft vitalistisch53 grundiert. Kollektiver Untergang: Abendliche Häuser (1914) Viele der Motive und Strukturen, die Abendliche Häuser bestimmen, sind auch in anderen Texten Keyserlings vorhanden: Die Opposition von Stadt und Land, Generationen- und Standeskonflikte und ein kollektives Warten im schleichenden Niedergang einer spezifischen Adelskultur bestimmen auch Beate und Mareile, Harmonie, Fürstinnen und Schwüle Tage. In allen diesen Texten Keyserlings 49Ebd., S. 81. ebd., S. 79. 51Ebd., S. 82. 52Vgl. Niels Penke: „Welle und Wille. Schopenhauer bei Herman Bang und Eduard von Keyserling“. In: Søren Fauth/Gisli Magnusson (Hg.): Influx. Der deutsch-skandinavische Kultur-Austausch um 1900. Würzburg 2014, S. 291–303. 53Vgl. allgemein Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt/M. 2001, v. a. S. 63–69. Zur allgemeinen Konzepten und Motiven der ‚Vitalisierung‘ bei Keyserling vgl. Barbara Guilliard: Differierende Formen des Genießens in Eduard von Keyserlings ‚Schlossgeschichten‘. Frankfurt/M. 2010, v. a. S. 11 ff. und 68 ff. 50Vgl. Landhaus und Landleben 175 werden Prozesse und strukturelle Probleme verhandelt, die zwar genau genommen die gesamte Moderne betreffen,54 aber mit dem Fokus auf einen bestimmten Gesellschaftstyp in extremis erscheinen. In Abendliche Häuser treten diese Konstellationen in besonders konzentrierter Form auf. Die Untergangsthematik ist dabei auch am deutlichsten ausgeprägt, wenngleich Keyserlings Material, seine Figuren und Handlungsorte, sich aus denselben Beständen zusammensetzen wie Hirschfelds Landleben. Die entscheidenden Parameter der dabei vorgenommenen Umcodierung sind in der Raum- und Zeitsemantik sowie in den intergenerationellen Konflikten der Hauptfiguren zu finden. Der Roman beschreibt bereits zu Beginn eine umfassende Entlebendigung: Es war im Landhaus der von der Warthes in Paduren „recht still geworden, seit so viel Unglück dort eingekehrt war“.55 Die ersten Eindrücke sind entlaubte Bäume und Nebelkrähen in einer die Häuser umschließenden Natur, die ansonsten nur noch wenige Zeichen von aktivem Leben zeigt. Im kalten November hat sich das Dasein der Figuren weitestgehend ins Innere verlegt. Dort gibt es weder Eile noch berichtenswerte Geschäftigkeit, nur eine große Müdigkeit, die sich von den adligen Grundbesitzern über das Personal bis zu den Hunden erstreckt.56 Der Text konfrontiert den Leser mit den Folgen eines gravierenden Umbruchs. „Und doch vor wenigen Wochen noch war Paduren die Hochburg des adeligen Lebens in dieser Gegend gewesen.“57 Der Niedergang ist unmittelbar mit den männlichen Figuren verknüpft. Nach dem Tod seines Sohnes Bolko, dem designierten Stammhalter, der bei einem Duell getötet wurde, ist auch der alte Baron von der Warthe stark eingeschränkt und sitzt nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. Der Patriarch, der ansonsten „streng darüber [wachte], daß gute alt-edelmännische Sitte hier nicht in Verfall geriet“,58 ist nunmehr entmachtet. Vor dem Hintergrund dieser bereits eingetretenen Katastrophe werden die zentralen (Problem-)Konstellationen entfaltet: der verschiedenen Familien zueinander, innerhalb der Familien zwischen zwei Generationen sowie den auseinanderfallenden kulturellen und ökonomischen Interessen. Die Bilanz der jungen Generation ist in Differenz zu der ihrer Eltern fatal. Fastrade, die Tochter der von der Warthes, steht im Fokus des Erzählers. Zunächst ging sie, gleichsam als Inversion von Jakob Michael Reinhold Lenz’ Hofmeister, eine Mesalliance mit dem Hauslehrer ein, dem sie nach Hamburg folgte, um ihn dort bis zu seinem Tod zu pflegen. Sie ist nur aus Mitleid zu ihrem Vater zurückkehrt und nimmt nun für ihn einige Aufgaben wahr, die ansonsten ihrem Bruder Bolko zugefallen wären. Darunter ist auch die Verwaltung der Ländereien. Zu 54Vgl. Helmuth Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, v. a. S. 13–33. 55Eduard von Keyserling: Abendliche Häuser. Mit einem Nachwort von Helmut Bachmaier. München 1998, S. 7. 56Vgl. ebd. 57Ebd., S. 8. 58Ebd. 176 N. Penke diesem Zweck fährt sie mit in den Wald, der vermessen werden soll. Die entsprechende Szene ist von zentraler Bedeutung für die Gesamtkomposition der Abendlichen Häuser. Nicht nur kommen hier alle jüngeren Figuren zusammen, so dass ihre problematischen Verbindungen offenbar werden, sondern auch die Anzeichen dafür, dass es sich bei ihnen um ein Kollektiv ohne Hoffnungen handelt, werden deutlich. Neben Fastrade ist zunächst auch der junge Baron Dietz von Egloff vom benachbarten Gut Sirow dort; er will ein Waldstück aus Familienbesitz abholzen lassen, aber zuvor anhand der Pläne den genauen Grenzverlauf prüfen, damit nicht versehentlich Bestände der von der Warthes gefällt werden. Mit dem Verkauf des Waldes, einem eigentlich schönen und potenziell idyllischen Ort, will Dietz von Egloff seine Spielschulden begleichen. Was also unter veränderten Vorzeichen locus amoenus sein und geselliges Miteinander wie bei Hirschfeld bedeuten könnte, symbolisiert hier in der Abholzung die gesamte Misere der jungen Adelsgeneration. Von dieser finden sich auch noch Gertrud, die jüngste Tochter des Barons Port sowie das Ehepaar Fritz und Lydia von Dachhausen ein. Gertrud war nach Dresden gegangen, um Gesang zu studieren. Was ihre Eltern und die befreundeten von der Warthes als ungehörig empfunden haben, hat sie krank gemacht – die Ausbildung musste sie aufgrund eines Nervenleidens aufgeben. Fritz Baron von Dachhausen hat zwar mit Lydia eine standesgemäß auftretende Frau geheiratet, die älteren Aristokraten schauen jedoch auf sie herab, weil sie nur die Tochter eines Fabrikanten ist und den Adelstitel erst mit der Eheschließung erwarb. Dietz von Egloff schlägt dieser im Wald versammelten Runde vor, auf der Lichtung bei den „schönsten Farben“ des „Abendrot[s]“, die synästhetisch zur „schönsten Musik“ werden, eine Quadrille zu tanzen.59 In der Feier dieses Moments wird für kurze Zeit eine besondere Art von Gemeinschaft gestiftet, die aufgrund ihrer Exklusivität aber keine idyllische ist. Fritz von Dachhausen beteiligt sich zwar am Tanz, lässt aber seine Frau Lydia wegen ihres schweren Wintermantels im Schlitten sitzen – die marmorne, kalte Lydia, „die ist Großstadt, die ist Grandmonde“60 und soll sich nicht erhitzen. Sie unterhält zudem eine Affäre zu Dietz von Egloff, der sich hingegen in Fastrade verliebt. Dachhausen tanzt mit Gertrud, die heimlich in Egloff verliebt ist – eine spannungsreiche Konstellation unglücklicher Verliebtheiten und Beziehungen, die allesamt keine Erfüllung finden. Lydia ist in der Tanzszene die ausgeschlossene Beobachterin und zugleich die einzige, die um die persönlichen Verflechtungen weiß. Auch stört sie durch ihr Weinen die Eintracht des sonstigen Glücksmoments. Dieser ist durch das „Abendrot“ zudem als ephemer markiert – schon bald folgt ihm der (Sonnen-)Untergang. Der spontane Tanz wird später vom Baron Port getadelt und als Ausdruck einer Zeitenwende verstanden: 59Ebd., 60Ebd., S. 58. S. 110. Landhaus und Landleben 177 Ich möchte wissen, wer diese neue Art der Geselligkeit hier bei uns importiert hat. Hat die Fastrade sie aus dem Krankenhause mitgebracht oder du [Gertrud] aus der Singschule, oder hat der Dietz Egloff sie von seinen Portugiesen und Polacken gelernt? Für Krankenschwestern, Sängerinnen und Portugiesen sind sie vielleicht passend, für unsere Fräuleins passen sie mir nicht.61 Der Baron Port ist es auch, der die äußeren Einflüsse und das Neue am deutlichsten bemerkt und kritisch thematisiert. Er berichtet von einem Mittagessen bei Dachhausens: Gut, es wird also ein Rehbraten serviert, einer unserer ehrlichen, heimatlichen Böcke, aber ringsum auf derselben Schüssel liegen so halbe Orangenschalen voll Orangegefrorenem, so das süße Zeug, das man beim Konditor kriegt. […] In Berlin und Paris versucht man mal so abenteuerliches Zeug, aber hier bei uns – ich kann mir nicht helfen, mir kommt so was pervers vor.62 Die Alten empfinden vieles, was die Jüngeren in der „neue[n] Zeit“63 praktizieren oder was diese auszeichnet, als Perversionen, als Anzeichen einer verkehrten Welt. Die junge Generation hat „Ansichten“,64 aber keine Grundsätze mehr. Sie liebt schwärmerisch, nicht aber pragmatisch, sie spielt und entwickelt künstlerische Neigungen, richtet sich aber dadurch zu Grunde. Der ruinöse Lebensstil wird mit der Großstadt assoziiert, die krank an Geist und Körper macht und die Entfremdung befördert: „Keine will auf dem Posten bleiben.“65 Demgegenüber ist die Ordnung der Alten, die sich auf individueller Ebene als Haltung und Stil artikuliert, in schleichender Auflösung begriffen. Besonders deutlich werden diese Differenzen, als Dietz von Egloff um Fastrades Hand anhält und damit eine Reihe destruktiver Ereignisse ausgelöst wird. Obwohl der alte Baron wenig vom verantwortungslosen Spieler Egloff hält, entscheidet sich Fastrade für ihn. Im Zuge der Eheanbahnung wird Egloffs Beziehung zu Lydia Dachhausen ihrem Ehemann bekannt, der sich darauf mit Egloff duelliert und erschossen wird. Was Dachhausen als Ehrensache im Einverständnis mit den allgemeinen Konventionen angeht – „die Männer haben ihre Gesetze, das muss getragen werden“66 –, ist für Egloff als „widerwärtige Komödie“67 eine sinnlose Handlung, die einzig zerstörerische Wirkung hat. Der tödliche Treffer wird als ungewollter Zufall begriffen, weist jedoch erzähllogisch auf eine über-individuelle 61Ebd., 62Ebd., S. 63. S. 18. 63Ebd. 64Ebd., S. 9. S. 18. 66Ebd., S. 135 f. 67Ebd., S. 142. 65Ebd., 178 N. Penke schicksalshafte Notwendigkeit des Zuendegehens hin. Fastrade löst anschließend die Verlobung und kappt damit eine weitere Perspektive für die Zukunft. Egloff erschießt sich letztlich und Fastrade kultiviert ihren „Schmerz“ als „ihr heiligstes Erlebnis“.68 Damit ist besiegelt, dass es für die Familien ohne männliche Nachkommen kein Fortbestehen geben wird, und trotzdem sind die Alten froh, dass letztlich wieder Ruhe einkehrt. „Gott sei Dank ist hier alles wieder ruhig“, denn man will nichts Anderes, als „Ruhe im windstillen Winkel.“69 Mit Ausnahme von Fastrade sind am Ende des Romans alle Vertreter und Vertreterinnen der jüngeren Generation tot, oder so krank – „die Nerven kaputt, zerzaust wie die Hühner nach dem Regen“70 –, dass sie das Erbe selbst dann nicht weiterführen könnten, wenn sie es wollten. Während die Jungen aufgrund ihrer Nerven in vielen Lebenslagen „wackeln“, wussten die „alten Herrschaften“ von der „moderne[n] Erfindung“ dieser Nerven noch „nichts“.71 Die Jungen können daher kein „Bollwerk gegen die neuen, zerstörenden Ideen“ sein, weil sie ihnen längst verfallen sind und der „alten[n] bewährten Traditionen“ verlustig gegangen sind.72 Der Roman macht dadurch nur allzu deutlich, dass es im „windstillen Winkel“ keine Hoffnung auf ein Weiterleben der etablierten Familien und ihrer Lebensformen mehr gibt. Im Hause der von der Warthes war es nunmehr „die Aufgabe eines jeden […] stillzusitzen, bis man abberufen wurde“.73 Dabei ist die durch die ältere Generation verkörperte alte Welt ebenfalls nicht mehr idyllentauglich. Sie ist der Vergangenheit verhaftet, auf deren Grundlage sich „ein Leben geregelter Wohlhabenheit behaglich abspann“,74 verzichtet jedoch in der Gegenwart auf jedes „Glück“ und sitzt „still“.75 Die Alten gehen langsam zu Grunde, erleiden Schlaganfälle, erblinden und dämmern in Erinnerung versunken ihrem Ende entgegen. Die Jüngeren hingegen richten sich durch ihren ungesunden Lebenswandel zu Grunde und vereinsamen; auch, weil es für urbane Lebensstile, für lockere Affären, Glücksspiel und eine rauschhafte Feierkultur auf den Landgütern keinen Platz zur Entfaltung gibt: „Hier setzt man sich mit Gespenstern zu Tisch.“76 Und für die Spieler wird das Glück zur „Kanaille“.77 Die Opposition zu Paris und Berlin wird daher immer wieder betont – beim Essen, bei der Kleidung oder sonstigen Rede- und Verhaltensweisen –, das moderne Leben, das als verführerisches, wenn auch gefährliches Ideal 68Ebd., S. 154. 69Ebd. 70Ebd., S. 18. ebd., S. 89. 72Ebd., S. 113. 73Ebd., S. 62. 74Ebd., S. 10. 75Ebd., S. 62. 76Ebd., S. 82. 77Ebd., S. 121. 71Vgl. Landhaus und Landleben 179 erscheint, findet anderswo statt. Das Leben der Gezeichneten „vergeht in Müdigkeit und Melancholie“.78 Während die Generation der Eltern um Erhalt und Traditionspflege bemüht ist, begehrt die nächste dagegen auf. Sie eröffnet damit allerdings keine lebbaren neuen Perspektiven, sondern beschleunigt den Niedergang der adeligen Lebensform, gerade weil sie keinerlei Bestandssicherung zu leisten vermag. Zukunft im emphatischen Sinn gibt es folglich nicht, nur Gegenwart und Vergangenheit. Abendliche Häuser ist darin von einer besonderen chronotopischen Struktur bestimmt. Diese verbindet den konkret identifizierbaren Raum mit einer Zeitsemantik, die Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschränkt. Hier liegt ein erster Bruch mit den Formen der Idylle vor, die insofern gestört werden, als die Vergangenheit keine mythische oder vor-zeitliche ist, sondern eine, die durch die Erinnerung – „Kindererinnerungen“79 – in die Gegenwart hinein wirkt. Im Abgleich mit den Veränderungen und Neuerungen zeigt sie stets die bessere, die ‚heilere‘ Welt. Zeit wird somit nur als Verfallsgeschichte sichtbar. Die Gegenwart ist nicht abgeschlossen, sondern eben von dieser besseren Vergangenheit überschattet – sie kann daher nicht im Zeichen von Glück in der Beschränkung stehen, sondern lediglich im Unglück. Dieses Unglück ist wiederum aus zweierlei Gründen nicht mehr umzukehren, da sich die Alten einerseits im Warten eingerichtet haben und die Jungen frühe Tode sterben, und weil andererseits der Fokus, beim Titel angefangen und auf Ebene der Erzählinstanz fortgesetzt, auf den Häusern liegt, die unverrückbar in eine Landschaft integriert sind. Es sind nicht die Figuren, wie die jeweils titelgebenden Beate und Mareile (1909), Fürstinnen (1917) oder Feiertagskinder (1918), die das zentrale strukturierende Moment darstellen, sondern die angestammten und ‚abendlich‘ codierten Familiensitze, die ihren Status als Peripherie nicht ändern können, sondern schlichtweg verharren müssen. Sie symbolisieren die „bewußte Abschirmung von der politischen Realität und [sind] zugleich Ausdruck für die Rückwärtsgewandheit der Lebensphilosophie [ihrer] Bewohner.“80 Als Abendliche Häuser rücken die angestammten Familiensitze des ostelbischen Adels am Vorabend des Ersten Weltkriegs letztmals ins Zentrum der literarischen Aufmerksamkeit, ehe sie nach dem Krieg ihre Relevanz bald endgültig verlieren. Die Schlossgeschichte, die letztmals eine „mikrokosmische Totalität“ restituiert, die in „der Wirklichkeit unwiederbringlich verloren ist“,81 so Helmut Bachmaier, kann daher „keine harmonischen Lebensidyllen“82 mehr vorspiegeln. Die jungen Adeligen sind dadurch allesamt in zweifacher Hinsicht Vertreter einer Décadence, die dadurch gekennzeichnet ist, „daß das Leben nicht 78Ebd., S. 72. S. 128. 80Helmut Bachmaier: „Die Grazie des Plauderns. Ein Nachwort“. In: Eduard von Keyserling: Abendliche Häuser. München 1998, S. 156–182, hier S. 161. 81Ebd., S. 173. 82Ebd., S. 164. 79Ebd., 180 N. Penke mehr im Ganzen wohnt“, dass sich Einzelteile in der „Anarchie der Atome“ verselbstständigen: „Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.“83 Seine Attribute sind „Lähmung, Mühsal, Erstarrung“.84 Ein Artefakt, das sich nur noch der „Stimmung“85 überlässt, das sich zudem verzettelt und zersplittert, das keine Haltung mehr kennt und nicht mehr handlungsfähig ist. Dieser Befund lässt sich sowohl auf Keyserlings Figuren wenden wie auch auf seinen Umgang mit Material und Struktur der Idylle. Wurde das Landhaus als Oppositionsraum in Hirschfelds Landleben noch als Garant eines erfüllten Daseins gepriesen, das den Privilegierten abseits der Städte ein unbeschwertes Landleben in Aussicht stellte, werden dieselben Konstellationen bei Keyserling umcodiert und ins Negative gewendet. Standen Hirschfelds Ausführungen unter den Vorzeichen des heraufziehenden Frühlings, ist es bei Keyserling der zum Winter werdende Herbst. Anstatt einer allgemeinen Wiedergeburt und eines freudigen neuen Lebens, die als Vorboten des zu empfindenden Glücks figurieren, gerät die Ruhe der Abendlichen Häuser zum Zeichen kollektiven Niedergangs, bei dem die Jungen als erste sterben. Die resignative Beschaulichkeit ist auch in anderen Romanen und Erzählungen Keyserlings untrügliches Anzeichen dieses kollektiven Niedergangs, dem der Verlust von Glück und Sorglosigkeit bereits vorausgegangen ist. Diese Landsitze in Kurland, Brandenburg oder Ostpreußen sind keine idyllentauglichen Orte, sondern schlichtweg Standortnachteile. Der räumlichen Abgeschiedenheit und sozialen wie politischen Isolation geht die psychische Deprivation der jungen Generation einher. Die Differenzen zu Hirschfeld werden auch in diesen Figuren deutlich. Dietz Egloff und die anderen der jungen Generation sind keine empfindsamen Gemüter mehr. Fastrade als Schwärmerin hat ein „zu heißes Herz“,86 sie ist zwar fürsorglich, vermag aber angesichts des allgemeinen Leidens um sie herum auch nicht, überindividuelle Glücksmomente herzustellen. Sie selbst ist dazu disponiert, in „diesem einen farbigen Augenblicke“ eines Sonnenuntergangs „getröstet“ zu werden und für kurze Zeit „durch eine ganz rosa Welt“87 zu gehen. Diese Erfahrung kann Fastrade jedoch nicht kommunizieren, da die „ganze Feierlichkeit ihrer Stimmung“ durch den abgeholzten Wald – „als sei ein Verbrechen verübt worden“ – verdorben wird.88 Den Figuren fehlt daher die richtige, ‚mittlere‘ Anlage, 83Friedrich Nietzsche: „Der Fall Wagner“. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 6. Bd. 3: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Nachgelassene Schriften (August 1888 – Anfang Januar 1889), Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin 1969, S. 1–47, hier S. 21. 84Ebd. 85Vgl. Hermann Bahr: „Die Décadence“. In: Gotthart Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981, S. 225–231, hier S. 227. 86Keyserling: Abendliche Häuser, S. 17. 87Ebd., S. 31. 88Ebd., S. 32. Landhaus und Landleben 181 ihr Dasein und ihre Umgebung über ihren Lobpreis performativ zur Idylle zu verwandeln. Fastrade wird von den äußeren Umständen daran gehindert und auf die Rolle als die personifizierte „Einsamkeit selbst“89 zurückgeworfen. Die Verschiebung bzw. Umcodierung von Merkmalen der Idylle ist deutlich: vom Morgen und semantisch eng verwandten Frühling über den Mittag, der zeitgenössisch bei Nietzsche, Hofmannsthal und George zum Ausgangspunkt für Ausbrüche aus der geschlossenen, beengenden Welt der Idylle genutzt wird,90 zum Abend und seinem Äquivalent, dem Spätherbst des Novembers. Diesen zyklischen ‚Fortschritt‘, der ja gerade das Gegenteil ist, gehen die Figuren in ihrer Alterung sowie der Überfeinerung mit. Damit einher geht auch die Transformation des Personals. Den ‚einfachen‘, schlicht gestalteten, topischen Figuren bzw. Typen der Idylle, die z. B. über ihre handwerklichen Tätigkeiten charakterisiert werden, stehen bei Keyserling komplexe Figuren mit individuellen Charaktereigenschaften und entsprechenden Problemen gegenüber. Diese werden zum Teil als Importe aus den Metropolen vorgestellt, zum anderen aber auch als spezifische Idiosynkrasien des Adels. Sie werden auch als Entfremdungsfolgen, vor allem der jungen Generation deutlich: von der (praktischen) Arbeit, von der Bindung zur Natur und zum Boden. Der Wald, „das, was die Generationen verbindet“,91 dient nicht mehr als Bestandteil der Identität und nachhaltigen Versorgung, sondern wird zur Bühne eines kurzen soziokulturellen Intermezzos und ansonsten als Forst vermessen und kommodifiziert, sukzessive veräußert und schließlich abgeholzt. Die Leitdifferenz der Abendlichen Häuser besteht dabei zwischen Innen und Außen, wobei der erzählerische Fokus auf den Innenwelten liegt. Mit der Leitdifferenz gehen zahlreiche weitere semantische Binäroppositionen einher: Ruhe/ Bewegung, Alter/Jugend, Warten/Tätigkeit, Langsamkeit/Schnelligkeit, Geduld/ Nerven, physische/psychische Beschwerden, natürlicher/vorzeitiger Tod, Ernst und Andacht/Ironie und Schwärmerei, langweilig/interessant. Während innen alles „ruhig und glücklich“92 ist, findet „da draußen“93 das interessante Leben statt, das wiederum gerade aufgrund seiner Interessantheit auch gefährlich ist. Es ist ein „Trost“, sagt die nervenkranke Gertrud, „daß solche schöne, heiße Sachen in der Welt passieren, wenn sie auch nicht zu uns kommen. Mit dem armen Egloff und Fastrade und Lydia Dachhausen waren sie uns schon ganz nahe.“94 Wer diesem äußeren Reiz, der „Verwoehnung an betaeubende Ergoetzungen“ aus „Unruhe der Begierden“95 nachgibt, wird versehrt und verzehrt. Aber auch im Inneren der Häuser wird „alles Leidenschaftliche und Lebensvolle […] totgeschlagen“ vom 89Ebd., S. 33. Penke/Werber: „Idyllen der klassischen Moderne“. 91Keyserling: Abendliche Häuser, S. 35. 92Keyserling: Abendliche Häuser, S. 152. 93Ebd. 94Ebd. 95Vgl. Hirschfeld: Das Landleben, S. 27. 90Vgl. 182 N. Penke „Abendlichen, Großmütterlichen“.96 In der Anti-Idyllik der Abenteuerlichen Häuser ist folglich auch das „Frühlingswetter“ negativ konnotiert, es ist „giftig“.97 Diesem vorwärtsdrängenden, den Fortschritt in jeder Hinsicht vollziehenden Leben, das sich anderswo entfaltet und dessen Einflüsse nur als Defekte sichtbar werden, stehen die Alten mit einer Haltung gegenüber, die, wie Helmut Bachmaier schreibt, ihr Dasein als sinnlos entlarvt. Langeweile und Warten seien „mehr als nur gewöhnliche Situationen des Alltags; sie verweisen auf einen erheblichen Mangel an Sinn und Erfüllung des Daseins.“98 Dieses Abwarten ist in individueller wie in allgemeiner Perspektive ein Warten auf ein Ende, den Tod. Auch der jüngere Dietz Egloff erkennt die Absurdität des Verharrens. „Und dieses Warten macht uns alle zu Narren, man wartet und wartet, man tut dies und das, um sich die Zeit zu vertreiben, aber das Große, die Hauptsache, die soll noch kommen. Und die Zeit vergeht, und nichts kommt, und wir sind die Narren.“99 Im „Haus der Zuendegehenden“100 haben die letzten Repräsentanten des Adels „nichts anderes zu tun, als zu sitzen und zu warten, bis eines nach dem anderen abbröckelt.“101 Das Haus fungiert dabei stets als ein Kollektivsymbol,102 an dem der Niedergang mehr als nur eines Individuums und seines näheren persönlichen Umfelds gezeigt wird. Die Lust am Untergang Mit dieser Verfallssymbolik stehen die Abendlichen Häuser in einer Tradition mit Edgar Allan Poes Fall of the House of Usher (1839) und Thomas Manns Buddenbrooks (1901), mit denen sie auch die Metaphorik teilen. Feuchtigkeit103 und Schimmel stehen hier sowohl für den äußeren Verfall der Gebäude, als auch für den sittlichen Niedergang der jungen Generation. Da sie nicht mehr so zu leben versteht wie ihre Eltern und Großeltern, beschließt sie die Geschichte ihrer Häuser, und gleichbedeutend der Familien. Hanno Buddenbrook glaubt, „es käme nichts mehr“,104 und auch Keyserlings Figuren wissen genau, dass es zu Ende geht. Gewissermaßen ist dieses Ende verdient, da es kein Auflehnen, keinen 96Keyserling: Abendliche Häuser, S. 49. ebd., S. 100. 98Bachmaier: „Ein Nachwort“, S. 180. 99Keyserling: Abendliche Häuser, S. 42. 100Ebd., S. 68. 101Ebd., S. 21. 102Vgl. dazu Nacim Ghanbari: Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926. Berlin 2011. 103Vgl. Keyserling: Abendliche Häuser, S. 14 und 62. 104Vgl. Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 1.1: Textband. Hg. von Eckhard Heftrich. Frankfurt/M. 2002, S. 576. 97Vgl. Landhaus und Landleben 183 Behauptungswillen und keine Alternativen mehr zu einem Erbe gibt, das „alles Leben, das sich regen wollte, zum Schweigen bringt“.105 Was Keyserling am Beispiel der Abendlichen Häuser erzählt, steht im Zeichen einer, wie Friedrich Sieburg einen kollektiven Aspekt deutscher Mentalität beschrieben hat, Lust am Untergang: „Ohne Krise macht das ganze Leben kein Vergnügen. Wenn wir schon mit unserem Dasein nichts Rechtes mehr anzufangen wissen, dann wollen wir wenigstens am Ende einer weltgeschichtlichen Periode stehen. Richtig zu leben ist schwer, aber zum Untergang reicht es allemal.“106 Genau diese ausweglose Lage erzählt Keyserling mit Abendliche Häuser – sie zeugen von der Einsicht in die historische Notwendigkeit des Untergangs einer Adelsgesellschaft, der als legitim erscheint. Doch Keyserling war kein Historiker, sondern Schriftsteller, der aus diesem „still zu Ende gehende[n] Leben“107 seine Stoffe bezog. Aus dem grundsätzlichen Pessimismus und den konkreten melancholischen Stimmungen beziehen Keyserlings anonyme Erzählinstanzen ihre darstellende Kraft. Zusammen bilden sie einen konzertierten Abgesang auf eine beschränkte Welt, die vom Glück verlassen ist, und deren Bewohnern mit der empfindsamen Disposition zum Glück das entscheidende Talent fehlt, um die erzählten Welten zumindest noch für den einen Moment Idylle werden zu lassen. Aus der besonderen Beschränkung im Unglück führen indessen keine Auswege mehr hinaus. Die Welt, und sei es nun einmal in ihrem hoffnungslosen Untergang, ist mit Nietzsche vor allem als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Auch die vergehenden Welten Keyserlings, die das Potenzial zur Idylle scheinbar noch besitzen, sind schön und damit als Gegenstände eines impressionistischen Erzählens legitimiert, das auf das Momenthafte und auf Stimmungen abzielt.108 Allerdings können sie bei Keyserling keine Korrektivfunktion mehr erfüllen, so dass von ihnen keinerlei Trost mehr ausgeht. Literatur Bachmaier, Helmut: „Die Grazie des Plauderns. Ein Nachwort“. In: Eduard von Keyserling: Abendliche Häuser. München 1998, S. 156–182. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. von Edward Kowalski/Michael Wegner. Aus dem Russ. von Michael Dewey. Frankfurt/M. 1989. 105Keyserling: 106Friedrich Abendliche Häuser, S. 50. Sieburg: Die Lust am Untergang. Gespräche auf Bundesebene. Hamburg 1961, S. 36. 107Keyserling: Abendliche Häuser, S. 23. 108Zum Impressionismus bei Keyserling vgl. Petra Zaus: „‚Harmonie – Unwiederbringlich‘? Impressionistische Sprachbilder bei Fontane und Keyserling“. In: Sabine Schneider/Barbara Hunfeld (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2008, S. 361–376. 184 N. Penke Bahr, Hermann: „Die Décadence“. In: Gotthart Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981, S. 225–231. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. 2. durchges. und ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1977. Gamper, Michael: ‚Die Natur ist republikanisch.‘ Zu den ästhetischen, anthropologischen und politischen Konzepten der deutschen Gartenliteratur im 18. Jahrhundert. Würzburg 1998. Ghanbari, Nacim: Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926. Berlin 2011. Guilliard, Barbara: Differierende Formen des Genießens in Eduard von Keyserlings ‚Schlossgeschichten‘. Frankfurt/M. 2010. Häntzschel, Günter: „Idylle“. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2: H – O. Berlin 2000, S. 122–125. Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Das Landleben. 3. verbesserte Auflage. Frankfurt/Leipzig 1787. Hoffmann, Torsten: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Handke, Ransmayr, Schrott, Strauss). Berlin 2006. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hg. von Norbert Miller. Darmstadt 2000, S. 7–456. Keyserling, Eduard von: „Das Landhaus“. In: Ders.: Sommergeschichten. Hg. von Klaus Gräbner. Frankfurt/M. 1991, S. 70–82. Keyserling, Eduard von: Abendliche Häuser. Mit einem Nachwort von Helmut Bachmaier. München 1998. Kiesel, Helmut: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe: Werke, Briefe, Tagebücher. Bd. 1.1: Textband. Hg. und textkritisch durchges. von Eckhard Heftrich. Frankfurt/M. 2002. Nietzsche, Friedrich: „Der Fall Wagner“. In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abt. 6. Bd. 3: Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Nachgelassene Schriften (August 1888 – Anfang Januar 1889), Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner. Hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin 1969, S. 1–47. Penke, Niels: „Welle und Wille. Schopenhauer bei Herman Bang und Eduard von Keyserling“. In: Søren Fauth/Gisli Magnusson (Hg.): Influx. Der deutsch-skandinavische Kultur-Austausch um 1900. Würzburg 2014, S. 291–303. Penke, Niels/Werber, Niels: „Idyllen der klassischen Moderne“. In: Jan Gerstner/Jakob C. Heller/ Christian Schmitt (Hg.): Handbuch Idylle. Traditionen – Verfahren – Theorien. Stuttgart 2020 (im Druck). Sarasin, Philipp: Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765–1914. Frankfurt/M. 2001. Schmidt, Ernst A.: Sabinum. Horaz und sein Landgut im Licenzatal. Heidelberg 1997. Schneider, Helmut J.: „Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder“. In: Ders. (Hg.): Idyllen der Deutschen. Texte und Illustrationen. Frankfurt/M. 1978, S. 353–423. Schwidtal, Michael: „Herrschaften ohne Hoffnung. Sterbende Geschlechter bei Herman Bang und Eduard von Keyserling“. In: Ders./Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Heidelberg 2007, S. 241–252. Sieburg, Friedrich: Die Lust am Untergang. Gespräche auf Bundesebene. Reinbek bei Hamburg 1961. Zaus, Petra: „‚Harmonie – Unwiederbringlich‘? Impressionistische Sprachbilder bei Fontane und Keyserling“. In: Sabine Schneider/Barbara Hunfeld (Hg.): Die Dinge und die Zeichen. Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Würzburg 2008, S. 361–376. Themen, Schreibweisen, Adaptionen Landschaftsbild und Stimmung Eduard von Keyserlings Kunstkritik als Werkpoetik Patrick Fortmann Landschaftsmaler und Stimmungskünstler Keyserling Wie so viele Schriftsteller der klassischen Moderne steht auch Eduard von Keyserling im Bann der Bilder.1 Anders als die spektakulären Sprach- und Formexperimente von Autoren wie Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke oder Robert Musil, mit denen sich die Forschung im Horizont des Visual Turn ausgiebig beschäftigt hat, hat Keyserlings Begegnung mit der Malerei um 1900 aber vergleichsweise wenig Beachtung gefunden. Auch darin kann man durchaus eine Bestätigung von Jens Malte Fischers vielzitierter Einschätzung sehen, dass Keyserling der „wahrscheinlich unbekannteste große deutsche Erzähler“ des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sei.2 Gleichwohl erstaunt die Vernachlässigung eines Werks, das schon die Zeitgenossen durch seine hervorstechende Bildlichkeit charakterisiert gesehen haben. Herman Bang beispielsweise, den Thomas Mann gelegentlich mit Keyserling verglichen hat, stellt schon 1912 fest, Keyserlings Stil beschwöre, ähnlich wie der Turgenjews, „ein melancholisches Silbergrau“ herauf 1Vgl. die grundlegenden Arbeiten von Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen 2006 und Ursula Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg/Br. 2000. 2Jens Malte Fischer: „Rezension von Eduard von Keyserling: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973“. In: Germanistik 15 (1974), S. 984 f., hier S. 984. P. Fortmann (*) University of Illinois at Chicago, Chicago, USA E-Mail: fortmann@uic.edu © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_12 187 188 P. Fortmann und wirke wie „das gleitende leise Singen eines Flusses, wenn es dämmert“.3 Thomas Mann, der im Auftrag der Frankfurter Zeitung einen Nachruf auf Keyserling verfasst, spricht vergleichbar davon, dass dieser „die Verklärung und melancholische Ironisierung, die Kunstwerdung seines feudalen Heimatmilieus“ betreibe, um sodann im Vergleich mit Fontane zu präzisieren: „Eine sehr ähnliche geistige Stimmung bei beiden, Skepsis und Resignation. Dieselbe Grazie des Plauderns, eine gehobene Lässigkeit“.4 Mit diesem Hinweis macht Thomas Mann nicht nur einen in der Folge immer wieder bemühten Referenzautor aus der deutschen Literaturgeschichte namhaft, er gibt außerdem eine weitere Qualität von Keyserlings literarischen Texten zu erkennen, die sich auch bei Bang schon abzeichnet: die Stimmung. Auch für die Stimmungsästhetik, die unlängst eine Renaissance erlebt hat, wäre Keyserling noch zu entdecken.5 Mehr noch: Tatsächlich scheint es gerade die Verbindung der beiden Dimensionen zu sein, die Keyserlings Schriften auszeichnet. Und nicht nur die Zeitgenossen bemerken den Zusammenhang. Wie ein roter Faden ziehen sich die Verweise auf die ausgeprägte Bildlichkeit und die ganz eigentümliche Stimmungslage durch die Rezeptionsgeschichte dieses so oft vergessenen wie neu entdeckten Autors. Das einfühlsame Nachwort von Florian Illies für die Jubiläumsausgabe der Erzählungen markiert wohl nur einen vorläufigen Abschluss dieser wellenförmigen Rezeptionsgeschichte. Bezeichnenderweise endet es mit dem Anliegen, die gegenwärtige Leserschaft auf Keyserling gleichsam einzustimmen. Aus dem Abstand eines Jahrhunderts empfiehlt Illies dessen Erzählungen so zu behandeln, als wären sie ein sonnenbeschienener See an einem Spätsommertag. Man taucht ein, ist verwirrt, wie jäh sich kühle und warme Stellen im Wasser abwechseln, freut sich an den träge dahintreibenden Seerosen, an der Stille, an der Tiefe. Dann schwimmt man ein paar Züge und lässt sich auf dem Rücken treiben, endlos. Oben ein Bussard. Und eine Wolke.6 Mit diesem Landschaftsbild, das als Schlussvignette recht gefällig an wiedererkennbare Landschaftserfahrungen der gegenwärtigen Freizeitkultur anschließt, ist 3Herman Bang: „Graf Eduard Keyserling“. In: Die neue Rundschau 23 (1912), S. 427–430, hier S. 427. 4Thomas Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“. In: Ders.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hg. von Heinrich Detering u. a. 38 Bde. Frankfurt/M. 2001 ff. Bd. 15.1: Essays II 1914–1926. Hg. von Herman Kurzke. 2002, S. 223–227, hier S. 224 f. Vgl. Rüdiger Görner: „Adel des Erzählens. Thomas Manns Interesse an Eduard von Keyserling“. In: Ders.: Thomas Manns erzählte Welt. Studien zu einem Verfahren. Stuttgart 2018, S. 107–116. 5Vgl. die Pionierarbeit eines begriffsgeschichtlichen Aufrisses bei David E. Wellbery: „Stimmung“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch. Bd. 5: Postmoderne – Synästhesie. Hg. von Karl-Heinz Barck. Stuttgart/Weimar 2003, S. 703–733. 6Florian Illies: „Abende mit Keyserling. Eine kleine Gebrauchsanleitung“. In: Eduard von Keyserling: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. München 2018, S. 711– 717, hier S. 717. Landschaftsbild und Stimmung 189 Keyserling als Bildkünstler und Stimmungsschriftsteller ins 21. Jahrhundert eingeordnet. Um die auffällige Verbindung von Landschaftsbild und Stimmung bei Eduard von Keyserling, die die populäre Kritik wiederholt zur Sprache gebracht hat, die aber bisher nicht zum Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung geworden ist, soll es im Folgenden gehen. Konzentrieren will sich der vorliegende Beitrag dabei auf die bislang wenig beachteten Kunstessays, Kritiken und Ausstellungsbesprechungen, die Keyserling während seines ersten Jahrzehnts in München geschrieben hat. Zwischen seiner Übersiedlung in das Bohemeviertel Schwabing 1895 und seiner vollständigen Erblindung im Winter 1905/6 ist parallel zum literarischen Schaffen ein kunstkritisches Œuvre entstanden, das noch weitgehend unerschlossen ist. Die Abhandlungen in der avantgardistischen Zeitschrift Kunst und Künstler und dem Wochenblatt Die Freistatt sind zwar seit längerem bekannt.7 Dazu kommen aber eine Reihe von Artikeln, die Keyserling zum Teil früher meist in Beilagen zur Allgemeinen Zeitung und zum Teil später als Münchner Feuilletonkorrespondent für die Berliner Zeitung Der Tag verfasst hat. Gerade von den Zeitungsartikeln hat die Forschung bislang kaum Notiz genommen.8 Werden die Beiträge im Zusammenhang gelesen, so zeigt sich, dass die kunstkritischen Arbeiten mehr sind als gelegentliche Grenzüberschreitungen eines Literaten zur Welt der Bilder. Die Auseinandersetzung mit dem anderen Medium der Kunst und den Stimmungspotenzialen, die es freisetzt, dient vielmehr der schriftstellerischen Selbstverständigung. Keyserlings Kunstkritik, ließe sich zugespitzt sagen, formuliert einen poetologischen Kommentar zu seinem literarischen Werk und liefert damit zentrale Begriffe zu dessen Interpretation.9 7Eduard von Keyserling: „Eindrücke von der Frühjahrsausstellung der Münchner Secession“. In: Freistatt 5 (1903), 267–269; Eduard von Keyserling: „Ausstellung der Münchener Secession“. In: Kunst und Künstler 2 (1904), S. 446–454; Eduard von Keyserling: „Die Schwind-Ausstellung in München“. In: Kunst und Künstler 2 (1904), S. 298–299; Eduard von Keyserling: „Fritz von Uhde“. In: Kunst und Künstler 3 (1905), S. 269–285; Eduard von Keyserling: „Aus München“. In: Kunst und Künstler 3 (1905), S. 396. 8Die Artikel werden im Folgenden in den Fußnoten nachgewiesen. Weitere Funde sind wohl zu erwarten. 9Der hier vorgeschlagene Neuansatz lässt bestimmte Vorlieben der Keyserlingforschung eher in den Hintergrund treten. Dazu zählt das anhaltende Interesse an Farbe und Licht: Rudolf Steinhilber: Eduard von Keyserling. Sprachskepsis und Zeitkritik in seinem Werk. Darmstadt 1977, S. 114–144; Richard A. Weber: Color and Light in the Writings of Eduard von Keyserling. New York u. a. 1990; Beate Jürgens: Farbige Augenblicke – Farbe als Element der Darstellung in Eduard von Keyserlings erzählerischem Werk. Phil. Diss. Mainz 1992; Sandra Markewitz: Ein letzter Impressionist. Eduard von Keyserling und die Farben. Bielefeld 2010. Vgl. zum Umfeld: Wolfgang Iskra: Die Darstellung des Sichtbaren in der dichterischen Prosa um 1900. Münster 1967. Zum Sehakt und zur Subjektkritik im Gefolge des Empiriokritizismus vgl. Susanne Scharnowski: „Wahrnehmungsschwellen: Krise des Sehens und Grenzen des Ichs bei Eduard von Keyserling“. In: Nicholas Saul/Daniel Steuer/Frank Möbus u. a. (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 46–61; Patrick Fortmann: „Impressionismus und Identität bei Eduard von Keyserling“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 16 (2008), S. 157–195, hier S. 160–176. 190 P. Fortmann Landschaftsbild und Stimmung bei Alois Riegl und Friedrich Th. Vischer Bei genauerer Betrachtung wird schnell deutlich, dass Landschaftsbild und Stimmung keineswegs nur bei diesem Autor miteinander verbunden sind. Keyserlings Schriften reagieren vielmehr auf eine spezifische Diskurskonfiguration der klassischen Moderne.10 Während der scheinbar selbstverständliche Zusammenhang von Landschaft und Stimmung im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend zum Thema gemacht wird, vollzieht erst, wie David Wellbery in seiner begriffsgeschichtlichen Studie zur Stimmung herausarbeitet, die Jahrhundertwende den Schritt zur theoretischen Reflexion dieses Konnexes. Hier sind insbesondere die Überlegungen des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl einschlägig geworden, der dem Phänomen in einem grundlegenden Aufsatz nachgegangen ist. Der Titel der Abhandlung, Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst (1899), formuliert dabei schon die These, die Riegl ins Spiel bringen will. Das vorgetragene Argument beschreibt dann einen weiten kulturhistorischen Bogen, der die wechselnden Aufgaben der Kunst durch die Epochen der Menschheitsgeschichte verfolgt. Riegl räumt ein, dass die Kunst wohl zu allen Zeiten Stimmungen eingefangen und ausgedrückt hat. Zugleich besteht er aber darauf, dass erst die moderne Kunst im eigentlichen Sinn zur Stimmungskunst geworden ist. Dem modernen Menschen, der eine entzauberte, beschleunigte, stets prekäre, latent bedrohliche und von zahllosen Widersprüchen durchzogene Welt bewohnt, bietet sie ein seltenes, doch notwendiges Refugium. Die Kunst enthebt von den divergenten Anforderungen des Lebensvollzugs, indem sie diese transformiert, ganz so wie der Blick von der Spitze eines Berges auf die Landschaft verborgene Zusammenhänge erschließt: Was dem Betrachter, wie Riegl schreibt, in der Nähe erbarmungsloser Kampf, erscheint ihm aus der Ferne friedliches Nebeneinander, Eintracht, Harmonie. So fühlt er sich erlöst und erleichtert von dem bangen Drucke, der von ihm keinen Tag seines gemeinen Lebens weicht. […] Diese Ahnung aber der Ordnung und Gesetzlichkeit über dem Chaos, der Harmonie über den Dissonanzen, der Ruhe über den Bewegungen nennen wir die Stimmung. Ihre Elemente sind Ruhe und Fernsicht.11 Auf die Komponenten, die in dieser Bestimmung enthalten sind, wird noch zurückzukommen sein. Entscheidender als die Begriffskonstruktion ist hier zunächst der Bezug der Gattung des Landschaftsbilds auf die Erfahrungen der Moderne, den Riegl herstellt. 10Vgl. dazu Wellbery: „Stimmung“, S. 718–720 sowie bezogen auf Poetologie, Lebensphilosophie und Sinnesphysiologie Anna-Katharina Gisbertz: Stimmung – Leib – Sprache. Eine Konfiguration der Wiener Moderne. München 2009. 11Alois Riegl: „Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst“. In: Die graphischen Künste 22 (1899) S. 47–56, hier S. 48. Landschaftsbild und Stimmung 191 Abgesehen von der metaphysischen Überhöhung, die wohl im Horizont der Philosophie Arthur Schopenhauers vorgenommen wird, greift Riegl auf Vorgaben von Friedrich Theodor Vischer zurück.12 Dieser hatte in seiner populären Ästhetik eine Einteilung der Landschaftsmalerei in „Stylbild“ und „Stimmungsbild“ angeregt.13 Die Unterscheidung ist nicht streng terminologisch zu verstehen, sondern soll eher Unterschiede in der Betonung einzelner Aspekte zur Geltung bringen. Auf diese Weise gelingt es Vischer, systematische Perspektiven mit historischen Ansätzen zu kombinieren. In systematischer Hinsicht soll seine Unterscheidung in etwa den Gegensatz von Form (Stil) und Medium (Stimmung) abbilden, während sie in historischer Sicht die Verschiedenheit von klassischer und moderner Kunst zu spiegeln hat. Der Stimmungsgehalt der jüngeren Kunst deutet sich damit schon bei Vischer an, bevor er von Riegl prominent herausgearbeitet wird.14 Fluchtlinien von Keyserlings Kunstkritik Keyserling hat sich in dem frühen Aufsatz Das Laienurteil nicht allein ausdrücklich auf Vischer berufen, sondern in einem Vorgriff auf Riegl auch das Kunstwerk im Allgemeinen über die „vermittelte Empfindung“ und die moderne Kunst im Besonderen über „Stimmungen“ zu fassen gesucht.15 In den Kritiken und Ausstellungsbesprechungen zur Münchner Kunstszene hat er sich dann Riegls Begriffsvorschläge zur Stimmungskunst zu Eigen gemacht. Zeitlich dazwischen liegen einige historische Arbeiten. Mit großer Kennerschaft bespricht Keyserling etwa die Nürnberger Vorläufer von Albrecht Dürer, die Werkstätten von Michael Wohlgemuth und Martin Schongauer, deren Arbeitsweise er als Synthese von altdeutschen Traditionen und niederländischen Einflüssen begreift, sowie ein Werk des Meisters selbst, die sogenannte kleine Passion.16 Mit derselben Sicherheit bewegt er sich in der italienischen Renaissance, wie seine allegorische Deutung eines Gemäldes von 12Vgl. den Hinweis bei Kerstin Thomas: „Bildstimmung als Bedeutung in der Malerei des 19. Jahrhunderts“. In: Anna-Katharina Gisbertz (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie. München 2011, S. 212–234, hier S. 215. 13Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik, oder Wissenschaft des Schönen. 9 Bde. Reutlingen/Leipzig 1846–1857. 3. Teil, 2. Abschnitt, H. 3: § 699 (Stylbild und Stimmungsbild), S. 651–653. 14Auch die Entlastungsfunktion findet sich in gewisser Weise bei Vischer vorgeprägt: Vischer, Ästhetik. 3. Teil, 2. Abschnitt, H. 3, S. 649: Wir „vollziehen nun die Vorstellung als ob die Natur zu gleicher Zeit eine die Stimmungen des menschlichen Gemüths vorbildende und wiederholende Seele in sich bärge und dennoch in ungetrüber Objectivität und Gesetzmäßigkeit nicht um die Schmerzen des subjectiven Lebens wüßte […]. [W]ir suchen in ihr den noch ungetheilten Menschen“. 15Eduard von Keyserling: „Das Laienurteil“. In: Kunst für alle 12 (1896/97), S. 71 f. 16Eduard von Keyserling: „M.[artin] Schongauer und die Nürnberger Skulptur“. In: Allgemeine Zeitung (04.02.1899), S. 4–6 [Beilage]; Eduard von Keyserling: „Dürers kleine Holzschnittpassion“. In: Allgemeine Zeitung (07.05.1898), S. 3–5 [Beilage]. 192 P. Fortmann Tizian bezeugt.17 Und sogar die Würdigung eines Zeitgenossen wie des belgischen Naturalisten Constantin Meunier nimmt Keyserling zum Anlass, die großen Linien in der abendländischen Darstellung des unverhüllten Körpers zu skizzieren.18 Die Mehrzahl der kunstkritischen Beiträge widmet sich allerdings der Münchner Secession.19 Als Keyserling über die Bewegung schreibt, hat diese ihren künstlerischen Zenit schon überschritten.20 Ursprünglich der Vorreiter für junge Kunst in den deutschsprachigen Ländern – die Secession in München wurde im Jahr 1892 begründet, in Wien 1897, gefolgt von Berlin 1898 – stand die Vereinigung in der öffentlichen Wahrnehmung stets im Schatten der Hauptstädte.21 Trotzdem war die Münchner Secession bis zum Ausbruch des Weltkrieges ein Begegnungsort ersten Ranges und ein Sammelbecken für verschiedenste Stilrichtungen und Ausformungen der Avantgarde, von der innovativen Repräsentationskunst der Gründerzeit, über Impressionismus und Jugendstil bis zum Symbolismus.22 Angesichts der stilistischen Vielfalt der Münchner Avantgarde, können die Eindrücke, die Keyserling zur Frühjahrsausstellung des Jahres 1905 notiert, durchaus überraschen. Keyserling konzentriert sich auf eine Auswahl und bezieht das Schaffen der Secession auf die unverwechselbare Gestalt der bayrischen Landschaft. Die Prägung durch diese Umgebung gibt, wie er erklärt, der Münchner Kunst die Signatur […]. Viele der Künstler sind auf dem Lande aufgewachsen. Sie ertragen die Stadt nur so lange, als es sein muß. Sobald sie können, sitzen sie in den Dörfern und Weilern, an den Seen und im Moos. Für sie ist die Natur […], was uns die Zimmer des Vaterhauses sind, das Gesicht der Mutter.23 17Eduard von Keyserling: „Tizians himmlische und irdische Liebe und der Platonismus“. In: Allgemeine Zeitung (27.07.1903), S. 180–182 [Beilage]. 18Eduard von Keyserling: „Das Nackte in der Kunst und Constantin Meunier“. In: Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst 16 (1898), S. 91 f. 19Die zeitgenössische Schreibweise wird hier beibehalten. Vgl. zum Thema Maria Makela: The Munich Secession. Art and Artists in Turn-of-the Century Munich. Princeton 1990. 20Zusätzlich zu den oben nachgewiesenen Beiträgen erscheinen in der Berliner Zeitung Der Tag die folgenden Artikel: „Moderne Grabmäler“. In: Der Tag (21.08.1903); „Festwiesen-Kunst“. In: Der Tag (16.10.1903); „Phalanx-Ausstellung“. In: Der Tag (18.11.1903); „Phalanx-Ausstellung“. In: Der Tag (27.01.1904); „Frühjahrsausstellung der Münchener Sezession“. In: Der Tag (19.04.1904); „Ausstellung der Phalanx“. In: Der Tag (06.05.1904); „Ein Erbbegräbnis“. In: Der Tag (23.10.1904); „Heinrich Zügel“. In: Der Tag (11.12.1904); „Albert von Keller-Ausstellung im Münchener Kunstverein“. In: Der Tag (28.02.1905); „Frühjahrsausstellung der Münchener Sezession“. In: Der Tag (02.05.1905); „Karl Haider“. In: Der Tag (16.03.1906). 21Vgl. zur Organisationsgeschichte Bettina Best: Secession und Secessionen. Idee und Organisation einer Kunstbewegung um die Jahrhundertwende. München 2000. 22Vgl. die Übersicht von Horst G. Ludwig: „Stilpluralismus der Münchner Secession“. In: Secession 1892–1914. Die Münchner Secession 1892–1914. Hg. von Michael Buhrs. München 2008, S. 71–205. 23Keyserling: „Frühjahrsausstellung der Münchener Sezession“. In: Der Tag (02.05.1905). Vgl. mit nahezu identischen Formulierungen Eduard von Keyserling: „Ausstellung der Phalanx“. In: Der Tag (06.05.1904) sowie: Eduard von Keyserling: „Eindrücke von der Frühjahrsausstellung der Münchner Secession“, S. 267: „Eine Schar junger Künstler steht, die Palette in der Hand, vor der Natur“. Landschaftsbild und Stimmung 193 Keyserling erkennt in den ausgestellten Werken eine innige Vertrautheit mit den Naturräumen Bayerns, wie sie nur durch den beständigen Umgang von Kindesbeinen an erworben werden kann. Wenn er dazu die intime Kenntnis der Natur mit dem selbstverständlichen Wissen um die Gegebenheiten des Elternhauses vergleicht, dann schließt er auf eindringliche Weise das Heim mit der Heimatkunst zusammen. Darin lässt sich zum einen ein spätes Echo des Naturalismus vernehmen, das ganz ähnlich auch in dem Laienurteil-Aufsatz begegnet: „Der Geist, der neue Kunstrichtungen schafft“, heißt es dort, „wird nicht in den Ateliers geboren, sondern er ist der Geist der Zeit und des Volkes, in dem der Künstler steht.“24 Zum anderen fallen aber die Parallelen zur Welt des baltischen und ostelbischen Landadels ins Auge, die Keyserling in seinen Erzählungen und Romanen entwirft. Schon diese Anmerkungen zur Secession lassen sich daher unschwer auch als Selbstaussagen lesen. Wie eng Malerei und Literatur generell miteinander verknüpft sind, legt Keyserling in seinem Aufsatz Fritz von Uhde dar. Gleich mit den einleitenden Bemerkungen zur zeitgenössischen Kunst behauptet er die Verwandtschaft der Formen: „Keine Zeit hat eiliger Kunstgeschichte und Litteraturgeschichte [sic] geschrieben als unsere.“25 Und zu Uhdes jüngerem Schaffen stellt er gegen Ende zustimmend fest: „Es kommt darauf an, dass Dichtung und Malerei sich decken.“26 Das Subjekt seines umfänglichsten Essays zur Kunst hat Keyserling mit Bedacht gewählt. Fritz von Uhde ist in den 1880er Jahren als naturalistisch geprägter Realist bekannt geworden; doch in den jüngeren Bildern scheint sich seine „Bekehrung zum Impressionismus“ auszudrücken.27 Damit hat Uhde als Maler eine ganz ähnliche Entwicklung durchlaufen, wie Keyserling als Schriftsteller, dessen Anfänge mit den Romanen Fräulein Rosa Herz (1887) und Die dritte Stiege (1892) sowie einigen Erzählungen ebenfalls im Naturalismus lagen, bevor er in Beate und Mareile (1903) mit der neuen Form der bildlich geprägten, stimmungsvollen Schlossgeschichten hervorgetreten ist. Wenn Keyserling schließlich mit großer Zustimmung schreibt, dass Uhde „Poesie ganz zu Farbe und Farbe ganz zu Poesie“ zu machen versteht, dann deutet sich ein intensiver Austausch zwischen den Formen der Künste an, wie ihn nicht allein Uhde, „der dichtende Maler“ betreibt, sondern eben auch Keyserling selbst als malender Dichter.28 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Begrifflichkeit, auf die Keyserling nicht nur für seine Retrospektive von Uhde zurückgreift. Wenn der Maler in 24Keyserling: „Das Laienurteil“, S. 72. „Fritz von Uhde“, S. 269. 26Ebd., S. 282. 27Ebd., S. 281. 28Ebd., S. 285. 25Keyserling: 194 P. Fortmann einigen seiner Gemälde durchaus traditionell Geschichten „erzählt“, so findet er in anderen, Keyserling zufolge, zu einer „Synthese von malerischem Ausdruck und lyrischem Gedankengehalt“.29 Die Analogie der Künste begegnet auch in anderen Arbeiten. Zu einer Bildkomposition des populären spätromantischen Malers Moritz von Schwind notiert er, sie mache „den Eindruck des Erzählens, weil er seine Gestalten nach einander zu sehn [sic] und uns vorzuführen scheint, wie der Erzähler“.30 Und einer der Renaissance-Aufsätze bespricht die Fortschritte der deutschen Werkstätten unter dem Aspekt, „dramatische Vorgänge zu einem Bilde zusammenzufassen“.31 Die Beispiele zeigen, dass die traditionelle Dreiteilung der literarischen Gattungen in den kunstkritischen Arbeiten vollständig nachvollzogen ist. Mit dem Begriffstransfer bewegt sich Keyserling erneut im Horizont von Vischers Ästhetik. Diese ist in seiner von Hegel geprägten Konzeption davon ausgegangen, dass sich die schöpferische Phantasie in den verschiedenen Kunstformen auf die gleiche Weise entfaltet.32 Die Annahme einer nahezu vollständigen Symmetrie erlaubt es Vischer, nicht nur das „Hervortreten von drei Künsten in der bildenden Kunst und die klare Scheidung der Dichtkunst in drei Hautzweige“ analog zu setzen, sondern auch die einen in der Begrifflichkeit der anderen zu beschreiben.33 Die Spiegelung der literarischen Gattungen in den bildenden Künsten wiederholt sich, wie Vischer weiter ausführt, noch einmal in den Einzelformen. Bezogen auf die Malerei führt das zu folgender Einteilung: „Die Landschaft ist lyrisch oder musikalisch, das Sittenbild episch, das geschichtliche Bild dramatisch.“34 Für Vischer ergibt sich diese Ordnung, wie angedeutet, vornehmlich aus systematischen Überlegungen. Keyserling zitiert diese Systematik im Laienurteil-Aufsatz fast wörtlich, nimmt aber eine historische Differenzierung vor. Es handelt sich daher weniger um eine direkte Übernahme, als um eine begriffliche Weiterentwicklung. Keyserlings Interesse richtet sich auf die zeitgenössische Kunst. Um die Jahrhundertwende, konstatiert er, löst sich die Systematik auf, da es zur Dominanz einer Gattung kommt: „Wenn die moderne Malerei uns keine Novellen und Anekdoten mehr erzählt, wenn sie sich vom dramatischen Historienbilde abgewandt hat, so ist es, weil das Lyrische im Volksgeiste wieder eine Rolle zu spielen beginnt. Die Malerei wird lyrisch wie die anderen Künste.“35 Die jüngste Entwicklung der Kunst wird auf das zeitgenössische „Bedürfnis nach lyrischem Ausdruck“ zurückgeführt, wobei dieses, wie der Aufsatz mit Nachdruck betont, stets auf den „Ausdruck einer Stimmung, einer Lebensäußerung“ 29Ebd., S. 279, 274, vgl. S. 275: „Allein es ist uns wichtig, dass diese Lyrik in Malerei aufgeht“. „Die Schwind-Ausstellung in München“, S. 298. 31Keyserling: „M.[artin] Schongauer und die Nürnberger Skulptur“, S. 4. 32Vischer: Ästhetik Bd. 2,2, S. 378–383 (§ 404). 33Vischer: Ästhetik Bd. 3,1, S. 153 f. (§ 539). 34Vischer: Ästhetik Bd. 3,2,3, S. 647 (§ 698). 35Keyserling: „Das Laienurteil“, S. 72. 30Keyserling: Landschaftsbild und Stimmung 195 hinausläuft.36 Keyserling begreift somit die Kunst der Jahrhundertwende als bildlich geprägte Stimmungskunst. Wenn Keyserling bereits in dem frühen Aufsatz Das Laienurteil die Stimmung in den Mittelpunkt rückt, dann drängt sich der Bezug zu den grundlegenden Überlegungen von Alois Riegl geradezu auf. Da Riegls Aufsatz Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst aber erst im Jahr 1899 erscheint, kann von einer direkten Abhängigkeit keine Rede sein. Naheliegender ist es, von einer diskursiven Verdichtung des Stimmungsbegriffs in den 1890er Jahren auszugehen, die sich auch bei anderen Autoren greifen lässt und von der Keyserling und Riegel gemeinsam ausgehen. Hermann Bahr etwa spricht in seinen Analysen zur Entwicklungslogik nachnaturalistischer Strömungen immer wieder von Stimmung. Zu den französischen Symbolisten führt Bahr aus, dass diese nur „eine besondere Methode der Lyrik“ entwickelt haben, während die „Absicht aller Lyrik“ auch bei ihnen „immer die gleiche [ist]: ein Gefühl, eine Stimmung, ein Zustand des Gemüthes soll ausgedrückt und mitgetheilt, soll suggerirt werden.“37 Um das Neuartige des symbolistischen Verfahrens zu demonstrieren, bietet Bahr dann allerdings kaum zufällig ein Naturbild an. Es unterhält nur einen mittelbaren Bezug zum tatsächlichen Geschehen, soll aber nichtsdestoweniger eine ganz ähnliche Stimmungslage hervorrufen. Diese Vereinnahmung der Avantgarde für die Stimmungslyrik ist jedoch nur ein Beispiel unter vielen, die sich bei Bahr finden lassen.38 Die Gleichsetzung von Lyrik und Stimmung ist, wie gezeigt, auch Keyserling geläufig. Nach der Jahrhundertwende wird der kunstgeschichtlich beschlagene Autor dann vermutlich den Stimmungsaufsatz zur Kenntnis genommen haben. Jedenfalls lassen sich Riegls zentrale Begriffsbestimmungen in Keyserlings Arbeiten zur Gegenwartskunst wiederfinden. Kontrastive Sehweisen der Kunst An dieser Stelle ist noch einmal auf die beispielhafte Erfahrung aus Riegls Stimmungsaufsatz zurückzukommen: der Blick von der Höhe des Berges herab auf die Landschaft in der Ebene, der die Sicht des Landschaftsbilds präfiguriert. Dieser besondere Blick ist, wie Riegl immer noch im Rahmen seines Beispiels betont, äußerst anfällig für Störungen. Schon geringe Anlässe reichen aus, um den Betrachter aus seinem „andächtigen Schauen“ zu reißen: der plötzliche Lauf einer Bergziege, dem die Augen folgen; ein „einziger Vogelschrei in der Luft“, der in den Ohren nachhallt; „ein scharfer Windhauch“ oder „ein kräftiger Sonnenstrahl“, 36Ebd. 37Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus – Theoretische Schriften 1887–1904. Hg. von Gotthart Wunberg. Stuttgart 1968, S. 112. Vgl. zur Stimmung außerdem S. 70, 76, 168. 38Vgl. zur sogenannten Stimmungslyrik den Forschungsüberblick bei Friederike Reents: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen 2015, S. 438–449. 196 P. Fortmann der auf der Haut erfahren wird, kurz jede Ablenkung der Aufmerksamkeit stellt eine Herausforderung dar; denn sie macht „die Gegenprobe auf jene Elemente, – Ruhe und Fernsicht – aus denen die Stimmung hervorgeht: Bewegung und Nahsicht“.39 Diese weniger beachtete Passage verdeutlicht den Aufbau von Riegls Begrifflichkeit. Über die Bindung an die Aufmerksamkeit wird der Stimmung zuerst ein prekärer Status zugewiesen. Darüber hinaus zeigt sich aber, dass Riegl eigentlich mit einem Begriffskontrast arbeitet, für den er zugleich ein griffiges Schema anbietet. Die selten realisierte Stimmung erschließt sich erst durch ihren Gegensatz, die allgegenwärtige Stimmungslosigkeit. Die genannten Komponenten, mithin Harmonie, Ruhe und Fernsicht auf der einen Seite sowie Dissonanz, Bewegung und Nahsicht auf der anderen, differenzieren den grundlegenden Kontrast aus. Während Riegl im Stimmungsaufsatz weitgehend Anliegen von Form und Komposition in den Vordergrund stellt, durch die der Stimmungsbegriff im Sinne von Stimmigkeit ausgelegt wird, ergänzt er den Ansatz einige Jahre später um ein weiteres Kriterium. Anhand der Entwicklung des holländischen Renaissance-Malers Jacob van Ruysdael demonstriert Riegl den Durchbruch zur Stimmungskunst. Die Landschaftsbilder des Meisters erreichen nach Riegl das, was sich durch den „directe[n] Anblick der Natur niemals“ einstellt, nämlich das „volle ungetrübte Maas der Stimmung“.40 Die frühe Stimmungskunst erzielt ihren Effekt gerade dadurch, dass sie von der Alltagswahrnehmung abstrahiert und den Panoramablick von der Bergeshöhe simuliert. Da die entsprechenden Landschaftsbilder „das ganze Gesichtsfeld als eine Einheit“ einnehmen, setzten sie „die reine Lust am Schauen“ frei.41 Damit ist jedoch kein Endpunkt der Entwicklung markiert. Wenn nachfolgende Bilder plötzlich wieder Objekte enthalten, die für sich Aufmerksamkeit beanspruchen, dann steigert sich nach Riegl „die Empfindung zum Affect, worunter die aufs Höchste gespannte Stimmung gleichsam zum Reissen gelangt und nach modernen Begriffen in Stimmungslosigkeit umschlägt“.42 Hier ist der Gegenpol zur Stimmung auch begrifflich präsent. Die Unterscheidung macht sich offenkundig an den zugeordneten Wahrnehmungsweisen fest. Die Ausschließlichkeit des Visuellen, die sich im Bild atmosphärisch verdichtet und jedes Element in den Gesamteindruck integriert, erzeugt Stimmung; jede Abweichung davon ruft hingegen Stimmungslosigkeit hervor. Damit rekonstruiert Riegl nicht nur in letzter Konsequenz „die ganze neuzeitliche Kunst aus der Perspektive des Impressionismus“, nämlich als integrativ oder dissoziativ verstandene „Stimmungskunst“, sondern er macht außerdem auf den Umschlagspunkt aufmerksam, den diese neuartige Kunst umspielt.43 39Riegl: 40Alois „Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst“, S. 48. Riegl: „Jacob van Ruysdael“. In: Die graphischen Künste 25 (1902), S. 11–20, hier S. 18. 41Ebd. 42Ebd., S. 20. „Stimmung“, S. 720. 43Wellbery: Landschaftsbild und Stimmung 197 Riegls wirkungsmächtige, bifokale Fassung der Stimmung, die sich im Blick auf die Landschaft wie auf das Landschaftsbild entzündet, bietet der Kunstkritik vielfältige Anschlussmöglichkeiten. Keyserlings Artikel lassen sich in ihren Einschätzungen der Münchner Secession nicht zuletzt von der kontrastiven Anlage der Begrifflichkeit anregen. Ebenso wie Riegl, geht Keyserling von Unterschieden in der Wahrnehmungsweise der Bilder aus. Und wie dieser zeigt er sich davon überzeugt, dass diese Unterschiede nicht erst in der Moderne zur Geltung kommen, sondern jeweils eine längere Geschichte aufweisen. In seiner Besprechung von Karl Haider, die sich nicht zufällig auf die Landschaft konzentriert, erläutert er die zugehörigen Malstile: Auf der Landschaft liegt der Hauptakzent. Hier spricht sich am reinsten aus, was der Künstler uns zu sagen hat. Er sieht die Dinge der Natur sehr deutlich, fest umrissen in ihrer Sonderheit, in der ganzen Kompliziertheit des Einzellebens und zugleich treibt ihn ein starkes Stilgefühl, diese Kompliziertheit und Selbständigkeit der Erscheinungen zu ruhiger Geschlossenheit zu binden. Das ist die große Linie des künstlerischen Sehens, die über Jan van Eyck und Holbein bis Leibl führt und die immer gleichberechtigt neben der Kunst der farbigen Bewegtheit, des farbigen Werdens stehen wird, wie in uns das Gefühl des Werdens, der Bewegtheit des Lebens neben dem Gefühle der festen Geschlossenheit des Daseins steht.44 Sämtliche Komponenten des Stimmungsbegriffs sind in dieser Passage vertreten. Die Gegenüberstellung von malerischer „Geschlossenheit“ und Fragmentierung der Eindrücke, von Ruhe und „Bewegtheit“ greift den Kontrast von formaler Stimmigkeit und dissonanten Brüchen auf. Die Entlastung vom Alltagsleben, die die Fernsicht ermöglicht, wird lebensphilosophisch durch die Opposition von Leben und Dasein gespiegelt. Allein der Zentralbegriff der Stimmung fehlt. Die Stimmung hatte Keyserling aber wenige Jahre zuvor ins Zentrum einer ganz ähnlichen Gegenüberstellung gerückt. Diese findet sich in einem bescheiden als Eindrücke von der Frühjahrsausstellung der Münchner Secession überschriebenen Aufsatz. Im Gegensatz zur paratextuellen Ankündigung notiert Keyserling im Text indes wesentlich mehr als verstreute Eindrücke. Tatsächlich legt er eine grundsätzliche Reflexion der modernen Kunst vor, die sich weigert, die Eindruckskunst des Impressionismus zu verabsolutieren. Wie Riegl, aber entgegen dem heute geläufigen Sprachgebrauch, verbindet Keyserling die Stimmung eher mit Momenten von Ruhe, Übersicht und Klarheit als mit Phänomenen des Übergangs und der Auflösung von Einheiten: Wir haben Stimmungen, in denen wir gerne mit unserem Blick stetig an den Gegenständen hängen, ihre feste Form, das still und deutliche Nebeneinander der Sachen, ihr Wesen in Farbe und Linie auf uns wirken lassen. Und dafür ist eine ruhige, besonnene, breite Malerei der Ausdruck. Allein meist ist uns heute eine gierige, hastige Art des Sehens eigen. Wir sehen schneller und mehr als früher, analysieren und verschmelzen momentaner Farben und Formen. Unsere Nerven sind empfindlicher geworden und reagieren auf 44Keyserling: „Karl Haider“. In: Der Tag (16.03.1906). 198 P. Fortmann Licht- und Farben-Werte, die früher unbemerkt blieben. Wir wollen aus dem Dargestellten unsere eigene Erregtheit herauslesen, etwas in ihm finden, das dem Vibrieren unserer Seele entspricht, und für diese eigenste Art des Sehens unserer Zeit wird der Impressionismus wohl der definitive malerische Ausdruck sein.45 Wie im Artikel über Karl Haider unterscheidet Keyserling zwei Sehweisen moderner Malerei. Die eine wird ausdrücklich als Impressionismus gekennzeichnet und an die neuartige Nervenkunst angeschlossen, die auf den raschen Wechsel der Empfindungen und Sinnesreize ausgerichtet ist; die andere erhält keine eigene Bezeichnung. Durch den Kontrast zur beschleunigten, nervösen und aufgereizten Wahrnehmung, die sich mit der zeitgenössischen Malerei des Impressionismus verbindet, erscheint diese andere Malerei, die auf Kontur und Gegenständlichkeit setzt und somit gegenläufige Anforderungen an den Betrachter richtet, aber als zeitlich vorausliegender Stil. Auch diese Darstellungsform behauptet sich Keyserling zufolge bis in die Kunst der Jahrhundertwende. Dabei ist auffällig, dass Keyserling sich den entgegengesetzten Stilen in gleicher Weise zuwendet. Beide werden aus einer Perspektive der Teilhabe charakterisiert, so dass das Bekenntnis zum Impressionismus, das durchaus aus der Passage herausgelesen werden kann, durch das gleichgewichtige Bekenntnis zur gegenständlichen Stimmungskunst ergänzt werden muss.46 Die Unterscheidung von impressionistischer und gegenständlicher Kunst sowie den zugeordneten Weisen der Kunstbetrachtung, die Keyserling wiederholt vornimmt, hat programmatischen Charakter. Die „große[n] Linie[n] des künstlerischen Sehens“, die er auf grundsätzliche Weise nebeneinanderstellt, werden in den kunstkritischen Beiträgen weiter ausgezogen. Hier müssen wenige Beispiele genügen, die zugleich die Nähe zu Riegls Begrifflichkeit anzeigen. An einem Selbstporträt Karl Haiders faszinieren Keyserling besonders die Augen, die, wie er schreibt, „die klare und reine Harmonie der Vorbergslandschaften bis in die Natur hinein zu sehen vermögen.“47 Dagegen findet er bei Heinrich Zügel, den er einen „unserer größten Lichtmaler“ nennt, „das Werden und das Erlöschen des Lichts, Morgendämmerungen, Abenddämmerungen, von den Wolken verdecktes, herbstliches Nachmittagslicht“ dargestellt, das voll von „Stimmungsschauern und Traurigkeiten“ ist.48 Auch die Ausstellungsberichte zur Secession und zur Phalanx umkreisen derartige Kontraste. Während Keyserling in einem bestimmten Bild das „Gefühl des in sich Geschlossenen, Ruhiggrossen […] sofort einleuchtend hier ausgesprochen“ findet, stellt er zum Schöpfer eines anderen fest, „er verwischt, erweicht die Konturen, verschleiert die Farben, er gibt dem Bilde 45Keyserling: „Eindrücke von der Frühjahrsausstellung der Münchner Secession“, S. 269. vollständige Zitat der Passage oben korrigiert die gängige Einschätzung. Zurückführen lässt sich diese auf Steinhilber: Eduard von Keyserling, S. 114 f. 47Keyserling: „Karl Haider“. 48Keyserling: „Heinrich Zügel“. 46Das Landschaftsbild und Stimmung 199 etwas Visionäres, der Bewegtheit eine fiebrige Erregung.“49 Die Komposition des einen Bildes „schliesst sie [die dargestellte Zentralfigur] in eine einheitliche Stimmung zusammen“, wohingegen die Betrachter vor einem anderen „nicht recht zu einheitlicher Stimmung“ kommen.50 Auf die vielleicht schlichteste und zugleich eingängigste Formel bringt Keyserling die Leitmotive seiner Bildlektüren aber in der knappen Anzeige Aus München. Dort erkennt er in den Landschaftsbildern der Secession mit großer Zustimmung „das Bestreben, den Stimmungston des Naturaugenblickes möglichst unmittelbar in das Bildliche zu übersetzen“.51 Kunstkritik als Werkpoetik Die Durchsicht der kunstkritischen Arbeiten im Zusammenhang mit Überlegungen von Friedrich Theodor Vischer und Alois Riegl eröffnet schließlich eine neue Perspektive auf die Bezüge zum Impressionismus, die Keyserling gerne zugeschrieben werden. Das beginnt schon mit Thomas Manns Nachruf, der den Verstorbenen zwar vom „flimmernden Impressionismus“ eines Herman Bang absetzt, aber damit zugleich der Strömung als solcher zuschlägt.52 Der Zusammenhang soll sich gemeinhin daraus ergeben, dass die charakteristischen Naturschilderungen und Landschaftsbilder in Keyserlings Erzählungen mit ihren auffälligen Lichteffekten und Farbkompositionen „an den pointilistischen Stil impressionistischer Malerei erinnern“.53 Die scheinbar so naheliegende Übersetzung von neuartigen Bildtechniken der Malerei in literarische Formen, die sogar zu einem Vergleich von Keyserling mit Claude Monet Anlass gegeben hat, kann sich durchaus auf Keyserlings 49Keyserling: „Ausstellung der Münchener Secession“, S. 450 f. S. 449, 451. 51Keyserling: „Aus München“, S. 396. 52Mann: „Zum Tode Eduard Keyserlings“, S. 226. Vgl. entsprechend Kasimir Edschmid: „Graf Keyserling und die Gefühlsmosaiker oder der impressionistische Roman“. In: Feuer. Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur 1 (1920), S. 343–350 und Ernst Heilborn: „Eduard von Keyserling. Sein Leben und sein Werk“. In: Ders. (Hg.): Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Berlin 1922. Bd. 1: Einleitung, Beate und Mareile, Seine Liebeserfahrung, Schwüle Tage, S. 1–31, bes. S. 15, 25–28. 53Sabine Buchlaub/Claudia Wefel: „Die Landschaftsdarstellung in Eduard von Keyserlings Erzählwerk. Impressionismus, Romantik, Dekadenz“. In: Dieter Kafitz (Hg.): Dekadenz in Deutschland. Beiträge zur Erforschung der Romanliteratur um die Jahrhundertwende. Frankfurt/M. 1987, S. 243–257, hier S. 243. Vgl. ganz entsprechend aus der älteren Forschung: Irmengard Sauter: Menschenbild und Natursicht in den Erzählungen Eduard von Keyserlings. Diss. Freiburg/Br. 1960 sowie jüngst die Reprise bei Markewitz: Ein letzter Impressionist, 113: „‚Impressionismus‘ ist Kritik und Auftrag in einem und dieser Doppelcharakter ist bei Keyserling fühlbar als Ausdehnung der Kennzeichen des impressionistischen Malstils in der Literatur“. 50Ebd., 200 P. Fortmann Kunstkritik berufen.54 Allerdings parallelisieren seine Artikel nicht allein Malerei und Literatur, sondern sie präsentieren zudem an mehreren Stellen zwei entgegengesetzte Ausläufer moderner Bildkunst, den Impressionismus zum einen und die gegenständliche Darstellungsform zum anderen. Die Kunst der Jahrhundertwende, der Keyserling sich mit seinen Schriften zurechnet, entfaltet sich im fortgesetzten Wechselspiel dieser Formen und im Austausch der Medien von Bild und Schrift. Die Kompositionsprinzipien der Landschaftsbilder, die Keyserlings Erzählung auf eindringliche Weise entwerfen, erschließen sich durch die Gegensätze von Übersicht und Ablenkung, Ruhe und Bewegung, Harmonie und Dissoziation, fester Kontur und farberfüllter Vision, oder in den Leitbegriffen der Jahrhundertwende ausgedrückt, Stimmung und Nervosität. Keyserlings Kunstkritik exponiert diese Begriffe mit beständigem Blick auf die Literatur und skizziert so eine Poetik, die für die Lektüre seines Erzählwerks noch zu entdecken ist. Literatur Bahr, Hermann: Zur Überwindung des Naturalismus – Theoretische Schriften 1887–1904. Hg. von Gotthart Wunberg. Stuttgart 1968. Bang, Herman: „Graf Eduard Keyserling“. In: Die neue Rundschau 23 (1912), S. 427–430. Best, Bettina: Secession und Secessionen. Idee und Organisation einer Kunstbewegung um die Jahrhundertwende. München 2000. Buchlaub, Sabine/Wefel, Claudia: „Die Landschaftsdarstellung in Eduard von Keyserlings Erzählwerk. Impressionismus, Romantik, Dekadenz“. In: Dieter Kafitz (Hg.): Dekadenz in Deutschland. Beiträge zur Erforschung der Romanliteratur um die Jahrhundertwende. Frankfurt/M. 1987, S. 243–257. Edschmid, Kasimir: „Graf Keyserling und die Gefühlsmosaiker oder der impressionistische Roman“. In: Feuer. Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur 1 (1920), S. 343–350. Fischer, Jens Malte: „Rezension von Eduard von Keyserling: Werke. Hg. von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. 1973“. In: Germanistik 15 (1974), S. 984 f. Fortmann, Patrick: „Impressionismus und Identität bei Eduard von Keyserling“. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 16 (2008), S. 157–195. Gisbertz, Anna-Katharina: Stimmung – Leib – Sprache. Eine Konfiguration der Wiener Moderne. München 2009. Görner, Rüdiger: „Adel des Erzählens. Thomas Manns Interesse an Eduard von Keyserling“. In: Ders.: Thomas Manns erzählte Welt. Studien zu einem Verfahren. Stuttgart 2018, S. 107–116. Heilborn, Ernst: „Eduard von Keyserling. Sein Leben und sein Werk“. In: Ders. (Hg.): Gesammelte Erzählungen in vier Bänden. Bd. 1.: Einleitung, Beate und Mareile, Seine Liebeserfahrung, Schwüle Tage. Berlin 1922, S. 1–31. 54Donald Riechel: „Monet und Keyserling. Toward a Grammar of Literary Impressionism“. In: Colloquia Germanica 13 (1980), S. 193–219 sowie Wolfgang Nehring: „Eduard von Keyserlings Impressionismus“. In: Michael Schwidtal/Jaan Undusk (Hg.): Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Beiträge eines internationalen Symposions in Tartu vom 19. bis 21. September 2003. Heidelberg 2007, S. 285–296. Landschaftsbild und Stimmung 201 Illies, Florian: „Abende mit Keyserling. Eine kleine Gebrauchsanleitung“. In: Eduard von Keyserling: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. München 2018, S. 711–717. Iskra, Wolfgang: Die Darstellung des Sichtbaren in der dichterischen Prosa um 1900. Münster 1967. 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Die kulturgeschichtliche Bedeutung von Alexander, Eduard und Hermann Graf Keyserling. Beiträge eines internationalen Symposions in Tartu vom 19. bis 21. September 2003. Heidelberg 2007, S. 285–296. Reents, Friederike: Stimmungsästhetik. Realisierungen in Literatur und Theorie vom 17. bis ins 21. Jahrhundert. Göttingen 2015. 202 P. Fortmann Renner, Ursula: „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg/Br. 2000. Riechel, Donald: „Monet und Keyserling. Toward a Grammar of Literary Impressionism“. In: Colloquia Germanica 13 (1980), S. 193–219. Riegl, Alois: „Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst“. In: Die graphischen Künste 22 (1899) S. 47–56. Riegl, Alois: „Jacob van Ruysdael“. In: Die graphischen Künste 25 (1902), S. 11–20. Sauter, Irmengard: Menschenbild und Natursicht in den Erzählungen Eduard von Keyserlings. Diss. Freiburg/Br. 1960. Scharnowski, Susanne: „Wahrnehmungsschwellen: Krise des Sehens und Grenzen des Ichs bei Eduard von Keyserling“. 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Zur Ethnographie und den Geschlechterrollen im Erzählwerk Keyserlings Marianne Wünsch Eduard von Keyserlings Romane und Erzählungen1 entwerfen – abgesehen z. B. von seinem frühen Roman Die dritte Stiege (1892) – seltsame, dominant baltische Adelswelten, Welten von geradezu exotischer Fremdheit, deren fundamentale Strukturen schon Objekt einer eingehenden Studie waren, deren Ergebnisse ich hier im Folgenden dankbar benutze.2 Sozialstruktur in den dargestellten Welten Keyserlings Adelsformen leben scheinbar in Welten, in denen praktisch alle Phänomene von Modernisierung in der zeitgenössischen Gegenwart ausgespart sind: so etwa Industrialisierung und Technik, ebenso wie der Kapitalismus, 1Zitiert wird nach folgenden Ausgaben: Beate und Mareile [1903]. Roman. Mit Nachwort von Uwe Timm. Zürich 2013 (BM); Schwüle Tage [1904]. Novelle. München 52011 (ST); Harmonie [1905]. Novelle. Frankfurt/M. 2001 (H); Dumala [1907]. Bremen 2014 (D); Bunte Herzen [1908]. Novelle. Coesfeld 22017 (BH); Wellen [1911]. In: Eduard von Keyserling: Wellen, Roman. Am Südhang, Erzählung. Frankfurt/M. 2011 (W); Am Südhang [1911]. In: Eduard von Keyserling: Wellen, Roman. Am Südhang, Erzählung. Frankfurt/M. 2011 (AS); Abendliche Häuser [1914]. Bremen 2014 (AH); Fürstinnen [1917]. Roman. Mit Nachwort von Jens Malte Fischer. Zürich 2017 (F). 2Vgl. Caren Kollek: Literarische Selbstfindungsprozesse um 1900. Personen-, Erotik- und Moralkonzeption in Erzähltexten von Arthur Schnitzler, Eduard von Keyserling und Hermann Sudermann. Kiel 2011. M. Wünsch (*) Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Keil, Deutschland E-Mail: Mwuensch@litwiss-ndl.uni-kiel.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_13 203 204 M. Wünsch der allenfalls in der randständigen Form eines aus der vormodernen Tradition bekannten ‚Finanzjuden‘ in Abendliche Häuser (1913) auftritt. Zu diesen Welten am Rande aller typischen zeitgenössischen Entwicklungen gehört auch die Aussparung des politischen Bereichs wie aller sozialer Probleme. In diesen Welten gibt es nicht einmal soziale Schichten wie das alte Bürgertum und ein selbständiges Bauerntum, beide ja stark repräsentiert in der Literatur des Realismus, geschweige denn ein Industrieproletariat. Selbst ansonsten unentbehrliche Figurentypen wie Ärzte und Pfarrer spielen nur eine Randrolle. ‚Unterschichten‘ erscheinen überhaupt nur in Form von vom jeweiligen Gutsbesitzer abhängigen Personen, so als Dienstpersonal im Gutshaus oder Schloss oder als abhängige Bauern in einem zum Gute dazugehörigen Dorf. Aber sogar diese unentbehrlichen Gestalten sind extrem marginalisiert; sie führen keine eigenen Leben, sie haben keine biographische Geschichte; vorzugsweise spricht man mit ihnen im Befehlston und nur zum Zwecke von Anordnungen oder beutet sie, falls sie weiblich sind, je nach Gutsbesitzerbedarf auch sexuell aus. In diesem Falle wird ihnen eigentlich jeder eigene Wille implizit abgesprochen, sie haben – gleichsam Sklavinnen – jederzeit sexuell verfügbar zu sein; was nach Benutzung aus ihnen wird, interessiert die Gutsbesitzer nicht. Dieser sich von jeder sozialen Umwelt ausgrenzende Adel tendiert zur Stammfamilie, bei der am Familiensitz ein Mehrgenerationenhaushalt existiert, manchmal bis zu drei Generationen. Die Adelsgesellschaft praktiziert fast ausnahmslos eine strikte Gruppenendogamie, im Extremfall sogar mit – wenn auch problematisierten – Neigungen zu intrafamiliärer Endogamie, also zu Inzestnähe, so als Beziehung zwischen Onkel und Nichten, potenziell in Harmonie (1905), faktisch vollzogen in Schwüle Tage (1906). Auffällig ist die grundsätzliche Arbeitsscheu des Adels: Im Gegensatz zu anderen Gutsbesitzern in der Literatur des Realismus und der Frühen Moderne kümmern sie sich nicht einmal um die Landwirtschaft auf ihren Gütern; das wird an abhängige Unterschichtler delegiert. Bemerkenswert ist in den meisten Texten Keyserlings die bescheidene Vermehrungsquote in den Adelsfamilien, sie teilen weitgehend die in der Literatur seit dem 18. Jahrhundert einsetzende Tendenz zur Zwei-Kind-Familie, von wenigen Ausnahmen abgesehen; und nicht wenige der dargestellten Ehen bleiben kinderlos. Zu den selbstverständlichen Praktiken in diesen Adelsfamilien gehören die gemeinsamen Mahlzeiten zu festgelegten Tageszeiten, aber auch der sonntägliche Kirchenbesuch, wobei freilich nur wenige, in der jeweiligen Familie selbst schon wieder als Abweichung erscheinende Sonderlingsfiguren, durch eine relevante, dann auch gleich schon fast sektenhafte Religiosität charakterisiert sind. Für alle anderen Familienmitglieder gehören die – im baltischen Falle – protestantische Religion genauso wie die gemeinsamen Mahlzeiten zu den selbstverständlichen, nicht hinterfragten Gruppenbräuchen, über die man nicht nachdenkt und die auch keine sinngebende Funktion erfüllen, aber zu den Distinktionsmerkmalen der eigenen Schicht gehören. Die absolute Mehrheit der Adelsmitglieder scheint grundsätzlich jede Transformation, insbesondere jede Innovation abzulehnen: Alles soll so bleiben wie es zur Zeit der jeweiligen älteren Generation war. Diese Zur Ethnographie und den Geschlechterrollen 205 erhoffte Hauptinvarianz der Welt bringt ein Mitglied der älteren Generation in Abendliche Häuser (1914) auf die schöne Formel: „‚[…] wir haben nichts anderes zu tun, als zu sitzen und zu warten, bis eines nach dem anderen abbröckelt.‘“ (AH, S. 21) Diese Welt dämmert ihrem Verfall entgegen, nicht wenige Mitglieder vor allem der älteren Generation sind eigentlich nur Zombies: Relikte einer Welt, die tot ist, aber die dies noch nicht bemerkt hat. Soweit zunächst einige Hinweise zur Ethnographie der dargestellten Welten. In ihnen herrscht gepflegte Langeweile. „‚Sich langweilen können ist doch gute Erziehung.‘ ‚Da haben sie wieder recht Pastor,‘ gab Werland zu. ‚Das sieht man an unserer guten Gesellschaft. Was wir an Langeweile ertragen können, ist ungeheuer, und nur durch jahrhundertelange Erziehung zur Langeweile möglich.‘“ (D, S. 115) Partnerwahlkriterien Zu den ohnedies geltenden traditionellen Normen, die z. B. und vor allem den Bereich der Sexualität regeln, kommt eine Vielzahl von Bräuchen dazu, von denen die Figuren freilich selbst nicht wissen, warum diese Regelungen ihres eigenen Alltags und ihres sozialen Umgangs gelten sollen, die sie aber gleichwohl im Normalfalle einhalten. Das Leben ist durch solche Bräuche ritualisiert, aber diese Quasi-Riten sind längst sinnentleert. Diese Welt von Stammfamilien ist grundsätzlich patriarchal organisiert. Das hat zur Folge, dass nach wie vor die Wahl von Ehepartnern denn auch nicht in das Belieben der Kindergeneration gestellt ist, sondern von der Familie bestimmt ist, welcher Prozedur sich denn auch die Jüngeren normalerweise unterwerfen, selbst wenn ihnen im Extremfall die verordnete Partnerwahl widerstrebt. Ein anschauliches Beispiel bietet Schwüle Tage, wo ein Onkel seiner Nichte, mit der er unzweideutig eine illegitime sexuelle Beziehung unterhält, einen Ehepartner aufdrängt, der selbstverständlich wiederum der weiteren Verwandtschaft entstammt; obwohl die junge Frau ihren Onkel zu lieben scheint, unterwirft sie sich dennoch dieser Fremdbestimmung. Trifft eine junge Frau die emotionale Entscheidung für einen potenziellen Ehepartner, der aus irgendwelchen Gründen der Familie, vor allem eben dem Vater, nicht genehm ist, hat sie selbstverständlich der angestrebten Beziehung zu entsagen, so z. B. in Abendliche Häuser (1913), wo Fastrade auf ihren Hauslehrer verzichten muss, während hingegen in Bunte Herzen (1916) die junge Billy unerhörter Weise mit dem ihr untersagten polnischen Verwandten, Boris, durchzubrennen versucht. In Abendliche Häuser gibt es zugleich noch einen zweiten interessanten Problemfall: Egloff hält beim Vater der inzwischen volljährigen Fastrade um deren Hand an, bemerkenswerterweise ohne diese selbst vorher gefragt zu haben; der Vater findet ihn – übrigens zu Recht – unsolide und lehnt seine Bewerbung ab, legt die Entscheidung aber in die Hand seiner Tochter, die die Werbung annimmt. 206 M. Wünsch Nicht-Leben vs. Empathisches Leben Auch für Keyserlings Welten bieten sich nun Beschreibungskategorien an, die sich für die Literatur der Frühen Moderne bewährt haben. Natürlich ist auch in diesem Literatursystem die Opposition von ‚Leben‘ vs. ‚Tod‘ relevant, aber die Kategorie ‚Leben‘ wird aufgespalten; insofern Leben im biologischen Sinne ein Nicht-Leben im emphatischen Sinne sein kann, d. h. ein Zustand, der von Personen, die sich seiner bewusst werden, eher als ein Todesäquivalent denn als lebenswertes Leben empfunden wird. Die von der Elterngeneration geschaffene und als wünschenswert gesetzte Ordnung in Keyserlings Texten wird nun aber von einigen Figuren, fast ausnahmslos aus der jüngeren Generation, als ein solcher Zustand von Nicht-Leben wahrgenommen, eben als ein Zombie-Dasein. Um hierfür nur zwei Belege aus Abendliche Häuser anzuführen, denen sich leicht weitere an die Seite stellen ließen: All das still zu Ende gehende Leben um sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft weiterzuleben; „wir sitzen still und warten, bis eines nach dem anderen abbröckelt.“ (AH, S. 23) „Ein Haus der Zuendegehenden“, fiel es Egloff ein, „eine große, finstere Krankenstube.“ (AH, S. 67) In allen hier einbezogenen Texten aus seinem Œuvre gibt es mindestens eine Figur, die sich irgendwann ein emphatisches Leben erträumt. So phantasiert Fastrade in Abendliche Häuser: Hier war Raum, hier konnte sie atmen, hier in der Kühle schlief das große, starke Leben, zu dem sie gehörte. […] sie empfand wieder, dass sie warmes junges Blut in ihren Adern hatte, empfand die Kraft ihres Körpers, und sie fühlte ihr Leben wieder als etwas, auf das sie sich trotz allem freuen durfte. (AH, S. 23 f.) Sobald die Vorstellung eines emphatischen Lebens bewusst wird, wird auch bewusst, dass ihr bisheriger Lebensraum beengend und erdrückend ist und keine Chance für ein solches Leben bietet: ‚Emphatisches Leben‘ ist immer anderswo – in einem Raum, der gegenüber dem ‚Inneren‘ des Herkunftsraumes ein ‚Außen‘ ist. In Abendliche Häuser, wo neben Fastrade die Tochter einer Nachbarsfamilie, Gertrud, ebenfalls eine Exkursion in ein räumliches oder ideologisches Außen hinter sich hat und zurückgekehrt ist, resümiert Gertrud gegenüber ihrer Mutter: „aber ich kann mich doch darüber freuen, daß es da draußen ein Leben gibt, in dem Interessantes sich ereignet, als dass das Heu gut hereinkommt“. Die Baronin zuckte die Achseln und suchte in ihrem Wollkorbe nach einem passenden Faden. „Draußen, draußen“, murrte sie, „du warst ja draußen und die Fastrade auch, was hat es geholfen. Ihr kommt ja doch zurück, ihr könnt ja dort nicht leben.“ (AH, S. 150 f.) Zur Ethnographie und den Geschlechterrollen 207 Die wenigsten der Figuren, die die Möglichkeit eines emphatischen Lebens erkennen, vermögen ein solches, wenigstens temporär, zu realisieren. Wenn ein Versuch intensiven Lebens gescheitert ist, bleibt den meisten Figuren Keyserlings nur ein resignatives Akzeptieren ihres Nicht-Lebens. In einigen wenigen Fällen aber zeichnet sich ab, dass sich erneut noch einmal die Möglichkeit emphatischen Lebens ergeben könnte. So plaudert in Bunte Herzen Billy nach ihrem gescheiterten Ausbruchsversuch mit ihrem Vater: „Nicht wahr, es muß noch sehr viel Gutes kommen“, rief Billy. Überrascht schaute der Graf auf. […] Sie lächelte dabei ein wunderbar erwartungsvolles Lächeln. […] Dieses Kind war ihm mit seinem Glauben an das wahre Leben weit voraus. […] Wie sie das Leben liebten, diese armen Kinder, wie sie ihm vertrauten. Ja das will es, geliebt werden, um grausam zu sein. (BH, S. 111) Wie nicht selten in der Frühen Moderne wird das ‚Leben‘ personifiziert und als selbständige Macht gedacht, hier freilich als eine sehr ambivalente: „Und es ist doch eine so furchtbare Sache“, sagte sie leise. „Das Leben? Natürlich“, meinte Egloff ruhig, „eine Bestie, die nicht zu zähmen ist, da ist nichts zu machen.“ (AH, S. 80) Nur im Ausnahmefall versucht sich eine Figur, die im System der Altersklassen der Frühen Moderne als ‚nicht mehr jung‘, aber als ‚noch nicht alt‘ gilt, an der Realisation solchen Lebens, so Baron Streith in Fürstinnen: „Mit dem Begriff der Jugend“, begann er, „wird eigentlich Unfug getrieben. Jugend, gewiß, gewiß, sie hat ihr Gutes, aber sie wird gewissermaßen überschätzt. […] ich meine nur, diese sogenannte Jugendzeit ist es nicht, auf die es ankommt, für die das Leben eigentlich da ist, sondern eine Zeit, in der wird das Leben verstehen, uns mit ihm befreundet haben, da läßt sich was daraus machen. Das Leben ist ein zu schwieriges Instrument, um in die Schulstuben zu gehören.“ (F, S. 166 f.) Streith geht denn auch eine Altersmesalliance mit einer jungen Frau, Britta, ein, der er freilich vor der Eheschließung wegstirbt. ‚Emphatisches Leben‘ wird nun seit den Anfängen der Frühen Moderne in der absoluten Mehrheit der Texte von einer ungewöhnlichen, möglichst intensiven erfüllenden, ‚leidenschaftlichen‘ erotischen Beziehung erwartet, die regelmäßig mindestens eine der Sexualnormen verletzt, im Normalfall also mindestens vorehelich oder außerehelich ist – so auch bei Keyserling. Sobald somit eine Figur von emphatischem Leben phantasiert, wird in der an sich dem Ideal entsprechenden totalen Ereignislosigkeit der Adelswelt die Möglichkeit von Ereignishaftigkeit eröffnet, die realisiert wird, sobald das Subjekt diesen Antrieb zu verwirklichen versucht. Was die Träger solcher Ereignishaftigkeit anlangt, muss hier über die Geschlechterrollen bei Keyserling gesprochen werden, wobei die Frauenrolle weit ausdifferenzierter erscheint als das Spektrum der männlichen Beteiligten. 208 M. Wünsch Skala der Frauenfiguren Die weiblichen Figuren lassen sich auf einer komplexen Skala situieren. An einem Ende der Skala findet sich die ideale Adelsgattin, die selbstverständlich der eigenen Schicht angehört. Sie wird extrem stilisiert und quasi auf ein Podest gestellt. Ausgerechnet der Onkel in Schwüle Tage, der seine Nichte sexuell benutzt hat und sie jetzt zwangsverheiratet, erklärt bei deren Verlobungsfeier: „[…] sie [die Ehe] ist auch ein Postament, ein Altar – ‚unsere Ehen‘, auf dem die Frau – ‚unsere Frauen‘– geschützt und heilig steht. Denn unsere Frauen sind die Blüte unserer adeligen Kultur, sie sind Repräsentantinnen und Wahrerinnen von allem Guten und Edlen, das wir durch Jahrhunderte hindurch uns erkämpft.“ (ST, S. 48) Keine dieser floskelhaften Leerformeln wird semantisch präzisiert. Dass es eine adelsspezifische Hochkultur mit einem besonders hochwertigen Frauentyp gibt, bleibt bloßes Postulat. So kann auch in Beate und Mareile (1903) Tarniff seine junge Gattin als „ein Heiligtum“, als „dieses auserlesene Wesen“ klassifizieren, ohne dass man aus dem Text erführe, worauf diese Einschätzung denn basieren könnte, die zudem in dem Kontext, in dem sie artikuliert wird, auffällig mit der Absenz von Begehren korreliert ist (BM, S. 108 f.). Diesen angeblichen Idealfrauen wird ihrerseits jede Sinnlichkeit, jedes sexuelle Verlangen abgesprochen. Am anderen Ende der Skala befinden sich die Unterschichtfrauen aus dem Dienstboten- und Bauernmilieu, denen, sofern sie jung und halbwegs hübsch sind, jederzeitige sexuelle Bereitschaft unterstellt wird; diverse Gutsbesitzer glauben, diese Frauen jederzeit sexuell benutzen und sie nach Gebrauch gleichsam wegwerfen zu können. Wie allen Abhängigen begegnet man ihnen bestenfalls mit Herablassung und behandelt sie wie Gebrauchsgegenstände. Die Frauen, denen das Interesse dieser Texte vor allem gilt, sind diejenigen, wiederum unter sich differenzierten Typen auf der Skala zwischen den beiden Extremen: Frauen wie Mareile in Beate und Mareile, wie Karola in Dumala (1907), Doralice in Wellen (1911), wie Fastrade, Lydia und Gertrud in Abendliche Häuser, wie Billy in Bunte Herzen. Sie gehören ebenfalls im Regelfalle der Adelsschicht an, nur im Ausnahmefall sind sie bürgerlich, wie die aus der Unterschicht stammende Künstlerin Mareile und die offenbar aus ökonomischen Gründen angeheiratete Fabrikantentochter Lydia. Solche bürgerlichen Frauen können durchaus geschätzt werden, kommen aber eigentlich unter keinen Umständen als Ehepartnerin in Betracht, wie Mareile sehr deutlich erfahren muss. Die nicht-adelige Frau kann geschätztes Lustobjekt sein, aber nicht als gleichrangig akzeptierte Partnerin. In der Wahrnehmung der Adelswelt liegt ein wirklicher Skandal nur dann vor, wenn eine Frau der eigenen Schicht sich um des Wertes ‚Leben‘ willen auf normverletzende Sexualität einlässt, wie etwa Karola, Doralice, Billy in den entsprechenden Texten. ‚Skandal‘ entsteht natürlich erst, wenn die Normverletzung publik wird, also z. B. nicht bei Ellita in Schwüle Tage, nicht bei Daniela in Am Südhang (1911). Die deutlichste Form von Skandal liefern die Fälle, wo die Frau mit ihrem Erotikpartner durchbrennt, also den adeligen und ehelichen Raum verlässt, so vor allem Doralice und Karola. Im Zur Ethnographie und den Geschlechterrollen 209 Regelfall, besonders deutlich bei Doralice, ist es dann die Frau, nicht der meist initiativ beteiligte Mann, die geächtet und aus der Adelswelt ausgeschlossen wird; auch die zuerst lange als Künstlerin tolerierte Mareile erlebt einen solchen Ausschluss. Typologie der Männerfiguren Sehr viel einfacher gestaltet sich die Typologie der Männer. Hier gilt offenkundig, dass man, mindestens vor der Ehe, sexuelle Affären haben darf, die als belanglos gelten, sofern keine der ‚heiligen‘ adeligen Frauen involviert ist. Schwierig wird der Fall, sobald ein solcher Mann dabei wie Tarniff in Beate und Mareile aus seiner eigenen Ehe ausbricht oder, wie Rast in Dumala und Egloff in Abendliche Häuser, in eine fremde Ehe einbricht. In letzterem Falle ist er wie Egloff von der Sanktion des Duells bedroht. Die adeligen Männer, die ‚Leben‘ in normverletzender Sexualität suchen, sind fast regelmäßig Wiederholungstäter; ihnen wird nachgesagt, dass sie, bevor sie sich an die jeweilige Protagonistin heranmachen, schon einen umfänglichen sexuellen Konsum hinter sich haben, also gewissermaßen das sind, was man einst ‚Wüstlinge‘ nannte. Ihre Gier nach intensivem sexuellen Leben kann dann auch wie bei Egloff zudem sich kompensatorisch in einer Leidenschaft zum Glücksspiel manifestieren. Der interessanteste und radikalste Fall solcher erotischen Beziehungen ist der, wo man die Konsequenz zieht, als Paar den Herkunftsraum der Frau oder des Mannes gemeinsam zu verlassen. Denn da die Beziehung normverletzend ist, kann sie offen in der Tat nur im Außenraum gelebt werden. Für die Frauen, die sich auf eine solche, auch räumliche Grenzüberschreitung einlassen, ist damit offenkundig wie bei Mareile, Karola, Doralice, Billy, die Erwartung einer Dauerhaftigkeit der Beziehung verknüpft; außer Doralice werden alle Frauen in dieser Erwartung enttäuscht. Sie kehren dann entweder wie Billy und Karola in ihren Herkunftsraum zurück oder verlassen, wie vermutlich Mareile, den dargestellten Weltausschnitt. Der Grund dieses für die Frauen enttäuschenden Ausgangs scheint immer in einer Asymmetrie zwischen der Erwartung der Männer und Frauen zu liegen, infolge derer die Frauen enttäuscht werden. Tarniff zieht am Ende die von ihm sexuell entwertete Gattin der sexuell befriedigenden Geliebten vor; Rast scheint wohl sein Wüstlingsleben fortzusetzen; Egloff scheitert daran, dass Fastrade nicht akzeptieren mag, dass er ihr einen Heiratsantrag machte, obwohl er mit Lydia liiert war. Die überspannten Phantasien vom gemeinsamen Liebestod des Polen Boris schrecken Billy ab. Die eigentliche Asymmetrie dieser Beziehungen ist eine des Grades an emotionaler Besetzung des jeweiligen Partners: Für die Tarniffs, Egloffs, Rasts sind die begehrten Frauen im Grunde austauschbar, während umgekehrt die Frauen diese Partner, für die sie sich auf ein mehr oder minder großes Risiko eingelassen haben, individualisiert und nicht nur sexuell, sondern auch emotional besetzt haben. Wo für einen solchen Mann die Frau nur eines von vielen möglicher emphatischer Leben darstellt, tendiert die Frau dazu, in diesem Mann das einzig mögliche emphatische Leben zu sehen. So sagt Lydia zu Egloff: 210 M. Wünsch „[…] es kann nicht aus sein. Ich habe mein ganzes Leben in dieses eine Erlebnis hineingelegt, ich habe sonst nichts.“ „Ich glaube, gnädige Frau“, bemerkte Egloff, „Sie überschätzen dieses Erlebnis.“ (AH, S. 113) Die ‚Leidenschaft‘, die für diese Männer mit dem emphatischen Leben kodiert ist, scheint bei ihnen eine dominant, wo nicht gar rein sexuelle. Ihre angeblich große Leidenschaft tendiert zur Selbstinszenierung, bei der man sich an der eigenen Rolle begeistert, was dann sichtbar wird, wenn sie im Vorhinein für mündliche oder schriftliche Erklärungen für die Frau Worte suchen. Ein schönes Beispiel bietet in Am Südhang (1911) die briefliche Liebeserklärung, die Karl Erdmann an Daniela schreibt und die sie anschließend in seiner Gegenwart kritisch auseinandernimmt. Für alle Figuren, die sich nicht total mit den vorgeblichen Werten der Adelswelt identifiziert haben und potenziell zur Abweichung neigen, gilt, dass sie einsam sind. ‚Einsamkeit‘ bedeutet in diesen Texten vor allem Nicht-Kommunikation. Man hat keine Vertrauten, mit denen man über das reden könnte, was einen bewegt; z. B. in der Erzählung Harmonie (1905), deren Titel der erzählten Geschichte widerspricht, besteht die ‚Harmonie‘ genau darin, dass man über kein Problem offen miteinander spricht. Genau das ist auch das Problem in Wellen (1911), dem einzigen Text, in dem ein geglückter Ausbruch dargestellt wird. Die adelige Doralice hat mit dem bürgerlichen Maler Hans Grill, der keinerlei Wüstlingsvergangenheit hat, ihren Ehemann verlassen; man lebt in einer an sich befriedigenden Liebesbeziehung außerhalb der Adelsgesellschaft zusammen. Dieses Glück gerät insofern in einen Krisenzustand, als es eine Differenz in den Lebenserwartungen gibt: Doralice, so schön, dass sie von allen, auch Mitgliedern der von ihr verlassenen Adelsgesellschaft begehrt wird, leidet daran, dass Grill keinerlei Eifersuchtsregungen artikuliert, die er sich untersagt, weil sie seiner Vorstellung von Freiheit als Voraussetzung einer Liebesbeziehung widersprechen. Die beiden müssten sich folglich nur aussprechen, um den Dissens zu beseitigen und Doralice der Angst zu entheben, Grill liebe sie nicht mehr. Man plant denn auch das nötige Gespräch; leider ertrinkt Grill vorher bei einem Bootsunfall. Grill ist im Übrigen in meinem Textkorpus der einzige bürgerliche Mann, dem der Erwerb einer adeligen Frau gelingt; so scheitern daran sowohl Dorn in Am Südhang als auch der Pastor Werner als auch der bürgerliche Angestellte Pichwit in Dumala. Der Pastor gehört auch in eine Serie von Männern, die sich von einer begehrenswerten verheirateten Frau emotional bevorzugt glauben und die Erfahrung machen müssen, dass diese Frau ihnen einen anderen Mann vorzieht; diese Konstellation begegnet zudem auch den Ich-Erzählern in Schwüle Tage und in Seine Liebeserfahrung (beide 1906). Die Männer und Frauen, die sich auf die soziale Abweichung emphatischen Lebens einzulassen versuchen, sind zweifellos die am ehesten durch Vitalität charakterisierten Figuren; auffällig ist dabei vor allem die Reihe bemerkenswert starker Frauen wie in Beate und Mareile, Wellen, Dumala, Am Südhang, Abendliche Häuser. Die Untergangsstimmung, die ansonsten über den dargestellten Welten Zur Ethnographie und den Geschlechterrollen 211 liegt, wird zum einen dadurch betont, wie viele Figuren der Elterngeneration im Verlauf der erzählten Geschichten wegsterben und wie viele Figuren sowohl der Eltern- als auch der Kindergeneration kränklich sind, und zum anderen durch die auffällige Anzahl vollzogener oder erwogener Suizide: so in Beate und Mareile, Abendliche Häuser, Wellen, Am Südhang, Bunte Herzen, Harmonie, Schwüle Tage. Alle diese Suizide resultieren aus Frustration über nicht erlangtes emphatisches Leben, also gescheiterter Erotik- bzw. Liebeserwartung. Geschlechterrollen in Beate und Mareile Keyserlings vielleicht bekanntester kleiner Roman Beate und Mareile mag zur Illustration einiger der hier beschriebenen Strukturen, insbesondere der Geschlechterrollen, dienen. Nach einem adelsüblichen Vorleben hat der Gutsbesitzer Günther von Tarniff standesgemäß die adelige Beate geheiratet, „das auserlesene Wesen“ (BM, S. 108) von „wunderbarer naiver Reinheit“ (BM, S. 17): „Für euch Frauen“, dozierte Günther mit klingender Stimme, „für euch ist die Ehe ein Anfang – der Anfang. Für uns Männer ist die Ehe auch ein Ende Das Frühere ist zu Ende – aus; verstehst du? Frauen unserer Gesellschaft haben kein Früher. Sie haben Gouvernanten, aber keine Vergangenheit gehabt.“ (BM, S. 9) Eine solche Eheschließung bedeutet theoretisch auch einen Verzicht: War es denn aus mit dem Erleben? Ungeduldig und feindlich dachte er an die Frauen hier, mit ihrem vornehmen Verhüllen aller schöner Nacktheit, an die Frau deren Leib nach jeder Umarmung rein und keusch zu bleiben schien. Konnte ihn das satt machen! (BM, S. 71/72) Im Gespräch mit einem Komplizen seines Vorlebens, dem bürgerlichen Maler Berkow, bemerkt dieser mit Zustimmung Tarniffs, wenn ein „Weib“ zu anziehend sei, „dann müssen wir es eben besitzen, um es loszuwerden“ (BM, S. 37). In anderem Kontext bemerkt Tarniff gegenüber Berkow, „‘ne Frau hat man über sich ergehen zu lassen wie die Dusche oder das Schicksal, nur dann wirkt sie“ (BM, S. 61). Frauen, mit denen nichteheliche Sexualität in Betracht kommt, sind demgemäß normalerweise nach Gebrauch zu streichen, was Tarniff später an dem bäuerlichen Mädchen Eve praktiziert. Auch meint Tarniff, es handele sich darum, „für jede Stimmung das richtige Weib zu finden.“ (BM, S. 16) In die Adelswelt tritt nun Mareile ein, Tochter des bäuerlichen Gutsinspektors, früher mit Tarniff und Beate aufgewachsen, schon damals mit der Erfahrung demütigender Signale des Nicht-Dazugehörens, inzwischen eine erfolgreiche Sängerin von besonderer Schönheit. Als Künstlerin ist sie in der Adelswelt zugelassen, wenngleich die Grenze fühlbar bleibt; so belauscht sie unfreiwillig bei einem Fest ein Gespräch zwischen einem ihrer adeligen Anbeter und dessen Verwandten, in dem dieser jenem in Erinnerung ruft, Frauen wie Mareile seien nicht heiratbar. Sie ist also in dieser Gesellschaft zwar zugelassen, aber latent droht jederzeit die Gefahr 212 M. Wünsch der Demütigung. Jedenfalls lässt sie sich vom ebenfalls bürgerlichen Berkow bewegen, diesen zu heiraten und mit ihm in Italien auf Reisen zu gehen. Die Ehe scheitert binnen kurzer Zeit und Mareile kommt wiederum zu Besuch in die Gutswelt. Tarniff, der schon die sinnliche Bauerntochter Eve konsumiert hat, lässt diese quasi kommentarlos fallen und begehrt nun seinerseits Mareile, die in der Ehe mit Berkow einen Bewusstwerdungsprozess vollzogen hat: „Erst, wenn ein Weib seine eigene Sinnlichkeit versteht, versteht es sich selbst“ (BM, S. 93). Folgerichtig hat sie zu Berkow gesagt: „Weißt du, warum wir Mädchen, die auf den Schlössern aufwachsen, so dumm über die Liebe denken? Weil dort bei dem Gerede über die Liebe immer der Körper unterschlagen wird“ (BM, S. 91). Allmählich findet eine Annäherung zwischen Tarniff und Mareile statt, welche diese eine Weile als emotionale Bindung ohne Sexualität konzipiert. Doch Tarniff gibt sich damit nicht zufrieden: „Sie sind nun mal keine weiße, tugendhafte Frau. Sie sind Mareile, Sie zahlen bar.“ […] Wie Peitschenhiebe traf sie die Brutalität von Günthers Worten. Dennoch wünschte sie, er solle weiter sprechen. Die gewaltsamen Worte taten ihr wohl, schnürten ihr die Kehle zusammen, ließen ihr das Blut heiß in die Schläfen steigen. (BM, S. 125) Die Worte sind in der Tat brutal. Tarniff setzt in Opposition die heiratbare adelige Frau, die sich nichtehelichem Begehren widersetzen darf, und die bürgerliche Mareile, die sich gefälligst den adeligen Gelüsten hinzugeben hat. Schon in früherem Kontext hat Tarniff den Plural die „Mareilen“ gebildet, den er auch später sogar gegenüber Mareile selbst anwendet, indem er von „früheren Mareilen“ (BM, S. 147) spricht. Mareile wird auf diese Weise bis zur Austauschbarkeit entindividualisiert und widerspricht dieser Praktik gelegentlich, auf der Individualität jeder Frau bestehend: „‚Ihr Frauen!‘, wiederholte Mareile, ‚das gibt’s nicht. Jede Frau ist für sich da und kommt so nicht wieder.‘“ (BM, S. 133) Die Äußerung Tarniffs, in der er postuliert im Gegensatz zu adligen Frauen habe eine Mareile sexuell verfügbar zu sein, illustriert natürlich eine Herrenmenschenattitüde und eine sadistische Beziehungsstruktur, die er auch sonst demonstriert. Schon Eve wollte er nicht zuletzt „beugen“ (BM, S. 80) und wenn Mareile weint, heißt es: „Erst wenn ein Weib um seinetwillen geweint hatte, fühlte er es ganz als sein Eigentum.“ (BM, S. 129) Dem Sadismus Tarniffs entspricht bei Mareile offenbar eine masochistische Unterwerfungsbereitschaft, wenn gesagt wird, dass ihr seine gewaltsamen Worte wohltaten und sie in eine potenziell sexuelle Erregung versetzten. Die von Tarniff weggeworfene Eve wird es dann sein, die Beate auf die Beziehung Tarniff – Mareile aufmerksam macht. Die bis dahin latente Ausgrenzung Mareiles als Nicht-Adelige und jetzige Geliebte ihres Mannes wird manifest, wenn Beate plant, sie „fort[zu] jagen, wie einen Dienstboten“ (BM, S. 154), was sie denn auch tut: „Geh! Recht –! Eine wie du hat kein Recht“ (BM, S. 156). Es kommt zur unvermeidlichen Auseinandersetzung zwischen Tarniff und Beate, der seine Untreue dadurch legitimiert, dass er zuweilen Sehnsucht habe „nach – heißem Blut – nach Leidenschaft – nach – nach… nun, mein Gott, nach allem, was du nicht geben kannst und sollst“ (BM, Zur Ethnographie und den Geschlechterrollen 213 S. 158). Tarniff setzt also, dass es einerseits zur Norm der adeligen Ehe gehöre, dass die Frau keine Leidenschaft empfinde („sollst“) und dass andererseits Beate dieser Norm entspräche („kannst“). Gegen diese Identifizierung lehnt sie sich auf: „Und wer… wer sagt dir – daß ich nicht auch heißes Blut habe … daß ich nicht auch …“, sie kam nicht weiter. Mit beiden Händen bedeckte sie ihr Gesicht. Sie schämte sich. Die arme geknechtete, verleugnete Sinnlichkeit wollte sich wehren, aber sie schämte sich davor, sich selbst zu bekennen. (BM, S. 158) Im Gegensatz zur bürgerlichen Frau Mareile, die in der Ehe mit Berkow ihre Sinnlichkeit entdeckt und akzeptiert, entdeckt nun Beate zwar eine potenzielle Sinnlichkeit in sich, aber ihre adelige Sozialisation hindert sie, diese zu akzeptieren, stattdessen schämt sie sich dafür. Diese Inakzeptabilität wird bei ihr noch durch ihr soziales Abgrenzungsbedürfnis gegen die nicht adeligen Frauentypen verstärkt. Schon anlässlich Eves hieß es: „Ekel schüttelte sie; Ekel vor ihrem eigenen Körper, der wie Eve nach Günther verlangte, der Günther dasselbe bot wie Eve“ (BM, S. 88), und nun heißt es: Die anderen, die mit dem heißen Blut, die, von denen Günther gesprochen hatte, die durften rücksichtslos lieben und genießen und sündigen. Sie begann in ihrer vor Einsamkeit fiebernden Seele gegen die Gesetze sich aufzulehnen, unter die sie sich ihr ganzes Leben hindurch gebeugt. […] Und doch, wenn ihr Körper nach Günther verlangte, nach ihm schrie, dann hätte sie ihn schlagen mögen. Wie die Even, die Mareilen sollte ihr Körper nicht fühlen. (BM, S. 162) Ihre latente Auflehnung gegen die Standesnorm wird von ihr selbst wieder unterdrückt – so sehr ist die Norm verinnerlicht. Tarniff lebt in der Folge zunächst bei einem Verwandten in Berlin, wo Mareile erfolgreich ihrer Künstlerkarriere nachgeht. Während sie mit ihm ein normales, wenn auch nicht eheliches, Leben anstrebt, ist er zwar noch auf sie fixiert, aber empfindet sich selbst als defizitär: „es kränkte ihn, dass sie ruhig, stark, harmonisch sein wollte. Krank am Leben, wie er, sollte sie sein“ (BH, S. 168) Bei einer adeligen Geselligkeit macht ein gealterter Fürst und Bewunderer Mareiles eine Bemerkung, die Tarniff zu Recht auf seine Einstellung zu Mareile bezieht: Nur, wenn so edlere Frauengestalten in die Hände unserer kleinen Lebemänner fallen, dann ist’s ärgerlich. Und das kommt vor. Sie werden bemerkt haben, dass Hunde sich mit Vorliebe die schönsten Statuen aussuchen, um stehen zu bleiben und das Bein aufzuheben. (BM, S. 172) Tarniff reagiert mit einer Duellforderung, was für ihn mit einer schweren Verwundung endet. Mareile sucht den Verwundeten auf, den sie für sich erhalten wissen will; dieser freilich hat abrupt sein Interesse an ihr verloren und verlangt nach Beate, die auch pflichtgemäß anreist und ihn mit auf das Gut zurücknimmt. Halbwegs genesen, verweigert er Mareile ein letztes Gespräch, welche ihrerseits noch einmal mit Eve zusammentrifft, mit der sie sich in dem Punkt einig ist, dass man sich wegen solchen Verlassenwerdens nicht im Teich ertränkt. 214 M. Wünsch Schon in diesem relativ frühen Text Keyserlings gilt ebenso wie in den späteren Texten, dass sich kaum Kommentierungen finden, die eindeutig der Erzählinstanz zugerechnet werden können. Dementsprechend gibt es bei Keyserling zwar Werturteile von Figuren über Figuren, kaum aber solche durch die Erzählinstanz, die ihrerseits in einer Art unparteilicher Äquidistanz zu den Figuren verharrt; im Gegensatz etwa zum Literatursystem des Realismus wird keine der drei Hauptfiguren verurteilt, selbst wenn sie normverletzend handelt, und es gibt keine eindeutige Sympathielenkung. Mit dem Realismus verbindet mein Korpus freilich die massive Rekurrenz der Darstellung von Scheitern und Untergängen. Mit der Frühen Moderne, der die Texte chronologisch zugeordnet sind, verbindet Keyserling andererseits, dass Figuren nach emphatischem Leben streben und dass dieser Wunsch als legitim anerkannt wird.3 Literatur Keyserling, Eduard von: Beate und Mareile [1903]. Roman. Mit Nachwort von Uwe Timm. Zürich 2013 [BM]. Keyserling, Eduard von: Schwüle Tage [1904]. Novelle. München 52011 [ST]. Keyserling, Eduard von: Harmonie [1905]. Novelle. Frankfurt/M. 2001 [H]. Keyserling, Eduard von: Dumala [1907]. Bremen 2014 [D]. Keyserling, Eduard von: Bunte Herzen [1908]. Novelle. Coesfeld 22017 [BH]. Keyserling, Eduard von: Wellen, Roman. Am Südhang, Erzählung. Frankfurt/M. 2011 [W]. Keyserling, Eduard von: Abendliche Häuser [1914]. Bremen 2014 [AH]. Keyserling, Eduard von: Fürstinnen [1916]. Roman. Mit Nachwort von Jens Malte Fischer. Zürich 2017 [F]. Kollek, Caren: Literarische Selbstfindungsprozesse um 1900. Personen-, Erotik- und Moralkonzeption in Erzähltexten von Arthur Schnitzler, Eduard von Keyserling und Hermann Sudermann. Kiel 2011. Ort, Claus-Michael: Zeichen der Zeit. Probleme des literarischen Realismus. Tübingen 1998. Titzmann, Michael: „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘“. In: Hans Krah/Claus-Michael Ort (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel 2002, S. 181–209. Wünsch, Marianne: „Vom späten ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne‘: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels“. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 187–203. 3Zu den Literatursystemen Realismus und Frühe Moderne und deren Übergang vgl. grundsätzlich Claus-Michael Ort: Zeichen und Zeit. Probleme des literarischen Realismus. Tübingen 1998; Michael Titzmann: „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘. In: Hans Krah/Claus-Michael Ort (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel 2002, S. 181–209; Marianne Wünsch: „Vom späten ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne‘: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels“. In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 187–203. Über die Liebe Zu Formen und Funktionen von Geschlechterverhältnissen in Keyserlings Spätwerk Luisa Banki Neben der Literatur und der Kunst gilt Eduard von Keyserlings Interesse ebenso anderen Diskursen und Disziplinen, die das Leben der Menschen – insbesondere in und für Zeiten des Umbruchs und der Wandlung, kurz: in und für die Moderne – zu verstehen und zu erklären suchen. In Essays wie Zur Psychologie des Komforts und Über die Liebe entwickelt er Erklärungsansätze des menschlichen Lebens, die zeitgenössischen Diskursen der Anthropologie, Soziologie und Psychologie sehr nahestehen; in seinen Erzähltexten spielt er das thematisch (ebenso wie stilistisch) eng begrenzte und gleichzeitig hochkomplexe Problem des Untergangs einer Lebensform in zahlreichen Variationen durch. Im Folgenden möchte ich einen Essay und eine Erzählung Keyserlings zusammenbringen, um in der gemeinsamen Lektüre ihre Thesen und Themen wechselseitig zu erhellen. Dazu werde ich zunächst in einer Lektüre des Essays Über die Liebe, der 1907 in Die Neue Rundschau erschien, zentrale Thesen der Anthropologie Keyserlings herausstellen und die Bedeutung und Funktion der Liebe, wie er sie dort theoretisiert, rekonstruieren. Dabei wird es mir insbesondere um die geschlechtsspezifisch differenzierten Formen der Liebe gehen, denen für das von Keyserling so genannte „Pathos der Menschenseele“1 eine besondere Funktion – nämlich die Möglichkeit einer Auflösung, wenn nicht sogar einer Erlösung – zukommt. Dann möchte ich die anthropologischen Thesen Keyserlings mit einer literarisierten Darstellung 1Eduard von Keyserling: „Über die Liebe“. In: Die neue Rundschau 18 (1907), S. 129–140, hier S. 137. L. Banki (*) Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: banki@uni-wuppertal.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_14 215 216 L. Banki seiner Liebestheorie konfrontieren und anhand einer Lektüreskizze von Fürstinnen, der letzten 1917 veröffentlichten langen Erzählung, Überlegungen zu den dort geschilderten Möglichkeiten des weiblichen Liebens anstellen. In alledem wende ich mich gegen eine Auffassung von Keyserlings Schreiben als impressionistischer „Stimmungskunst“ im herkömmlichen Sinn, als von intellektuellen Debatten seiner Zeit abgewandte Literatur.2 Vielmehr schließe ich an Untersuchungen seiner Werke an, die die Spannung zwischen der merkwürdigen Zeit- und Raumenthobenheit und der gleichzeitig durchaus erkennbaren gesellschaftskritischen Tendenz dahingehend erklären, dass sie in Keyserlings Schreiben eine Reflexion über die Konstitutionsbedingungen von Gesellschaft und, fundamentaler noch: von Kultur ersichtlich machen.3 „Über die Liebe“ – Zu Keyserlings Anthropologie Der Essay Über die Liebe beginnt mit der Setzung der „Zweiheit von Körper und Geist, die der Mensch ist“.4 Dieser dualistischen Anthropologie zufolge erbaut sich der Mensch seine Erfahrungswelt mittels seiner Sinnlichkeit und seines Verstandes. Dieser mittelbar erfahrenen, erbauten „reale[n] Welt“ gegenüber und „sehr verschieden“ von ihr steht die „Realität des Ichs“, das „Gefühl des Daseins, welches uns unmittelbar gegeben ist.“5 Der dualistischen Spaltung von Körper und Geist fügt Keyserling so eine weitere „Kluft“ hinzu, die besteht zwischen dem „Ich in der Gewißheit seiner Realität“ und der „Erscheinung“.6 Das Ich verbleibt angesichts der umgebenden Realität „einsam“: „Dem Verstande kann es nicht gelingen diese Kluft zu überbücken durch die logisch zugestandene Realität, er kann das Ich nicht aus seiner Einsamkeit reißen.“7 So – dualistisch gespalten in Körper und Geist, ein einzelnes Ich in der Welt – ist der Mensch. Was aber tut, was kann und muss er tun? Keyserlings Antwort lautet: „Der Mensch will leben, nur das, das ist sein Beruf, sein Ziel, sein Pathos.“8 Leben heißt vor allem: mehr leben wollen, „ein Mehr an Leben“ wollen.9 Ein „Mehr an Leben“ findet das Ich, 2Vgl. hierzu bspw. die Beschreibung Gero von Wilperts, das Schreiben Keyserlings sei „eine zuchtvolle, sprachlich gut abgetönte, impressionistische Stimmungskunst wehmütiger Resignation mit skeptischen und leicht ironischen Zügen, genauester Beschreibung der Sinneseindrücke, Sinn für Maß und Form und gereifter sprachlicher Kunst.“ (Gero von Wilpert: Deutschbaltische Literaturgeschichte. München 2005, S. 221.) 3Vgl. Horst Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten 1848–1914. Tübingen 1993, S. 495 f. 4Keyserling: „Über die Liebe“, S. 129. 5Ebd. 6Ebd. 7Ebd. 8Ebd., S. 131. 9Ebd. Über die Liebe 217 wenn es sich aus seiner Einzelheit heraus anderem Leben annähert: „Der Kampf gegen die Einzelheit ist der Hauptinhalt seines Lebens“.10 Die Annäherung an anderes Leben aus der Einzelheit hinaus und die Anerkennung des anderen Lebens als das Leben des/der anderen und als ein dem eigenen Leben gleichwertiges nennt Keyserling: Liebe. Wir müssen unsere Wirklichkeit in die Erscheinung hineinfühlen, um diese uns näher zu bringen. Und wirklich, wir werten die Fülle der uns gegebenen Erscheinungen nach dem Maße von Realität, welche wir ihnen leihen, gleichsam nach der Distanz zu dem Ich. Dort, wo wir die gleiche Wirklichkeit wie die unseres Daseins fühlen, da lieben wir. Liebe heißt einem Gegenstand die Wirklichkeit des eigenen Ichs geben, es zum Ich ernennen.11 So bezeichnet Liebe eine gleichermaßen lebens- wie weltschaffende Kraft: Die Liebe allein schafft außer uns ein dem unsern ebenbürtiges Leben, sie schlägt die Brücke vom Ich zu dem anderen, sie ist es, die uns eine verwandte Welt schafft. Hesiod nennt Eros den Schöpfer der Welt, und er ist es allerdings, der uns die Welt eigentlich belebt, uns eine Welt gibt, von der wir nicht nur logisch überzeugt sind, sondern die wir auch empfinden.12 Die Liebe nähert das Ich in seiner Einzelheit der Welt der Erscheinung an und bringt ihm fremdes Leben nahe. „Dadurch“, so Keyserling, „beschenkt die Liebe uns mit einem Mehr an Leben.“13 Doch die Liebe ist konfliktträchtig, weil auch sie dem dualistischen Grundproblem, dass der Mensch Körper und Geist ist, unterliegt. Entsprechend sind Liebesbedürfnis und Liebesfähigkeit gespalten in körperliche und in geistig-seelische Liebe – gespalten, aber nicht getrennt, denn: „Im Menschen ist das Physische mit dem Psychischen so eng verknüpft, daß in das körperliche Begehren sich stets ein seelisches mischt. […] So begehren wir nie einen Körper an sich, sondern ein Individuum in seiner Besonderheit und Einzigkeit.“14 Das seelische Lieben verkompliziert das körperliche Lieben: „Suchte das Fleisch nur das Fleisch, der Körper nur den Körper, so könnte das Geschlechtsleben nicht den allesdurchdringenden Einfluß erlangen wie jetzt, da der Körper immer eine Bedeutung hat und diese Bedeutung die Seele ist.“15 Die Dualität des Begehrens erklärt, warum die 10Ebd., S. 140. S. 129 f. 12Ebd., S. 130. 13Ebd., S. 131. 14Ebd., S. 130. 15Ebd., S. 135. Hierin liegt der für Keyserling kategoriale Unterschied des menschlichen im Gegensatz zum tierischen Geschlechtsleben: Anders als bei der rein körperlichen „geschlechtliche[n] Leidenschaft“ der Tiere (ebd., S. 134), sieht Keyserling im menschlichen Lieben immer ein Zusammenspiel von Körperlichem und Geistig-Seelischem – deren Anteile in diesem Verhältnis er dann z. B. in seiner Diskussion der Figur des Don Juan/Don Giovanni skalieren kann (vgl. ebd., S. 136). 11Ebd., 218 L. Banki Liebe die konflikthafte Konstitution des Menschen niemals gänzlich lösen kann: „Auch wenn eine große Liebe das Problem noch so vollkommen löst, immer bleibt ein Rest von Widersprüchen und Gegensätzen, die in jede Liebe etwas Gespanntes, Erregendes, in alles Glück etwas wie Schmerz, legt.“16 So ist Liebe immer nur momenthaft als „Wunder“ die „Lösung“ des konflikthaften menschlichen Lebens – vor allem aber treibt sie selbst dieses Leben voran, ist also verbunden mit dessen Bewegung und Veränderlichkeit: Jetzt beherrscht das Erotische alle Verhältnisse des menschlichen Daseins, gibt ihm die Farbe, kompliziert sie, legt in sie sein beglückendes oder vernichtendes Fieber, wird zur treibenden Kraft des gesellschaftlichen Lebens. Wollen wir ein Menschenleben verstehen, so müssen wir wissen, welche Rolle das Erotische in ihm spielt. Es ist der unermüdliche Dramatiker, der unaufhörlich die Knoten schürzt und löst, der Tragiker und Komödiendichter des menschlichen Daseins, unerschöpflich in neuen Formen vom Häßlichsten und Brutalsten bis zum Edelsten.17 Die hier in den Adjektiven so betonte Dynamik – „unermüdlich“, „unaufhörlich“, „unerschöpflich“ – verweist darauf, dass seine Theorie der erotischen Liebe für Keyserling tatsächlich eine Triebtheorie ist, die die (unwillkürliche, unwissentliche, unbewusste) Bewegung („Fieber“, „Kraft“) des menschlichen Lebens erklärt. Zum Verhältnis der Geschlechter Die bisherige Rekapitulation und Kommentierung der Anthropologie Keyserlings beschränkte sich in möglichst allgemeinen Begriffen auf ‚den Menschen‘. Ungesagt blieb dabei, dass die erotische Liebe von Keyserling als gegengeschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau gedacht ist. Während er diese Setzung nicht expliziert, widmet er sich der Spezifität des Liebens beider Geschlechter ausführlich. So bietet er eine Charakteristik der „weibliche[n] Psyche“ sowie des „Wesen[s] des Mannes“,18 um menschliches Leben und Lieben geschlechtsspezifisch differenziert zu beschreiben. Keyserling begreift Mann und Frau als wesenhaft verschieden und gegensätzlich. Er rekurriert dabei auf seit dem 18. Jahrhundert bestehende Modelle von polaren ‚Geschlechtscharakteren‘, wenn er „der Frau“ Unmittelbarkeit im Umgang mit der umgebenden Welt attestiert: Sie sei „impulsiv“ und „die weibliche Seele ein sehr empfindlicher Resonanzboden für alles, was von der Außenwelt in sie hineinklingt“.19 Ihr Lieben sei charakterisiert durch einen „enge[n] Bund zwischen dem Seelischen und Sinnlichen“, wie überhaupt ihr Leben von „Klarheit und 16Ebd. 17Ebd. 18Ebd., 19Ebd., S. 132 und 133. S. 132. Über die Liebe 219 Ganzheit“ geprägt sei.20 Gegensätzlich beschreibt er „den Mann“ als bestimmt von der „kalte[n] Härte seiner Verstandesmäßigkeit und Logik“.21 Solche Ungebrochenheit und Einstimmigkeit bildet einen Gegensatz zu dem Wesen des Mannes. Der Mann empfindet bewußt oder unbewußt stets die Gegensätze und Sprünge des Daseins. Die Kluft, die Inhalt und Form, Erscheinung und Dasein trennen, vermag er nicht mit dem Gefühl zu überwinden, er erzwingt und erkämpft sich mit Verstand und Willen die Einheit. Da muß ihm die gefühlsmäßige Geschlossenheit der weiblichen Seele wie Ruhe erscheinen. Das begehrt er, wenn er das Weib begehrt.22 Die Gegensätzlichkeit der Geschlechter, so Keyserling, ermöglicht ihre Komplementarität und so allererst die heterosexuelle Liebe. Geglückte Liebe bestehe für die Frau in der Aufnahme des Wesens des Geliebten in sich und für den Mann in der Besänftigung seines Selbstbildes, die er dadurch erfährt: Das Glück jeder weiblichen Liebe ist, daß sie stets das Wesen des Geliebten in sich aufnimmt, aber es mit der Harmonie der eigenen Seele umfängt. Das Wesen des Mannes spiegelt sich in ihr, aber ganz in die Farben ihrer Subjektivität getaucht. Nur so erträgt sie es. Und es liegt für den Mann ein seltsames Glück der Liebe darin, sein eigenes Bild in der Seele des geliebten Weibes gesänftigt und geordnet, gleichsam zu einer einfacheren, stilleren Wirklichkeit umgeschaffen wieder zu finden.23 Bemerkenswert ist hier, dass diese Schilderung geglückter Liebe nicht nur konventionell, sondern auch reichlich blass bleibt. Doch während Keyserlings Beschreibung erotisch-romantischer Liebe zwischen Mann und Frau letztlich nur Andeutungen und Gemeinplätze bereithält,24 bieten seine Überlegungen zu anderen Formen der Liebe weitaus differenziertere und innovativere Thesen. Die Liebe zwischen Mann und Frau bleibt sowohl in der Spannung der dualistischen Spaltung als auch in der Polarität der Geschlechter stecken: „In diesen Gegensätzen liegt das Glück der Liebe, in ihnen liegen aber auch alle Gefühlstragödien.“25 Die „Gefühlstragödien“ schließen an die oben zitierte Beschreibung des Erotischen als „Dramatiker“ des Menschenlebens an – verweisen umgekehrt aber auch auf die Position des Beobachters, Zuschauers, vielleicht Lesers dieser so verfassten Menschenleben, die Keyserling hier als Theoretiker der Liebe 20Ebd. 21Ebd., S. 135. S. 133. 23Ebd., S. 134. 24Anders als in seiner psychologischen und anthropologischen Analyse menschlichen Liebens legt Keyserling in seiner Kommentierung künstlerischer Darstellungen von Liebe durchaus Wert auf Individualisierung und Differenzierung. So richtet sich seine Kritik an Kierkegaards Lesart der Figur des Don Juan gerade auf eine Keyserling notwendig scheinende Differenzierung der Liebesobjekte: „Er [Don Juan/Don Giovanni] wollte den Leib des Weibes in allen seinen Formen genießen und die Seele des Weibes in allen Besonderheiten trinken“ (ebd., S. 136). 25Ebd., S. 133. 22Ebd., 220 L. Banki einnimmt. Als solcher erklärt er nicht nur die erotische Liebe als treibende Kraft des Lebens, sondern bietet gleichsam einen Ausweg aus dem endlosen ‚Drama‘ des Dramatikers Eros. Diesen Ausweg bietet eine Form der Liebe, die nicht die erotische ist, sondern die durch eine Vergeistigung des Körperlichen und also durch eine Verschiebung des Liebesziels funktioniert: Den Ausweg bietet eine Form sublimierter Liebe. Sublimierung Den eingangs seines Essays erläuterten Dualismus greift Keyserling nochmals auf, um das Verhältnis von Geist und Körper in Hinblick auf die Möglichkeit einer Befreiung derselben voneinander zu diskutieren – und dieser Möglichkeit eine Absage zu erteilen: „Es hilft nichts, Geist und Körper, die sich so schlecht verstehen, müssen zusammen an dem Glück und Elend der Menschen arbeiten, sie müssen stets die Konflikte schaffen, deren einzige Lösung ein Wunder ist: die Liebe.“26 Dennoch kann, so Keyserlings entscheidende argumentative Volte, der menschliche Geist die Zweckgebundenheit der Natur überschreiten: Die Natur verfolgt ihre Zwecke direkt und zielbewußt, und sie gebraucht die Mittel gerade so lange, als sie ihrer bedarf. Leben schaffen und erhalten ist die Losung. Die Henne fühlt ihre Zugehörigkeit zu den Küchlein nur so lange, als diese der Mutter bedürfen. Nur der Menschengeist nimmt diese Bande, um daraus etwas Absolutes, ein Gefühl zu machen, das um seiner selbst willen da ist.27 Die Fähigkeit zur Vergeistigung ist die Möglichkeitsbedingung zweier Formen vergeistigter Liebe, die Keyserling als Höhe- und Schlusspunkt seiner Ausführungen präsentiert. In seinen Überlegungen zur Funktion der Liebe beruft sich Keyserling nicht nur auf eine breite Tradition bildungsbürgerlichen Wissens, indem er beispielsweise Platon, Horaz, Kierkegaard oder Shakespeare erwähnt oder zitiert, sondern er schließt – wie bereits in seinem etwas früheren langen Essay Zur Psychologie des Komforts von 1905 – auch an zeitgenössische wissenschaftliche Debatten der Anthropologie, Soziologie und Psychologie an. Grundsätzlich folgt Keyserling einer positivistischen Konzeption des Menschen, die diesen von biologischen und psychologischen Prinzipien bestimmt sieht und als Teil einer wissenschaftlich erklärbaren Natur versteht.28 Damit bewegt sich Keyserling über weite Strecken „im mainstream des kulturphilosophischen Denkens des frühen 20. Jahrhunderts“,29 26Ebd., S. 136. S. 136 f. 28Vgl. hierzu ausführlicher Jin Ho Hong: Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept und die Schloßgeschichten Eduard von Keyserlings. Würzburg 2006, S. 137. 29Caroline Pross: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen 2013, S. 318, Hervorh. im Original. 27Ebd., Über die Liebe 221 wobei er eher auf als bekannt vorausgesetztes Wissens anspielt30 als fachwissenschaftliche Diskurse explizit zu referieren.31 So auffällig allerdings die gedankliche Nähe zu anderen kulturanthropologischen Entwürfen seiner Zeit ist, so sind – wie im Folgenden anhand eines Beispiels der Psychologie gezeigt werden soll – die Unterschiede manchmal noch aufschlussreicher. Gerade Keyserlings Konzeption der Vergeistigung der Liebe ist einerseits dem Begriff der Sublimierung Sigmund Freuds ähnlich, weil sie für diesen wie für jenen eine fundamentale kulturelle Funktion erfüllt, unterscheidet sich aber andererseits in wesentlichen Punkten von der letztlich komplexeren Begrifflichkeit Freuds. Für Freud bezeichnet Sublimierung eine Verschiebung des Ziels des Sexualtriebs: Er [der Sexualtrieb] stellt der Kulturarbeit außerordentlich große Kraftmengen zur Verfügung, und dies zwar infolge der bei ihm besonders ausgeprägten Eigentümlichkeit, sein Ziel verschieben zu können, ohne wesentlich an Intensität abzunehmen. Man nennt diese Fähigkeit, das ursprünglich sexuelle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertauschen, die Fähigkeit zur Sublimierung.32 Weil Sublimierung eine Verschiebung des Sexualtriebziels ermöglicht und also den Sexualtrieb selbst umwandelt, bezeichnet sie die Fähigkeit, schöpferische Tätigkeiten auszuführen, die kein manifest sexuelles Ziel verfolgen. Sie ist – hier stimmen Freud und Keyserling überein – fundamental für die Konstitution von Kultur. 30Ein Beispiel hierfür ist die eingangs von „Über die Liebe“ formulierte psychophysiologische ‚Übersetzungsleistung‘ des dualistischen Menschen: „In der Zweiheit von Körper und Geist, die der Mensch ist, vollzieht sich ein beständiges Umgestalten und Ummünzen. Was die Sinne empfangen, wird von dem Geiste zu etwas ganz Verschiedenem umgewandelt und das so Verwandelte beeinflußt wiederum die sinnliche Anschauung. Körper und Geist sprechen verschiedene Sprachen und schieben sich stets denselben Text zu und ein jeder übersetzt ihn in seine Sprache.“ (Keyserling: „Über die Liebe“, S. 129). Pross betont, dass die „wahrnehmungspsychologischen und sinnesphysiologischen Voraussetzungen, die Keyserling offensichtlich als bekannt voraussetzt und auf die er als nicht weiter erklärungsbedürftiges kulturelles Wissen anspielt“, nicht expliziert werden (Pross: Dekadenz, S. 320, Anm. 36). Allerdings lassen sie sich rekonstruieren, wie Susanne Scharnowski am Beispiel visueller Wahrnehmung gezeigt hat (vgl. Susanne Scharnowski: „Wahrnehmungsschwellen. Krise des Sehens und Grenzen des Ich bei Eduard von Keyserling“. In: Nicholas Saul/Daniel Steuer/Frank Möbus/Birgit Illner (Hg.): Schwellen. Germanistische Erkundungen einer Metapher. Würzburg 1999, S. 46–61). 31Die einzige Ausnahme ist sein Rekurs auf Georg Simmels Aufsatz Psychologie der Diskretion (Keyserling: „Über die Liebe“, S. 139). Zum auffälligen Fehlen fachwissenschaftlicher Referenzen vgl. auch Thomé: Autonomes ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 520, Anm. 72. Zum Verhältnis Keyserling-Simmel siehe grundsätzlich den Beitrag von Gerald Hartung in diesem Band. 32Sigmund Freud: „Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität“ [1908]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7: Werke aus den Jahren 1906–1909. Hg. von Anna Freud. Frankfurt/M. 1999, S. 143–167, hier S. 150, Hervorh. im Original. Für eine Rekonstruktion des komplexen und widersprüchlichen Begriffs der Sublimierung bei Freud sowie verschiedener exemplarischer kultur- und literaturwissenschaftlicher Analysen des Konzepts vgl. Eckart Goebel: Jenseits des Unbehagens. „Sublimierung“ von Goethe bis Lacan. Bielefeld 2009. 222 L. Banki Keyserling bezeichnet die Getriebenheit menschlichen Seins, den Wunsch nach einem „Mehr an Leben“, verschiedentlich als „Kampf“: Das Ich kämpft gegen seine Einzelheit,33 in der erotischen Liebe kämpfen die Seelen miteinander.34 Entscheidend dafür, wie aussichtsreich dieser Kampf ist, sind die Waffen, mit denen er ausgefochten wird: Das Ich drängt über die Beschränkung seiner Einzelheit hinaus, der Kampf gegen die Einzelheit ist der Hauptinhalt seines Liebens und Besitz, Macht, Wissenschaft, Kunst sind die Waffen in diesem Kampf. Die entscheidende Waffe aber ist die Liebe, denn was wir durch sie ergreifen, erhält Körper und Wesenheit.35 Die Klimax, die von „Besitz, Macht, Wissenschaft, Kunst“ zur „entscheidende[n] Waffe“ der „Liebe“ führt, betont die Bedeutung der Vergeistigung, denn alle genannten Waffen sind solche, die keine unmittelbare Befriedigung des Begehrens ermöglichen oder genauer, die vom erotischen Begehren hin zu einem sublimierten führen. Dass die Liebe in dieser Reihe als „entscheidende Waffe“ genannt werden kann, liegt entsprechend weniger an der Wirkmacht ihrer erotischen Form als vielmehr an der Möglichkeit der sublimierten Liebe, Klarheit und konfliktfreie Verbundenheit zu schaffen. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zwischen Keyserlings Vergeistigung und Freuds Sublimierung: Während jener in kulturellen Schöpfungen den Sexualtrieb entdeckt, der zwar sein Ziel, aber nicht seine Wirkmacht „vertauscht“ hat, sieht dieser in der Vergeistigung die Möglichkeit zur Lösung des dualistischen Lebens- und Liebeskonflikts des Menschen. In Über die Liebe entwirft Keyserling zwei Formen sublimierter Liebe, die er als weiblich und männlich charakterisiert. Für die Frau stelle die Mutterliebe eine Form der Liebe dar, die dem Seelenkampf enthoben sei und für die Liebende das „Mehr an Leben“, das sie qua Menschsein begehre, biete. Sie [die Mutterliebe] ist gleichsam der Verzicht des liebenden Weibes auf vollgültige Gegenseitigkeit der Liebe. Von ihrer Natur gezwungen zu lieben, entschließt sich die Frau einseitig zu lieben, eine Liebe zu geben, ohne sie gleichartig und gleichwertig zurück zu empfangen. Deshalb ist die Mutterliebe der sublimierteste Ausdruck des weiblichen Wesens. Das dienende Beherrschen ist die letzte Zuflucht der weiblichen Liebesbedürftigkeit, sie ist oft auch die letzte Lösung in dem Kampf der Seelen, den die Liebe zwischen Mann und Frau bedeutet.36 In der Mutterliebe wird das körperliche Begehren in einer vergeistigenden, von Keyserling resignativ gedachten Wendung aufgehoben und die so liebende Frau dem Liebeskampf enthoben. In gewisser Weise impliziert Keyserling sogar, dass die sublimierte Liebe der Mutterliebe und, wie gleich zu sehen sein wird, der 33Keyserling: „Über die Liebe“, S. 140. S. 135. 35Ebd., S. 140. 36Ebd., S. 137. 34Ebd., Über die Liebe 223 Freundschaft, eine befriedigendere, mindestens befriedetere Liebe ist als die erotische Liebe. Während dort der Kampf der Seelen – die, wie Keyserling schreibt, die „Bedeutungen“ der Körper sind37 – die Menschen zwar erregt, dabei aber nie restlos befriedigen kann, besteht hier die Möglichkeit einer harmonischeren Erfüllung des Strebens nach einem „Mehr an Leben“. Freundschaft funktioniert ähnlich und wird von Keyserling als männlich charakterisierte Form der sublimierten Liebe genannt: „Liebe, ganz vom Geiste beherrscht, ist Freundschaft.“38 Er bestimmt Freundschaft als freie, „bewußte Wahl“39 und schließt damit wiederum an seit dem 18. Jahrhundert geläufige Bestimmungen von Freundschaft als verstandesmäßig getroffene Entscheidung an, was damals ebenso wie bei Keyserling als eine männliche Fähigkeit erscheint:40 Keyserlings Beispiele für Freundschaften sind allesamt Beziehungen zwischen Männern vorbehalten. Die Funktion der Freundschaft ist diejenige der Liebe – befreit vom Konfliktpotenzial der Sinnlichkeit: Wie in jeder anderen Liebe, so wollen wir auch in der Freundschaft ein Mehr an Leben erlangen, indem wir fremdes Leben in uns aufnehmen und fühlen, daß unser Leben in dem andern sei; aber weil der Körper hier nicht in seiner unklaren und hitzigen Art hineinspricht, kann dieses Leben, das wir geben und nehmen, geklärt sein wie edler Wein.41 Wenn Liebe in Keyserlings Ausführungen also als Lebensnotwendigkeit und dabei als Quelle von Glück und Leid gleichermaßen erscheint, dann ist die vergeistigte Liebe in Form der weiblichen Mutterliebe oder der männlichen Freundschaft in gewisser Weise die ‚bessere‘ Liebe, da sie deren Funktion – als „Waffe“ im Kampf des einzeln-einsamen Ichs gegen seine Einzelheit – am besten, was heißt am besten konfliktlösend, erfüllt. Was aber, wenn einem Menschen, einem Ich in seiner Einzelheit, solche Sublimierung verwehrt bleibt? Wenn der „Dramatiker“ Eros Konflikte schafft, die nicht ausgesprochen, ausgelebt, ausagiert werden können? Ebendieser Situation widmet sich Keyserling wiederholt in seinen literarischen Schriften, was in einem letzten Schritt anhand einer Lektüreskizze von Fürstinnen gezeigt werden soll. Kein „Mehr an Leben“ – Fürstinnen Die letzte veröffentlichte lange Erzählung Keyserlings, Fürstinnen, lässt sich als Experimentierfeld der im Essay Über die Liebe theoretisch diskutierten Möglichkeiten des erotischen und sublimierten Liebens lesen. Das hier literarisch 37Vgl. ebd., S. 135 und oben. S. 138. 38Ebd., 39Ebd. 40Vgl. hierzu grundlegend Eckhardt Meyer-Krentler: Der Bürger als Freund. Ein sozialethisches Programm und seine Kritik in der neueren deutschen Erzählliteratur. München 1984. 41Keyserling: „Über die Liebe“, S. 140. 224 L. Banki durchgeführte Experiment besteht, so meine These, darin zu erkunden, was geschieht, wenn nichts geschieht, wenn nichts geschehen kann, weil ein Ich literarisch dargestellt wird, dem für den „Kampf“ gegen seine Einzelheit keine Waffen gegeben sind, dessen Drang „über die Beschränkung seiner Einzelheit hinaus“ also beständig arretiert, gehindert oder verhindert wird. Ein mit Blick auf die späteren Erzähltexte Keyserlings häufig vermerkter Lektüreeindruck bezieht sich auf deren merkwürdige Ort- und Zeitlosigkeit.42 Die Texte – und Fürstinnen ist hier beispielhaft – schildern adliges Landleben, besprechen dabei aber weder die gesellschaftliche (politische oder ökonomische) Position dieser Klasse noch die Spezifität des Landes und seiner Schlösser gegenüber beispielsweise der modernen Großstadt. Mit der – mit Horst Thomé gesprochen – „Entkonkretisierung“43 von Zeit und Raum geht bei Keyserling eine „Entkonkretisierung“ der Figuren einher: Die Prinzessinnen sind einfach nur adelige Mädchen, die wie alle adeligen Mädchen auf die Zukunft warten, gehen somit also im Typus auf. Die Bestimmung des Typus wiederum ist auf eine höchst allgemein durch die soziale Stellung und die lebensgeschichtliche Phase (geschlechtsreif, aber unverheiratet) determinierte Triebverfassung reduziert.44 Zur Darstellung kommen – hier folge ich noch Thomé – Triebpotenziale eher denn individualpsychologisch differenziert gezeichnete Figuren, deren Subjektivität beispielsweise durch eine Ich und Welt vermittelnde psychische Tätigkeit nachgezeichnet werden könnte. Richard Brinkmann beschreibt die Erzählweise Keyserlings als eine „Objektivierung des Subjektiven“, womit gemeint ist, dass die ‚Objektivität‘ der Erzählweise eine scheinbare ist, da die erzählten Realitätspartikel in Auswahl und Arrangement den Neigungen der Hauptfiguren entsprechen.45 Ganz ähnlich lässt sich als Thema und Struktur der Erzählung 42Vgl. Thomés Kommentar zu diesem Befund: „Das Phänomen, daß die Autoren ihre Stoffe ohne Schwierigkeiten räumlich oder zeitlich transponieren können, begegnet in der Literatur der Jahrhundertwende öfter. […] Die Beliebigkeit dürfte, wie bei Keyserling auch, durch die strukturgeschichtliche Stellung der Texte zwischen Realismus und ‚Moderne‘ bedingt sein. Die Abstraktion […] ist schon so weit fortgeschritten, daß der Gehalt nicht mehr an die Bedingungen konkreter Örtlichkeiten gebunden ist, während die Darstellungsweise immer noch eine gewisse detailrealistische Konkretisierung intendiert.“ (Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 514, Anm. 55.) 43Ebd., bspw. S. 516 und 518. 44Ebd., S. 534. 45Richard Brinkmann: „Eduard von Keyserling: ‚Beate und Mareile‘. Die Objektivierung des Subjektiven“. In: Ders.: Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts. Tübingen 1957, S. 216– 290, bes. S. 232. Über die Liebe 225 Fürstinnen die literarische Variation von „Lust-Situationen“ ausmachen, in denen Innen- und Außenwelt ineinander verschwimmen oder genauer – wobei bereits die Nähe zwischen der essayistischen Argumentation in Über die Liebe und der Literarisierung in Fürstinnen auffällig wird – in denen es fundamental um die Infragestellung jedes gegebenen Verhältnisses von Innen- und Außenwelt (und also auch der Erfahrung und Gestaltung von dieser oder jener) geht.46 In Fürstinnen wird das Verhältnis von Innen- und Außenwelt problematisiert, indem der scheinbar selbstverständliche Begriff „Leben“ den titelgebenden Adligen abgesprochen wird: Sie, die adligen Frauen im Schloss, stehen abseits des Lebens.47 Dass das „Leben“ etwas ist, was sich außerhalb des Schlosses, jedenfalls außerhalb ihrer Reichweite abspielt, bemerken sie verschiedentlich selbst, etwa wenn die Fürstin reflektiert: „Sie war die unnahbare, engelsgute Fürstin. Das Leben ging an ihr vorüber, und ihr blieb nur ihre Würde.“48 Oder wenn Marie – die jüngste der drei Prinzessinnen und zentrale Figur der Erzählung – die Söhne des Grafen Dühnen auf der Landstraße am Schlossgarten vorbeigehen sieht: „Und immer empfand sie dann etwas, das ihr das Herz schwer machte, als sei dort das freie, lustige Leben an ihr vorübergegangen.“49 Oder wenn sie die Worte des französischen Fräuleins erinnert, die sagte, „das Leben hier im Schlosse war kein Leben, ‚on étouffe‘.“50 Man „erstickt“ vor allem, weil man sich nicht bewegen darf (Mademoiselle Laure, so weiß oder phantasiert Marie, tanzt denn auch heimlich und für sich allein). Während Keyserlings Essay Über die Liebe geradezu hymnisch schloss mit der Beschwörung des „Lebens [als] einem gemeinsamen Familiengut mit gemeinsamer Verantwortung und gemeinsamer Besitzteilnahme“,51 erschafft er in Fürstinnen (einer Erzählung, die in vielerlei Hinsicht 46Vgl. Thomés Analyse: „Der Text entwirft eine in sich konsistente ‚Lust-Situation‘, die der Leser je nach dem Ordnungsschema, das er wählen will, als Aufnahme der Welt in das Ich oder als Verschwinden des Ich in der Welt beschreiben kann.“ (Thomé: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘, S. 535.) 47Interessant ist hier auch der Vergleich mit dem Roman Wellen von 1911, in dem die Zentralfigur Doralice zwar einerseits auch vom (gesellschaftlichen) Leben ausgeschlossen, andererseits aber eine viel ambivalentere – weil nicht zuletzt auch aktivere – Frauenfigur ist (vgl. die Bemerkungen zu Doralice im Kontext der auch für Fürstinnen aufschlussreichen Diskussion der Natur-Kultur-Differenz von Rolf Parr: „Topographien von Grenzen und Räume der Liminalität. Eduard von Keyserlings Roman ‚Wellen‘“. In: Achim Geisenhanslüke/Georg Mein (Hg.): Grenzräume der Schrift. Bielefeld 2008, S. 143–165, hier S. 152). 48Eduard von Keyserling: Fürstinnen [1917]. München 2005, S. 158. 49Ebd., S. 14. 50Ebd., S. 31, Hervorh. im Original. 51Keyserling: „Über die Liebe“, S. 140. 226 L. Banki paradigmatisch für das späte Erzählwerk ist52) gleichsam die Antithese dazu, indem er Protagonistinnen wählt, die keinerlei Gemeinsames haben, sondern im Gegenteil in ihren Einzelheiten verharren und verhärten. Bereits hier deutet sich eine grundlegende Struktur der Erzählung an, in deren Kern Dichotomien wie aktiv-passiv, dynamisch-statisch, offen-geschlossen und nicht zuletzt auch männlich-weiblich stehen. So heißt es eingangs der Erzählung programmatisch: „Wie kann eine Prinzessin ihren eigenen Weg gehen? Ihr Weg ist ihr vorgeschrieben, sie läuft wie auf Schienen“.53 Der Vergleich von Prinzessinnen und „Lokomotiven“,54 der zwar humorvoll, aber ernsthaft vorgeschlagen wird, spricht ihnen Autonomie und innere wie äußere Beweglichkeit ab – was im Falle Maries ins Extreme getrieben ist, da ihr aus Gesundheitsgründen häufig selbst körperliche Bewegung verboten wird.55 Entsprechend beschreibt diese ihr Leben abseits des Lebens: „Prinzessinnen sitzen zu Hause und warten auf eine Krone“.56 Als Prinzessin befindet sie sich nicht im Leben, sondern allenfalls in dessen Erwartung. In der Erzählung wird die Autonomie- und Bewegungslosigkeit von Prinzessinnen in einer Formulierung gefasst, die ihnen die Möglichkeit der „Entwicklung“ abspricht. Noch recht zu Beginn der Erzählung kommt im Laufe einer Unterhaltung bei Tisch die Rede auf Hilda, die Tochter eines befreundeten Barons und später Maries Freundin, die mit der allgemein Verwunderung provozierenden Aussage zitiert wird, sie wolle von zu Hause fort, da sie sich dort „nicht entwickeln“ könne. Ihr Vater kommentiert: Will sie Kranke pflegen, will sie studieren, will sie Postfräulein werden? Was weiß ich. Sie kann sich zu Hause nicht entwickeln, sagt sie. Haben Sie je gehört, daß zu unserer Zeit unsere Damen sich entwickelten? Nein – aber sie muß fort. Sie sagt, sie wird nicht wie eine Prinzessin zu Hause sitzen und auf eine Krone warten.57 Das doppelte Possessivpronomen – „daß zu unserer Zeit unsere Damen sich entwickelten“ – verweist auf einen Grund der Entwicklungslosigkeit dieser Damen, 52Keyserlings spätere Texte variieren ein seit Beate und Mareile (1903) weitgehend gleichförmiges Basisschema: Die verschiedenen ‚Schlossgeschichten‘ in Erzähl- oder Romanform stehen in einem „dichten intertextuellen Beziehungsverhältnis“ (Pross: Dekadenz, S. 369, zur Gattungsbestimmung vgl. S. 368) und bieten Variationen des Zentralthemas des Verfalls, der Absage an Wachstum und Wandel, der Dekadenz im strengen Sinne: „In Keyserlings Spätwerk wird das Dekadente endgültig vom Sonder- zum Regelfall, von der Ausnahme zu einem verallgemeinerten Modell einer als geschichtliche Spätzeit ausgelegten kulturellen Moderne.“ (Ebd., S. 369.) Für eine Untersuchung der Dekadenzmotive in Fürstinnen vgl. Irmtraud Ubbens: „Motive der Décadence in Eduard von Keyserlings Roman ‚Fürstinnen‘“. In: Studia Germanica Gedanensia 8 (2000), S. 61–75. 53Keyserling: Fürstinnen, S. 9. 54Ebd. 55Vgl. bspw. die ärztlichen Verbote, zu schwimmen und zu reiten in ebd., S. 32 und 40 f. 56Ebd., S. 21. 57Ebd., S. 19. Über die Liebe 227 denen durch ihre gesellschaftlich ebenso wie geschlechtlich bestimmte Position als Frauen (Töchter, Gattinnen etc.) von jemandem eine eigene Entwicklung versagt bleibt.58 Hilda selbst greift in einem späteren Gespräch mit Marie nicht nur die Unterscheidung nach Geschlecht und also zwischen Frauen und Männern der Gesellschaft wieder auf, sondern auch die Unterscheidung innerhalb der Gruppe der Frauen zwischen solchen, die sich entwickeln können und solchen, die es nicht dürfen: Hilda zuckte leicht mit den Schultern: „Ach nein, Prinzessinnen entwickeln sich nicht.“ Das kränkte Marie, sie wurde ganz rot: „Warum sollen wir uns nicht entwickeln? Natürlich, Krankenpflegerin oder Postfräulein will ich nicht werden, deshalb kann ich mich doch entwickeln.“ Hilda jedoch lachte ihr lautes, gutmütiges Lachen: „Das mit dem Postfräulein hat mein Vater gesagt, das erkenne ich. Nein, Postfräulein will ich nicht werden, es gibt soviel andere Berufe, ja, es gibt eigentlich alle Berufe, wir müssen sie nur erobern. Unsere Brüder bleiben auch nicht zu Hause und werden, was sie wollen. Warum sollen wir immer Töchter bleiben? Tochter ist so ein schreckliches Wort. Tochter ist ein Wesen, das eigentlich nur dazu da ist, um abends ins Haus zurückgeschickt zu werden, damit es der Mama einen Schal holt, weil es anfängt kühl zu werden.“59 Während Hilda den Kampf um weibliche Emanzipation aus der konventionellen Geschlechterrolle führen und qua „Beruf“ und „Entwicklung“ ein Selbst jenseits ihres Status als Tochter ausbilden will, ist Marie aus ihrer Position als Prinzessin heraus (mit der zu brechen sie zu keiner Zeit erwägt) unfähig, dies zu tun. Bezeichnenderweise hört sie dieser Rede ihrer Freundin gar nicht richtig zu, sondern denkt an Felix, den jungen Grafen Dühnen, und also an die Liebe. Die Liebe bedeutet – hier ebenso wie im oben besprochenen Essay – den Ausweg aus der Vereinzelung des Ichs und damit die Möglichkeit eines „Mehr an Leben“. Diese Möglichkeit, durch Liebe endlich zum „Leben“ zu kommen, scheint sich Marie zu bieten als sie sich in Felix verliebt: Marie saß in der Fliederlaube, ein Buch lag auf ihren Knien, den Kopf hatte sie zurückgebogen und schaute durch die blauvioletten Blüten wie durch ein Gitter in den blauen Himmel. Sie erlebte jetzt eine bedeutsame Zeit. Zum ersten Male fühlte sie sich leben, fühlte ihren Körper und ihr Blut, sie fühlte sich als etwas, das wundersam blüht; zum ersten Male sah sie sich leben und wartete gespannt, was ihre Liebe und ihr Schmerz sie zu tun und zu denken heißen würden.60 58Entsprechend verweist ein Kommentar auf diesen Bericht auch auf die Notwendigkeit, dass diese Frauen diese Position einnehmen, wenn die bestehende Gesellschaftsform Bestand haben soll: „Schließlich wenn diese Damen sich entwickelt haben, so weiß die Gesellschaft nicht, was sie mit ihnen anfangen soll.“ (Ebd.) 59Ebd., S. 35 f. 60Ebd., S. 142 f. 228 L. Banki Doch wie in der Blumenmetaphorik angedeutet, in der der blühende Flieder sowohl die erregende Lebenskraft als auch die „Gitter“ des die Prinzessin gefangenhaltenden Bereichs (Laube, Park, Schloss, Prinzessinnenschaft) darstellt, erfüllt sich diese Möglichkeit, dieses „Triebpotenzial“ nicht. Der bald hochverschuldetet Lebemann Felix und Marie kommen nicht zusammen. Für Marie bedeutet die Möglichkeit erotischer Liebe die Möglichkeit zu leben: „Ja, das ist Leben“, kommentiert sie einen Kuss.61 In entsprechenden Begriffen formuliert sie ihre Verzweiflung über das Ende der Beziehung: „‚Jetzt bist du böse‘, jammerte Marie, ‚aber was kann ich tun, du bist ja mein einziges, und wenn du nicht gut bist, was habe ich dann? Lieber will ich sterben, als immer die kränkliche Prinzessin sein.‘ ‚Auch das noch‘, murmelte Felix.“62 Wer nicht im „Leben“ steht, kann auch nicht „sterben“, sondern nur das dann eher melodramatische Wort führen. Neben der Möglichkeit, über das Ergreifen eines Berufs eine eigene Entwicklung anzustreben, ist ein weiterer – weniger kämpferischer, konventionell und gesellschaftlich sanktionierter – Ausweg aus der Tochterposition die Ehe: das (Ehe-)Frau- und vor allem das Mutterwerden. Für Marie allerdings ist ebendieser Weg versperrt, da sich kein Kandidat für eine standesgemäße Ehe findet. Durch die Unmöglichkeit einer Eheschließung wird Marie nicht allein die emotionale und sexuelle Erfahrung der Liebe versagt, sondern – wie vor dem Hintergrund der Keyserlingschen Liebes- und Ichtheorie ersichtlich wird – in der Konsequenz vor allem auch die Mutterschaft und damit die nach Keyserling entscheidende, vielleicht einzige Möglichkeit, einer weiblichen sublimierten Liebe, einer Veränderung ihres Triebziels und -schicksals. Wenn der „Hauptinhalt [des] Lebens“ in den Begriffen des Essays Über die Liebe der Drang des Ichs über die Beschränkung seiner Einzelheit hinaus ist, und die „Waffen“, diesen „Kampf“ zu führen „Besitz, Macht, Wissenschaft, Kunst […] [,] Liebe“ sind,63 so erschafft Keyserling mit Marie eine Protagonistin, die waffenlos ist: Die Bedingung der Möglichkeit der Mutterliebe, die Mutterschaft, bleibt Marie ebenso verwehrt wie Bildung, Ausbildung oder – als ledige, minderjährige Tochter einer verwitweten Mutter – Besitz oder Macht. Die einzige Beschäftigung, die ihr angetragen wird, sich als Wohltäterin im Dorf zu engagieren,64 lehnt sie ab, weil sie gleichzeitig den Verzicht auf alle anderen Tätigkeitsfelder bedeutete. Marie wird von erotischer Liebe – oder eher: Liebelei – enttäuscht und ist zur von Keyserling theoretisierten Vergeistigung ihres Drangs nach einem „Mehr an Leben“ nicht fähig. Sie bleibt Prinzessin, aber wenn dies eingangs der Erzählung noch bedeutete, zu „warten“, so ist ihr am Ende derselben die Erwartung verloren gegangen – sie ist, wenn möglich, noch weiter vom Leben entfernt: 61Ebd., S. 149. S. 148. 63Keyserling: „Über die Liebe“, S. 140. 64Vgl. Keyserling: Fürstinnen, S. 143. 62Ebd., Über die Liebe 229 Auf der anderen Seite des Schlosses auf der Gartenveranda lag Prinzessin Marie in einem Korbsessel, und die runden, blauen Augen sahen in den Mittagssonnenschein hinein, ruhig und ein wenig traurig, Augen, die nicht mehr erwarten, daß dort vor ihnen in dem flimmernden Lichte etwas Schönes oder Erregendes auftauchen könnte.65 Leben, Liebe, Literatur Liest man Fürstinnen als Evokation verschiedener „Lust-Situationen“, als Exploration der Triebpotenziale der Zentralfiguren und als Explikation ihrer Ziele und, mit Freud gesprochen, Schicksale, ist sicherlich insbesondere die auffällige Bewegungshemmung, die immer wieder auf verschiedene Weise Thema der Erzählung ist, von Bedeutung. Marie bleibt mit der Ehe nicht allein die gesellschaftliche Anerkennung oder die Möglichkeit der Reproduktion ihrer gesellschaftlichen Klasse verwehrt, sondern – wie vor dem Hintergrund der liebestheoretischen Darlegungen Keyserlings deutlich wird – vor allem auch die Erfüllung des eigentlichen „Lebensinhalts“. Weder Freundschaft (so dies überhaupt eine Möglichkeit für eine Frau wäre, was bei Keyserling nicht der Fall zu sein scheint) noch Mutterschaft stehen ihr zur Verfügung, um den „Kampf“ aus ihrer Einzelheit erfolgreich oder überhaupt kämpfen zu können. In Fürstinnen konvergiert die literarische Darstellung in ihrer Entwicklung gehemmter Triebpotenziale mit Keyserlings essayistisch formulierter Anthropologie und Psychologie. Die bemerkenswerte Unbestimmtheit von Zeit und Raum – Marie ist irgendeine Prinzessin auf irgendeinem Schloss irgendwo auf dem Lande – können vor dieser Einsicht auch als Bedingungen einer möglichst verallgemeinerbaren Darstellung menschlicher Kultur und menschlichen Lebens in der Gesellschaft gelesen werden. Die innere und äußere Bewegungslosigkeit des dargestellten Ichs verweist auf die Grundverfassung menschlichen Lebens, die Bewegung oder, mit Keyserlings Begriff gesprochen, „Drang“ ist, und eröffnet dabei eine Reflexion derselben, die gleichermaßen gesellschaftliche, geschlechtliche und allgemeinmenschliche Möglichkeiten des Lebens betrifft. Streng genommen lässt sich die geschlechtsspezifische Differenzierung, die Keyserling anbietet und die deutlich konventioneller und konservativer ist als andere Aspekte seines Schreibens, an dieser Stelle auch nicht mehr aufrechterhalten: Sowohl in seinen theoretischen als auch in seinen literarischen Darstellungen sind die anthropologischen Darlegungen zu Dualismus und dem Verhältnis von Ich und Außenwelt interessanter und überzeugender als die psychologisch argumentierende Geschlechtsspezifik. Die konventionelle Darstellung des Geschlechterverhältnisses in Über die Liebe – die Keyserling vielleicht nur als Grundlage seiner Theorie der vergeistigten Liebe braucht – gewinnt in seinen literarischen Texten 65Ebd., S. 200. Wiederum ist der Vergleich mit Wellen und dort mit Doralice interessant, denn diese findet sich am Romanende zwar ebenfalls befangen in ihrer Situation, aber eben im Unterschied zu Marie in Erwartung einer doch möglichen Veränderung – so dass sie darauf wartet, „daß das Meer sie freigäbe.“ (Eduard von Keyserling: Wellen [1911]. München 142016, S. 173.) 230 L. Banki mit ihren gewagteren, offeneren und mehrdimensionalen Charakterisierungen von Männern und vor allem von Frauen deutlich an Komplexität. Vor allem aber sind es die Strukturen menschlichen Lebens, für die Keyserling im Kontext zeitgenössischer Debatten über den Menschen und die Krisen der Gesellschaft und des Geisteslebens – an die er in seiner unwissenschaftlich-wissenschaftlichen Essayistik anschließt – eine ganz eigene literarische Darstellungsform findet, die sich sowohl affirmativ in diesen Kontext einschreibt als sich ihm auch immer wieder entzieht. Literatur Brinkmann, Richard: „Eduard von Keyserling: ‚Beate und Mareile‘. Die Objektivierung des Subjektiven“. In: Ders.: Wirklichkeit und Illusion. Studien über Gehalt und Grenzen des Begriffs Realismus für die erzählende Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts. Tübingen 1957, S. 216–290. Freud, Sigmund: „Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität“ [1908]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7: Werke aus den Jahren 1906–1909. Hg. von Anna Freud. Frankfurt/M. 1999, S. 143–167. Goebel, Eckart: Jenseits des Unbehagens. „Sublimierung“ von Goethe bis Lacan. Bielefeld 2009. Hong, Jin Ho: Das naturalistisch-szientistische Literaturkonzept und die Schloßgeschichten Eduard von Keyserlings. Würzburg 2006. Keyserling, Eduard von: Fürstinnen [1917]. München 32011. Keyserling, Eduard von: „Über die Liebe“. In: Die neue Rundschau 18 (1907), S. 129–140. Keyserling, Eduard von: Wellen [1911]. München 142016. Meyer-Krentler, Eckhardt: Der Bürger als Freund. 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Wilpert, Gero von: Deutschbaltische Literaturgeschichte. München 2005. „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“ Dekadenter Alltag zwischen Erlebnishunger und Lebensunfähigkeit im Spätwerk Keyserlings Stephanie Catani Karl Erdmann von West-Wallbaum, der Protagonist in Keyserlings 1911 erschienener Erzählung Am Südhang, kehrt als jüngst ernannter Leutnant ins elterliche Landhaus zurück – wie er es alljährlich in den Sommermonaten tut, denn hier, heißt es einleitend, würde er nichts anderes zu tun haben, als im alten Garten umherschlendern, auf den Wiesen liegen, von seiner Mutter und seinen Schwestern sich verwöhnen lassen, des Vaters gute Zigarren rauchen und ungestört dieses Gefühlvolle in sich gewähren lassen, wie es nur in den alten elterlichen Landhäusern gedieh.1 Die gleichzeitige Aussicht auf ein anstehendes Duell kann die Vorfreude nicht wirklich trüben – im Gegenteil: „[A]lleine die Tatsache“, wird aus der Perspektive des Protagonisten festgehalten, „daß es zu den Ereignissen dieses Sommers gehören würde, gab dem Bilde dieses Sommers, gab der Gestalt Karl Erdmanns doch ein eigenes, ein wenig mystisches Licht.“2 Das idyllische Landleben im Elternhaus erweist sich dabei als Kombination aus trägen, von Nichtstun geprägten Sommertagen und einer nervösen Anspannung, die Karl Erdmann 1Eduard von Keyserling: „Am Südhang“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. München 2018a, S. 393–462, hier S. 394. 2Keyserling: „Am Südhang“, S. 395 f. S. Catani (*) Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: stephanie.catani@uni-saarland.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_15 231 232 S. Catani jetzt im Blute saß, als könnte er etwas versäumen, als müßte etwas geschehen, etwas getan werden. Es war ihm, als hätte er die Aufgabe, etwas sehr Wichtiges seines Lebens zu erleben und sei ungeduldig, daß die Sache nicht schnell genug vorwärts ginge.3 Diese erzählerische Ausgangsituation – das unruhige, nervöse Sehnen nach einem möglichst intensiven Erlebnis vor der Kulisse einer mal romantisch-verschlafenen, mal verstaubt-konservativen, landadeligen ‚Welt von gestern‘ – begegnet leitmotivisch gerade in den späten Texten Eduard von Keyserlings. Stellvertretend für diese Texte werden im Folgenden der Roman Abendliche Häuser (1914), die Novelle Nicky (1915) und abschließend die Erzählung Nachbarn (1911) untersucht. Nicht das tatsächlich Erlebte steht in diesen Erzähltexten im Vordergrund, sondern das Warten darauf – die Antizipation einer emotionalen Erregung, die den monotonen Alltag aufzubrechen verspricht. So reist etwa die junge Baronin Nicky in der gleichnamigen Novelle voller Vorfreude auf ein besonderes Erlebnis in die jährliche Sommerfrische: Dass Jahr für Jahr nichts passiert, was das sommerliche Einerlei unterbricht, mindert ihre Hoffnung nicht im Geringsten, sondern steigert sie im Gegenteil: Jedes Jahr freute sie sich auf die Sommerfrische, und jedes Jahr war es eine Enttäuschung. Wenn sie jedoch in der Stadtwohnung die Möbel mit den weißen Überzügen bedecken ließ, ihre Sachen fortschloß und alles für ihre Abwesenheit vorbereitete, dann erregte sie ein angenehm erwartungsvolles Gefühl, nun würde sie auf einige Zeit der Gleichförmigkeit ihres geordneten Lebens entrinnen, und ihr Schicksal hatte Gelegenheit ihr etwas zu bringen, das nicht so farblos, so vorläufig war, wie ihr jetziges Leben ihr erschien.4 Das sehnsüchtige Warten auf ein Erlebnis, das erst noch beginnen muss, verbindet die Figuren in Keyserlings Texten, und nicht selten begründet es auch ihr Scheitern. Ein Scheitern, das sich, wie im Folgenden nachvollzogen wird, zeitpolitisch und geistesgeschichtlich verorten und – darauf sucht die Textanalyse am Ende des Beitrags hinauszulaufen – zugleich poetologisch-autoreflexiv deuten lässt. Der Erlebnisbegriff Aus Sicht der Literaturwissenschaft ist der Erlebnisbegriff kein einfacher – auch, weil er in der Regel für die Dichtung des 18. Jahrhunderts, gerade den Sturm und Drang, in Anspruch genommen wird, obgleich der Begriff selbst im 18. 3Ebd., S. 405. von Keyserling: „Nicky“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. München 2018d, S. 512–551, hier S. 513. 4Eduard „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“ 233 Jahrhundert noch nicht existiert.5 Im Anschluss an die wegweisenden Studien Hans-Georg Gadamers6 und Karol Sauerlands ist Jost Schillemeit 2001 in einem seiner letzten Aufsätze der Begriffsgeschichte nachgegangen. Auch Schillemeit betont, dass sich erste Vorkommen zu Beginn des 19. Jahrhunderts nachweisen lassen, von einer regelmäßigen Verwendung des Erlebnisbegriffes jedoch allenfalls ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Rede sein kann. Erst gegen Ende des Jahrhunderts komme es, hält Schillemeit fest, zu einer dezidiert poetologischen Zuschreibung, indem Erlebnisse nun als Grund oder Ursprung literarischer bzw. allgemeiner künstlerischer Schöpfung ausgemacht werden.7 Anwendung findet diese dichtungstheoretische Semantisierung jedoch nicht in der zeitgenössischen Literatur der beginnenden Moderne, sondern im Rückblick auf das 18. Jahrhundert – das zeigt allen voran Wilhelm Diltheys 1905 erschienene und im Anschluss mehrfach aufgelegte Studie Das Erlebnis und die Dichtung zu Autoren wie Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin. „Erlebnisse“, heißt es bei Dilthey programmatisch, sind die Quellen, aus denen jeder Teil eines dichterischen Werkes gespeist wird, in eminentem Sinne aber wird das Erlebnis dadurch schöpferisch in dem Dichter, daß es ihm einen neuen Zug des Lebens offenbart. […] Das dichterische Werk erhebt sich zu seiner höchsten Wirkung, wenn in ihm ein solcher Zug des Lebens den Lesern und Hörern aufgeht.8 Bei Dilthey meint der Erlebnisbegriff eine ins Innere des Subjekts verlagerte Erfahrung, an der gleichermaßen rationale Kräfte des Verstehens wie emotionale Prozesse beteiligt sind. Dichterisches Schaffen setzt sich Dilthey zufolge aus persönlichem Erleben, dem Verstehen fremder Zustände sowie der Erweiterung und Vertiefung der Erfahrung durch Ideen zusammen.9 Mit Blick auf die literarischen Schwergewichte Goethe und Shakespeare schlussfolgert Dilthey entsprechend: 5Karol Sauerland zufolge findet sich der Begriff erstmals 1814 und später in einem Brief Hegels aus dem Jahr 1827. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts begegnet der Begriff im Rahmen literaturtheoretischer Diskurse. Vgl. Karol Sauerland: Diltheys Erlebnisbegriff. Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriffs. Berlin/New York 1972a, S. 1–12 (Kap. Zur Geschichte des Erlebnisbegriffs), außerdem Eduard von Keyserling: „Zur Wort- und Entstehungsgeschichte des Begriffes ‚Erlebnis‘“. In: Colloquia Germanica 6 (1972b), S. 78–101. 6Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960. 7Jost Schillemeit: „‚Erlebnis‘. Beobachtungen eines Literarhistorikers zu einer Wortbildung des 19. Jahrhunderts“. In: Rosemarie Schillemeit (Hg.): Studien zur Goethezeit. Göttingen 2006, S. 600–615, hier S. 601. 8Wilhelm Dilthey: „Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin“. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd.: XXVI. Hg. von Gabriele Malsch. Göttingen 2005, S. 42. 9Ebd. S. 413. 234 S. Catani Überall ist hier das Verhältnis von persönlichem Erlebnis und Ausdruck mit dem von äußerem Gegebensein und Verstehen in verschiedener Mischung miteinander verwebt. Denn im persönlichen Erlebnis ist ein seelischer Zustand gegeben, aber zugleich in Beziehung auf ihn die Gegenständlichkeit der umgebenden Welt.10 Die Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts radikalisiert diese im Erlebnisbegriff angelegte Idee der Innerlichkeit – Jost Schillemeit spricht in dem Zusammenhang von einer ‚Subjektivierung‘ des Erlebnisbegriffes. Dieser bezeichnet fortan jene Ereignisse oder Vorfälle im Leben eines Menschen, die von einer besonderen seelischen Bedeutung für diesen Menschen waren, die mit einer besonderen Wirkung ‚in ihm‘, einer besonders starken Erschütterung oder einem besonders tiefgehenden ‚Eindruck‘ verbunden waren und sich ihm als ‚Erlebnis‘ eingeprägt haben […].11 Diese nicht reflektierten, sondern „im Inneren des Subjekts“12 nachwirkenden Erlebnisse werden um 1900 gleich zweifach in Bezug zur Kunst gesetzt. Einerseits stilisiert die Literatur der Zeit das subjektive Erleben und damit verbundene emotionale Ekstasen leitmotivisch – programmatisch etwa in Hugo von Hofmannsthals Gedicht Erlebnis aus dem Jahr 1892. Emphatisch beschwört hier das lyrische Ich eine traumartige Begegnung mit dem Tod, die bildgewaltig zu einem multisensorischen Erlebnis stilisiert wird: […] Wie wunderbare Blumen waren da, Mit Kelchen dunkelglühend! Pflanzendickicht, Durch das ein gelbrot Licht wie von Topasen In warmen Strömen drang und glomm. Das Ganze War angefüllt mit einem tiefen Schwellen Schwermütiger Musik. […]13 Andererseits wird das intensive, nicht rational verarbeitete und nicht auf Prozesse des Verstehens begründete Erlebnis zur Voraussetzung dichterischer Produktivkraft: Nicht zufällig ist das Ideal des modernen Künstlers der von Hermann Bahr in seinem programmatischen Essay Die Decadénce beschworene ‚innere Mensch‘.14 Eduard von Keyserlings Texte nehmen diese doppelte Kodierung des Erlebnisbegriffes im Kontext der frühen Moderne, insbesondere der Literatur des Fin de Siècle und des Ästhetizismus, in den Blick. Sie stilisieren auf der diegetischen 10Ebd. 11Schillemeit: „‚Erlebnis‘“, S. 610. S. 611. 13Hugo von Hofmannsthal: „Erlebnis“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Bd. 1: Gedichte und Prosa. Hg. von Dieter Lamping unter Mitarbeit von Frank Zipfel. Düsseldorf/ Zürich 2003, S. 14. 14Vgl. Hermann Bahr: „Die Décadence“. In: Ders.: Studien zur Kritik der Moderne. Hg. von Claus Pias. Weimar 2013, S. 14–20. 12Ebd., „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“ 235 Ebene die Sehnsucht nach einem intensiv empfundenen Erlebnis und überwinden – auf der diskursiven Ebene – das emphatische Beharren auf das innere Erleben als Voraussetzung poetischer Kreativität. Erlebnishunger und Lebensunfähigkeit Keyserlings Texte stellen die von Schillemeit konstatierte Subjektivierung des Erlebnisbegriffes in besonderer Weise dort aus, wo sie die emotionale Wirkungskraft individueller Erfahrungen mit einem Alltag konfrontieren, der in seiner Monotonie und Langeweile die Sehnsucht nach einem Erlebnis steigert. „Ach ja, zuweilen möchte man wirklich schon gestorben sein“,15 beklagt die Baronesse Annabelle zu Beginn des Romans Abendliche Häuser die „Krankenstubenstille“16 auf Schloss Paduren, die im weiteren Handlungsverlauf leitmotivisch in Szene gesetzt wird. „[W]ir haben nichts anderes zu tun, als zu sitzen und zu warten, bis eines nach dem anderen abbröckelt“,17 beschreibt die Baronesse den Alltag an der Seite des alten Schlossherren Baron von der Warthe, dieses, wie Peter Sprengel treffend pointiert hat, „Fossils einer verflossenen Epoche“,18 – und auch die Bediensteten können nur beipflichten: „[W]ir verschimmeln ja hier.“19 Die Gegenüberstellung einer rückwärtsgewandten, in der Farbgestaltung explizit grau markierten und in den eigenen konservativen Gesetzen gefangenen gestrigen Gesellschaft und der rauschhaft übersteigerten Erlebnisgier ihrer Erben wird in Abendliche Häuser als Generationenkonflikt inszeniert. Die in die Schlossmauern Padurens eingezogene Müdigkeit und Trauer wird besonders dort sichtbar, wo sich ihr die nachfolgende Generation stellen muss. Etwa, wenn Fastrade, eigentlich ein „starkes und mutiges Mädchen“, das in die Stadt gegangen war, um dort als Krankenschwester zu arbeiten, auf das väterliche Gut zurückkehrt und hier sukzessive die eigene Lebensenergie verliert: „Eine dunkele Traurigkeit machte sie todmüde. All das still zu Ende gehende Leben um sie her schwächte auch ihr Blut, nahm ihr die Kraft weiterzuleben […].“20 Die Kraftlosigkeit, die Fastrade überkommt, hat die restlichen aus der Stadt Zurückgekehrten oder gleich Daheimgebliebenen längst ereilt – sie lassen sich allesamt als Vertreter eines europäischen Dekadenz-Diskurses begreifen, der, wie Dieter Kafitz in seiner programmatischen Studie zur Epoche nachgewiesen hat, 15Eduard von Keyserling: Abendliche Häuser. Hg. von Jürgen Manthey. Göttingen 1998, S. 14. Abendliche Häuser, S. 13. 17Ebd., S. 21. 18Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. München 2004, S. 365. 19Keyserling: Abendliche Häuser, S. 28. 20Ebd., S. 23. 16Keyserling: 236 S. Catani „die Verknüpfung von Verfall und Verfeinerung als Merkmal einer spätzeitlichen Kultur und Kunst ausstellt.“21 Vor allem eines zeichnet die jungen Adligen, etwa Gertrud von Port und Lydia von Dachhausen, aus – ihre strapazierten Nerven. Diese nämlich sind, heißt es eingangs, „kaputt, zerzaust wie die Hühner nach dem Regen.“22 „Nerven und Nerven“, konstatiert auch der behandelnde Arzt, „die sind auch solch eine moderne Empfindung, von der unsere alten Herrschaften nichts wußten.“23 Fast wörtlich zitiert der Mediziner hier Bahrs Essay Die Décadence, in dem das Nervöse als psychische Verfassung und poetisches Merkmal gleichermaßen idealisiert und darüber hinaus als Signalwort eines Generationenkonflikts propagiert wird. Nicht der Geist, nicht das Gefühl, sondern die Nerven sind es mit Bahr, die die Kunst der Décadence auszudrücken versucht: „Und sie entdeckt nervöse Künste, welche die Väter nicht kannten.“24 Sowohl in seinen literarischen Texten als auch in seinen Essays formuliert Keyserling ein Nervositätswissen, das auf der Höhe des zeitgenössischen Dekadenz-Diskurses ist.25 Etwa wenn er in einem Essay von 1903 das Nervöse und die gesteigerte Wahrnehmungsfähigkeit als Merkmale seiner Zeit zusammenführt: Wir sprechen so viel von unserer nervösen, fiebererregten Zeit […] allein meist ist uns heute eine gierige, hastige Art des Sehens eigen. […] Unsere Nerven sind empfindlicher geworden und reagieren auf Licht- und Farben-Werte, die früher unbemerkt blieben.26 Entsprechend zeichnen auch seine literarischen Texte regelmäßig Figuren mit einem psychischen Profil, bei dem nervöse Schwäche gerade nicht zu „Unempfindlichkeit oder Abstumpfung“ führt, sondern im Gegenteil zu einer „erhöhte[n] Sensibilität“.27 Der Roman Abendliche Häuser zeigt dabei, wie die nervöse Grundstimmung eine gesteigerte geistige wie emotionale Wahrnehmung fördert und zugleich daraus resultiert. Die Folge ist die Pathologisierung insbesondere weiblicher Empfindungsfähigkeit durch die Männer. „Ich sage es immer, du verträgst die großen Natureindrücke nicht, sie erschüttern dich zu sehr“,28 hält Baron von Dachhausen seiner Frau Lydia vor und erkennt dabei nicht, dass deren Tränen 21Dieter Kafitz: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004, S. 239. 22Keyserling: Abendliche Häuser, S. 17. S. 98. 24Bahr: „Die Décadence“, S. 17. 25Vgl. dazu Caroline Pross: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen 2013, S. 321. 26Eduard von Keyserling: „Eindrücke von der Frühjahrsausstellung der Münchner Secession“. In: Freistatt 5 (1903), S. 267–269, hier S. 268. Zitiert nach Caroline Pross: Dekadenz, S. 320. 27Pross: Dekadenz, S. 322. 28Keyserling: Abendliche Häuser, S. 66. 23Ebd., „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“ 237 keineswegs dem starken Naturerlebnis, sondern einzig ihrer Affäre mit Dietz von Egloff gelten – hier geht die Erzählinstanz ironisch auf Distanz zu einem patriarchalen Selbstverständnis als universell gültiger Basis jeder ehelichen Beziehung. Den eigenen Ehebruch stilisiert die Baronin ihrerseits zu einer Art Lebenselixier: „Ich habe mein ganzes Leben in dieses eine Erlebnis hineingelegt“, fleht sie Egloff an, als dieser die Affäre beenden will, „ich habe sonst nichts.“29 Dietz von Egloff ist die Romanfigur, welche die Gesetze der alten Welt und ihre konservativen Vertreter am entschiedensten herausfordert: Er sei „ein junger Mensch, der kein Gewissen hat“,30 lautet das Urteil des alten Barons. Seinen Erlebnishunger, den er dem „Abendlichen, Großmütterlichen“,31 dem melancholischen ‚Abendleben‘ Padurens entgegenhält, befriedigt Egloff durch temporäre Höhenflüge im Spiel, auf der Jagd und in Affären mit mitunter auch verheirateten Frauen. Vor allem das Spiel erscheint ihm dabei als das beste Mittel gegen graue Stimmungen. Es war eigentlich seltsam und schwer zu erklären, aber dieses Mittel versagte nie, wenn er sich an den grünen Tisch setzte und die Karten zur Hand nahm, dann kam es unfehlbar, dieses erregte Gefühl, das wie eine körperliche Wohltat ins Blut ging und angenehm bis in die Fingerspitzen hinein kitzelte. Das ließ sich nur mit der hübschen Erregung des Moments vergleichen, wenn man eine schöne Frau zum ersten Male so von hinten sachte um die Schultern faßt und nicht weiß, wird sie empört sein oder stille halten.32 Der vorübergehende Rausch eines Erlebnisses wird zum Wirklichkeitssurrogat – nicht zufällig versagt Egloff immer dort, wo Verbindlichkeiten erwartet werden. Solche Erwartungen kann Egloff nicht erfüllen, weil er die Intensität des Erlebten gerade an dessen zeitliche Liminalität bindet: „Er hatte seine Wirklichkeit nie so recht gefühlt, er war sich stets ein Erlebnis gewesen, das ihm zufällig zuteil geworden war, das ja zuweilen recht vergnüglich war, aber zur Not auch fallen gelassen werden konnte.“33 Erlebnis – Kunst – Wirklichkeit Die eingangs erwähnte poetische wie poetologische Dimension des Erlebnisbegriffes kommt in Keyserlings Texten dann zum Tragen, wenn seine Figuren regelmäßig die Kunst als jenen Bereich ausmachen, der Ekstase, Erregung und intensives subjektives Empfinden in Aussicht stellt. Im Roman Abendliche Häuser trägt die Baronesse Gertrud, vom Klavier begleitet, das Gedicht Aufenthalt von 29Ebd., S. 128. S. 31. 31Ebd., S. 53. 32Ebd., S. 41. 33Ebd., S. 95. 30Ebd., 238 S. Catani Ludwig Rellstab gesungen vor – einige Jahre später, 1828, wird das Gedicht in der Vertonung Schuberts als Teil seiner Liedersammlung Schwanengesang berühmt werden. Die in dieser Szene auktorial agierende Erzählinstanz beschreibt die physiologische Reaktion Gertruds auf das Klavierspiel und ihren Gesang im Detail: Ihr ganzer Körper bebte, sie hob sich auf die Fußspitzen, ihr Gesicht nahm einen schmerzvollen Ausdruck an, als täten ihr diese großen, dunklen, leidenschaftlichen Töne weh, die sie hinausrief, die da in das stille Haus klangen, als wäre hier plötzlich ein großes tragisches Ereignis erwacht.34 Während der zynische Egloff die Nachhaltigkeit dieses Erlebnisses sogleich relativiert („mit dem letzten Akkord ist alles aus, und sie ist wieder nur Gertrud Port, die eine Nervenkrankheit hat“),35 stilisiert vor allem Fastrade die Intensität des soeben Miterlebten: „Aber sie hat doch dieses Erlebnis gehabt“, versetzte Fastrade, und ihre Stimme klang so erregt, daß Egloff überrascht aufschaute. Fastrades Gesicht war über und über naß von Tränen.36 Liegen die Sympathien der Erzählinstanz durchaus bei der jungen Generation und dem durch sie ausgestellten radikal subjektiven Erlebnisbegriff, wie Schillemeit ihn als Merkmal der beginnenden Moderne beschreibt, so stellt der Roman keineswegs deren verbindendes Merkmal – die Sehnsucht nach einem Erlebnis – als Rezept eines geglückten Lebens in Aussicht. Allen voran Egloff beteuert wiederholt die eigene Lebensunfähigkeit, die aus den gesteigerten Empfindungen resultiert: „Ach nein, dieses Abendleben macht uns im Gegenteil zu reizbar und gefühlvoll.“37 Gegen die „Bestie Leben“,38 wie es im Roman mehrfach heißt, haben diese jungen Adligen kein Rezept. Das aber wird nicht ihnen selbst zur Last gelegt, sondern jenen, die für ihre Erziehung verantwortlich zeichnen – der alten Generation, die sich übrigens als deutlich resistenter gegen jene ‚Bestie‘ erweist als ihre Erben. Bereits in der Erzählung Bunte Herzen (1908) konstatiert der alte Graf Hamilkar von Wandl-Dux die Lebensunfähigkeit der nachfolgenden Generation: 34Ebd., 35Ebd., S. 51. S. 52. 36Ebd. 37Ebd., 38Ebd., S. 53. S. 89. „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“ 239 Ich sage, Betty, was erziehen wir da für Wesen? Die können ja nicht leben. Denen kann man ja das Ding, das wir Leben nennen, gar nicht anvertrauen. […] was wir da erziehen, Betty, das sind kleine berauschte Gespenster, die vor Verlangen zittern draußen umzugehen und wenn sie hinauskommen nicht atmen können.39 Entsprechend katastrophal verläuft auch der Roman Abendliche Häuser: Egloff erschießt seinen Jugendfreund Dachhausen im Duell und später sich selbst. Seiner Verlobten Fastrade bleibt allein der Schmerz – ein Schmerz, „der jetzt ihr heiligstes Erlebnis war.“40 Der Roman endet mit einem Blick auf die Baronin von Port und ihre Töchter. Gertrud überrascht die Schwester Sylvia, „die Augen voller Tränen“,41 weil sie bei der Romanlektüre von ihrer Rührung angesichts des fiktiven Schicksals der Liebenden überwältigt wird. Die Poesie wird zum Wirklichkeitssurrogat, denn Gertrud findet Trost darin, „daß solche schöne[n], heiße[n] Sachen wirklich in der Welt passieren, wenn sie auch nicht zu uns kommen.“42 Die sentimentale Romanlektüre muss für jene Erlebnisse herhalten, die sich in der Einsamkeit Padurens nicht mehr einstellen, sondern allenfalls „da draußen“,43 in den Städten, warten. Dort aber, so weiß die Baronin als Stellvertreterin der alten Generation, haben die fürs Leben nicht geeigneten Jungen ihr Glück auch nicht finden können: „Draußen, draußen“, murrte sie, „du warst ja draußen und die Fastrade auch, was hat es geholfen? Ihr kommt ja doch zurück, ihr könnt dort ja doch nicht leben.“44 Kritischer und ungleich ironischer reflektiert als in Am Südhang und Abendliche Häuser, wird der literarisch vorgeführte Erlebnishunger in der Novelle Nachbarn und in einer der letzten Erzählungen Keyserlings, Nicky (1915). Protagonisten der Novelle von 1911 sind die jungen Eheleute Oskar und Dina, die gemeinsam einige Ferientage in den Bergen verbringen. Hier, in der Abgeschiedenheit der Natur plant Oskar, der eigentlich als Angestellter im Finanzministerium arbeitet, seiner vermeintlich wahren Bestimmung nachzugehen: Aus dem hübschen, sonst so diplomatenhaft gepflegten Kopf war so etwas wie ein Dichterkopf entstanden. Oskar war auch überzeugt davon, daß ein Dichter in ihm stecke. […] Aber hier auf dem Lande, hier mußte auch dem Dichter sein Recht werden.45 39Eduard von Keyserling: „Bunte Herzen“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. und kommentiert von Horst Lauinger. München 2018b, S. 282–361, hier S. 351. 40Keyserling: Abendliche Häuser, S. 174. 41Ebd., S. 171. 42Ebd., S. 172. 43Ebd. 44Ebd. 45Eduard von Keyserling: „Nachbarn“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. München 2018c, S. 463–475, hier S. 463. 240 S. Catani Allein – es fehlt an dichterischer Inspiration: Die Monotonie des Landlebens scheint weder die poetische Begabung Oskars noch die Beziehung zur Ehefrau zu beflügeln: Das Melancholischste aber war stets dieses Heimkommen vom Abendspaziergange, wenn Oskar und sie so stumm hintereinander hergingen, die Müdigkeit lag schwer auf ihren Schultern, die gepflückten Feldblumen welkten in ihrer heißen Hand, und nichts, nichts war zu erwarten, das sie ein wenig glücklich machen konnte.46 Dynamik entwickelt sich erst, als das Ehepaar das Gespräch eines jungen Paares belauscht, das im gleichen Haus wohnt und offenbar einen gemeinschaftlichen Suizid plant. Emphatisch begrüßt Oskar die unerwartete Inspiration: „Ein Schicksal vollzieht sich da unter uns, du wirst sehen. Das nenne ich ein Erlebnis, das nenne ich eine Impression.“47 Und tatsächlich scheint Oskars Wandlung zum Dichter nun an Fahrt aufzunehmen: „Du dichtest ja“, stellt Dina fest, als Oskar sich in einer verklärten Darstellung der jungen Nachbarin und ihrer Augen „goldbraun, die aussehen, als seien sie müde von dem eigenen Glanze, den sie ausstrahlen müssen“,48 ergeht. Doch es ist nicht neu gewonnene poetische Kraft, sondern schlicht der erotische Trieb, der Oskar belebt, so dass es einer komischen Verkennung gleichkommt, wenn Dina die offensichtliche Entfremdung vom untreuen Ehemann auf die Kunst schiebt: „‚Es war wohl Schuld der Dichtung‘, dachte sie […].“49 Der durch Oskar einleitend poetisch überhöhte Erlebnisbegriff wird zumindest implizit ironisch verkehrt, wenn sich als das eigentliche Erlebnis die Affäre entpuppt – und das offenbar nicht zum ersten Mal, wie Dinas Reaktion verrät, als Oskar mitsamt der so gar nicht mehr lebensmüden Nachbarin abreist: „Ach Gott, wieder das, immer wieder das! Wahrscheinlich wieder solch ein Erlebnis.“ Wenn Dina eifersüchtig war, pflegte Oskar zu sagen: „Ich nehme dir nichts, aber ich bedarf solcher Erlebnisse, wie der Maler seiner Farben.“50 Indem die männliche Libido in diesem schiefen Vergleich zur Kunst erhoben wird, wird der Erlebnisbegriff trivialisiert und büßt seine von Oskar behauptete poetische Dimension ein – die einzige Erregung, die er noch in Aussicht stellt, ist eine erotische. Diese Trivialisierung spitzt das Ende der Novelle zu – es liest sich als, auch autoreflexiver, Abgesang auf eine Dichtung, die das subjektive Erleben zu ihrer Voraussetzung erklärt. Während Dina die Abreise Oskars an der Seite der Nachbarin mit Fassung trägt, sucht deren verlassener Partner, Doktor Krammer, 46Ebd., S. 465. S. 467. 48Ebd., S. 468. 49Ebd., S. 472. 50Ebd., S. 473. 47Ebd., „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“ 241 das Gespräch mit ihr. Tief verstört und um den „heiligen Bund“51 beraubt, der in den gemeinsamen Suizidplänen lag, hofft Krammer nun, in der ebenfalls verlassenen Dina einen neuen „Kameraden meines Schmerzes zu finden“.52 Doch Dina empfiehlt eine andere Lösung: „Was werden Sie jetzt tun?“ fragte sie, „werden Sie etwas schreiben?“ – „Schreiben!“ fuhr Krammer auf, „Sie wollen über mich spotten.“ Dina errötete: „O nein, Herr Doktor; gewiß nicht, ich höre nur immer, daß man Erlebnisse nötig hat, um etwas zu schreiben.“53 Das von Dina naiv angedeutete Porträt eines Künstlers, dessen Kunst erotischer Erlebnisse bedarf, zitiert das Modell einer ästhetizistischen Dilettanten-Figur, wie sie in der Literatur der Jahrhundertwende, allen voran bei Schnitzler, zuhauf auftritt – erinnert sei nur an den Dichter aus dem Reigen, der die Poesie des Moments beschwört, im Grunde aber nur das erotische Abenteuer mit dem süßen Mädel sucht.54 Erlebnis – Dichtung – Krieg Eine der letzten Erzählungen Keyserlings, die bereits erwähnte Novelle Nicky, weitet diesen distanzierten Blick auf ein ästhetizistisch überhöhtes Sehnen nach einem Erlebnis aus und motiviert es zudem zeitpolitisch. Die bereits skizzierte Ausgangssituation der Erzählung variiert das Modell der erlebnishungrigen Protagonistin insofern, als deren Kontrastfolie nicht das verstaubte Elternhaus, sondern die nach fünf gemeinsamen Jahren bereits in Langeweile erstarrte Ehe mit dem Baron Oscar von Reichel bildet. Der Ehemann tritt weniger als Partner, denn als Erzieher auf: „Unermüdlich war er im Erklären und Unterweisen. Er teilte Nicky ihr Leben ein, bestimmte ihre Beschäftigungen während des Vormittags, wenn er im Ministerium arbeitete, am Nachmittage sorgte er vor allem für Gemütlichkeit […].“55 Hinzu kommt eine grundsätzliche Disposition Nickys, die bereits als Jugendliche das Gefühl hatte, „das alles, was sie erlebte, noch nicht eigentliches Leben war, nicht zählte.“56 Ihre Suche nach diesem eigentlichen, an Erlebnissen reichen Leben führt auch Nicky zur Kunst, in ihrem Fall zur Musik. Mit dem Auftreten des brasilianischen Pianisten Enrico Fanoni kommt Bewegung in die sommerliche Langeweile – allabendlich tönen aus dessen abseits am Waldrand gelegener Villa verheißungsvolle Klänge eines Klaviers. „Er spielte 51Ebd., S. 474. 52Ebd. 53Ebd., S. 475. Schnitzler: Reigen. Zehn Dialoge. Hg. von Michael Scheffel. Stuttgart 2005. 55Keyserling: „Nicky“, S. 514. 56Ebd., S. 513. 54Arthur 242 S. Catani Chopin“, heißt es personal erzählt aus Sicht Nickys, „seltsam verhalten und zögernd, als suchte einer in seinem Gedächtnis nach der Erinnerung eines süßen Erlebnisses.“57 Zu eben einem solchen süßen Erlebnis wird das Klavierspiel Fanonis in der Folge: „Jetzt gab es für Nicky in den langen, einförmigen Sommertagen eine Stunde, auf die sie warten konnte.“58 Die aus der Handlungsdynamik resultierende Figurenkonstellation – eine ‚ménage à trois‘, bestehend aus einer jungen Frau zwischen dem praktisch veranlagten, als Erzieher auftretenden Ehemann einerseits und dem feinsinnigen Künstler, obendrein noch schwerkrank, nämlich „brustleidend“,59 andererseits – zitiert Thomas Manns 1903 veröffentlichte Novelle Tristan, die den Konflikt zwischen dekadentem Künstlertum und vitalem, lebensbejahendem Pragmatismus zu einem ironischen Höhepunkt führt. Obgleich die Rollen gegenüber dem Text Manns vertauscht sind (bei Keyserling ist es die männliche Hauptfigur, die am Klavier spielend Erregung auslöst und zugleich dem Tod nahe ist wie die lungenkranke Gabriele Klöterjahn), eint beide weibliche Hauptfiguren das emphatische Beschwören des musikalischen Erlebnisses. So schwärmt auch in Manns Novelle Gabriele Klöterjahn in Erinnerung an ein von ihr besuchtes Violinkonzert: „Einige Töne habe ich niemals hören können, ohne dass mir die Tränen so merkwürdig brennend in die Augen stiegen, wie sonst bei keinem Erlebnis.“60 Dem Wagner-Erlebnis im Musikzimmer Einfrieds als Höhe- wie Wendepunkt der Novelle Manns entspricht bei Keyserling ein Wanderausflug Fanonis mit Nicky, der in einem Landgasthof endet. Dort bricht Fanoni bei einem gemeinsamen Tanz hustend auf der Tanzfläche zusammen, nicht ohne im Anschluss daran das Verbindliche dieses zu zweit erlebten Moments zu beschwören: „Aber wir haben jetzt ein gemeinsames Erlebnis, das bindet.“61 Anders als die deutlich früher erschienene Novelle Thomas Manns endet die Erzählung Keyserlings jedoch nicht mit einem Fin-de-Siècle-typischen Tuberkulosetod, sondern mit einem zeitgeschichtlichen Bezug, der den soeben ausgebrochenen Ersten Weltkrieg in den Blick nimmt. Die Figur des Ehemanns gewinnt bei Keyserling an Profil, weil sie am Ende der Erzählung nicht mehr den pragmatischen Sinn fürs Gemütliche ausstellt, sondern die Ernsthaftigkeit des drohenden Fronteinsatzes vergegenwärtigt. Und so wird Nickys Tanz mit dem schwindsüchtigen Fanoni als ästhetizistisch überhöhtes Erlebnis konterkariert durch den sich daran unmittelbar anschließenden letzten Abend, den sie an der Seite ihres Mannes verbringt. Nicky ist dabei derart gelangweilt, dass sie „wünschte, der Abend wäre schon vorüber.“62 Im Wissen, dass dieser Abend möglicherweise einer der letzten an der Seite seiner Frau ist, wird er für Oskar jedoch 57Ebd., S. 520. 58Ebd. 59Ebd., S. 519. Mann: „Tristan“. In: Ders.: Frühe Erzählungen. 1893–1912. Hg. von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt/M. 1893, S. 319–371, hier S. 339. 61Keyserling: „Nicky“, S. 537. 62Ebd., S. 539. 60Thomas „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“ 243 zum besonderen Erlebnis: „Oskar küßte Nicky und es zitterte etwas wie Rührung in seiner Stimme, als er sagte: ‚Ich dank dir, kleine Frau, für diesen Abend, den haben wir gehabt, den kann uns keiner mehr nehmen.‘“63 Als Nicky ihren Mann kurze Zeit später zum Fronteinsatz verabschiedet, löst die Realität des Krieges eine Art Erweckungserlebnis aus, das zu einer Verschiebung der Erlebnissemantik führt: Die schichtenübergreifende Begegnung mit anderen Soldatenfrauen ist nun gerade keine subjektive, ins Innere verlagerte Empfindung, sondern eine Kollektiverfahrung: Nicky, die sich bislang als Außenseiterin der Gesellschaft inszeniert hat, geht in diesem gemeinschaftlich empfundenen Verlustgefühl64 auf – freilich nicht ohne auch dieses Gefühl erneut emphatisch zu stilisieren: Sie fühlte es, daß diese geschmückten, lächelnden jungen Menschen hinauszogen, um zu sterben, und es war ihr, als fiele etwas von ihr ab, etwas, das sie von den anderen getrennt hatte, und nun mußte sie das Leben all dieser andern leben, groß und schmerzhaft, es leben wir ihr eigenes Leben. Von einem noch nie Gefühlten wurde sie überwältigt […].65 Die Besonderheit dieses Erlebnisses wird zusätzlich herausgestellt durch den sich anschließenden Wechsel der Erzählstimme, die hier nicht mehr mit der Perspektive Nickys zusammenfällt, sondern auktorial markiert ist: „Solche seltenen Augenblicke aber ergreifen nicht nur unsere Seele, sie brennen, körperlich in unsren Herzen und unsrem Blut.“66 Zurück auf dem Lande sagt Nicky sich von Fanoni los, hält seiner „Gespensterwelt“67 die Wirklichkeit des Krieges entgegen, die ihre Sehnsucht nach dem großen Erlebnis offenbar zum Erliegen gebracht hat. Der Anfang der Erzählung, der Nicky in vorfreudiger Erwartung eines besonderen Erlebnisses vorgeführt hatte, spiegelt sich im Erzählschluss. Dieser zeigt Nicky erneut als Wartende, wenngleich sie nun weiß worauf: „[…] es tat ihr wohl, zu der großen Gemeinde zu gehören, derer, die still warten mit wundem Herzen.“68 Bezeichnend ist dabei der Schlusssatz der Erzählung, der zugleich über den einzelnen Text hinausweist: „Oben in ihrem Zimmer legte sie sich gleich zu Bett und schlief fest und traumlos, wie sie einst als Kind geschlafen, denn ihr war zumute, als hätte sie heute hundert Leben gelebt, und das macht müde.“69 63Ebd., S. 539 f. deutet Antoine Alm-Lequeux Nickys Entwicklung im Angesicht des Ersten Weltkrieges als „schrittweise Integration in die Gesellschaft.“ Vgl. Antoine Alm-Lequex: Eduard von Keyserling: Sein Werk und der Krieg. Mit unveröffentlichten Texten von E. v. Keyserling. Paderborn 1996, S. 70. 65Ebd., S. 546. 66Ebd., S. 547. 67Ebd., S. 550. 68Ebd., S. 551. 69Ebd. 64Entsprechend 244 S. Catani Das Besondere dieser Schlussbemerkung wird erst deutlich, wenn man sich die Rolle des Traums im Werk Keyserlings vor Augen führt: Allerorten wird dort geträumt: um der Wirklichkeit zu entfliehen, um den Alltag durch Bunteres, Schöneres, Emotionaleres zu ersetzen – eben, um ein Erlebnis zu haben. So heißt es schon in Keyserlings erstem, noch dem Naturalismus zuzuordnenden Roman, Fräulein Rosa Herz (1887), über den ‚altgewohnten Traum‘ Rosas: „Eines nur wiederholt er immer wieder: ‚Bald, bald muß etwas geschehen, muß etwas erlebt werden. Bald, sonst versäumst du’s.‘“70 Und auch Gertrud in Abendliche Häuser, nervenkrank und zermürbt vom monotonen Alltag Padurens, will, heißt es, „ein Schlafpulver nehmen und weiter träumen, von schönen, süßen Dingen.“71 Und schließlich Nicky, die, heißt es, „ihre Träume wieder hervor[holte]. […] – das war es, wonach sie verlangte: wieder den Rausch, das seltsame Fieber empfinden […].“72 Der leitmotivisch wiederkehrende Traum in Keyserlings Texten entspricht einem Fin-de-Siècle-Programm, das den Traum als der Wirklichkeit deutlich überlegen begreift.73 Stellvertretend für eine ganze literarische Generation formuliert dies Marie Herzfeld in ihrem Essay Fin-de-Siècle (1892): „Unsere Heimat ist nicht die Wirklichkeit, sondern der Traum, der kühle, farbige, luftige Traum, der nicht wehe tut, der nicht enttäuschen kann, weil er bewußtes Spiel und die Welt ihm Stoff ist.“74 Mit Nicky aber kommt nicht nur das Träumen an sein Ende, sondern mit ihm auch die ästhetizistisch überanstrengte Suche nach einem Erlebnis, das von der Langeweile des Alltags erlöst. Der Krieg hat die Wirklichkeit inzwischen eingeholt – die Träume, für die er fortan den Stoff liefert, sind keine ‚luftigen Erlebnisse‘ im Sinne eines rückwärtsgewandten Dekadenzbewusstseins mehr, sondern meinen eine Kollektiverfahrung, die nicht mehr von der Realität ablenkt, sondern in ihr verortet ist. 70Eduard von Keyserling: Fräulein Rosa Herz. Eine Kleinstadtliebe. Göttingen 2000, S. 28. Abendliche Häuser, S. 105. 72Keyserling: „Nicky“, S. 541. 73Gerade das zeitlich begrenzte Traumerleben, seine Flüchtigkeit, wird als Mehrwert herausgestellt, so bereits in der Erzählung „Bunte Herzen“ (1908). Dort diskutieren der alte Graf Hamilkar von Wandl-Dux und sein Gast, Professor von Pinitz, die Analogie von Traum und Wirklichkeit. Den Einwand des Grafen, dass der Traum lediglich eine Wirklichkeit liefere, die „wir beim Erwachen immer wieder durchstreichen“, lässt der Professor nicht gelten. Schließlich liege in der Flüchtigkeit eines jeden Erlebnisses gerade dessen besondere Qualität: „Und dann, mit allen Erlebnissen geht es so, was ich in einem Augenblick erlebe, daran glaube ich fest, und im nächsten Augenblick sehe ich darauf zurück, und es erscheint mir unwirklich und falsch, und ich streiche es aus.“ Vgl. Keyserling: „Bunte Herzen“, S. 319 f. 74Marie Herzfeld: „Fin-de-siècle“. In: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hg. von Gotthart Wunberg. Stuttgart 1891, S. 260–265 hier S. 263. 71Keyserling: „… jetzt mußte ein Erlebnis beginnen…“ 245 Literatur Alm-Lequex, Antoine: Eduard von Keyserling: Sein Werk und der Krieg. Mit unveröffentlichten Texten von E. v. Keyserling. Paderborn 1996. Bahr, Hermann: „Die Décadence“. In: Ders.: Studien zur Kritik der Moderne. Hg. von Claus Pias. Weimar 2013, S. 14–20. Dilthey, Wilhelm: „Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing. Goethe. Novalis. Hölderlin“. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd.: XXVI. Hg. von Gabriele Malsch. Göttingen 2005. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960. Herzfeld, Marie: „Fin-de-siècle“. In: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hg. von Gotthart Wunberg. Stuttgart 1981, S. 260–265. Hofmannsthal, Hugo von: „Erlebnis“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwei Bändern. Bd. 1: Gedichte und Prosa. Hg. von Dieter Lamping unter Mitarbeit von Frank Zipfel. Düsseldorf/ Zürich 2003, S. 14. Kafitz, Dieter: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004. Keyserling, Eduard von: Abendliche Häuser. Hg. von Jürgen Manthey. Göttingen 1998. Keyserling, Eduard von: Fräulein Rosa Herz. Eine Kleinstadtliebe. Göttingen 2000. Keyserling, Eduard von: „Am Südhang“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. München 2018a, S. 393–462. Keyserling, Eduard von: „Bunte Herzen“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. und kommentiert von Horst Lauinger. München 2018b, S. 282–361. Keyserling, Eduard von: „Nachbarn“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. München 2018c, S. 463–475. Keyserling, Eduard von: „Nicky“. In: Ders.: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. von Horst Lauinger. München 2018d, S. 512–551. Mann, Thomas: „Tristan“. In: Ders.: Frühe Erzählungen. 1893 – 1912. Hg. von Terence J. Reed unter Mitarbeit von Malte Herwig. Frankfurt/M. 2004, S. 319–371. Pross, Caroline: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen 2013. Sauerland, Karol: Diltheys Erlebnisbegriff. Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriffs. Berlin/New York 1972a. Sauerland, Karol: „Zur Wort- und Entstehungsgeschichte des Begriffes ‚Erlebnis‘“. In: Colloquia Germanica 6 (1972b), S. 78–101. Schillemeit, Jost: „‚Erlebnis‘. 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Natur, Kultur, Moderne Philosophische Aspekte im Werk Eduard von Keyserlings Sandra Markewitz Chacun sa chimère Baudelaire Selbstvergewisserung und Zeitbewusstsein: Herrschaft und Feiertag Das Bedürfnis der Moderne nach Selbstvergewisserung, so Habermas, korreliert mit einem bestimmten Zeitbewusstsein: „Weil sich die neue, die moderne Welt von der alten dadurch unterscheidet, dass sie sich der Zukunft öffnet, wiederholt und verstetigt sich der epochale Neubeginn mit jedem Moment der Gegenwart, die Neues aus sich gebiert.“1 Keyserlings Prosa ist eine Probe auf die Zeit der Vergangenheit, ihr Auskosten und ihr Ende. Seine Figuren können sich nicht sicherer sein als die festgefügten Rahmen, die komfortablen Interieurs, die sie umgeben. Ihre Unsicherheit ist Zeichen der modernité, immer überglänzt von spleen und world-weariness, aber selbst die Unsicherheit angesichts einer neuen Zeit, die man als Topos der Figuren Keyserlings annehmen könnte, geschieht den Figuren, die kaum Person sind, sondern „dunkel und flach wie Papierpuppen.“2 1Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt/M. 1985, S. 15. 2Eduard von Keyserling: „Sentimentale Wandlungen“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen. Göttingen 2008c, S. 7–24, hier S. 7. S. Markewitz (*) Universität Vechta, Vechta, Deutschland E-Mail: sandramarkewitz@yahoo.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_16 247 248 S. Markewitz Statt der autonomen Person, dem Phantasma bürgerlicher Emanzipation, befestigt durch Kantische Kategorien wie Sittengesetz, Selbstgesetzgebung und A priori, sehen wir eine Staffage. Die Reste der höfischen Welt werden wiederholt, ihre Ausläufer sind das Leben auf den einsamen Gütern und die monotone Trennung in oben und unten, der flachen, wiederholbaren Courtoisie, die den verordneten Festglanz gibt. Es ist nicht zu vergessen, dass das Feiertägliche bei Keyserling Spiegel der hohen Festgesellschaft ist, die in der höfischen Landkarte auf die Entwicklung feudaler Herrschaft als Herausbildung geschlossener Positionen mit Betonung der Kommerzialisierung verweist: „Das Geflecht der Abhängigkeiten, das Spiel von Angebot und Nachfrage nach Böden, Schutz und Diensten…“3 Natur war zu verteilen am Übergang zur Neuzeit, Raum, Umwelt, Ausdruckssphäre, die in Kultur überging. Kulturelle und natürliche Symbolik durchdringen sich, das Leben auf den Gütern verstetigte die Tauschprozesse der commodities zu Orten, an denen Herrschaft durch Verstellung ausgedrückt und gesichert wurde. Die Härte der Warenform des Lebens scheint an den Höfen auf – vor der Initiation der Kategorie in den offiziellen politischen Diskurs. Affektuell wiederholte ererbte Ansprüche auf Glanz und Repräsentation, was schön und nichtig genug war, den Warenkreislauf nicht zu stören (schon Hobbes charakterisierte im Leviathan den imperialistischen Typus4). Keyserling als Ironiker zu sehen, vergisst die Härte seiner Darstellung als aristokratische Tugend, zurückgehend aufs Barbarische – als unhintergehbares Standesmerkmal.5 Das Gespräch, die zurechtgelegte Konversation, das Unterhalten der Damen sind Surplus der Herrschaft, nicht Teile des Unernsts oder Reflexion. Dass die aktualisierende Diagnose Keyserlings Schreiben nicht trifft, soll hier gezeigt werden. Seine Voraussetzungen waren andere. 3Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1997, S. 98. 4Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Hg. von Iring Fetscher, übers. von Walter Euchner [Neuwied/Berlin 1966]. Frankfurt/M. 2011, S. 67: „Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis.“ Arendt bezog sich auf diese Typisierung und nennt sie im Totalitarismus-Buch als Voraussetzung bürgerlicher Perspektivierung von Politik und Geschichte: „Das Bild vom Menschen, das Hobbes entwirft, ist oft mißverstanden worden, als wäre er daran interessiert gewesen, festzustellen, welche Beschaffenheit diesem Lebewesen überhaupt zukomme oder wie man psychologisch Menschen erklären und verstehen könne. Hobbes ist es nirgends um solche Einsichten oder Feststellungen zu tun; er beschreibt, wie der Mensch sein muß und wohin er, von der Tradition des Abendlandes christlichen oder antiken Ursprungs sich abwendend, gehen muß, um den Forderungen einer kommenden Gesellschaftsordnung […] zu genügen […]. Der ‚Leviathan‘ ist der Staat, und seine Philosophie ist die Weltanschauung, denen die bürgerliche Gesellschaft seit ihrem Beginn zustrebte.“; Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Berlin/Zürich 202017, S. 318. 5Vgl. Georg Brandes: Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus. Berlin 2004. Natur, Kultur, Moderne 249 Zum einen ist der Blick auf Keyserling als Ironiker jener bürgerliche, der Verstellung nur als Rollenwissen denken kann, wie jenes, das der Bürger sich abringt, wenn er sich benimmt. Zu sehen ist aber auch, dass die austauschbaren Konversationen Keyserlings abrollen wie Wellen, dass in der erhöhten Kunstform dieser Worte ein Natürliches, da Unausweichliches aufscheint: „Sie sagten einmal“, fuhr Helene fort, „ach das war so schön, damals verstand ich es nicht, jetzt verstehe ich es, Sie sagten: Im Opfer werden nicht die Götter, denen wir opfern, sondern wir, die Opfernden, verklärt. Das ist es, Alderkaß, was ich für Sie tun muß.“ Beide schwiegen eine Weile und sannen in die Dämmerung hinein. Nebenan hörten sie kurze, geschäftige Schritte ab und zu gehen. „Was soll nun geschehn?“ fragte Helmar endlich leise. „Sie wissen es, lieber Freund“, erwiderte Helene ebenso leise. „Sie verstehen.“6 Das Einverständnis ist jenes Wissen im Dämmerlicht, das besagt, dass jede Situation zur Liebessituation werden kann, solange der Comment zunächst nicht gebrochen wird. Anders als bei Fontane, der von außen beschreibt, was er dank körnigem Stil näherungsweise beschreiben, aber nicht anstrengungslos einlösen kann, weiß Keyserling nichts von der scheinbaren Exklusivität des Sujets. Die Antwort auf die romantische Lesart Keyserlings, Naturbeschreibung, fast mystisches Naturwissen (mystós, das Sich-Schließen von Lippen und Augen) ist die Erinnerung an die Unerbittlichkeit des Herrschertums im großen, historischen Zusammenhang, der für die herrschende Schicht mit dem Privatum zusammenfällt.7 Die schönheitstrunkene Welt Keyserlings ist mit Pflicht bezahlt; nicht mit der Kantischen, bürgerlich-deontologischen Pointe (Pflicht als Selbstbefreiung des Bürgers durch Prinzipien), sondern im Sinne der Pflicht als Verlängerung und Aufrechterhaltung des dynastischen Anspruchs. Als Individuen sind Keyserlings 6Eduard von Keyserling: „Geschlossene Weihnachtstüren“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten, Göttingen 2008a, S. 33–43, hier S. 37. 7Nicolaus Sombart bringt aus bürgerlicher Perspektive das Schloßleben mit dem avanciertesten, dem Menschen recht eigentlich entsprechenden Lebensstil zusammen: Das Phantasma des Schlosses als Traumbild des guten Lebens, gereinigt von deontologischer Kontamination, hedonistisch leuchtend und Indikator: „Es [la vie de château, S. M.] ist als eine Mitgift des Ancien Régime auf uns gekommen und hat sich als normatives Leitbild bis heute erhalten. Daran haben merkwürdigerweise zweihundert Jahre politischer und industrieller ‚Revolution‘ nichts geändert. Die Basis der Pyramide hat sich verbreitert, die Spitze ist gleich geblieben. Man hat sich viele Gedanken darüber gemacht die Lebensbedingungen der classe la plus nombreuse et la plus pauvre zu verbessern, und gehofft, die Steigerung der Produktionskraft würde dazu beitragen. Neue Vorstellungen aber davon, was das ‚gute Leben‘ ist, haben sich nicht herausgebildet. […] Der Versuch, den hedonistischen Luxus durch asketisch-hygienische Tugend zu ersetzen, wurde schnell als Betrugsmanöver erkannt.“ Vgl. Nicolaus Sombart: Pariser Lehrjahre. 1951–1954. Frankfurt/M. 1996, S. 393 f. Die Aktualisierung wird nicht gelingen, da nicht Sehnsucht die Konstituente der fernen Lebensform ist. Ihr eignet eine Notwendigkeit, die den dynastischen Fortgang meint, Genuss als Epiphänomen dieses Ziels sieht, nicht als Zweck – die Bespiegelung der hohen Lebensform entwächst dem Spontanen. 250 S. Markewitz Figuren Schatten, Papierpuppen der Repräsentation, die als Repräsentanten ihrer Klasse Konversationen aufführen, die mit dem Gefühl matt spielen, das der Bürger unterdrückt, wenn er ein Versprechen gegeben hat. Wer hat den leisen Verführungston gehört, der alles und nichts versprach und die Antwort kannte? Die Ferne des Tugendbegriffs (und bei Keyserling ist die Verbürgerlichung des Adels schon zu sehen, auch das ein Niedergang) schafft Raum für das inszenierte Gespräch, das kaum Kommunikation ist, sondern schichtspezifischer Äußerungsreflex. Die Pointe des linguistic turn, dass Philosophie aus dem Wie der Sprache besteht, nicht nur aus dem Was des Inhalts, wäre hier vieux jeu – man tut nichts anderes als auf die Worte achtzugeben; auch wenn keinerlei epistemologische Konsequenzen intentional damit verknüpft sind, da das Wissen im Leben auf den Gütern nichts ist, was man in einer Institution lernt (daher das lange Hauslehrerwesen), sondern das ist, was man eben wissen muss, um überall hineinzupassen, unter seinesgleichen nicht unangenehm aufzufallen und jene Faux Pas zu vermeiden, die den Souveränitätsanspruch auf Dauer untergraben würden. Jenseits autonomer Selbstbegründung: Ästhetikum und Bühne, Beruhigung durch dynastische Kontinuität An dieser Stelle ist die Frage nach der Ästhetik im Diskurs der Moderne zu stellen. Ist ein Zeitbewusstsein, das von Selbstvergewisserung und dem Anspruch darauf getragen ist, ein genuin ästhetisches Phänomen? Es ist möglich, nicht nur Naturdarstellung in ihrer Schönheit als Ästhetikum aufzufassen, sondern den Bühnenaspekt nicht zu vergessen, der in die Darstellungsform Keyserlings selbstverständlich hineinwirkt. Liebe ist Ästhetikum zur Machtsicherung, ist Bühne des größeren geschichtlichen Selbstbehauptungswillens, der mit dem anfangs genannten Aspekt der Selbstvergewisserung nur zum Teil zusammenfällt. Die alten Familien waren sich selbst gewiss, „Festungen, zu denen Leute, die nicht zu uns gehören, keinen Zutritt haben“,8 es galt diese Gewissheit darzustellen und auszuzeichnen. Nicht zufällig belegte man Keyserling mit dem Attribut der Décadence, des Niedergangs von Tönen und Stimmen, des Unwahrscheinlichwerdens des Lebens und der Lebenskraft im Gegensatz zu vitalistischer Emphase. Ein Beispiel findet sich in der Erzählung Bunte Herzen: Billy lehnte den Kopf an Boris‘ Schulter und schloß die Augen. Gewiß, das war alles sehr fern, der Garten, ihr Zimmer mit niedergelassenen Vorhängen, die schlafende Marion, die altbekannten Stimmen der Uhren in den stillen Zimmern, fremd und unwirklich, als gehöre es nicht zu ihr. Aber hier der Wagen mit seiner Enge und Finsternis, das Rauschen des Regens, das Klirren der Fensterscheiben, waren die wirklich? Waren die Hände wirklich, die sie faßten, drückten und schüttelten, als gehörte sie nicht mehr sich selbst, als 8Eduard von Keyserling: Wellen. Frankfurt/M. 1982, S. 11. Natur, Kultur, Moderne 251 gehörte sie einem anderen, die Lippen, die sich heiß auf die ihren drückten, diese Stimme, die leise und leidenschaftlich in die Dunkelheit hineinsprach.9 Das Besondere an Keyserlings Sujets ist, dass sie sich weiterhin ereignen wie etwas, dem die Ereigniskategorie nicht schwach geworden wäre. Doch sie ist es und damit gemeinsam kommt die Erinnerungslosigkeit, das Ende des Gedächtnisses, das Rechenschaft über die Besonderheit von Ereigniskonstellationen gibt: Ria lief, bis sie Kurt erreichte, der gelangweilt über die Wiese schlenderte. Hier war einer, der keine Erinnerungen hatte. Sie legte ihren Arm um die Schulter des Knaben. „Kommen Sie“, sagte sie, „wir wollen laufen.“ Dabei sprach sie ein wenig atemlos: „Nicht wahr, im Bach fangen Sie Krebse. Das tat ich als kleines Mädchen auch […].“ Kurt war dunkelrot geworden und lächelte fast schmerzhaft. Dieser Frauenarm um seine Schultern, das leise Klingen der Armbänder, das starke Orchideenparfüm, all das verwirrte ihn unendlich.10 Eine Verwirrung, immer wieder neu im Knaben ausgelöst, der symbolisch noch unbesetztes Gebiet ist, scheinbar, auch wenn Ria in Keyserlings Landpartie nur eine kurze Strecke hat, bis der Knabe ein Mann sein wird und seine Rücksichten die Verwirrung zur Langeweile gewandelt haben werden. Er ist noch ein wenig Natur, nicht überformt, die Verwirrung ist so temporär wie typisch; das sprachliche Symbolsystem kann auch hier nicht ausruhen. Im philosophischen Diskurs der Moderne würde man sagen, dass „in der Grunderfahrung der ästhetischen Moderne […] sich das Problem der Selbstbegründung verschärft, weil hier der Horizont der Zeiterfahrung auf die dezentrierte, aus den Alltagskonventionen ausscherende Subjektivität zusammenschrumpft.“11 Was Habermas mit Blick auf Baudelaire pointiert, ist der Kontrast zu der Annahme der möglichen und notwendigen Selbstbegründung, in der Kant angesichts der Unsicherheit der Metaphysik die Sicherheit der philosophischen Disziplin, den sicheren Gang der Wissenschaft zu befördern suchte.12 Bei Baudelaire findet sich die Trostlosigkeit des spleen, des Regens, des wütenden Glockenläutens. Zudem gibt es: die Dingwerdung als Melancholiesignal und die Tatsache, dass Dinge zu Empfindungen fähig sind, dass sie über ihre Spleen-Umgebung urteilen und dass das lyrische Ich der Fleurs du Mal an eben jenem Erinnerungsüberdruss leidet, der den Figuren Keyserlings aus anderen Gründen das längst Bekannte ist: „J’ai plus de souvenirs que si j’avais mille ans.“13 9Eduard von Keyserling: Bunte Herzen, Am Südhang, Harmonie. Drei Erzählungen. Frankfurt/M. 1983, S. 44. 10Eduard von Keyserling: „Landpartie“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten, Göttingen 2008b, S. 45–55, hier S. 52 f. 11Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 17. 12Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft 1. Bd. 7. Hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1996, S. 20. 13Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, Kleine Gedichte in Prosa/Le Spleen de Paris. In der Übertragung von Carl Fischer. München 1979, S. 210. 252 S. Markewitz Wenn es darum geht, eine Dynastie zu sichern, stellt sich die Darstellungsfrage, aber sie stellt sich anders als im linguistic turn, der eine Verschiebung in der Philosophie (vom Was zum Wie) ankündigt, um einer Modernität zu entsprechen, die aristotelische Was-Fragen (Metaphysik, das to ti en einai, das Was-es-ist-dies-zusein einer Sache)14 nicht mehr stellen kann. Die Darstellungsfrage, auf die Keyserlings Figuren mit ihren Worten und Gesten antworten, geht auf Glätte, die den Schmerz unkenntlich macht,15 der in der Beruhigung der dynastischen Kontinuität überflüssig ist. Der Schmerz einer Figur bei Keyserling kann nicht Ichausdruck der Person sein (auch wenn die Figur leidet), sondern muss zugunsten der Geltung des Kollektivs abgewehrt werden. Dichten und leiden können andere: „Die Bäume waren dicht verschneit, standen weiß und regungslos da – und am Ende der Allee hing am Himmel noch orangefarbenes Abendgold. Es war ganz feierlich. ‚Wie eine weiße Kirche‘, sagte Fred. ‚Bitte, dichten Sie jetzt nicht‘, unterbrach ihn Mimi.“16 Wie an weiteren Stellen des Keyserlingschen Werks sind Dichter jene, die ermahnt werden, jene, die lieben und nicht dürfen oder jene, die den Augenblick durch eine Rede stören, die sie nicht nötig haben, da die Einbildungskraft sie nicht forttragen muss, da sie schon feiertäglich sind. Das Außergewöhnliche ist Norm vor der Armut der anderen, die Glanz nur dosiert kennen und ihn künstlich machen müssen, da ihr Leben roh ist. Dabei ist das unbedingte, reflexartige Erfüllen der Forderung im Gespräch jene Höflichkeit, die sich als „autonome Person“ nicht behaupten muss. Die Linie hat es getan. In Sentimentale Wandlungen heißt es weiter: „Aber Sie, Mimi – Sie können alles tun.“ „Sind Sie der Abgrund?“ fragte Mimi. „Gewiß!“ bestätigte Fred. „Und später essen wir im Waldhäuschen Omelette mit Preiselbeeren.“ „Ich esse keine Preiselbeeren“, wandte Mimi ein. „Dann mit Aprikosen“, fuhr Fred fort. „Ich hole Sie ab – nicht?“ Mimi war nachdenklich. „Ja – aber ich weiß nicht, ob ich fahre“ – schloß sie die Unterhaltung.17 Das Affirmative vermeidet zum einen den Schmerz, der mit dem Element der Kritik in die Welt kam – dass sie (bürgerliches) Emanzipationsmittel und -signal war, tröstet nicht immer – und ist das, was man sich gestatten kann, wenn man ist, was 14Aristoteles: Metaphysik. Zweiter Halbband, Bücher VII–XIV. In der Übersetzung von Hermann Bonitz. Hg. von Horst Seidl. Hamburg 1980, S. 235: „Das Wesen ist der Gegenstand unserer Betrachtung; denn die Prinzipien und Ursachen des Wesens werden gesucht.“ 15Tränen vertragen sich mit Herrschaft nicht; Wolf Lepenies schreibt in Melancholie und Gesellschaft: „Vom Hofe muß die Melancholie verbannt bleiben; Herrschaft kann Traurigkeit nicht dulden – gesteht sie allenfalls dem Herrscher als Privileg zu. Daß die Melancholie am Hofe fehl am Platz ist, zeigt sich bereits im mittelalterlichen Rittertum, wo die Freude als Ausdruck einer ‚unumstößlichen Forderung des gesellschaftlichen Lebens‘ erscheint, wo die ‚Gruppenperson der freudigen Festgesellschaft‘ mit dem Terminus ‚werelt‘ bezeichnet wird.“ Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1972, S. 90; vgl. auch Sandra Markewitz: Ein letzter Impressionist. Eduard von Keyserling und die Farben. Bielefeld 2010, S. 53. 16Keyserling: „Sentimentale Wandlungen“, S. 10. 17Ebd., S. 17. Natur, Kultur, Moderne 253 andere nicht werden können. Das Pochen-auf-eine-Haltung, das Entzaubern des Schönen, das Grobwerden, die scheinbare, auswendig gelernte Benimm-Höflichkeit als Angelerntes – all dies ist es nicht. Sprechen ohne intentio, müde Form des Gleichen Was nicht gesehen wird, wenn Keyserling als Soziograph und Ironiker angeschlossen wird (an Diskurse, die ihm fernstanden), ist, dass er keine Distinktion braucht. Seine Ironie ist darum etwas Anderes, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Sie ist nichts, was vor anderen sagt, „Seht, so ist es nicht, hier wird zu viel gewollt“. Sie verrät nicht, was dargestellt wird. Keyserlings scheinbare Ironie ist ein Distanzsignal nicht zum Dargestellten (vor den einverständigen Augen der anderen), sondern ein Distanzsignal zum bürgerlichen Diskurs, der als philosophischer Diskurs emanzipatorische Redeformen herstellte, die Keyserlings Lebensform gerade zum Schwinden brachten. (Dass er biographisch von seinen Standesgenossen ausgeschlossen wurde, sagt über seine Darstellungsfähigkeit nichts). Die Emanzipation der anderen, die dazugehören wollen, macht Keyserlings Figuren schwach, die Zeit, die über sie hinweggeht und sie zu Figuren einer anderen Gegenwart macht, ohne dass sie wählten. Was in einer Lesart, die den Ironiker sieht, ebenso fehlt wie bei einem verkürzten Romantizismus, ist das Verständnis der Gleichförmigkeit der Keyserlingschen Redeweisen, ihrer habituellen Langeweile als Legitimationsrede, die ihre Überlegenheit anzeigt.18 Die lange Weile ist jedoch, anders als in der aufklärerischen Deutung, keine Produktivkraft, bzw. sie muss keine Produktivkraft sein. Auf den Gütern ging alles unendlich langsam vor sich. Man durchmaß die Zeit im Tempo der Natur, der Zyklizität des Jahreslaufs, dem, was getan werden musste. In diesem Sinne ist das Bedürfnis der Moderne nach Selbstvergewisserung, das der philosophische Diskurs behauptet, für Keyserlings Figuren unmöglich und unnötig – es wäre vulgär. Nur, wer erst etwas werden muss, muss sich seines Selbsts vergewissern wie eines Tempels. Die Freimut der Gespräche, die Nähe der Liebesvokabel, die nichts bedeutet, semantisieren leer, denn es ist alles schon vorbestimmt. Die Zweifel der Moderne sind es, Zweifel an der Bedeutung der kollektiven Empfindung vor der besonderen, die eine Unsicherheit addieren, die Keyserlings Bilder so malerisch macht wie traurig – ein Symbolismus ist schwach geworden, sieht Farben, scheint zu schwelgen im schönen Bild und ist doch schon das Eintreten in den Raum der Erinnerung. Was ist das Moderne an Keyserlings Tableaus von Schloss, Park und Garten, wenn es nicht der Schock ist und das Plötzliche ist, wenn dies zu laut ist und keine Adressaten kennt? Modern ist die unzeitige Innensicht, die Keyserling gewährt, denn sie war nicht vorgesehen. Modern ist sie nicht in kritischer, aufklärerischer 18Vgl. Markewitz: Ein letzter Impressionist, S. 81 f. 254 S. Markewitz Absicht, sondern dem müden Wiederholen des Gleichen als jene modernité, die dem Betrachter zufällt, wie in der Mystik der Geist nicht willentlich, sondern aus einer Überfülle heraus in die Welt übergeht. Keyserlings Anstrengungslosigkeit ist sein Geheimnis, das er offen zeigt. Es ist, dass er die Deutung nicht braucht, dass er sie duldet, dass seine Texte dulden, gelesen zu werden, aber nicht gelesen zu werden brauchen. Sie sind nicht als kommunikative Akte definiert, die zu einem Ergebnis überreden sollen. Sie sind selbstverständlich, aber nicht notwendig als unabwendbare Elegie. Notwendigkeit ist vielmehr eine Vokabel aus dem Werk Kants, die bestimmte Züge der Moderne schon vorbereitet – etwa im Punkt der Autonomisierung des Subjekts – zusammen mit der Allgemeinheit, die in der philosophischen Universalisierung des Kantischen Sittengesetzes aufscheint. Neben den kulturell formenden und folgenreichen Begriffen kommt die Frage auf: Welcher Art ist die Natur, die Keyserling noch beschreiben kann? Ich habe an anderer Stelle19 dafür argumentiert, dass Keyserlings Farb- und Naturmetaphern dekontextualisieren, dass ihre Gegenstände fast denen Baudelaires ähneln, allerdings in weicherem, gedämpfterem Licht einer Abenddämmerung. Zudem ist die Auskunft der Naturzeichen als Zeichen der Moderne gebremst. Philippe Descola zitiert in seinem Buch Jenseits von Natur und Kultur Ralph Waldo Emerson. Emerson sagt: „‘tis said that the views of nature held by any people determine all their institutions.“20 Damit ist die Makroebene im individuell wahrnehmbaren Natursignal angesprochen, die Kraft der Kulturbildung und der Bildung politisch nutzbarer Entitäten. Das ist nicht weit von Keyserling entfernt; seine Beschreibungen sind zweierlei: Aesthetica der schönheitstrunkenen Welt, deren deontologische Aufladung dem Blick von außen kaum auffällt, da sie nicht kantisch ist, und Soziologeme, die jedoch so absichtslos gelingen, dass keine intentio auctoris sie beschwert, die sprachlichem Verständnis zu Grunde läge,21 was ihrer Gleichförmigkeit widersprechen würde. Das Schöne im Erkenntnisprozess22 ist hier Akzidens geworden, aber auch epistemologisch als Ineinandergehen von Kultur und Natur ist Keyserling Zeuge einer Wandlung. In der Novelle Harmonie – Dämmerungszone, Heimkehr des Felix von Bassenow – gilt für alle, nicht nur für Mila das tenez vous droite.23 Doch Annemarie, die Hausherrin, hält sich nicht, sondern geht ins Wasser. Natur nimmt sie auf, jene Wellen, die Keyserlings berühmtestem Werk den Namen gaben. Das Wasser ist Grundprinzip – alles ist eins und alles fließt – aber die positive philosophische 19Markewitz: Ein letzter Impressionist. Descola: Jenseits von Natur und Kultur. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Berlin 2011, S. 363. 21Vgl. Paul Grice: „Meaning“. In: Philosophical Review 66, Jul. 1957, S. 377–388. 22Vgl. Jan Cornelius Schmidt: Das Andere der Natur. Neue Wege zur Naturphilosophie. Stuttgart 2015, S. 246 ff. 23Eduard von Keyserling: Harmonie. Novelle. Mit einem Essay ‚Über die Liebe‘. Frankfurt/M. 1989, S. 32. 20Philippe Natur, Kultur, Moderne 255 Element-Deutung der Antike bekommt – wofür Annemaries Tod im Wasser stehen kann – den Zug ins Verderben: Mitternacht. Allein am Gestade. […] Die Weite und die Stille lasten auf dem Herzen. Eine ungestüme Liebe, ein großes Werk, eine entscheidende Tat […] Süße Bangigkeit des Seins, süße, aufreizende Nähe der Gefahr, deren Namen wir nicht kennen – ist Leben denn, sich ins Verderben zu stürzen? Von neuem, ohne Aufschub, lasst uns ins Verderben stürzen.24 Als hätte Camus Keyserling gekannt, überblendet er das Faszinosum und die Gefahr. Die Annäherung an Mila in Harmonie ist Natur, das Mädchen, das ihn hungrig ansieht, doch Annemaries Tod ist die Schranke, die Kultur in Natur sonst nicht übergehen lässt, die im Tod aufgehoben ist. Dass die Natur eine Kulturgeschichte hat, scheint auf in der Verschlingung von kulturellem Ende im natürlichen Element. Ästhetische Naturerfahrung ist historisch entstanden;25 der Schrecken der Natur wurde ihr Ruhm.26 Damit die Natur bei Keyserling schwach werden konnte, bzw. ihren Symbolisierungsauftrag nur noch widerwillig erfüllte, fand die Umdeutung des Gefährlichen zum Faszinierenden statt und damit zum Begeh- und Erfahrbaren. Die Berge wie das Meer gehörten nun zum Menschen, man zögert, dies Lebensraum zu nennen, aber hier können sich in Bühnenqualität Dinge ereignen, die auf die Sicherheit des Innenraumes – ein unmittelbares Kulturzeichen – eingeschworen waren: Er fühlte, wie Mila seine Hand fest drückte, er fuhr auf. Die Stimme war ganz nah: „Annemarie“, dachte er. […] Einen Fliederzweig hielt sie in der Hand und bewegte ihn sachte, als schlüge sie den Takt zu ihrem Lied. […] So ging sie vorüber. Der Gesang entfernte sich, wurde schwach, dann kam er wieder deutlicher über das Wasser, wie ein Wiegenlied klang es, ein Lied, das eine Mutter im Schein der Nachtlampe an einer weißen Wiege singt…27 Es ist ein Lebens- als Todesbild, Natalität und Mortalität in der Sorge um das Kind, das nicht leben wird. So ist Annemarie, die ein Kind verlor, im Tod wieder Kind, ihr weißes Musselinkleid in der Farbe der Schonung, vor Arbeit, vor dem Schmerz des Unreinen, der Möglichkeit, die nicht genutzt wurde. Auf der Figurenebene reiste Thilo ab, jedoch hatte seine Gegenwart Folgen. Sie war allein, ihr Mann mit Mila. Annemaries Glieder, „waren blank von Wasser und durchsichtig weiß.“28 24Albert Camus: „Das Meer (Bordtagebuch)“. Übers. von Monique Lang. In: Ders.: Literarische Essays. Hamburg 1973, S. 192–203. Zitiert nach: Gunter Scholtz: Philosophie des Meeres. Hamburg 2016, S. 185. 25Ruth Groh/Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt/M. 1991, S. 93. 26Ebd. 27Keyserling: Harmonie, S. 86. 28Ebd. S. 88. 256 S. Markewitz Niedergang ohne Kompensation: Das Schönheitsrecht der Wenigen Durchscheinend ist der Comment der Kultur geworden, die philosophisch benannte „Abhängigkeit der Lebenden von den Toten“29 zeigt sich hier in einer besonderen Form. Hatte Joachim Ritter „als notwendige Bedingung für Landschaftserfahrung die lebensweltliche Distanz von der Natur“30 beschrieben, die auf die entstehende bürgerliche Gesellschaft verweist, verhält es sich bei Keyserling anders. Da die Figuren Keyserlings solche der Herrschaft sind, braucht die Natur nicht zu kompensieren, was der Bürger durch technische Entwicklung und Anonymisierung der Lebenswelt im scheinbaren Fortschritt in den Städten verlor. Die Kompensationsthese greift nicht, bzw. sie greift in anderer Art. Marquards Kompensationstheorie, „die den Menschen als kompensierendes, also ausgleichendes Lebewesen bestimmt“,31 nimmt an, dass etwas fortgenommen wäre, das in vollem Maße kompensierbar wäre. Dies aber ist bei Keyserlings Figuren nicht der Fall, denn was ihnen genommen wurde, lässt sich nicht kompensieren, da die Ordnung der Gesellschaft im kollektiven Maßstab eine andere geworden ist. Das Gleichgewicht, das vom Niedergang der Güter noch nichts weiß, war gerade das, das andere, auf ihren niederen sozialen Funktionsstellen, dazu zwang zu kompensieren, was sie nicht hatten und sei es durch Ressentiment und den Blick von unten nach oben, der in Baudelaires Die Augen der Armen zum Topos geworden ist.32 Zwischen Natur und Kultur spannt sich ein Bereich der Deutung, in dem Kompensation das Festhalten an einer Anzahl bedeutet, die einem 29Descola: Jenseits von Natur und Kultur, S. 569. Weltbild und Naturaneignung, S. 105. 31Ebd., S. 162; Vgl. Odo Marquard: Philosophie des Stattdessen. Stuttgart 2000. 32Baudelaire: Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, Kleine Gedichte in Prosa/Le Spleen de Paris, S. 539 f.: „Gerade vor uns auf der Straße stand ein einfacher Mann von vielleicht vierzig Jahren mit eingefallenem Gesicht und ergrauendem Bart, der an der einen Hand einen kleinen Jungen hielt und auf dem anderen Arm ein kleines Wesen trug, das noch nicht laufen konnte. Er machte das Kindermädchen und ließ seine Kleinen die Abendluft kosten. Alle in Lumpen. Die drei Gesichter waren ungewöhnlich ernst, und die sechs Augen starrten mit der gleichen, wenn auch dem Alter entsprechend abgestuften Bewunderung auf das neue Café. Die Augen des Vaters sagten: ‚Wie schön! Wie schön! Es sieht aus, als ob alles Gold der armen Welt auf diesen Wänden zusammengetragen wäre.‘ – Die Augen des kleinen Jungen: ‚Wie schön! Wie schön! Aber in dieses Haus dürfen nur Leute gehen, die anders sind als wir.‘ […] Im Lied heißt es, die Freude mache die Seele gut und das Herz weich. Das Lied hatte recht an jenem Abend, wenigstens was mich betrifft. Nicht nur rührte mich diese Augenfamilie, sondern ich schämte mich auch ein wenig unserer Gläser und unserer Karaffen, die größer waren als unser Durst. Meine Augen suchten die deinen, Liebste, um in ihnen meine eigenen Gedanken zu lesen; ich versank in deine so schönen und so seltsam sanften Augen, in deine grün schimmernden Augen, in denen die Laune wohnte und das Mondlicht blinkte, als du sagtest: ‚Diese Leute sind mir unerträglich mit ihren sperrangelweit aufgerissenen Augen! Könntest du nicht den Ober bitten, sie fortzuschicken?‘ So schwer ist es, sich zu verstehen, mein teurer Engel, und so wenig übertragbar sind die Gedanken selbst bei Menschen, die sich lieben!“ 30Groh/Groh: Natur, Kultur, Moderne 257 versprochen wurde. Die Kultur hat auch denen etwas versprochen, die nicht zu ihr gehörten. Wer kompensiert, muss wissen, was er kompensiert, welche Lücke geschlossen wird. Kompensieren ist eine kulturelle Aktivität und Seinsform, die einen privilegierten Zugang zu kulturellen Gegebenheiten und Zugang zu ihren Verteilungsformen voraussetzt. Die Keyserlingschen Personagen hingegen, etwa Annemarie, die ins Wasser geht, haben ihr Einverständnis gegeben, wieder Natur zu werden, da sie wissen, dass das, was sie verloren haben, nicht zu kompensieren ist. Ihre Kulturform ist die bedrohte. Sie hatten das Privileg, sich als Natur zu betrachten und ihre Herrschaft als natürlich – was paradoxerweise durch die Blüte der Frauen als den höchsten Kulturwesen sichtbar wurde und im Auftrag zur Repräsentation zu sich kam. Die Lobpreisungen der Landschaft klingen daher stereotyp, weil sie nicht als zu einer Kultur hinzugefügtes Naturschönes gelten können, sondern selber Lobpreisungen der Kultur sind, die dieses Schöne wahrnehmen kann. Das Privileg der Keyserlingschen Figuren ist, neben den Privilegien im Sozialen, das Schöne als Schönes sehen zu können: Ein Wahrnehmungsprivileg. Das ist deshalb hervorzuheben, weil der Naturgenuss der Unterworfenen – der Bürger auf dem Lande, schon verhöhnt von Valéry33 – immer ein Erheben ist und sein muss. Keyserlings Figuren aber sprechen von der Warte natürlich behaupteter Herrschaft und sind damit selbst Natur. So zeigt Keyserling die weiche, fließende Natur als ein Verwandtes, das die Grobheit des Überlebenskampfes pittoresk und das Leiden der Armen ästhetisch störend findet. Die Naturdinge wollen diese Beschreibung Keyserlings, dessen Wahrnehmungsform ihnen ähnlich ist, sie sind wie in Baudelaires Spleen-Gedichten affektiv zu füllen: Das Abendlicht lag wie rötlicher Staub in der Luft, über den Wipfeln der Parkbäume. Die Stare schlugen erregt und unermüdlich. Es war merkwürdig warm für die Jahreszeit. Die Glastüren des Saales standen offen. Die Gesellschaft ging auf der Veranda auf und ab. […] Annemarie trug ihr teerosenfarbnes, leichtes Seidenkleid […] Mila war in weiß mit einem großen, kindlichen Spitzenkragen. Felix lehnte mit dem Rücken gegen die Brüstung. „Geht – geht –“ sagte er, „das sieht unwahrscheinlich gut aus“. Sie gingen langsam vor ihm auf und ab.34 Im Bewusstsein eines inszenatorischen Elements – Struktursicherung der Situation – sind Natur und menschliche Darstellung des Schönen kaum zu trennen, da Schönheit das natürliche Recht der Keyserlingschen Figuren ist, der schöne Anblick zur Gewohnheit wurde, die Wahrnehmung selten beleidigt oder gestört. Die Frage nach Kultur oder Natur verbindet sich im Ausdruck der Wahrnehmungsweise: „Unwahrscheinlich gut“ sieht das Schauspiel der Körper aus, die, mit Blumen geschmückt, den Imperativ, Kultur wie Natur zu verlangen, umsetzen. Dass Kultur etwas Natürliches zu sein habe, findet sich noch – soziologisch – in 33Vgl. Paul Valéry: Windstriche, aus dem Französischen von Bernhard Böschenstein, Hans Staub und Peter Szondi. Frankfurt/M. 1995, S. 10. 34Keyserling: Harmonie, S. 34. 258 S. Markewitz den Worten „das sieht aber nicht schön aus“ oder „schön, dass Sie auch gekommen sind“, die man in heutigen Unterhaltungen hören kann. Sie erinnern an das Schönheitsrecht, dem nicht mit Lyrik begegnet werden muss, denn das würde bedeuten, dass Schönheit als Entrückung etwas Besonderes ist, das eines Genres bedarf. Die Naturalisierung der Kultur ist gerade der Widerstand gegen die Moderne, die mit Habermas weiß, dass die weltkonstituierenden Leistungen auf grammatische Strukturen übergegangen sind.35 Diese grammatischen Standards36 der Moderne bedeuten aber Partizipation, Demokratisierung, mit Keyserlings Ausdruck in Zur Psychologie des Komforts: „Die Psychologie hat uns unsere Seele und unser Ich wegerklärt. Sie sind unserem Verstande wesenlos und unfaßbar geworden.“37 Das heißt, man hatte ein Bild der Seele, hatte ihr Wesen, ihr Was-es-ist-dies-zu-sein (to ti en einai). Doch Wesensfragen sind nicht mehr die Fragen jener Zeit, die der ungebrochenen Wahrnehmung des Schönen als Schönes entspricht. Jetzt darf das Schöne nicht mehr das Schöne sein, es wird eingeordnet, in Taxonomien gesetzt, sozial bestimmt, gar zum Habitus in Beziehung gesetzt. Wie jedes zerbrechliche Amalgam von Herrschaft verträgt die Wahrnehmungshoheit die grobe Psychologisierung und Soziologisierung nicht. Mag sie Letztere dulden, manchen ist es Profession, ist die Psychologie nur für jene, die dynastisch nicht gehalten sind, die unsicher sind über ihre Rolle im Wahrnehmungsspiel und sei es die Selbstwahrnehmung. Das Ethos der Wahrnehmung als Anständigkeit kennen wir etwa aus der Familie Wittgenstein, wo dies ein hoher Wert war.38 Bei Keyserling ist es aber der Zwang der höfischen Verstellungsnorm, Hypokrisie, der die Wahrnehmung so differenziert, dass jede Abweichung deutbar wird – in der Perspektive der zu sichernden Herrschaft. Was sollte die Psychologie hier hinzufügen? Ihre Kulturleistung als Deutungsleistung wirkt schwach. Die talking cure, was kann sie sein für die, denen alle Gegenstände angehörten, die im Komfort der Dinge zuhause waren, die sie ganz bejahten? Nicht zuletzt die Augen der Armen und die Anerkennung in diesen sehnenden Augen bestätigt Keyserlings Figuren ein längst Gewusstes. Sprechen kann alles nur schlimmer machen, von der Herrschaft entfernen. Wenn Landschaft in ihrer scheinbar malerischen Beschreibung auf Herrschaft verweist, weil ein privilegiertes Wahrnehmungsvermögen sie uns vermittelt, gibt es doch ein Eigenrecht dieses Schönen, das Kultur natürlich machen will und damit den Gesellschaftsort. Das Eigenrecht heißt, dass Wahrnehmung über das, was sie wahrnimmt, hinausgeht, dass sie ein Vermögen ist jenseits ihrer Gegenstände, kantisch, dass wir nur wahrnehmen können, was die Vermögen gestatten, 35Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/M. 1992, S. 15. 36Sandra Markewitz (Hg.): Grammatische Subjektivität. Wittgenstein und die moderne Kultur. Bielefeld 2019. 37Keyserling: „Zur Psychologie des Komforts“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten, Göttingen 2008e, S. 109–129, hier S. 109. 38Vgl. Hermine Wittgenstein: Familienerinnerungen. Hg. von Ilse Somavilla. Innsbruck 2015. Natur, Kultur, Moderne 259 nicht, was die Gegenstände uns sagen. Als Pointe des Natur-Kultur-Zusammenhanges erweist sich die Epistemologie. Was Kant für die bürgerliche Emanzipation der kopernikanischen Wende nutzte – die Erde hat ihre Mittelpunktstellung verloren, der Mensch hat sie gewonnen – kommt für Keyserlings Figuren schon 1781 zu spät, da der Emanzipationsgedanke Kants gebunden ist an die Erkenntnisfähigkeit derer, die, sich darin befreiend, zu Selbstgesetzgebung fähig sind. Das Erscheinungsjahr der Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage) markiert für das Leben auf den Gütern etwas Tautologisches: Dass uns die Dinge nichts sagen, sondern dass sie von unseren Erkenntnisvermögen ausgehen – Keyserlings Figuren wussten es auf ihre Weise. Das ist die verfeinerte Wahrnehmung und Beschreibungsfähigkeit des Herrschaftsreflexes: Wir sehen es so. Kein Psychologe wird dies heilen, was kollektiv nicht mehr zeitgemäß sein soll. Das Unzeitgemäße der als Natur behaupteten Kultur ist nicht diskutierbar und Reden trägt nur von der Erkenntnis fort. Man lernte wie nebenbei. Wie das Wesen sich beim späten Wittgenstein in der Grammatik ausspricht (PU 371),39 da es obsolet geworden ist, so bei Keyserling im Wahrnehmungsvermögen, der Verfeinerung. Natur und Kultur sind keine Gegenspieler, ihre Verbindung war das, was man sich leisten konnte, bevor der Diskurs der Moderne das Band zerschnitt und das Geselligkeitsideal einer ganzen Schicht verklang wie eine unzeitgemäße Melodie: „Ein einsames Fest ist ein Paradoxon wie ein geselliger Tod.“40 Die Melodie klingt fort, wenn Keyserling auf paradoxe Weise zum Zeugen der Moderne wird: Er zeigt, was vergangen ist, integriert die Rezeptionsakte der Zeit, die seine Figuren nicht betrifft, und lässt das Medium dauern. Zeitenthobenheit ohne Gleichheit: Distanznahme jenseits der aktualisierenden Geste Die Zeitenthobenheit ist sein Pfund, sucht man die Sprechakte, die Keyserling zeigt, inhaltlich zu verstehen, öffnet sich nicht der Raum der Realien, sondern jener der träumerisch explorierten Möglichkeit: „Liebende wie Müßiggänger bewegen sich in einer unendlichen, ganz unabsehbaren, zeitentfliehenden Gegenwart. Wenn die Zeit (von der wir meist als Uhrzeit in kausal-logischer Folge gleicher Zeiteinheiten sprechen) keine Rolle mehr spielt, sind wir im anderen Zustand.“41 Die Figuren greifen durch ihr Wartenkönnen, den habitualisierten Aufschub, in die Vorstellung der durch Ursache-Wirkungsstrukturen determinierten Zeit ein. Die Erotisierung und Zeitenthebung des Handlungsraumes „entspringt dem Bewußtsein der Sterblichkeit, das kein Zurückhalten, 39Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt/M. 1984, S. 398. 40Keyserling: „Über Festtage“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten, Göttingen 2008d, S. 161–164, hier S. 161. 41Gisela Dischner: Liebe und Müßiggang. Bielefeld/Basel 2012, S. 67. 260 S. Markewitz keine Verschiebungsideologie mehr zuläßt.“42 Teil der von Dischner benannten Verschiebungsideologie ist die Ironisierungslesart der Keyserlingschen Tableaus. Das Glück der Wenigen muss sein wie ein Präsentisches, darin verstanden wird nicht der Tod als bestimmendes Element: Er ist in Landpartie und Flirt immer mitgedacht, da das Dynastische dem Individuum immer die eigene Teilung mitteilt, die es nicht übersehen kann: Es gehört zur Linie (Zucht). Ein Teil der Figur ist immer schon vergangen, auch wenn sie spricht. Die Liebesempfindung holt in den Diskurs an der Oberfläche zurück (dahinter die Arterhaltung): „Unsere Hände waren einander nah – sie sehnten sich nacheinander, sie fühlten einander. Hätte ich wirklich Claudias Hand ergriffen, so wäre das trivial gewesen. So etwas tut Spall vielleicht. Aber so war es gut. Die Ahornwipfel standen still und schwarz im Mondlichte.“43 Der Bruch, von heute aus, ist die Behandlung der Anderen. Keyserling spricht von den „barbarischen Negernamen“,44 die das Räsonieren über Zeitbegriff, Muße und Erinnerung grell durchschneiden. Die zeitenthobene Perspektive ist nicht die des Gerechtigkeitsideals als Gleichheitsforderung, ist gewaltförmig gegen das, was nicht dazugehört. Die Anderen als Unzivilisierte zählen in ihren Zeitbegriffen, die Weltfähigkeit bedeuten, nicht. Dass Liebe und Unrecht zusammengehen, ist gewusst, nicht gewollt, aber das, woran man gewöhnt worden ist. Der Diskurs der Moderne wird von Keyserling zum einen im Sinne der Schwäche, des Schwachwerdens des Diskurses, der nur noch mühevoll signifizierenden Zeichen bestätigt. Gleichzeitig sind die Zeichen fähig, weit über die Idee einer Abbildtheorie der Bedeutung hinaus Sinn zu verleihen, in einer Kontext- und Gebrauchsbasiertheit, die die Idee der Isomorphie von Sprache und Welt hinter sich lässt. Das Abbild, das Keyserling zeigt, ist gesättigt mit Weltkenntnis wie ein voller Pinselstrich, pastos wie eine Materialität, die sich erlauben kann, das materiale Argument zu vergessen. So wird die Semantik der modernité zum einen fortgeführt, zum anderen aber auch gebrochen: Durch den Anspruch auf Dauer von Herrschaft, der die Sujets des Keyserlingschen Spätstils auflud, sie erst erzählbar machte. Die Zweideutigkeit des modernen Zeichens scheint auf – der Sinn, altehrwürdige Handlungskategorie des Akteurs, der gelernt hat sich als solcher zu sehen, kann das, was das 20. Jahrhundert brachte, ihn als Ergebnis von Konvention (Übereinkunft) zu nehmen, nicht mehr bejahen. Auch wenn das 20. Jahrhundert gemeinhin als Hochzeit des linguistic turn bestätigt ist, etwa an die Sprachkritik des 19. Jahrhundert kaum gedacht wird,45 schreibt Keyserling den Gegendiskurs: der Dekontextualisierung, der Überschreitung, des ganz Anderen. Wenige Autoren und Autorinnen haben seine Spur aufgenommen, die, nicht im Sinne der äußerlichen Hochschätzung des noblen 42Gisela Dischner: Wörterbuch des Müßiggängers. Bielefeld 2009, S. 61; Markewitz: Ein letzter Impressionist, S. 98. 43Eduard von Keyserling: Seine Liebeserfahrung. Frankfurt/M. 1999, S. 44. 44Ebd. 45Sandra Markewitz (Hg.): Philosophie der Sprache im Vormärz. Bielefeld 2015. Natur, Kultur, Moderne 261 Interieurs bei Sombart, das scheinbar mit unbegrenzter Erotizität als Phantasma korreliere, ein Freiheitszeichen ist: Identität, eine lange Gewöhnung nach Innen auszuweichen, in die unendlich sich weiterfächernden Wege nach Innen. Vielleicht ist die Unfähigkeit zum Haß wirklich ein Mangel an Lebendigkeit. Dennoch steht mir der Satz von Caroline Schlegel vor Augen: „Die Herzen der Guten sind heilbar.“ Ein Plädoyer dafür, auf Verletzungen nicht wie die meisten von uns: aus Schwäche – mit Haß, mit Ressentiment und Verbitterung zu reagieren.46 Das Ressentiment ist der Affekt der Schwachen, manchmal derer, die keine Wahl hatten. Der ethische Punkt – es sind die Herzen der Guten, die sich wandeln können – ist bei Keyserling unter dem Schönheitseindruck verborgen, doch die „lange Gewöhnung“, von der Gruenter im Kontext einer Lesart der Stadt Paris als Herz des modernen Affekts in Der Autor als Souffleur spricht, bekennt sich zum Nach-Sprechen, der Imitation des Gewesenen in aestheticis – die anverwandelnde Mimesis sichert den Fortgang des Diskurses, der immer mehr und anderes war als dies, der einen Überschuss hatte jenseits der Zugangsbedingungen und denen seiner Distribution. Keyserling hat den Diskurs der Moderne nicht nur weitergeschrieben und zugleich konterkariert; vor allem lehrt er eine Rezeptionshaltung, die eher durch Distanznahme, denn durch Nähe bestimmt ist. Das Gleichmaß der Tage auf den Gütern lenkt von der Gewöhnung nach Innen auch ab, in den standardisierten Formeln der Weltläufigkeit, die das emphatische Ich nicht brauchen. Dann kann es passieren, dass man sich, im Gleichmaß, fremd ist, dass man die Störung, den „Ton […], der sie alle aufhorchen“47 macht, stärker empfindet als jene, die sich von Empfindungen steuern lassen, die unter der Hülle subjektstärkender Rationalität ein bestimmendes, aber unerkanntes Dasein haben. Die Menschen sehen oft die Kategorien nicht, die ihre Kultur und sie selbst prägten, richten sich aber danach. Versteht man Keyserlings Darstellung von Schloß, Park und Garten als Erfahrungsbeschreibung, die bruchlos neben anderen Erfahrungen zu verorten ist, ergibt sich als Darstellungsziel die Rückholung weltabgewandter Vernunft in ihre Bezüge als Versuch, „eine abstrakt verhimmelte Vernunft ihren Kontexten zurückzugeben und in den ihr eigentümlichen Operationsbereichen zu situieren.“48 Ist das Zitat bei Habermas bezogen auf die Verweltlichungsarbeit von Gadamer, Lévi-Strauss und der Hegelmarxisten, werden wir bei Keyserling daran gewöhnt, dass ungebrochene Darstellung von Lebensverhältnissen in anstrengungsloser Authentizität eine Umkehrung bringen kann: Das scheinbar exklusive Sujet wird zum Alltäglichen, es ist gerade nicht, was man sich ersehnen kann, sondern das, was in seiner Selbstverständlichkeit (Wiederholung, Gleichmaß, Zwang) neben andere Zwangsanordnungen des Sozialen passt. Keyserlings Verweltlichung des 46Undine Gruenter: Der Autor als Souffleur. Journal. Frankfurt/M. 1995, S. 39. Harmonie, S. 49. 48Habermas: Nachmetaphysisches Denken, S. 15. 47Keyserling: 262 S. Markewitz Hohen besteht einmal darin, dass er es darstellt, zum anderen darin, dass es von denen gedeutet wird, die es höher stellen als ihr eigenes Selbstverständliches. Der Schlüssel zu einem Verständnis Keyserlings, das nicht in die Ironiediagnose flüchtet, ist, sein Dargestelltes als ein Selbstverständliches49 zu sehen – auch wenn dieser Eindruck für wenige galt. Es geht darum, ihn zu bewahren vor der aktualisierenden Geste, da sich die Kraft seiner Diagnose durch Beschreibung in der Aneignung verliert. Literatur Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Berlin/Zürich 202017. Aristoteles: Metaphysik. Zweiter Halbband, Bücher VII–XIV. In der Übersetzung von Hermann Bonitz. Hg. von Horst Seidl. Hamburg 1980. Baudelaire, Charles: Die Blumen des Bösen/Les Fleurs du Mal, Kleine Gedichte in Prosa/Le Spleen de Paris. In der Übertragung von Carl Fischer. München 1979. Brandes, Georg: Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus. Berlin 2004. Camus, Albert: „Das Meer (Bordtagebuch)“. Übers. von Monique Lang. In: Ders.: Literarische Essays. Hamburg 1973, S. 192–203. Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Berlin 2011. Dischner, Gisela: Wörterbuch des Müßiggängers. Bielefeld 2009. Dischner, Gisela: Liebe und Müßiggang. Bielefeld/Basel 2012. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Bd. 2: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt/M. 1997. Grice, Paul: „Meaning“. In: Philosophical Review 66, Jul. 1957, S. 377–388. Groh, Ruth/Groh, Dieter: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt/M. 1991. Gruenter, Undine: Der Autor als Souffleur. Journal. Frankfurt/M. 1995. 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Göttingen 2008a, S. 33–43. 49Vgl. hierzu Martina Philippi: „Die Sprache der Selbstverständlichkeit und die Grenzen der Theorie“. In: Sandra Markewitz (Hg.): Jenseits des beredten Schweigens. Neue Perspektiven auf den sprachlosen Augenblick. Bielefeld 2013, S. 121–149. Natur, Kultur, Moderne 263 Keyserling, Eduard von: „Landpartie“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen. Göttingen 2008b, S. 45–55. Keyserling, Eduard von: „Sentimentale Wandlungen“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen. Göttingen 2008c, S. 7–24. Keyserling, Eduard von: „Über Festtage“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen. Göttingen 2008d, S. 161–164. Keyserling, Eduard von: „Zur Psychologie des Komforts“. In: Ders.: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen. Göttingen 2008e, S. 109–129. Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1972. Markewitz, Sandra: Ein letzter Impressionist. Eduard von Keyserling und die Farben. 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Frankfurt/M. 1984. Keyserling im Fernsehen Adaptionsstrategien in Verfilmungen von Dumala und Wellen Dominik Orth Literaturverfilmungen waren, sind und bleiben vermutlich eine Konstante in der internationalen und deutschsprachigen Filmproduktion. Bemerkenswerterweise hat das literarische Werk Eduard von Keyserlings den Weg ins deutsche Kino gleichwohl noch nicht gefunden. Allerdings finden sich einige Verfilmungen seiner Romane und Erzählungen, die für das Fernsehen produziert wurden. Mehrfach verfilmt wurden dabei die 1904 erschienene Novelle Schwüle Tage,1 der Roman Dumala aus dem Jahr 19072 sowie die erstmals 1911 publizierte Novelle 1Neben Schwüle Tage (Regie: Hajo Gies. Produktion im Auftrag des WDR. Erstausstrahlung ARD 17.12.1978) existiert eine Verfilmung des französischen Fernsehens unter dem Titel Été brulant (Regie: Jérôme Foulon. Erstausstrahlung 19.07.1995). Vgl. https://bit.ly/2K8lvgx (31.07.2019); https://www.imdb.com/title/tt0227712/ (31.07.2019). 2Die früheste TV-Verfilmung eines Werkes von Keyserling wurde 1963 ins Programm aufgenommen (Dumala. Regie: Walter Rilla. Produktion des BR. Erstausstrahlung ARD 21.05.1963). Unter dem Titel Die Galgenbrücke (Regie: Hans Werner. Produktion im Auftrag des Fernsehens der DDR. Erstausstrahlung DDR-TV 12.02.1989) findet sich auch eine in den DEFA-Studios produzierte Fassung dieses Romans. Vgl. https://bit.ly/2K6JqNj (31.07.2019); https://bit.ly/2LQflDL (31.07.2019). D. Orth (*) Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: dominik.orth@uni-wuppertal.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_17 265 266 D. Orth Am Südhang.3 Weiterhin strahlten die TV-Anstalten Adaptionen der „Schloßgeschichte“ Beate und Mareile (1903)4 und des Romans Wellen (1911)5 aus.6 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literaturverfilmungen, die explizit für das Medium Fernsehen produziert werden, scheint inzwischen eine eher randständige Beschäftigung innerhalb der Medienwissenschaften zu sein.7 Zwar liegen einige einschlägige Publikationen zu diesem Feld vor,8 insgesamt konzentriert sich die Adaptionsforschung jedoch vor allem auf Kinoproduktionen.9 3Die bislang einzige Keyserling-Adaption fürs Kino unter dem Titel Comédie d’été (1989, Regie: Daniel Vigne) stammt aus Frankreich (vgl. https://www.imdb.com/title/tt0097102/ (31.07.2019)), der Film startete auch nur dort in den Kinos. Am Südhang (Regie: Michael Verhoeven. Produktion im Auftrag des ZDF. Erstausstrahlung ZDF 08.09.1980; vgl. https://bit.ly/2KjQJQD (31.07.2019)) wurde später in der konzeptionellen ZDF-Reihe „Literaturverfilmungen im Fernsehspiel“ erneut gesendet; vgl. Anja Weller: „Fernsehspielreihen nach literarischer Vorlage. Vergleich der Redaktionsgeschichten von NDR und ZDF“. In: Helmut Schanze (Hg.): Fernsehgeschichte der Literatur. Voraussetzungen – Fallstudien – Kanon. München 1996a, S. 248–312, hier S. 293–296. 4Beate und Mareile. Regie: Hajo Gies. Produktion im Auftrag des ZDF. Erstausstrahlung ORF 05.04.1981. Vgl. https://bit.ly/2YurH6s (31.07.2019). 5Wellen. Regie: Vivian Naefe. Produktion im Auftrag des ZDF. Erstausstrahlung Arte 21.01.2005. Vgl. https://bit.ly/2Yz9STN (31.07.2019). 6Da es sich fast ausschließlich um Fernsehproduktionen handelt, ist die Verfügbarkeit der Verfilmungen entsprechend problematisch. DVD-Fassungen sind lediglich von der Dumala-Verfilmung Die Galgenbrücke (Hamburg Enterprises 2018) und der einzigen Verfilmung von Wellen (Universum Film 2004) veröffentlicht worden. Unter anderem aus diesem Grund liegen diese beiden Adaptionen diesem Aufsatz zu Grunde. Selbst die Archive der Sender halten nicht alle Produktionen verfügbar, so ergab eine Nachfrage beim Bayrischen Rundfunk etwa, dass die Dumala-Verfilmung aus dem Jahr 1963 nicht archiviert wurde. 7Vgl. Peter Seibert: „Fernsehen als Medium der Literatur“. In: Ders. (Hg.): Fernsehen als Medium der Literatur. Kassel 2013b, S. 11–24, hier S. 12: „Deutlich erkennbar […] ist, dass die Phase intensiver Auseinandersetzungen der Forschung mit den reziproken Beziehungen von Fernsehen und Literatur seit Mitte der 1990er Jahre deutlich zurückgegangen ist.“ In Zeiten veränderter Distributionsformen könnte sich das wieder ändern, wenn man bedenkt, dass durch Streaming-Plattformen wie „Netflix“, die als eine neue Form des Fernsehens gelten können, der Rückgriff auf literarische Stoffe zunehmend bedeutsam wird; vgl. Nicolas Freund: „Gierig nach Romanen“. In: Süddeutsche Zeitung (05.08.2019); Vincent Fröhlich/Lisa Gotto/Jens Ruchatz (Hg.): Fernsehserie und Literatur. Facetten einer Medienbeziehung. München 2019. 8Vgl. bspw. Helmut Schanze (Hg.): Fernsehgeschichte der Literatur. Voraussetzungen – Fallstudien – Kanon. München 1996a; Peter Seibert (Hg.): Fernsehen als Medium der Literatur. Kassel 2013a. Spezifisch zur DDR vgl. Thomas Beutelschmidt/Henning Wrage: ‚Das Buch zum Film – der Film zum Buch‘. Annäherung an den literarischen Kanon im DDR-Fernsehen. Leipzig 2004; Thomas Beutelschmidt/Hans-Martin Hinz/Rüdiger Steinlein/Henning Wrage (Hg.): Das literarische Fernsehen. Beiträge zur deutsch-deutschen Medienkultur. Frankfurt/M. 2007. 9Vgl. stellvertretend etwa den Band von Anne Bohnenkamp (Hg.): Literaturverfilmungen. Stuttgart 2005, in dem überwiegend Analysen zu Kinoproduktionen zu finden sind. Keyserling im Fernsehen 267 Die Verfilmung literarischer Texte spielt jedoch seit Anbeginn des Fernsehens eine wichtige Rolle für dieses Medium.10 Im Zuge der Bildungsorientierung der öffentlich-rechtlichen Sender in der Bundesrepublik war die Literatur ein willkommenes Stoffreservoir für das Fernsehen.11 Zudem konnte sich das neue Medium durch literarische Adaptionen nobilitieren.12 Allerdings nahm die Bedeutung von Literaturverfilmungen im TV von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmend ab, nicht zuletzt im Zuge der Konkurrenz durch das Privatfernsehen.13 Verfilmungen von Werken Keyserlings finden sich – bislang – in der Zeitspanne von 1963 bis 2005, also von der Hochphase des ‚literarischen‘ Fernsehfilms bis zu der Zeit, als diese Art von Programmpunkt eine eher randständige Rolle spielte. Die sechs deutschsprachigen Produktionen tragen somit seit Jahrzehnten – wenn auch mit einem erkennbaren Schwerpunkt in den 1980er Jahren (die Jahre der Erstausstrahlungen: 1963: Dumala; 1978: Schwüle Tage; 1980: Am Südhang; 1981: Beate und Mareile; 1989: Die Galgenbrücke; 2005: Wellen) – durch den, so der Medienwissenschaftler Knut Hickethier, „kulturellen Umlauf der Medienprodukte“ zur „längerfristigen Verbreitung“14 des Autors (über das eigentliche Medium der Literatur hinaus) erheblich bei. Die Bedeutung von Keyserling als Schriftsteller, obwohl für das Kino bislang nicht entdeckt,15 zeigt sich somit nicht zuletzt in seinen für den 10Vgl. exemplarisch die historischen Ausführungen zu ‚literarischen Fernsehfilmen‘ der Bundesrepublik von Helmut Schanze/Bernhard Zimmermann: „Fernsehen und Literatur. Fiktionale Fernsehsendungen nach literarischer Vorlage“. In: Dies. (Hg.): Das Fernsehen und die Künste. München 1994, S. 19–65; für die DDR vgl. Beutelschmidt/Wrage: Das Buch zum Film. 11Vgl. Helmut Schanze: „Die Erfindung der Literaturverfilmung durch das Fernsehen“. In: Peter Seibert (Hg.): Fernsehen als Medium der Literatur. Kassel 2013, S. 61–77, hier S. 62 sowie Knut Hickethier: „Wie aus Literatur Fernsehen wird. Zur Theoriebildung des Medienwechsels: Adaption, Intermedialität, Transmedialität und Crossmedialität. Literatur in der Mediengesellschaft“. In: Peter Seibert (Hg.): Fernsehen als Medium der Literatur. Kassel 2013, S. 31–60, hier S. 42, der zudem darauf hinweist, dass in den 1950er Jahren ca. 80 % der Fernsehfilme auf literarischen Vorlagen basierten. Vgl. zur Bedeutung von Literatur in der Frühphase des Fernsehens zudem Knut Hickethier: „Literatur als Starthilfe. Die Literaturverfilmungen und das bundesdeutsche Fernsehen“. In: Thomas Beutelschmidt/Hans-Martin Hinz/Rüdiger Steinlein/Henning Wrage (Hg.): Das literarische Fernsehen. Beiträge zur deutsch-deutschen Medienkultur. Frankfurt/M. 2007, S. 65–82. Vgl. allgemein zur Bedeutung literarischer Vorlagen für das Fernsehspiel in der BRD Knut Hickethier: Das Fernsehspiel der Bundesrepublik. Themen, Form, Struktur und Geschichte 1951–1977. Stuttgart 1980. 12Vgl. Hickethier: „Wie aus Literatur Fernsehen wird“, S. 43. Dies kann gleichermaßen für das Fernsehen der DDR gelten, vgl. Thomas Beutelschmidt: „Das ‚literarische Fernsehen‘ in der DDR. Eine programmgeschichtliche Übersicht“. In: Thomas Beutelschmidt/Hans-Martin Hinz/ Rüdiger Steinlein/Henning Wrage (Hg.): Das literarische Fernsehen. Beiträge zur deutsch-deutschen Medienkultur. Frankfurt/M. 2007, S. 47–63, hier S. 48 f. 13Vgl. Hickethier: „Wie aus Literatur Fernsehen wird“, S. 45. 14Ebd., S. 56. 15Ausnahme ist die bereits erwähnte französische Produktion Comédie d’été. 268 D. Orth Massenmarkt produzierten TV-Adaptionen, die den Autor qua Medienwechsel seiner Werke würdigen, um gleichzeitig die Fernsehanstalten als kulturelle Instanzen – durch die Verfilmung von ‚Hochliteratur‘ – zu positionieren.16 Anhand der Analyse der beiden letzten TV-Produktionen in der Reihe der Keyserling-Adaptionen – der DDR-Verfilmung des Romans Dumala unter dem Titel Die Galgenbrücke aus dem Jahr 1988 und der ZDF-Produktion Wellen von 2004 – soll im Folgenden beispielhaft herausgearbeitet werden, auf welche Art und Weise diese Fernsehfilme die Romane und damit den Autor kulturell präsent halten. Das sowohl literatur- als auch filmwissenschaftlich ausgerichtete Erkenntnisinteresse liegt dabei insbesondere auf der Analyse der Adaptionsstrategien, mit denen im Rahmen des Medienwechsels die Geschichten erneut erzählt werden, und der Deutung der entsprechenden Funktionspotenziale. Es geht nicht darum, eine Wertung der Adaptionen vorzunehmen oder den vermeintlichen ‚Verlustcharakter‘, der dem Medienwechsel von Literatur zum Film in der Debatte um Literaturverfilmungen oftmals zugesprochen wurde, nachzuzeichnen.17 Die ausgewählten Beispiele sind vielmehr relevant, da sie aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten heraus entstanden sind – DDR (Die Galgenbrücke) auf der einen Seite; (wiedervereinigtes) Deutschland (Wellen) auf der anderen Seite – und weil sie zwar typische, aber dennoch unterschiedliche Adaptionskonzepte verfolgen, um die Themen sowie Erzählstrategien und -verfahren der literarischen Texte in das Medium Film zu überführen oder zu transformieren. Analogiebildung als Transformationskonzept: Die Galgenbrücke Die Erstausstrahlung der Dumala-Verfilmung Die Galgenbrücke im Februar 1989 verweist bereits darauf, dass es sich bei diesem Film um eine der letzten Adaptionen zu Zeiten des Bestehens der Deutschen Demokratischen Republik handelt. Bedeutsam für die Produktion von Verfilmungen durch das DDR-Fernsehen war 16Vgl. Schanze: „Die Erfindung der Literaturverfilmung“, S. 63. Das Medium Fernsehen nimmt dabei, so Hickethier, eine entscheidende kulturelle Funktion ein: „Kultur besteht letztlich aus der Weitergabe, Wiederholung, Neuformulierung von bestimmten kulturellen Inhalten, die für die Gesellschaft für wichtig gehalten werden.“ Hickethier: „Wie aus Literatur Fernsehen wird“, S. 57. Adaptionen sind in diesem Sinne „Elemente der Fortschreibung von Kultur und der kulturellen Erinnerung“. Ebd., S. 58. Ähnlich auch Helmut Schanze: „Literatur – Film – Fernsehen. Transformationsprozesse“. In: Ders. (Hg.): Fernsehgeschichte der Literatur. Voraussetzungen – Fallstudien – Kanon. München 1996b, S. 82–92, hier S. 82: „Verfilmung eröffnet der Literatur den Zugang zu den beiden großen audiovisuellen Speicher- und Verbreitungsmedien, dem Film und dem Fernsehen.“ 17Vgl. zur „Verlustdebatte“ Hickethier: „Wie aus Literatur Fernsehen wird“, S. 46–48 sowie allgemein zum Sonderstatus der Literaturverfilmung zwischen Literatur- und Filmwissenschaft Martina Sölkner: „Über die Literaturverfilmung und ihren ‚künstlerischen Wert‘“. In: Stefan Neuhaus (Hg.): Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung. Würzburg 2008, S. 49–62; zum Verlustthema S. 57 f. Keyserling im Fernsehen 269 die (kultur)politische Absicherung der fiktionalen Geschichten, der ‚verfilmte‘ Stoff war vor Produktionsbeginn bereits akzeptiert: „In der Regel war die Verträglichkeit des Sujets und dessen formale Aufbereitung mit den Anforderungen der Kulturpolitik grundlegend geklärt – ein publizierter Text war sozusagen ‚abgeschliffen‘ und konnte als ‚gesichert‘ gelten“.18 Die 86-minütige Produktion ist offensichtlich darum bemüht, den literarischen Text möglichst analog in das Medium Film zu transformieren.19 Die Handlung bleibt unverändert: Der verheiratete Pastor Werner verliebt sich in die Baronin Karola Werland, die ihren kranken Mann mit dem Baron Rast betrügt, mit diesem gemeinsam das Weite (das bezeichnenderweise in Florenz liegt, also im Westen) sucht, um schließlich nach dem Tod ihres Ehemannes mehr oder weniger reumütig zurückzukehren. Die Analogiebestrebungen der Adaption zeigen sich zudem in weiteren Hinsichten: Der Ablauf der Geschehenselemente wurde weitestgehend übernommen, die Dialoge im Film entsprechen überwiegend dem Wortlaut des literarischen Textes20 und die dominante Fokalisierung auf Pastor Werner ist ebenfalls der Vorlage entlehnt. Der Schluss des Filmes verweist darüber hinaus explizit auf die literarische Vorlage: Per Text, durch die Einblendung von Schrift über der letzten Einstellung des Films, wird das (wenn auch leicht verkürzte) Ende des Romans explizit zitiert, zusätzlich wird es per Voice-Over durch die Figur Werner ausgesprochen, der diese Worte denkt. Die Einblendung des Textes wäre demnach gar nicht nötig gewesen. Gesteigert wird der ostentative Bezug zum literarischen Schrifttext noch durch die Einblendung des Autorennamens unter dem Zitat: So wird der Verfasser der Vorlage gewissermaßen in den Film eingeschrieben. Ein derart auf Analogiebildung ausgerichtetes Transformationskonzept21 ist nicht untypisch. Es wird in den diversen, in der Forschung zirkulierenden Typologien von Literaturverfilmungen mit Begriffen wie ‚Analogiebildung‘22 oder 18Beutelschmidt: Das „literarische Fernsehen“, S. 49. Dumala erschien bspw. 1976 im Auf- bau-Verlag. 19Den für die deutschsprachige Forschung einflussreichen Begriff der Transformation prägte insbesondere Irmela Schneider: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung. Tübingen 1981. 20Neben unbedeutenden, da den eigentlichen Sinn nicht verändernden Verkürzungen, Auslassungen und Varianzen findet sich eine interessante Veränderung im Detail einer Figurenrede, die politisch motiviert sein dürfte: In einem Gespräch über den Sinn des Lebens und den religiösen Glauben an das Leben nach dem Tod sinniert Karola in Keyserlings Text: „Warum soll man nicht darauf hoffen, warten? Man sieht eine Allee hinab, eine lange, lange Allee. Warum sollen wir uns da plötzlich eine schwarze Mauer denken? Das lieb ich nicht. Ich will hinabsehn, weit – weit – bis da, wo ich vor Helligkeit der Ferne nichts mehr unterscheide.“ (Eduard von Keyserling: Dumala. Hg. von Philipp Haibach. Zürich 2014, S. 32) Im Film wird die „schwarze Mauer“ hingegen zur „schwarzen Wand“ (Die Galgenbrücke, TC 0:15:25). Timecode-Angaben aus diesem Film nach der DVD Die Galgenbrücke. Hamburg Enterprises 2018. 21Vgl. zu diesem Begriff Michaela Mundt: Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung. Tübingen 1994, insbesondere S. 37–40. 22Mundt spricht von einem „analogisierenden Transformationskonzept[]“, ebd., S. 38. 270 D. Orth ‚Illustration‘23 benannt. Eine derartige Adaption „hält sich, so weit im neuen Medium möglich, an den Handlungsvorgang und die Figurenkonstellation der Vorlage und übernimmt auch wörtlichen Dialog“.24 Dies ist in Die Galgenbrücke überwiegend der Fall, dennoch finden sich kleinere Abweichungen, auf die es sich lohnt, einen genaueren Blick zu werfen, gerade weil die Verfilmung sich überwiegend geradezu ‚streng‘ an die Vorlage hält. Bemerkenswerte Variationen finden sich sowohl auf der Histoire- als auch auf der Discours-Ebene der Erzählung. Zunächst zur Abwandlung hinsichtlich dessen, was erzählt wird: Die 21 Kapitel des Textes25 finden eine weitestgehende Entsprechung in 18 Sequenzen des Films,26 wobei zwei der Sequenzen jeweils zwei Kapitel zusammenfassen27 und lediglich ein Kapitel in der Adaption ausgelassen wird.28 Dieses Vorgehen der Zusammenfassung und Auslassung ist jedoch nicht interpretationsrelevant, da die Änderungen einer erzählerischen Ökonomie geschuldet sind, die Verfilmungen oftmals nach sich ziehen. Auffällig hingegen ist eine einzige Änderung in der Abfolge der Sequenzen/Kapitel. Während im vierten Kapitel von Dumala der Pastor nach einem Besuch bei Baron Werland und seiner Frau (im dritten Kapitel) emotional derart aufgewühlt ist, dass er nicht geradewegs den Weg nach Hause zu seiner Frau Lene einschlägt, sondern im „Moorkrug“ einkehrt, bleibt die Motivation der Figur in Die Galgenbrücke für den Besuch in dem ortsansässigen Wirtshaus offen. Ohne konkreten Anlass findet dieser in der dritten Sequenz des Filmes und somit nach dem ersten Gespräch zwischen Werner und Karola infolge eines Gottesdienstes in der zweiten Sequenz (analog zum zweiten Kapitel) statt. Die Einkehr des Pastors ins Wirtshaus ist im Text bedeutsam, da sie offensichtlich außergewöhnlich ist. Deutlich wird dies an der Reaktion des Wirts: „‚Was, der Herr Pastor selber?‘ ‚Ja – ja – wundern Sie 23Vgl. Helmut Kreuzer: „Medienwissenschaftliche Überlegungen zur Umsetzung fiktionaler Literatur. Motive und Arten der filmischen Adaption“. In: Eduard Schaefer (Hg.): Medien und Deutschunterricht. Tübingen 1981, S. 23–46, hier S. 36. 24Ebd. 25Dumala ist nicht explizit in Kapitel unterteilt, aber es handelt sich um 21 voneinander durch das Schriftbild abgesetzte Abschnitte (vgl. Keyserling: Dumala), die ich der Einfachheit halber nummeriert habe und im Folgenden als Kapitel bezeichnen werde. 26Kleinere, für die Haupthandlung nicht zentrale und auch im Text nur sehr kurz angedeutete Ereignisse, wie beispielsweise das Schicksal der Knechtstochter Kathe, die geschwängert wird, ohne dass der Erzeuger des Kindes sie heiraten möchte und die infolge einer Frühgeburt stirbt (vgl. Keyserling: Dumala, S. 165–166 und S. 199), werden vom Film ebenso ausgelassen wie einzelne Dialogteile. Sehr selten finden sich kleinere Ergänzungen, etwa von Gesprächsinhalten, oder Umstellungen. 27Die 16. Sequenz fasst Ereignisse aus den Kap. 17 und 18 zusammen, die finale 18. Sequenz umfasst Inhalte aus den abschließenden Kap. 20 und 21, wobei das letzte Kapitel des Romans besonders kurz ist. 28Das 8. Kapitel, in dem allerdings nur zentrale Elemente des 7. Kapitels wiederholt werden – erneuter Besuch Werners bei Werland, Karolas offensichtliches Interesse an Rast – (vgl. ebd., S. 75–91), findet keine Entsprechung im Film. Keyserling im Fernsehen 271 sich nicht so lange‘“,29 antwortet Werner. Entscheidend ist nun, wie es zu diesem Verwunderung evozierenden Besuch kommen konnte: Während seines Besuches bei Baron Werland fühlte er sich Karola sehr nah.30 Emotional aufgewühlt, vermutlich aufgrund seiner romantischen Gefühle für die Baronin – wieso sonst sollte er nicht direkt nach Hause wollen –,31 schlägt er bezeichnenderweise „den dem Pastorat entgegengesetzten Weg ein“,32 durch einen finsteren Wald mit einem anschwellenden Brausen der Föhren,33 der – ganz Seelenlandschaft – ihm ermöglicht, sich seinen Gefühlen hinzugeben: „Das tat Werner wohl. Es war, als tobte und rief eine große Kraft über ihm sich aus – für ihn, tobte und rief hinaus, was in ihm hinaus wollte.“34 Das Pferd ist ausgerechnet dann außerstande weiterzugehen, als Tier und Reiter am „Moorkrug“ angelangt sind. Der Besuch im Wirtshaus ist also direkte Folge einer symbolischen vorübergehenden Abkehr von seiner Ehe, schließlich wählt er den „entgegengesetzten Weg“, und des Versuchs, in der Natur seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, einer Art Sublimierung, da er qua seines Amtes und seines Selbstverständnisses – und ganz unabhängig davon, dass Karola an ihm kein weiteres Interesse hat –, seine Emotionen gegenüber einer anderen Frau nicht ausleben kann. Für die Charakterisierung der Figur ist die Ursache des Wirtshausbesuches daher entscheidend. Im Film jedoch wird durch das Fehlen dieser Erklärung für den unüblichen Besuch im „Moorkrug“ – auch hier wird der Besuch des Pastors durch die Verwunderung des Wirts als außergewöhnlich markiert, allerdings ohne dass deutlich wird, wieso Werner offensichtlich entgegen seiner Gewohnheit dort einkehrt35 – die emotionale Lage des männlichen Protagonisten auffällig abgemildert. Der Seelsorger im Film hat sich und seine Gefühle deutlich mehr unter Kontrolle als der Pastor im Text; so kann diese Umstellung der Ereignisse gedeutet werden. Eine weitere Auffälligkeit auf der Histoire-Ebene ist die Ortsveränderung während eines Ereignisses, wodurch Charakterzüge einer Figur im Gegensatz zu der soeben beschriebenen Szene nicht abgeschwächt, sondern auffällig verstärkt werden. Diesmal handelt es sich um Baron Rast, den Liebhaber Karolas. Während Werner den Baron in Dumala zuhause aufsucht, um ihn aufzufordern, der Affäre ein Ende zu setzen, verlegt der Film das Gespräch ins Freie. Behrent von Rast wird auf der Hasen-Jagd vom Pastor gestört. Das auch im Text angelegte 29Ebd., S. 40. ebd., S. 37. 31Vgl. ebd., S. 39. 30Vgl. 32Ebd. 33Vgl. ebd. S. 39 f. 35Die Galgenbrücke, TC 0:06:54. 34Ebd., 272 D. Orth Jagd-Motiv – metaphorisch für die Jagd nach Frauen36 – dient hier als Kulisse für den Baron, der stolz ob seiner Jagderfolge – er hat nicht nur einen Hasen geschossen, sondern im Gegensatz zu Werner auch Karola für sich gewonnen – den Pastor in seiner Forderung nach Rechenschaft auflaufen lässt. Auch auf Discours-Ebene ist eine Variation zu konstatieren, die jedoch im Vergleich zu den aufgezeigten Histoire-Änderungen eher dem Medienwechsel geschuldet ist. Es handelt sich um Abweichungen hinsichtlich der Fokalisierung. Zwar ist Werner sowohl in der literarischen als auch in der filmischen Erzählung die zentrale Figur, durch die das Geschehen perspektiviert wird, allerdings gewährt Die Galgenbrücke deutlich weniger Einblicke in die Gedanken- und somit Gefühlswelt des Protagonisten als Dumala. Dies liegt in erster Linie darin begründet, dass es mit sprachlichen Mitteln tendenziell unaufwändiger ist, konkrete Gedanken und -bilder zur Darstellung zu bringen als durch audiovisuelle Mittel. Die Fokalisierung als Analysekategorie erfasst bekanntermaßen sowohl Figurenwissen als auch andere Innensichten in Figuren, wie eben Gefühle und Gedanken. Innerhalb der Filmnarratologie steht hinsichtlich der Fokalisierung insbesondere das Wissen von Figuren um Sachverhalte der erzählten Welt im Analysefokus,37 im Falle von Literaturverfilmungen, deren Vorlagen umfassend Einblicke in die konkreten Gedanken von Figuren gewähren, stellt sich jedoch vielmehr die Frage, ob – und wenn ja, wie – eine Adaption die Gedankengänge zum Ausdruck bringt. In Dumala dominiert die interne Fokalisierung auf Werner, auch wenn die Erzählinstanz immer wieder kurze Fokalisierungswechsel vornimmt, beispielsweise auf seine Frau Lene.38 Doch überwiegend werden die Gedanken des Pastors, in der Regel in Form der erlebten Rede, also durch die Erzählinstanz vermittelt, dargestellt, beispielsweise sein Mitleid gegenüber seiner Frau und sein schlechtes Gewissen: „Warum musste das sein? Warum immer leiden oder leiden machen? Fühlte er ein wenig Glück, gleich musste das mit dem Schmerz eines anderen Wesens bezahlt werden. Warum?“39 Auch seine Reaktion auf die Erkenntnis, dass Karola eine Affäre mit Rast hat, wird durch Teilhabe an 36Stolz berichtet Werners Frau Lene im Gespräch mit Rast: „Mein Mann jagt nicht mehr“ (Keyserling: Dumala, S. 69). Dass das Motiv der Jagd nicht nur wörtlich zu nehmen ist, sondern auch symbolisch für die Jagd nach Frauen zu verstehen ist, zeigt sich zudem darin, dass Lene implizit auch die gesellschaftliche Ächtung außerehelicher Affären mit erwähnt: „[M]an sieht das hier nicht gern.“ (Ebd.). 37Vgl. neben Jörg Schweinitz: „Multiple Logik filmischer Perspektivierung. Fokalisierung, narrative Instanz und wahnsinnige Liebe“. In: montage/AV 16/1 (2007), S. 83–100 auch Dominik Orth: „Eine Frage der Perspektive. Greg Marcks ‚11:14‘, polyfokalisiertes Erzählen und das Problem der Fokalisierung im Film“. In: Hannah Birr/Maike Sarah Reinerth/Jan-Noël Thon (Hg.): Probleme filmischen Erzählens. Berlin/Münster 2009, S. 111–130 und Dominik Orth: „Der Blick auf die Realität. Fokalisierung und narrative Wirklichkeit in ‚Wicker Park‘, ‚À la folie…pas du tout‘ und ‚Rashômon‘“. In: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung 1 (2010), S. 60–75, http:// www.rabbiteye.de/2010/1/orth_blick_auf_realitaet.pdf, (31.07.2019). 38Bspw. Keyserling: Dumala, S. 12. 39Ebd., S. 63. Keyserling im Fernsehen 273 seiner Sicht auf die Dinge zum Ausdruck gebracht: „Da stand Werner nun mit seiner Gewissheit, nach der er sich gesehnt hatte, stand da und fühlte sich ganz ohnmächtig, ganz schwach, ganz elend. Er hätte heulen können wie ein Schuljunge.“40 Seine negativen Emotionen gegenüber Rast werden konkret geäußert: „Und in der Stille und Dunkelheit dieser Nacht war plötzlich etwas da – bei Werner – in ihm, etwas Fremdes, dem er fast mit Neugier zuschaute. Also so ist es, wenn wir hassen. […] Dieses bohrende, beständige Denken an einen Mann mit dem Gefühl des Widerwillens, mit fast körperlichem Schmerz.“41 In Die Galgenbrücke jedoch bleiben diese Einblicke in die Gefühlswelten des Protagonisten verwehrt. In dieser Hinsicht liegt demzufolge eine externe Fokalisierung auf Werner vor, eine Innensicht wird nicht gewährt, so dass im Zuge der Verfilmung ein Wechsel von einer dominanten internen Fokalisierung auf die Hauptfigur zu einer überwiegend externen Fokalisierung festzustellen ist. Zwar ist die Informationsvergabe hinsichtlich der Affäre Karolas an Werners Wissen gekoppelt – in dieser Hinsicht wird durch die filmische Erzählung das mitgeteilt, was der Pastor darüber weiß; in Bezug auf diesen narrativen Fakt liegt folglich ebenso eine interne Fokalisierung vor –, aber die Gefühlswelt des Pastors lässt sich nur durch eine überwiegende Außensicht, also über Mimik etc. erschließen, da ein Einblick in die konkreten Gedanken weitestgehend ausbleibt. Um die Funktionen der Variationen zusammenzufassen: Wie bereits die Umstellung der Szenenfolge gezeigt hat, werden auch mithilfe der leicht veränderten Fokalisierung im Zuge der Verfilmung die negativen Charakterzüge Werners im Vergleich zur Vorlage – trotz der überwiegenden Analogien – leicht abgeschwächt, während das negativ konnotierte Verhalten des Barons Rast durch die skizzierte Ortsverlagerung besonders betont wird. Diese kleineren Änderungen erfüllen durchaus eine Funktion hinsichtlich der Charakterisierung der Figuren. Namentlich vor dem Hintergrund des Produktionskontextes lassen sich diese Variationen für eine Deutung nutzen, genauer: Da es sich um eine der letzten Literaturverfilmungen der DDR handelt, ist es möglich, den zeitgeschichtlichen Kontext zu berücksichtigen, zumal das Medium Fernsehen vom SED-Regime konsequent für Propagandazwecke genutzt wurde.42 Der Pfarrer fühlt sich zwar zu Karola hingezogen, bleibt aber seiner Frau und seiner Heimat treu –, seine charakterlichen Schwächen werden abgemildert, wodurch sein Verhalten insgesamt – gerade im Vergleich zu Rast – weniger Ambivalenzen aufweist als noch im literarischen Text. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Rast negativer gezeichnet wird als in der Vorlage. Schließlich steht er als ‚Reisender um die Welt‘, als der er in die Erzählung eingeführt wird, für ein gewissermaßen westlich orientiertes Lebensgefühl. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass er zu den nächtlichen Stelldicheins mit Karola über die Galgenbrücke fährt, und zwar von West nach Ost. Die Brücke fungiert somit als Grenzmarkierung. Schließlich flieht Karola mit ihm, nachdem 40Ebd., S. 111. S. 87 f. 42Vgl. Beutelschmidt/Wrage: Das Buch zum Film, S. 79 f. 41Ebd., 274 D. Orth sie ihren kranken Mann verlassen hat, nach Florenz, also in den Westen. So verstanden leuchtet auch die Umbenennung von Dumala in Die Galgenbrücke ein: Der Fokus wird auf dieses Grenzsymbol verschoben. Im Zuge der zunehmenden Ausreisewelle aus der DDR in den 1980er Jahren erhält das qua Titelvariation neu fokussierte Thema des Grenzübertritts eine symbolische Dimension, die einer Warnung gleichkommt. Karola wird, als sie letztlich reumütig, aber zu spät – ihr Mann ist inzwischen verstorben –, in ihre Heimat zurückkehrt, fortan als Ausgestoßene ihr Dasein fristen müssen, dies zeigt das Verhalten der Familie des verstorbenen Barons Werland am Ende des Films. Ihre ‚Flucht in den Westen‘ bleibt somit in zweifacher Hinsicht nicht folgenlos: Den Tod ihres Mannes einerseits und die Konsequenzen hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Ächtung andererseits hat sie alleine zu bewältigen. Die Wahl ausgerechnet dieses Stoffes für eine der letzten Literaturverfilmungen der DDR ist in dieser Hinsicht durchaus bemerkenswert. Verfilmung als Interpretation: Wellen Die Adaption von Wellen hingegen erweist sich in produktionskontextueller Sicht weniger ergiebig für eine Deutung. Der Film von Vivian Naefe weist ein anderes deutungsrelevantes Transformationskonzept auf als Die Galgenbrücke: Durch zahlreiche Ergänzungen und Änderungen einzelner Aspekte verfolgt die Transformation nicht die Strategie der Bildung einer möglichst nahen Analogie zur literarischen Vorlage, vielmehr entspricht diese von Umdeutungen geprägte Verfilmung eher einer ‚Interpretation‘43 oder ‚interpretierenden Transformation‘ des Romans.44 Drei Schwerpunkte lassen sich hinsichtlich der Deutung des literarischen Textes im Zuge der Adaption beobachten, die mit den Schlagwörtern Fokusverschiebung, Zuspitzung und Aktualisierung erfasst werden können. Die Handlung wird deutlich auf Lolos Schicksal fokussiert, rückt also die 17-jährige Tochter der Baronin und des Barons von Buttlär in das Zentrum der Erzählung. Dies wird bereits zu Beginn des Films an einer von zahlreichen Ergänzungen45 deutlich: Lolo und ihre Schwester Nini sind noch in Berlin – die Handlung der Vorlage setzt hingegen räumlich direkt in der Sommerresidenz der Familie am Meer ein – und unterhalten sich über die bevorstehenden Ferien an der Ostsee: „In Ahlow wartet was ganz Besonders auf mich, Nini. Ich hab’s ganz fest im Gespür. In Ahlow wird sich mein Leben entscheiden.“46 Die Szene 43Vgl. Mundt: Transformationsanalyse, S. 38 f. Kreuzer: „Medienwissenschaftliche Überlegungen“, S. 37–40. 45Vgl. zur ‚Ergänzung‘ als eine von drei Formen der strukturellen Relation (neben ‚Analogie‘ und ‚Kürzung‘) zwischen Vorlage und Adaption Mundt: Transformationsanalyse, S. 28. Der Film weist in großer Zahl Ergänzungen auf, die im Rahmen dieses Textes nicht alle berücksichtigt werden können. 44Vgl. 46Wellen, TC 0:02:17–0:02:24. Timecode-Angaben aus diesem Film nach der DVD Wellen. Universum Film 2004. Keyserling im Fernsehen 275 erhält zusätzliches Gewicht dadurch, dass sie vor der Titelsequenz und der eigentlichen Handlung den Film eröffnet und damit die Verlobte des Leutnants Carl von Gonthard47 explizit in den Mittelpunkt der Erzählung stellt. Dennoch spielt Doralice, die Protagonistin des Romans, noch eine gewichtige Rolle. Allerdings geht es weniger um die Beziehung zu ihrem neuen Mann und die Kommunikationsprobleme in dieser Ehe, als vielmehr um die Affäre mit Lolos Verlobtem, auf die sie sich, im Gegensatz zu ihrem literarischen Pendant, einlässt. Doralices Geschichte ist somit enger an Lolos Schicksal geknüpft, deren Selbstmordversuch wird noch deutlicher motiviert: durch die Aneinanderreihung von Liebesspielen der Ex-Gräfin Doralice mit dem jungen Leutnant, die von Nini beobachtet werden, die diese wiederum ihrer Schwester berichtet, die daraufhin ihrem Leben ein Ende setzen möchte. Kann bereits diese wenn auch kurze Affäre als eine Form der Zuspitzung gelten – im Text nähern sich Hilmar und Doralice zwar sehr an, sie weist sein Werben jedoch nach Lolos Versuch, sich im Meer zu ertränken, endgültig ab und will ihre Ehe retten –,48 so führt insbesondere die Figur des Barons von Buttlär in dem Fernsehfilm zu weiteren Zuspitzungen, die zum Teil wiederum die Fokusverschiebung auf Lolo unterstützen. Besonders auffällig in dieser Hinsicht ist die im Film angedeutete finanzielle Abhängigkeit der Familie Buttlär von Leutnant von Gonthard. In einer Ergänzungsszene wird deutlich, dass Carl den Baron besticht, damit dieser sich für seine Versetzung zur Fliegerstaffel einsetzt. Den Grund für die monetären Bedürfnisse spricht der Baron aus: „Könnte unser Gut sonst kaum halten.“49 Dieser Umstand spielt eine entscheidende Rolle für Lolos Entscheidung, sich der Hochzeit mit dem offensichtlich vermögenden Leutnant trotz seiner vorehelichen Affäre mit Doralice nicht zu entziehen. Dazu wird sie von ihrem Vater gedrängt: „Lolo, wir brauchen das Geld.“50 Der in Keyserlings Werken oftmals angedeutete Verfall und Untergang des preußischen Adels wird in Naefes Wellen durch die finanzielle Krise das Barons versinnbildlicht. Dieser ist zudem die zentrale Gestalt hinsichtlich der öffentlichen Ächtung von Doralice, die mit dem Verlassen des Grafen von Köhne-Jasky, ihres ersten Mannes, zugleich die Adelskreise hinter sich gelassen hat. Im Roman ist es der Baron, der die Gräfin gewissermaßen rehabilitiert: 47Im Text lautet der Name der Figur Hilmar von Hamm. Auch andere Figuren werden umbenannt, der Geheimrat Knospelius etwa heißt nun Frosenius, der Maler Hans Grill wird zu Til Knop. 48Vgl. Eduard von Keyserling: „Wellen“. In: Ders.: Wellen. Am Südhang. Frankfurt/M. 2011, S. 9–153, hier S. 125–128. 49Wellen, TC 0:22:30–0:22:32. 50Ebd., TC 1:20:37–1:20:42. 276 D. Orth Nun hatte er also das Unglück des Ortes kennengelernt, Gott, es sah nicht so schlimm aus, aber im Ernst, es war besser so, hier konnte man sich ja doch nicht vermeiden und das mußte auf die Dauer peinlich werden, nun grüßte man sich, sprach miteinander auf neutralem Boden. Hier in dem weltabgeschiedenen Winkel war das ohnehin nicht kompromittierend.51 Der Film deutet das soziale Verhältnis zwischen Baron und Gräfin um und spitzt es auf diese Weise zu: Vorgeführt wird die (männlich geprägte) Doppelmoral. Während der Baron nicht müde wird, seine Genitalien aufgrund einer offensichtlichen Geschlechtskrankheit, die ihren Ursprung in außerehelichem Geschlechtsverkehr hat, zu kratzen und mit der Haushälterin in der Vorratskammer kopuliert, verdammt er Doralices Trennung und sorgt für ihre Ächtung, weil sie es gewagt hat, ihren Mann zu verlassen. Doch ist dies nur der gewissermaßen ‚offizielle‘ Grund. Die eigentliche Ursache ist die harsche Zurückweisung durch Doralice, die der Baron erfahren muss, nachdem er ihr ganz ungeniert eine private Zusammenkunft vorschlägt: „Ziehen Sie Ihre Angel ein, Herr Baron. Ich bin der falsche Fisch.“52 Diese Kränkung seiner Männlichkeit nimmt Buttlär zum Anlass, Doralice zur Persona non grata zu erklären, was insbesondere durch die im Film deutlich abweichende ‚Italienische Nacht‘ beim Geheimrat Frosenius deutlich wird. Während im Text das Paar Doralice und Hans Grill dank der Strategie des Geheimrats wieder in gesellschaftlichen Austausch gerät,53 wird das Fest im Film jäh beendet, als Doralice auftaucht und ihr alle – bis auf Lolo, die versucht, sich dem Diktum des Vaters nicht zu unterwerfen –, im wahrsten Sinne des Wortes den Rücken zukehren.54 Dies verweist auf den dritten Schwerpunkt der Umdeutung der Vorlage durch den Film: die Aktualisierung. Der Film stellt die Geschlechterverhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Zentrum und aktualisiert die Geschichte somit vor dem Hintergrund des anhaltenden Gender-Diskurses aus der Sicht des frühen 21. Jahrhunderts. Frauen, so deutet die Adaption den Roman, hatten vor ca. 100 Jahren noch immer keinerlei Möglichkeit, ein eigenständiges oder selbstbestimmtes Leben zu führen, da sie der männlichen Macht unterworfen waren. Doralice wird, vorangetrieben durch die von Buttlär verkörperte männlich dominierte Gesellschaft, für ihre ausgelebte (sexuelle) Freiheit mehrfach bestraft: Die Gesellschaft wendet sich von ihr ab und ihr Mann, der trotz des Sturms eine nächtliche Fahrt aufs Meer wagt, kommt in den Wellen um: Dies geschieht auch im Roman, doch im Film wird dies unmittelbar an Doralices Seitensprung mit dem Leutnant gekoppelt, der sich im Text nicht ereignet. Til Knop ist dabei, als Lolo aus dem Meer gerettet wird – wodurch die beiden Betrogenen auch in der Ereignisstruktur miteinander in Beziehung gesetzt werden –, erfährt durch Lolo von der 51Keyserling: „Wellen“, S. 84. TC 0:32:40–0:32:43. 53Vgl. Keyserling: „Wellen“, S. 77–87. 54Wellen, TC 0:51:49–0:53:20. 52Wellen, Keyserling im Fernsehen 277 Affäre und bricht daraufhin zu seiner letzten Bootsfahrt auf. Doralices Verhalten, ihre Suche nach Freiheit und Glück, wird durch den Tod ihres Mannes symbolisch sanktioniert. Zusätzlich wird durch die negative Charakterisierung Carl von Gonthards ihre sexuelle Eskapade im Nachhinein als Irrtum stilisiert: Der Leutnant, der dadurch zudem die anwachsende Kriegseuphorie symbolisiert,55 schwärmt von Gasangriffen auf Zivilisten und den Vorzügen seines bevorstehenden Lebens als Bomberpilot, erweist sich damit als höchst inhuman und lässt Doralice erkennen, dass diese Person es gar nicht wert war, ihren Gatten zu betrügen.56 Lolo wiederum wird qua väterlicher und somit männlicher Macht in die Vernunftehe mit einem Mann gedrängt, der sie bereits vor der Hochzeit betrogen hat und sie offensichtlich nicht liebt. Sie kann sich dem väterlichen Wunsch nicht entziehen, sie hat keine Möglichkeit zu einem freien Leben und muss sich den familiären Notwendigkeiten unterwerfen. Der Film gerät durch diese Interpretation des Ausgangstextes zu einem kritischen Kommentar zur preußischen Gesellschaft vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Aktualisierungen durch Analogiebildung und Interpretation Die Auseinandersetzung mit Keyserling im Fernsehen hat exemplarisch verdeutlicht, dass Verfilmungen unterschiedliche Transformationskonzepte verfolgen können. Die am Beispiel von Die Galgenbrücke aufgezeigte Analogiebildung einerseits und die Interpretation durch den Wellen-Film andererseits, können als typische Strategien gelten.57 Trotz dieser divergierenden Adaptionskonzepte weisen die behandelten Filme jedoch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit auf: Beide aktualisieren den literarischen Stoff, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Die Dumala-Verfilmung aus der Spätphase der DDR transformiert eine Geschichte, die sich – darauf verweist nicht zuletzt die Umbenennung –, allegorisch verdichtet auf die Situation der späten 1980er Jahre in der Deutschen Demokratischen Republik übertragen lässt: Die Mauer steht zwar noch, aber am Horizont der Geschichte taucht der Systemwechsel, der sich in den Ausreisewellen, Glasnost oder Perestroika andeutet, bereits auf. Doch die Galgenbrücke fungiert als Symbol für die innerdeutsche Grenze, die man nicht übertreten sollte – darauf verweist der Film noch einmal nachdrücklich. Wellen hingegen fokussiert aus zeitlichem Abstand heraus die Genderkonstruktionen und kommentiert aus der 55Der Film aktualisiert das Geschehen auch in dieser Hinsicht. Was Keyserling 1911 noch nicht wissen konnte, wird in den Film integriert. Die Handlung wird zeitnah zum Kriegsbeginn situiert, wie per Texteinblendung gleich zu Beginn verdeutlicht wird: „Berlin 1913/Elf Monate vor Kriegsausbruch“ (Wellen, TC 0:00:12–0:00:23). 56Ebd., TC 1:12:59–1:15:14. hinaus lässt sich häufig noch das Konzept der Eigenständigkeit als Transformationskonzept finden, vgl. Mundt: Transformationsanalyse, S. 39 f. 57Darüber 278 D. Orth Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts blickend die Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte durch Zuspitzung zugunsten der Fokussierung einer neuen Protagonistin, die für die Unterdrückung der Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht. Filmverzeichnis Am Südhang (Regie: Michael Verhoeven), Produktion im Auftrag des ZDF, Erstausstrahlung ZDF 08.09.1980. Beate und Mareile (Regie: Hajo Gies), Produktion im Auftrag des ZDF, Erstausstrahlung ORF 05.04.1981. Comédie d’été (Regie: Daniel Vigne), Franz. Kinofilm 1989. Dumala (Regie: Walter Rilla), Produktion des BR, Erstausstrahlung ARD 21.05.1963. Die Galgenbrücke (Regie: Hans Werner), Produktion im Auftrag des Fernsehens der DDR, Erstausstrahlung DDR-TV 12.02.1989. Été brulant (Regie: Jérôme Foulon), Erstausstrahlung 19.07.1995. Schwüle Tage (Regie: Hajo Gies), Produktion im Auftrag des WDR, Erstausstrahlung ARD 17.12.1978. Wellen (Regie: Vivian Naefe), Produktion im Auftrag des ZDF, Erstausstrahlung Arte 21.01.2005. Literatur Beutelschmidt, Thomas/Wrage, Henning: ‚Das Buch zum Film – der Film zum Buch‘. Annäherung an den literarischen Kanon im DDR-Fernsehen. Leipzig 2004. Beutelschmidt, Thomas/Hinz, Hans-Martin/Steinlein, Rüdiger/Wrage, Henning (Hg.): Das literarische Fernsehen. Beiträge zur deutsch-deutschen Medienkultur. Frankfurt/M. 2007. Beutelschmidt, Thomas: „Das ‚literarische Fernsehen‘ in der DDR. Eine programmgeschichtliche Übersicht“. In: Ders./Hans-Martin Hinz/Rüdiger Steinlein/Henning Wrage (Hg.): Das literarische Fernsehen. Beiträge zur deutsch-deutschen Medienkultur. Frankfurt/M. 2007, S. 47–63. 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In: Die Zeit: Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst. Wien. Bd. 16 (1898), S. 91 f. Dürers kleine Holzschnittpassion. In: Allgemeine Zeitung. München, 7. Mai 1898 (Beilage). M.[artin] Schongauer und die Nürnberger Skulptur. In: Allgemeine Zeitung. München, (4. Februar. 1899) (Beilage). Eindrücke von der Frühjahrsausstellung der Münchner Secession. In: Freistatt Jg. 5 (1903), H. 14, S. 267–269. Martin Buber: „Jüdische Künstler“ [Rez.]. In: Freistatt Jg. 5 (1903), H. 47, S. 658 f. Wolzogen-Konzert. In: Der Tag. Berlin, 2. Februar 1903. Unsere Jüngsten. In: Der Tag. Berlin, 6. März 1903. Tizians himmlische und irdische Liebe und der Platonismus. In: Allgemeine Zeitung. München, 27. Juli 1903 (Beilage), S. 180–182. Der indische Heilige. In: Die neue Rundschau, 14 (1903), 1228–1230. Moderne Grabmäler. In: Der Tag. Berlin, 21. August 1903. Festwiesen-Kunst. In: Der Tag. Berlin, 16. Oktober 1903. Phalanx-Ausstellung. In: Der Tag. Berlin, 18. November 1903. 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Die Kindheitswelt. In: Der Tag. Berlin, 13. Januar 1907. Über den Messias. In: Der Tag. Berlin, 8. Mai 1907. Über die Liebe. In: Die neue Rundschau Jg. 18 (1907), S. 129–140. Geleitwort zu „Alltag und Feier“, Gedichte und Szenen von Manfred Berger. Berlin, Stuttgart, Leipzig 1908, S. 5. Die kulturellen Werte des Theaters. In: Nord und Süd Jg. 32 (1908), S. 446 f. Zur Rundfrage über Maximilian Harden. In: Morgen Jg. 2 (1908), S. 72. „Lieblose Gesänge” [Rez. von Benno Geiger: Lieblose Gesänge. Oesterheld & Co.: Berlin, 1907]. In: Der Tag. Berlin, 27. März 1908. Über Festtage. In: Der Tag. Berlin, 14. Februar 1909. Max Halbe: „Der Ring des Lebens“ [Rez]. In: Der Tag. Berlin, 25. Dezember 1909. „Lingam“ [Rez. von Max Dauthendey: Lingam. Asiatische Novellen. München 1910]. In: Der Tag. Berlin, 22. Juli 1910. Über das Kranksein. In: Der Tag. Berlin. 30. Dezember 1910. Aphorismen. Aus dem Georg-Hirth-Schrein. In: Jugend Jg. 17 (1911), S. 1409. Menschliches. In: Der Tag. Berlin, 23. Mai 1912. Irene Forbes-Mosse. In: Der Tag. Berlin, 22. Juli 1913. Wunder-Darstellung. In: Der Tag. Berlin, 25. Dezember 1913. Keyserlings Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge … 285 Das Wunder von heute. In: Zeit-Echo. Ein Kriegstagebuch der Künstler. Hg. von Otto Haas-Heyer. München. Berlin 1914/15, S. 4. Über die Vaterlandsliebe. In: Der Tag. Berlin, 17. Oktober 1914. Das Kunstwerk als Feind. In: Der Tag. Berlin, 20. November 1914. Schlachtendichtung. In: Der Tag. Berlin, 5. Februar 1915. Geistiger Sanitätsdienst. In: Der Tag. Berlin, 7. August 1915. Kommende Kunst. In: Der Tag. Berlin, 20. Februar 1916. Über den Haß. In: Der Tag. Berlin, 8. Dezember 1916. Aphorismen. In: Jugend Jg. 22 (1917), S. 405. Johannes V. Jensen [Rez]. In: Die neue Rundschau Jg. 28 (1917), S. 1438 f. Journal- und Bucherstdrucke der literarischen Texte Keyserlings Steffen Brondke Epische Werke Nur zwei Tränen. Journalfassung: WAZ, 5. März 1882, S. 1 f. (als „Nur zwei Thränen“). Bucherstdruck in: Landpartie 2018, S. 5–10. Mit vierzehn Tagen Kündigung. Journalfassung: WAZ, 8. April 1882, S. 1 f. Bucherstdruck in: Landpartie 2018, S. 11–17. Das Sterben. Ein Sommerbild. Journalfassung: WAZ, 6. September 1885, S. 1 f. (als „Das Sterben. Sommerbild“). Bucherstdruck in: Landpartie 2018, S. 18–23. Fräulein Rosa Herz. Eine Kleinstadtliebe. Bucherstdruck: Minden. Dresden, Leipzig 1887 (als Erzählung). Die dritte Stiege. Bucherstdruck: Friedrich. Leipzig 1892. Grüß Gott, Sonne! Journalfassung: Jugend, Jg. 1, H. 40, 3. Oktober 1896, S. 639 f. (als „Grüss Gott Sonne“). Bucherstdruck in: Feiertagskinder 1987, S. 7–11. Grüne Chartreuse. Journalfassung: Jugend, Jg. 2, H. 8, 20. Februar 1897, S. 122 f. Bucherstdruck in: Feiertagskinder 1987, S. 12–18. Die Soldaten-Kersta. Journalfassung: DnR, Jg. 12 (1901), H. 5, S. 518–528 (als „Die Soldaten-Kersta. Studie“). Bucherstdruck in: EvK: Schwüle Tage. Novellen. Fischer. Berlin 1906, S. 75–102. Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte. Journalfassung: DnR, Jg. 14 (1903), H. 1, S. 11–31, H. 2, S. 160–183, H. 3, S. 237–258. Bucherstdruck: Fischer. Berlin 1903. Der Beruf. Journalfassung: Freistatt. Kritische Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst. Nr. 5 (1903), H. 42, S. 825 f. Bucherstdruck in: EvK: Abendliche S. Brondke (*) Bergische Universität Wuppertal (bis 03/2020), Wuppertal, Deutschland E-Mail: steffen_brondke@web.de © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Jürgensen und M. Scheffel (Hrsg.), Eduard von Keyserling und die Klassische Moderne, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04892-9_19 287 288 S. Brondke Häuser. Ausgewählte Erzählungen. Hg. von Wulf Kirsten. Rütten & Löning. Berlin 1970, S. 22–24. Schwüle Tage. Journalfassung: DnR, Jg. 15 (1904), H. 5, S. 552–585. Bucherstdruck in: Evk: Schwüle Tage. Novellen. Fischer. Berlin 1906, S. 103–185. Harmonie. Journalfassung: DnR, Jg. 16 (1905), H. 9, S. 1089–1117 (als Erzählung). Bucherstdruck in: EvK: Schwüle Tage. Novellen. Fischer. Berlin 1906, S. 9–74. Sentimentale Wandlungen. Journalfassung: Der Tag, 24. Dezember 1905 (Weihnachtsnummer), o. S. Bucherstdruck in: Feiertagsgeschichten 2008, S. 7–24. Im Rahmen. Skizze. Journalfassung: Die Zeit, Wien, 3. Juni 1906 (Beilage: Die Pfingstzeit), S. 13 f. Bucherstdruck in: Landpartie 2018, S. 160–168. Seine Liebeserfahrung. Journalfassung: DnR, Jg. 17 (1906), H. 10, S. 1235–1269 (als Erzählung). Bucherstdruck in: EvK: Bunte Herzen. Zwei Novellen. Fischer. Berlin 1909, S. 159–251. Gebärden. Journalfassung: Die Zeit, Wien: 25. Dezember 1906 (Beilage: Die Weihnachtszeit), S. 6 f. Bucherstdruck in: Landpartie 2018, S. 219–225. Die sentimentale Forderung. Journalfassung: Der Tag, 25. Dezember 1906 (Weihnachtsnummer, Ausgabe A, mit Nachrichtenblatt), o. S. Bucherstdruck in: Feiertagsgeschichten 2008, S. 25–32. Osterwetter. Journalfassung: NFP, 31. März 1907 (Oster-Beilage), S. 33 f. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 9–21. Die Verlobung. Journalfassung: NFP, 19. Mai 1907, S. 35–37. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 22–31. Dumala. Journalfassung: DnR, Jg. 18 (1907), H. 10, S. 1165–1196, H. 11, S. 1303–1342 (als Roman). Bucherstdruck: Dumala. Roman. Fischer. Berlin 1908. Geschlossene Weihnachtstüren. Journalfassung: NFP, 25. Dezember 1907, S. 33–35. Bucherstdruck in: Feiertagsgeschichten 2008, S. 33–43. Frühlingsnacht. Journalfassung: NFP, 19. April 1908, S. 39–41. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 32–44. Landpartie. Journalfassung: NFP, 7. Juni 1908, S. 42–44 (als „Landpartie. Junistimmung“). Bucherstdruck in: Neue deutsche Erzähler. 1. Bd. Hg. von Julius Sandmeier. Furche. Berlin 1918, S. 259–273. Bunte Herzen. Journalfassung: DnR, Jg. 19 (1908), H. 11, S. 1558–1585, H. 12, S. 1739–1767 (als Erzählung). Bucherstdruck in: Bunte Herzen. Zwei Novellen. Fischer. Berlin 1909, S. 9–157. Föhn. Journalfassung: NFP, 11. April 1909, S. 43–45. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 45–56. Winterwege. Journalfassung: NFP, 25. Dezember 1909, S. 44–47. Bucherstruck in: Feiertagsgeschichten 2008, S. 57–68. Prinzessin Gundas Erfahrungen. Journalfassung: NFP, 15. Mai 1910, S. 87–89. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 57–69. Am Südhang. Journalfassung: Österreichische Rundschau. Bd. 26 (Januar-März 1911). S. 37–53, S. 112–127, S. 193–207 (als Erzählung). Bucherstdruck: Fischer. Berlin o. J. [1916] (als Erzählung). Journal- und Bucherstdrucke der literarischen Texte Keyserlings 289 Nachbarn. Bucherstdruck in: Das XXVte Jahr. Jubiläumsalmanach des S. Fischer Verlags, 1886–1911. Fischer. Berlin 1911, S. 236–250 (als Novelle). Wellen. Journalfassung: DnR, Jg. 22 (1911), H. 5, S. 601–617, H. 6, S. 745–772, H. 7, S. 905–930, H. 8, S. 1051–1077 (als Roman). Bucherstdruck: Wellen. Roman. Fischer. Berlin 1911. Das Landhaus. Journalfassung: NFP, 24. September 1913, S. 1–3. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 70–82. Abendliche Häuser. Journalfassung: DnR, Jg. 25 (1914), H. 2, S. 178–196, H. 3, S. 317–336, H. 4, S. 459–477, H. 5, S. 608–627, H. 6, S. 756–781 (als Erzählung). Bucherstdruck: Abendliche Häuser. Roman. Fischer. Berlin 1914. Vollmond. Journalfassung: NFP, 30. August 1914 (Jubiläums-Beilage), S. 38 f. Bucherstdruck in: Feiertagsgeschichten 2008, S. 79–88. Schützengrabenträume. Journalfassung: NFP, 25. Dezember 1914 (Weihnachts-Beilage), S. 44–46. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 83–93. Nicky. Journalfassung: DnR, Jg. 26 (1915), H. 5, S. 627–656 (als Erzählung). Bucherstdruck in: EvK: Im stillen Winkel. Erzählungen. Fischer. Berlin 1918, 93–158. Verwundet. Journalfassung: NFP, 25. Dezember 1915 (Weihnachts-Beilage), S. 32–35. Bucherstdruck in: Feiertagsgeschichten 2008, S. 89–98. Der Erbwein. Journalfassung: NFP, 23. April 1916 (Oster-Beilage), S. 37 f. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 94–104. Pfingstrausch im Krieg. Journalfassung: NFP, 11. Juni 1916 (Pfingst-Beilage), S. 65–67 (als „Pfingstrausch im Kriege“). Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 105–115. Das Kindermädchen. Bucherstdruck in: Die Baltischen Provinzen. Bd. 2: Novellen und Dramen. Hg. von Hellmuth Krüger. Lehmann. Berlin 1916, S. 54–58. Fürstinnen. Journalfassung: V&K, Jg. 30 (1915/16, hier: 1916), H. 5, S. 1–26, H. 6, S. 145–176, H. 7, S. 333–358 (als Erzählung). Bucherstdruck: Fischer. Berlin 1917. Die Feuertaufe. Journalfassung: NFP, 9. Januar 1917, S. 1–4. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 128–139. Im stillen Winkel. Journalfassung: V&K, Jg. 31 (1916/17, hier 1917), H. 8, S. 449– 474 (als Erzählung). Bucherstdruck in: EvK: Im stillen Winkel. Erzählungen. Fischer. Berlin 1918, S. 7–92. Das Vergessen. Journalfassung: NFP, 19. Mai 1917, S. 1–4. Bucherstdruck in: Sommergeschichten 1991, S. 116–127. Feiertagskinder. Journalfassung: V&K, Jg. 33 (1918/19), H. 4 (Dez. 1918), S. 339– 352, H. 5 (Jan. 1919), S. 449–464 (als Roman). Bucherstdruck: Fischer. Berlin 1919 (als Roman). Dramatische Werke Ein Frühlingsopfer. Schauspiel in drei Aufzügen. Uraufführung: 12. November 1899 am Berliner Lessing-Theater. Bucherstdruck: Fischer. Berlin 1900. Der dumme Hans. Trauerspiel in vier Aufzügen. Uraufführung: 4. Mai 1901 am Berliner Residenztheater. Bucherstdruck: Fischer. Berlin 1901. 290 S. Brondke Die schwarze Flasche. Drama in einem Aufzug. Uraufführung: 1902 auf der Kabarettbühne der „Elf Scharfrichter“ in München. Bucherstdruck: Typoskript 1902; Erstdruck mit einem Nachwort von Peter Sprengel. Friedenauer Presse. Berlin 1990. Peter Hawel. Drama in fünf Aufzügen. Erstaufführung: 10. Oktober 1903 am Münchener Schauspielhaus. Bucherstdruck: Fischer. Berlin 1904. Benignens Erlebnis. Zweiakter. Uraufführung: 08. März 1905 am Münchener Schauspielhaus. Bucherstdruck: Fischer. Berlin 1906. Die Kluft. Zwei Dialoge. Szenische Uraufführung: 4. April 1997 am Brentano-Theater Bamberg. Journalfassung: NFP, 8. September 1911, S. 31 f. Bucherstdruck in: Feiertagsgeschichten 2008, S. 69–78. Kurztitel Journale Der Tag: Der Tag. Berlin. DnR: Die neue Rundschau. Fischer. Berlin. Jugend: Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben. München. NFP: Neue Freie Presse. Wien. WAZ: Wiener Allgemeine Zeitung. Wien. V&K: Velhagen & Klasings Monatshefte. Bielefeld. Kurztitel Bücher Feiertagsgeschichten 2008: Feiertagsgeschichten. Erzählungen und Betrachtungen. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus Gräbner. Steidl. Göttingen 2008. Feiertagskinder 1987: Eduard von Keyserling: Feiertagskinder. Ein Roman und sechs Erzählungen. Fischer. Frankfurt/M 1987. Landpartie 2018: Eduard von Keyserling: Landpartie. Gesammelte Erzählungen. Hg. und komm. von Horst Lauringer. Manesse. München 2018. Sommergeschichten 1991: Eduard von Keyserling: Sommergeschichten. Hg. von Klaus Gräbner. Insel. Frankfurt/M, Leipzig 1991. Hinweise Alle bibliographischen Angaben wurden autopsiert. Ausnahmen bilden die Journalfassungen von Im Rahmen und Gebärden, hier wurden die Angaben entnommen aus Landpartie 2018, sowie von Sentimentale Wandlungen, hier wurden die Angaben entnommen aus Feiertagsgeschichten 2008. Die Informationen zu den Uraufführungen sind folgenden Quellen entnommen: Landpartie 2018: Ein Frühlingsopfer, Der dumme Hans, Die schwarze Flasche; Almanach des Münchener Schauspielhauses. Spielzeit: 16. September 1898 bis 1. August 1918. Hg. von Joseph Rieder. München o. J.: Peter Hawel, Benignens Erlebnis; Feiertagsgeschichten 2008: Die Kluft. Zwei Dialoge.