Eckard Holler
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen
Jugendbewegung
Die Sozialutopie der Jugendbewegung
Die Bedeutung der deutschen bürgerlichen Jugendbewegung beruht auf der
eigenen Sozialutopie, die sie aus der Fülle der Jugendkulturen hervorhebt und
noch immer das Interesse der zeitgeschichtlichen Forschung auf sich zieht.
Aus der jugendbewegten Sozialutopie resultierte die Motivation, sich im späteren Leben an sozialen Aktivitäten und Bewegungen zu beteiligen und damit
den jugendbewegten Anspruch einzulösen, der zuvor erhoben worden war.
Die jugendbewegte Sozialutopie konnte jedoch unterschiedlich interpretiert
werden. Bekannt ist, dass die Mehrheit der Jugendbewegten in den 20er/30er
Jahren dem Mainstream der Gesamtgesellschaft folgte, der auf Hitler hörte.
Weitgehend unbeachtet blieb jedoch, dass die jugendbewegte Sozialutopie
auch zu linken Strömungen unterschiedlicher Art führte, die – in der Auseinandersetzung mit der Mehrheitsmeinung – vielfach Ideen und Entwicklungen
vorwegnahmen, die unter demokratischen Bedingungen nach 1945 Bedeutung
bekamen.
Ernst Bloch zur Sozialutopie der Jugendbewegung
Die Einstufung der bürgerlichen Jugendbewegung als Sozialutopie geht auf den
deutschjüdischen Philosophen Ernst Bloch (1985–1977) zurück. Er stellte sie
als eine nachmarxistische Gruppenutopie mit liberaler Intention in eine Reihe
mit der Frauenbewegung und dem Zionismus und wertete sie als Fortsetzung
der Emanzipationsbewegung, die im achtzehnten Jahrhundert begonnen und
mit zeitlicher Verzögerung die gesellschaftlichen Teilgruppen erreicht hat. Aufgrund ihrer „Ehrlichkeit“ und des Umstandes, dass sie von „wirklicher Bewegung“ getragen war, erkannte er sie – bei aller Kritik – als eine authentische
Sozialutopie an und nahm sie in sein System der Menschheitsutopien auf. Zur
Realisierung ihrer Sozialutopie empfahl er ihr – wie auch der Frauenbewegung
und dem Zionismus – den Anschluss an die Arbeiterbewegung und das Einmünden in den Sozialismus.
Die Sozialutopie der Jugendbewegung bestand nach Ernst Bloch in der Vision
eines eigenen „Jugendlands“, das von der Jugend geschaffen worden sei, „nur
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Eckard Holler
der Jugend betretbar, ja sichtbar“ gewesen sei und in das sie gleichsam „auswanderte“. Charakterisiert wurde sie, so Bloch, durch das Spannungsverhältnis zur
„älteren Welt“, die als „spießig“ verachtet worden sei. Unter dem „Spießer“ sei
der egoistische, sparsame, beständig rechnende und auf Sicherheit und Wohlbefinden bedachte „Bourgeois“ verstanden worden. An der jugendbewegten
Sozialutopie faszinierte Bloch insbesondere der vitalistische Zug, der sich in den
„oft rauschhafte[n], aus dem Herzen oder der Seele quellende[n] Ströme[n] des
Liebens oder Hassens“ gezeigt und sich gegen die zweckrationale Gesellschaft
gerichtet habe.
Kritisch macht Bloch allerdings darauf aufmerksam, dass die jugendbewegte
Feindschaft zum Bürger „keine proletarische oder proletarisch angenäherte“
war und sich nicht auf ihn als Unternehmer, Riskierer und Eroberer erstreckte.
Seine Hauptkritik richtete sich gegen das „Verworrene“, „Verblasene“, „inhaltlich
Verwehte“, also gegen die spezifische „Unschärfe“ in der jugendbewegten Sozialutopie, die er auf die Zugehörigkeit der Jugendbewegung zum Kleinbürgertum
zurückführte und als klassenmäßig bedingt wertete. Das Verhängnis der Jugendbewegung sei gewesen, dass es ihr nicht gelang, Klarheit über ihre Stellung in der
Gesellschaft zu erlangen und den Bezug zur Arbeiterbewegung zu finden. Stattdessen bleibe sie in einem „bündisch-emotionalen Nebel“ befangen, der sich mit
dem „faschistischen Rauschnebel“ verbinden lasse. „Daher konnte sie so leicht
eingefangen werden [...] und hörte schließlich auf Hitler“.1
Entsprechungen zwischen der Jugendbewegung und der
Philosophie von Ernst Bloch
Hermann Mau hat in seinem berühmten Aufsatz von 1947 eine Reihe von Merkmalen der Jugendbewegung genannt, die der Philosophie von Ernst Bloch entsprechen, als wären sie daraus entnommen. Charakteristisch an ihr sei „das
Suchende und Unfertige, das Abseitige und Abwartende, das Immer-AufbruchSein und Nie-zum-Ziel-Kommen“2. Die konstatierte Unfertigkeit der Jugendbewegung führte nach Mau zu der Unfähigkeit, „ihr Anliegen zur politischen Formel
[zu] konkretisieren“ und den „Schritt [...] in die volle Verbindlichkeit der politi-
1 Alle Zitate aus: Bloch, Ernst: Anfang. Programm der Jugendbewegung. In: Ders.: Das Prinzip
Hoffnung. Frankfurt am Main 1959, S. 683ff.
2 Mau, Hermann: Die deutsche Jugendbewegung – Rückblick und Ausblick. In: Pädagogik 7
(1947), S. 17–27, 25. (Nachdruck in: Eckard Holler (Hrsg.): Um seine Jugend nicht betrogen sein ....
H. 3 der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis. Berlin 2011, S. 15–26).
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schen und sozialen Wirklichkeit ihrer Zeit zu tun.“ In der Folge blieb sie „Bewegung auf einer Ebene, die unterhalb derer liegt, auf der Geschichte geschieht –
Geschichte im permanenten statu nascendi“3.
Hermann Maus Charakteristik der Jugendbewegung als „vorgeschichtlich“
trifft sich mit Ernst Blochs Lehre von der unfertigen Welt, die „noch nicht“ aus
ihrer Vorgeschichte herausgetreten ist und ihre „wirkliche Genesis“ noch vor sich
hat. Auch bei Bloch befindet sich die Welt in einem statu nascendi, der nicht bzw.
„noch-nicht“ zum Abschluss gekommen ist. Es wirkt wie eine Ausweitung des
Grunderlebnisses der Jugendbewegung zu einer generellen Lebenserfahrung,
wenn Ernst Bloch sagt, dass die Welt mit sich selbst schwanger gehe, aber trotz
heftiger Wehen nicht zu ihrer Geburt komme. Was zunächst als Schwäche der
Jugendbewegung erscheint, wird für Bloch Ausweis ihrer Stärke. Denn durch ihre
Unfertigkeit und das permanente Scheitern ihrer Sozialutopie werde die Jugendbewegung zu einem Beweisstück für die Unfertigkeit der bestehenden Welt. Sie
basiere metaphysisch auf der „Ontologie des Noch-Nicht-Seins“, die, im Gegensatz zu den bisherigen philosophischen Ontologien, davon ausgeht, dass die
Welt sich noch in Entwicklung befinde, der Weltprozess noch offen sei und noch
beeinflusst werden könne. Gestützt auf die Geschichtsphilosophie von Hegel und
Marx, die die Geschichte als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ bzw. als
Fortschritt zum „Reich der Freiheit“ definierten, behauptet Bloch, dass wir in
einer weltgeschichtlichen Situation lebten, in der die Geburt einer neuen, besseren Welt möglich sei, der Geburtsprozess aber stocke. Denn die Welt, in der
wir leben, sei wie die Jugendbewegung von einer generellen Entwicklungshemmung betroffen, die dazu führe, dass die proletarische Revolution, die das „Reich
der Freiheit“ verwirklichen soll, angehalten werde und auf halbem Wege stecken
bleibe.
Die Verwandtschaft der Jugendbewegung mit der Philosophie Ernst Blochs
fiel so unterschiedlichen Zeitgenossen wie Helmut Schelsky und Jürgen Habermas auf. Schelsky nannte Blochs Hauptwerk Prinzip Hoffnung das Werk eines
„Jugendbewegten“4 und Habermas spürte die Nähe zur „Jugendpsychologie des
Wandervogels“5, obwohl eine Zugehörigkeit Blochs zur Jugendbewegung bislang
nicht nachgewiesen wurde. Jedoch hat der alte Bloch in seinen Seminarübungen
gern die Schlusszeile des Liedes Wir sind des Geyers schwarzer Haufen zitiert,
3 Ebd., S. 24.
4 Schelsky, Helmut: Die Hoffnung Blochs. Kritik der marxistischen Existenzphilosophie eines
Jugendbewegten. Stuttgart 1979, S. 12.
5 Habermas, Jürgen: Ein marxistischer Schelling – Zu Ernst Blochs spekulativem Materialismus.
In: Ders.: Theorie und Praxis. 2. Auflage. Neuwied am Rhein/Berlin 1967, S. 336–351, 341.
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Eckard Holler
das in der Jugendbewegung viel gesungen wurde: „Geschlagen ziehen wir nach
Haus, unsere Enkel fechten`s besser aus“.6 Auch dass Blochs utopische Philosophie immer wieder jugendbewegte Studenten anzog, wovon Diethart Kerbs und
Hansmartin Kuhn berichten,7 weist auf mögliche Gemeinsamkeiten hin.
Jugendbewegung als Emanzipations- und Fluchtbewegung
Das Programm der Jugendbewegung hatte einen Doppelcharakter. Es förderte
einerseits die Emanzipation der Jugend in einem selbstbestimmten Jugendleben
und war damit Teil der Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen des 20. Jahrhunderts, andererseits bestand die Praxis der Jugendbewegung in der Sezession
aus der Gesellschaft und hatte die Form einer Fluchtbewegung aus Elternhaus und
Schule, bei der die Jugendlichen sich der Aufsicht entzogen, damit aber auch den
Auseinandersetzungen mit der elterlichen und schulischen Autorität auswichen.
Das Nebeneinander von progressiven und regressiven Strömungen ist für
die Jugendbewegung insgesamt konstitutiv und führte zu einem permanenten
Richtungsstreit mit unterschiedlichen Ergebnissen. Während sich in der Phase
des Wandervogels und der Freideutschen Jugend ein starker linker Flügel der
Jugendbewegung bildete, der die heranwachsenden Jugendlichen vielfach zu
einer Suchbewegung in Richtung Sozialismus und Kommunismus veranlasste,
überwogen in der Weimarer Zeit rechte nationalistische Orientierungen, die relevante Teile der Jugendbewegung anfällig für den Nationalsozialismus der Hitlerbewegung machten.
Die politisch rechts bis rechtsradikal orientierten Gruppen der bündischen
Jugend der 1920er und 1930er Jahre waren publizistisch derart hegemonial8, dass
unbeachtet blieb, dass es auch in dieser Zeit in der Jugendbewegung und in ihren
Jungmannschaften relevante linke und demokratische Strömungen gab, die der
politischen Linken und den bürgerlich-demokratischen Parteien zugute kamen.
6 Der Verfasser hat das Liedzitat von Ernst Bloch selbst gehört. Belegt ist es in dem Vortrag:
Ernst Bloch, Hegel als Novum. In: Ders.: Abschied von der Utopie. Vorträge. Hrsg. von Hanna
Gekle. Frankfurt am Main 1980, S. 197––216, 215
7 Kerbs, Diethart: Zur Geschichte und Gestalt der deutschen Jungenschaften. In: Um seine Jugend nicht betrogen sein ...: Beiträge zur Jugend– und Jungenschaftsbewegung. Hrsg. von Eckard
Holler. H. 3 der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis. Berlin 2011, S. 99–124, 111;
Kuhn, Hansmartin: Mein Weg von der Jungenschaft zum SDS, zur DKP und weiter. In: Schriftenreihe (wie oben). H. 6 (2012), S. 91–102, 94.
8 Vgl. Breuer, Stefan/Schmidt, Ina: Die Kommenden. Eine Zeitschrift der Bündischen Jugend
(1926–1933) (= Edition Archiv der deutschen Jugendbewegung, Bd. 15). Schwalbach/Ts. 2010.
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Der linke Flügel der Freideutschen Jugend
In der Freideutschen Jugend, die beim Fest auf dem Hohen Meißner 1913 entstanden war, entwickelte sich während des 1. Weltkriegs und in der Revolutionszeit
ein linker Flügel, der mit sozialistischen und kommunistischen Vorstellungen
sympathisierte. Der Sieg der Oktoberrevolution in Russland übte auf ihn eine
starke Faszination aus. Genauer erforscht ist der Weg der Entschiedenen Jugend,
die sich 1919 von der Freideutschen Jugend abspaltete, sich in einem zweijährigen Diskussionsprozess marxistische Positionen aneignete, ihre Selbstauflösung
beschloss und ihren Mitgliedern den Eintritt in die KPD empfahl.9 Erheblichen
Einfluss auf die Entschiedene Jugend hatte Karl Bittel, ein Wandervogel aus Freiburg und promovierter Rechtswissenschaftler und Historiker. Mit seinen Politischen Rundbriefen unterstützte er ihre Linkswendung und trat selbst 1919 der
KPD bei. Auch unabhängig von der Entschiedenen Jugend war die KPD für viele
Jugendliche, die im Wandervogel führend gewesen waren, eine attraktive Partei:
Alfred Kurella trat ihr 1918 bei, Friedrich Wolf 1928. Einige der zu Kommunisten
gewordenen Wandervögel, wie Karl August Wittfogel oder Margarete Buber-Neumann, revidierten später ihre Linkswendung, eine ganze Reihe von ihnen blieb
jedoch der einmal getroffenen Entscheidung treu und beteiligte sich nach 1945,
z. T. in führender Position am Aufbau des Sozialismus in der DDR. Beispiele
dafür sind Friedrich Wolf und Alfred Kurella. Verbunden mit ihrer Wendung
zum Kommunismus war jedoch eine Distanzierung von der freien bürgerlichen
Jugendbewegung. Denn aus kommunistischer Sicht war ihre Sozialutopie ein
Moment der Auflösung der historisch überholten spätbürgerlichen Gesellschaft
und hatte in einer sozialistischen Gesellschaft wie der DDR keine Existenzberechtigung.10 Das hinderte die genannten ehemaligen Wandervögel nicht
daran, den ersten Freideutschen Jugendtag 1913 auf dem Hohen Meißner, an
dem sie selbst teilgenommen hatten, auch in ihrem späteren Leben als ein
bedeutendes jugendpolitisches Ereignis zu bewerten, zu den runden Jahrestagen dieses Treffens mit Stellungnahmen aus kommunistischer Sicht an die
Öffentlichkeit zu treten und zu versuchen, politischen Einfluss auf die Jubiläumsfeiern im Westen zu nehmen.11
9 Linse, Ulrich: Entschiedene Jugend 1919–1921. Deutschlands erste revolutionäre Schüler– und
Studentenbewegung. Frankfurt am Main 1981; Preuß, Reinhard: Verlorene Söhne des Bürgertums. Köln 1991.
10 Vgl. Baumann, Edith: Die Geschichte der deutschen Jugendbewegung. Berlin 1947.
11 Stellungnahme von Friedrich Wolf zum 35. Meißner-Jubiläum 1948: In: Eckard Holler (Hrsg.):
100 Jahre Hoher Meißner 1913–2014. H. 7 der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener
Kreis. Berlin 2013, S. 75; Stellungnahme von Karl Bittel zum 50. Meißner-Jubiläum 1963. In: Ebd.,
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Alfred Kurella (1895–1975)
Alfred Kurella, in Brieg in Oberschlesien als Sohn eines Arztes geboren, verbrachte
seine Gymnasialzeit in Bonn. Dort trat er 1910 als 15jähriger Schüler in den Wandervogel ein, dem er bis 1918 angehörte. Als Herausgeber eines WandervogelLautenbuchs (1912), als Autor der Zeitschrift Freideutsche Jugend, durch Auftritte
bei Tagungen und als Verfasser von sexualidealistischen Schriften (Körper-Seele,
1918) wurde er ein bekannter Repräsentant des Wandervogels. 1913 nahm er achtzehnjährig als Anhänger von Gustav Wyneken am Meißner-Treffen teil. 1916 durch
die Erfahrung des 1. Weltkriegs zum Kriegsgegner geworden, wandte er sich der
radikalen Linken zu, gründete 1918 die Ortsgruppe der Freien Sozialistischen
Jugend in München, die Karl Liebknecht nahestand, wurde revolutionärer Kommunist und schloss sich im November 1918 der neugegründeten KPD an. Diesen
Eintritt begriff er als einen prinzipiellen weltanschaulichen Wendepunkt, der ihn
veranlasste, sich von der Wandervogel-Jugendbewegung zu distanzieren, seine
jugendbewegt-utopischen Traktate als Ausfluss eines Illusionismus von bürgerlichen Kinder-Revolutionären zu verwerfen und sich von nun an nach den Prinzipien des leninistischen Marxismus und der Parteilinie der KPD bzw. der KPdSU
zu richten. Es lässt sich sagen, dass der Weg, den Alfred Kurella 1913 bis 1918 vom
Hohen Meißner zur KPD gegangen ist, beispielhaft für eine größere Gruppe von
Jugendlichen war, die aus ihrem Jugendbewegungserlebnis den Anspruch ableiteten, als revolutionäre Kommunisten an den Veränderungen mitzuwirken, die
im Gefolge der Oktober-Revolution in Russland die Welt erschütterten.
Kurella wurde von der KPD sehr bald mit Führungsaufgaben betraut, war in
der Münchener Räterepublik als Pressezensor tätig und wurde 1919 mit zwei chiffrierten Briefen und falschen Papieren zu Lenin nach Moskau geschickt, das er
auf abenteuerliche Weise durch die Bürgerkriegslinien hindurch in vier Wochen
auch erreichte. Von Lenin wiederum wurde er zum Komsomol-Vertreter ernannt
und in das Führungsgremium der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI)
berufen, für die er bis 1924 als Sekretär tätig war. In Berlin (und zeitweise in Paris
für die Komintern) hatte er Ende der 1920er Jahre Funktionen in der KPD inne,
hielt aber immer noch Kontakte zur bürgerlichen Jugendbewegung und bemühte
sich z.B. 1932 persönlich darum, den dj.1.11-Kreis von Eberhard Koebel (genannt
S. 76–79; Zur Stellungnahme von Alfred Kurella zum 25. Meißner-Jubiläum 1938 Holler, Eckard:
Alfred Kurella: Vom Wandervogel zum SED-Kulturfunktionär in der DDR, ebd. S. 67–70.
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tusk)12 in der Rotgrauen Garnison in Berlin für die KPD zu gewinnen.13 Alfred
Kurella emigrierte 1933, wurde Sowjetbürger und lebte, mit Unterbrechungen,
bis 1954 in Moskau. Im 2. Weltkrieg war er Redakteur von sowjetischen Frontzeitungen. 1943 schrieb er das Gründungsmanifest des Nationalkomitees Freies
Deutschland (NKFD). Nach seiner Rückkehr in die DDR 1954 war er Präsident des
Schriftstellerverbandes und später Leiter der Kulturabteilung beim ZK der SED
und galt über Jahre in der DDR als „die eigentlich oberste Instanz in allen kulturellen Fragen“.14
Von der Vielseitigkeit Kurellas zeugt, dass er bei den Naturfreunden und
Bergsteigern Russlands als einer der Erforscher des Kaukasus gilt. In über 30
Expeditionen erwanderte er dieses Gebirge (begleitet u.a. von den Friedrich-WolfSöhnen Konrad und Markus) und lebte sogar von 1946 bis 1949 in dem Bergdorf
Pskhu als Bauer und Schriftsteller mit Frau und zwei kleinen Kindern.
Alfred Kurella ist vermutlich der prominenteste Kommunist, der aus dem
Wandervogel kam und sein Leben lang seiner im Alter von 23 Jahren getroffenen
Entscheidung für den Kommunismus der Moskauer Richtung treu blieb.
Friedrich Wolf (1888–1953)
Friedrich Wolf stammte aus einer jüdischen Familie in Neuwied. Als Medizinstudent in Tübingen leitete er eine Wandervogel-Gruppe, die Volkslieder sammelte und auf einer Fahrt mit einem Neckarfloß nach Heidelberg zu Hans Breuer
brachte, der Lieder für das Liederbuch Zupfgeigenhansl sammelte. Bei der Rückkehr von einer Wochenendfahrt wurde er einmal von Tübinger Handwerkern
abgepasst und mit der Begründung verprügelt, er entfremde die Kinder dem
bürgerlichen Leben. 1913 nahm er am Meißner-Treffen teil. In Hechingen praktizierte er als Landarzt und Reformmediziner und schrieb das Standardwerk der
12 Eberhard Koebel wurde unter seinem Fahrtennamen tusk (von schwedisch „tysk“ = „deutsch“)
bekannt. Als Autor in der DDR nannte er sich später Eberhard Koebel-tusk. Der Familienname
wird mit „oe“ geschrieben, also Koebel. In den 1920er/30er Jahren bevorzugte tusk die Schreibung
mit Umlaut, also Köbel.
13 Alfred Kurella sprach in der Rotgrauen Garnison am 11. Juli 1932 über seine Entwicklung vom
Wandervogel zum Kommunisten. In: Pläne 5 (25.07.1932), S. 8. (Nachdruck in: Eckard Holler
(Hrsg.): Hier gibt es Jungen ...: tusks KPD-Eintritt und die jungenschaftliche Linke nach 1945. H.
6 der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis. Berlin 2012, S. 36. (Erstmals nachgedruckt in: Koebel-tusk, Eberhard: Werke. Bd. 6. Zeitschriftenaufsätze, Tyrker, Pläne. Edermünde
2002, S. 224–225).
14 Laqueur, Walter Z.: Die Deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie. Köln 1962, S. 119.
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Naturheilkunde Die Natur als Freund und Helfer (1927). 1928 schloss er sich der
KPD an und wurde mit sozialkritischen Stücken (u.a. Cyankali) prominenter kommunistischer Schriftsteller. Nach dem Umzug nach Stuttgart baute er ein Haus im
Bauhausstil mit Flachdach, das nach seiner Emigration 1933 von den Nachbesitzern zu einem Schrägdach umgebaut wurde, da ein Flachdach als jüdisch galt.
Das Drama Professor Mamlock, das den Antisemitismus der Nazis behandelte,
wurde weltweit gespielt (und 1938 in der UdSSR verfilmt). 1933 emigrierte er über
verschiedene Stationen nach Moskau, 1937 versuchte er als Arzt auf der Seite
der Internationalen Brigaden am spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen, wurde
jedoch am Grenzübertritt gehindert. Aus dem Internierungscamp in Frankreich
wurde er 1941 durch die Verleihung der sowjetischen Staatsbürgerschaft befreit
und ging zurück nach Moskau. 1943 gehörte er mit anderen linken jugendbewegten Deutschen wie Alfred Kurella und Heinrich Graf von Einsiedel zu den Mitbegründern des Nationalkomitees Freies Deutschland, das die deutsche Wehrmacht zur Beendigung des Krieges zu bewegen versuchte. In der DDR wurde
Friedrich Wolf von 1949–1951 erster Botschafter in Polen. Sein Söhne Konrad und
Markus hatten in der DDR wichtige Funktionen, Konrad Wolf als Filmregisseur
und Markus Wolf als langjähriger Chef des Auslandsgeheimdienstes.
Alexander Rüstow (1885–1963)
Es gab auch die Fälle von Wandervögeln, die sich Anfang der 1920er Jahre den
Kommunisten anschlossen bzw. mit ihnen sympathisierten, später aber ihre
Position revidierten und zu Gegnern des Kommunismus und zu Anhängern der
Marktwirtschaft und der Demokratie wurden. Ein Beispiel dafür ist der spätere
ordoliberale Wirtschaftswissenschafter Alexander Rüstow (1885–1963). In seinen
Lebenserinnerungen spricht er von der „Anfälligkeit gerade ernsthafter und
wertvoller Angehöriger der Jugendbewegung einerseits für einen Marxismus im
Sinne der Schriften des jungen Marx, andererseits für halbwegs idealistische oder
romantische Formen des Nationalismus“ und fährt dann fort:
Ich selber hatte 1920 den Versuch gemacht, einen idealistischen Marxismus der klassenlosen Gesellschaft im Sinne der Jugendbewegung zu interpretieren, bis ich bald zu der
erschütternden Erkenntnis kam, dass der Marxismus des Klassenkampfes, der Diktatur
des Proletariats und der Planwirtschaft, in extremster Weise in die genau entgegengesetzte
Richtung führt.15
15 Rüstow, Alexander: Ortsbestimmung der Gegenwart. Bd. 3: Herrschaft oder Freiheit? Kap.
II.4: Jugendbewegung. Münster 2003 (1. Auflage Erlenbach-Zürich 1957), S. 236–249, 619–622.
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Alexander Rüstow wurde ein Anhänger der Wirtschaftstheorie von Franz Oppenheimer, die einen Dritten Weg zwischen liberalen Kapitalismus und kommunistischer Planwirtschaft suchte. Im letzten, nicht mehr verwirklichten Kabinett des
Reichskanzlers Kurt von Schleicher war er als Wirtschaftsminister vorgesehen.
1933 emigrierte er in die Türkei auf einen Lehrstuhl an der Universität Istanbul,
wo er sein dreibändiges Hauptwerk Ortsbestimmung der Gegenwart schrieb. Für
den Widerstandskreis Kreisauer Kreis war er Kontaktmann zu den USA. Nach
1949 kehrte er in die BRD zurück und war von 1950 bis 1956 an der Uni Heidelberg
Professor für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Er arbeitete mit dem Wirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard zusammen und wurde, gemeinsam mit
Walter Eucken und Wilhelm Röpke, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft
der BRD.16
Bündische Jugend nach dem 1. Weltkrieg
Politisch rechte Beeinflussung der bündischen Jugend –
Frank Glatzel und Wilhelm Kotzde
Mit dem Ausscheiden des linken Flügels der freideutschen Jugend und seiner
politischen Wendung zu USPD und KPD verlor die freie bürgerliche Jugendbewegung Anfang der 1920er Jahre einen großen Teil ihres linken Potentials. Dadurch
wurde die politische Entwicklung nach rechts begünstigt, zumal der rechte völkische Flügel der Freideutschen Jugend in der Zeit der Weimarer Republik der
Jugendbewegung verbunden blieb und einen bedeutenden publizistischen und
organisatorischen Einfluss auf sie ausübte.
Ein Beispiel dafür ist die Aktivität des rhetorisch begabten Frank Glatzel
(1892–1958), der den rechten Flügel der Freideutschen Jugend angeführt hatte.
Von 1919 bis 1926 war er Bundesleiter des völkischen Jungdeutschen Bundes und
gab die Zeitschrift Jungdeutsche Stimmen heraus. Politisch betätigte er sich in
der nationalliberalen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) bzw. ab 1927 in der
(Nachdruck in: Eckard Holler (Hrsg.): Um seine Jugend nicht betrogen sein ... H. 3 der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis. Berlin 2011, S. 27–41)
16 Unter Verwendung des Artikels über Alexander Rüstow in Wikipedia: http://de.wikipedia.
org/wiki/Alexander_R%C3%BCstow (05.03.2013)
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Deutschen Volkspartei (DVP) und wurde von 1930–1932 Reichstagsabgeordneter
der DVP.17
Ein anderes Beispiel für die völkische und politisch rechte Beeinflussung der
Jugendbewegung der 1920er Jahre ist die 1926 von dem völkischen Schriftsteller
Wilhelm Kotzde (1878–1948) gegründete überbündische Zeitschrift Die Kommenden, die bis 1933 als Wochenschrift mit einer Auflage von (geschätzt) 4000
Exemplaren erschien und von der Bündischen Jugend als Kommunikationsorgan
genutzt wurde. Sie verfolgte das Ziel, „die Politisierung der Bündischen Jugend
im Sinne der äußersten Rechten voranzutreiben“.18
Die rechte publizistische Beeinflussung der Bündischen Jugend, der von
links wenig entgegengesetzt wurde, blieb nicht ohne Folgen. Die Bündische
Jugend verstand sich zwar – wie der Wandervogel – als unpolitisch, war aber ein
Kind ihrer Zeit und übernahm mit den am Militär orientierten Stilformen auch die
im Bürgertum verbreitete nationalistische Ideologie und die Sympathie für die
nationalsozialistische Bewegung von Adolf Hitler. Ein authentischer Zeuge dafür
ist Eberhard Koebel-tusk, der in seiner frühen Autobiographie Große Umwege im
Sommer 1932 schreibt, er sei noch 1927 als 20-jähriger Gruppenführer der Deutschen Freischar „Faschist in Reserve“ mit stiller Sympathie für die Nationalsozialisten gewesen und habe bei seinen Skandinavienfahrten mit Widerwillen festgestellt, wie weit der Marxismus in Nordskandinavien verbreitet war.19
Die Verhärtung der Jugendbewegung in den 1920er Jahren
Ein kennzeichnender Unterschied der Bündischen Jugend, wie sich die bürgerliche Jugendbewegung der 1920er Jahre nannte, gegenüber der Wandervogelzeit
war eine „Verhärtung“20, die sich u.a. in der Übernahme von militärischen Stilformen aus der Pädagogik der Pfadfinder und der Wehrverbände zeigte. Eingeführt wurde eine den Militäruniformen nachempfundene Vereinheitlichung der
Kleidung. Die Gruppen übten das militärische Antreten, führten den Fahnenappell und das Strammstehen bei der Fahnenwache ein und erfanden sogar eigene
Exerzier-Regeln. Mit der Verhärtung ging die Verdrängung der Mädchen aus den
Bünden einher, gemischte Jugendgruppen wurden aufgelöst und mit der Propa-
17 Frank Glatzel war von 1956–1958 Bürgermeister von Braunschweig.
18 Vgl. Klappentext, in: Breuer/Schmidt: Die Kommenden (wie Anm. 8).
19 Koebel-tusk, Eberhard: Große Umwege, in: Werke. Bd. 1. Edermünde 2004, S. 208.
20 Raschke, Joachim: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss. Frankfurt
am Main 1985, S. 48.
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
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gierung der Jungenschaftsidee die reine Jungengruppe zur eigentlichen Kernzelle
der Jugendbewegung erklärt. Mit der Tendenz zur Uniformierung und Militarisierung imitierte die freie bürgerliche Jugendbewegung die Erwachsenenorganisationen, die von links bis rechts uniformierte und marschierende Formationen wie
Rotfrontkämpferbund, Reichsbanner oder Sturmabteilung (SA) aufbauten.
Schwarzer Haufen21 – eine linke Abspaltung vom
deutsch-jüdischen Wanderbund Die Kameraden
Im deutsch-jüdischen Wanderbund Kameraden gab es in den 1920er Jahren starke
sozialistische und kommunistische Tendenzen. Ein Vorbild war der linke Flügel
der freideutschen Jugend, der nach einem zweijährigen Diskussionsprozess den
Mitgliedern den Eintritt in die KPD empfohlen hatte.
Eine Gruppierung, die sich Schwarzer Haufen nannte, sorgte bei den Kameraden Mitte der 1920er Jahre durch ihr exzentrische Auftreten für Aufregung. Sie
war in Königsberg in der Ortsgruppe der Kameraden um Hans Litten (1903–1938)
und Max Fürst (1905–1978) entstanden und hatte ihren Namen von dem Lied Wir
sind des Geyers Schwarzer Haufen. 1925 dehnte sie sich reichsweit zu einem Bund
im Bund aus und stilisierte sich zur radikalsten nichtzionistischen Strömung in
der jüdischen Jugendbewegung. Ortsgruppen bildeten sich im Ruhrgebiet, in
Süddeutschland, in Hannover und Berlin mit insgesamt ca. 250 bis 300 Mitgliedern. Ihr Credo lautete: „Jugendbewegung, die es mit ihrer Aufgabe ernst meint,
muss politisch sein“. „Umsturz und Neuordnung unserer Gesellschaftsordnung“
waren das Ziel. Irmgard Klönne schrieb über den Schwarzen Haufen:
Aufsehen erregten die Mitglieder durch ihr temperamentvolles, zorniges Aufbegehren gegen
alles, wodurch sie das Recht auf jugendliche Selbstbestimmung eingeschränkt sahen,
gleichgültig, ob es Schule, Elternhaus oder andere Autoritäten betraf. Neben einem gehörigen Schuss Anarchismus hatten die Angehörigen des Schwarzen Haufens auch ein ausgeprägtes künstlerisches Talent und große Fähigkeiten der Selbstinszenierung. In schwarzen
Blusen und roten Gürteln erregten sie mit ihrem Singen, Tanzen und Theaterspielen die
offene Bewunderung der Kameraden und wohl auch heimlichen Neid. Aber sie wollten
mit ihrem libertären Lebensstil auch provozieren. Einige Gruppen lebten in Wohngemeinschaften, vegetarisch, antialkoholisch und gegen das Rauchen eingestellt – nicht aber in
Geschlechtertrennung. Als aufsehenerregendes Beispiel für das Maß der beanspruchten
Freiheit galt Margot Meisel, die als kaum Fünfzehnjährige von Zuhause weggelaufen war
21 Der Name Schwarzer Haufen, den sich der jüdische Jugendbund gab, stammt aus dem Lied
Wir sind des Geyers Schwarzer Haufen.
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Eckard Holler
und auch die Schule verlassen hatte, um selbst zu bestimmen, wie sie leben und was sie
lernen wollte. Später heirateten Margot Meisel und Max Fürst.22
Diskutiert wurde die Frage Klassenkampf oder Generationenkampf und das politische Engagement für KJVD und KPD. Nach langen Querelen wurde der Schwarze
Haufen auf dem Pfingstlager 1927 aus dem Wanderbund Kameraden ausgeschlossen. Beim Auszug aus dem Lager sangen die Schwarzen die letzte Strophe des
Florian-Geyer-Lieds: „Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsre Enkel fechten’s
besser aus, heia oho“. 1928 löste sich der Schwarze Haufen auf, da ein Großteil
der Mitglieder den Fortbestand eines autonomen Jugendbundes negierte und für
das Einmünden ihrer Jugendbewegung in die kommunistische Arbeiterbewegung
eintrat. Ein Großteil der Mitglieder wurde in der KPD tätig. Eine ganze Reihe von
ihnen verlor später im Widerstand gegen die Nazis ihr Leben, einige starben als
Kommunisten in der UdSSR bei den stalinistischen Säuberungen und in Stalins
Lagern. Von den Überlebenden der Nazi-Zeit gingen viele in die DDR und wurden
in der SED aktiv, einige betätigten sich auch in der KPD in der BRD.
Ein schlimmes Schicksal erlitt Hans Litten (1903–1938), da sich Hitler nach
der Machtübernahme 1933 persönlich an ihm rächte. Litten hatte als bekannter
Rechtsanwalt und Strafverteidiger in Berlin Anfang der 1930er Jahre KPD-Mitglieder bei Überfällen durch NS-Schlägerbanden verteidigt und im sogenannten Eden-Prozess 1931 gegen den berüchtigten SA-Sturm 33 erreicht, dass Adolf
Hitler persönlich vorgeladen und zur Legalität der NSDAP befragt wurde. Am
28.02.1933 wurde Litten verhaftet und im KZ Sonnenburg von den Angehörigen
des SA-Sturms 33, der dort als Hilfspolizei eingesetzt war, schwer misshandelt. Es
folgte eine Odyssee durch etliche Konzentrationslager, bis er am 5.02.1938 im KZ
Dachau Selbstmord beging.
Max Fürst (1905–1978) wurde 1933 im KZ Oranienburg inhaftiert. Nach seiner
Entlassung gelang ihm mit seiner Frau Margot Fürst und seinen beiden Kindern 1935
die Flucht nach Palästina/Israel, von wo die beiden 1950 in die BRD zurückkehrten.
Durch die Vermittlung von Minna Specht aus dem Kreis um Walter Hammer wurde
er als Schreiner an der Odenwaldschule angestellt, arbeitete später als Tischler in
Stuttgart und schrieb dort 1973 und 1976 seine Lebenserinnerungen.23
22 Klönne, Irmgard: Deutsch, Jüdisch, Bündisch. Erinnerungen an die aus Deutschland vertriebene jüdische Jugendbewegung. In: puls 21 (Nov. 1993), S. 34.
23 Fürst, Max: Gefilte Fisch und wie es weiterging. München 2004; Bergbauer, Knut/SchülerSpringorum, Stefanie: „Wir sind jung, die Welt ist offen“. Eine jüdische Jugendgruppe im 20. Jahrhundert (Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz). Berlin 2002.
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
177
Kibbuzgründung in Palästina durch den jüdisch-deutschen
Wanderbund „Kameraden“
Nach Fritz Vilmar ist die Kibbuzim-Bewegung die einzige Bewegung in den
Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts, die die „sozialistischen, ja sogar
kommunistischen Zielsetzungen in einem hohen Maße verwirklicht hat“, so dass
in ihnen die kommunistische Utopie „eines klassenlosen, völlig gleichberechtigten Miteinanderlebens auf der Basis gemeinsamen Eigentums der Produktionsmittel und – weitgehend geldloser – Versorgung jedes einzelnen gemäß seinen
Bedürfnissen“ verwirklicht wurde. Als besonders bemerkenswerte Tatsache hielt
er fest, „dass die ernst zu nehmenden Ideale der [deutschen] Jugendbewegung
nirgends in der Welt in solchem Ausmaß verwirklicht wurden wie in der israelischen Kibbuzbewegung.“24
Die weitere Entwicklung des Deutsch-jüdischen Wanderbundes
„Kameraden“
Auch nach dem Ausscheiden des Schwarzen Haufens gab es im Wanderbund
Kameraden keine Ruhe. 1932 eskalierten die Gegensätze zwischen den sozialistischen, religiösen und deutschnationalen Strömungen, so dass der Bund in
drei Gruppierungen zerfiel, die je für sich neue Bünde bildeten. Der größte Teil
der bisherigen Mitglieder schloss sich dem religiös-sozialistischen Flügel unter
Hermann Gerson (1908–1989) an, der den neuen Bund der Werkleute gründete.
Durch die Orientierung am religiösen Sozialismus von Martin Buber und den
Bundesvorstellungen von Stefan George hatte er eine klar umrissene gemeinsame
Weltanschauung, die für Zusammenhalt sorgte und eine gemeinsame Perspektive
ermöglichte. Unter dem Duck der beginnenden Nazi-Herrschaft vollzog Hermann
Gerson eine politische Wendung zum Zionismus und stellte den Werkleuten die
Aufgabe, in Palästina einen Kibbuz aufzubauen.
Der Kibbuz Hasorea in Palästina
1934 verließ eine erste Gruppe der Werkleute Deutschland in Richtung Palästina,
um dort einen Kibbuz aufzubauen. Da sie für die im Kibbuz anfallenden Arbeiten
24 Godenschweger, Walter B./Vilmar, Fritz: Die rettende Kraft der Utopie. Deutsche Juden gründen den Kibbuz Hasorea. Frankfurt am Main 1990, S. 9.
178
Eckard Holler
nicht ausgebildet war, musste sie sich nach der Ankunft die notwendigen Kenntnisse durch die Mitarbeit in den bereits bestehenden Kibbuzim mühevoll aneignen. Ihr folgten bis 1936 in kleinen Gruppen ca. 200 weitere Kameraden. 1936
konnte, von 75 Angehörigen der Werkleute in den verfallenen Räumlichkeiten
einer ehemaligen Karawanserei im Jezre el Tal zwischen Haifa und Megido, Land
erworben und der eigene Kibbuz gegründet werden. Er erhielt den Namen Kibbuz
Hasorea (,Sämann‘) und wurde eine erfolgreiche Wohn- und Produktionsgemeinschaft, in der die jugendbewegten „Träume von einer unbürgerlichen Zukunft“25
in Israel realisiert werden konnten.
Jugendbewegte Sozialdemokraten und unabhängige
Sozialisten
In den Jahren 1918 bis 1933 wurden die Stilformen des Wandervogels von einem
Großteil der deutschen Jugendverbände übernommen. Eberhard Koebel-tusk
sprach von der Überflutung des Raums zwischen den ausschlaggebenden
Klassen der Gesellschaft durch die (kleinbürgerliche) Jugendbewegung. Allein
die Jugendeliten der „ausschlaggebenden Klassen“, das Studentencorps der
extremen Rechten und die Organisationen des revolutionären Jungarbeiters der
extremen Linken, seien dagegen gefeit gewesen.26 Dass auch die der SPD nahestehenden sozialistischen Jugendvereine vom Geist der Jugendbewegung erfasst
wurden, wurde von der KPD als Abkehr vom gemeinsamen Klassenkampf von
Arbeiterjugend und Arbeiterklasse kritisiert.
Streit um die Freiraumtheorie
Der eigentliche Streit ging um die Frage, ob auch die Arbeiterjugend zur Selbstentfaltung einen sogenannten Freiraum benötige, wie ihn sich die bürgerliche
Jugend mit dem Wandervogel erkämpft hatte. Während der Kommunistische
Jugendverband (KJVD) den Freiraum als „Wolkenkuckucksheim“27 verspottete
25 Robert Jungk in einem Brief vom 11.12.1988 an den Verfasser.
26 Eberhard Koebel-tusk, Rückblick auf die Jugendbewegung. In: Ders.: Werke, Sozialistica.
Bd. 12. Edermünde 2005, S. 52–66, 57.
27 Kap. „Wolkenkuckucksheim“ in: Die Grundfragen der kommunistischen Jugendbewegung.
Aufsätze zum Programm der kommunistischen Jugend-Internationale. Hrsg. vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Jugendinternationale. Berlin-Schöneberg 1922, S. 16. (Nachdruck in:
Eckard Holler (Hrsg.), 100 Jahre Hoher Meißner 1913 – 2013. Kritische Rückblicke auf 100 Jahre
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
179
und die Übernahme der Programmatik und der Stilformen der bürgerlichen
Jugendbewegung als Wendung nach rechts angriff, wurden von den sozialdemokratischen Jugendvereinen – ab 1922 in der Sozialistischen Arbeiterjugend
(SAJ) zusammengefasst – die Errungenschaften des Wandervogels grundsätzlich
positiv beurteilt.
Kurt Löwenstein begründete auf der Grundlage der Freiraumtheorie die
emanzipatorisch gerichtete Zeltlagerpädagogik der sozialdemokratischen Kinderfreundebewegung, aus der der bis heute bestehende Jugendverband Die Falken
hervorging. In den Roten Kinderrepubliken wurden mit der von der Jugendbewegung übernommenen Methode der Kleingruppenarbeit bewusst Gemeinschaftserlebnisse erzeugt, mit denen das Selbstwertgefühl gestärkt und die Möglichkeit
geschaffen wurde, den Sozialismus zu erleben, bevor er gesellschaftlich durchgesetzt war.
Der Weimar-Geist von 1920
Der Reichsjugendtag von Weimar von 1920 mit dem legendären Weimar-Geist gilt
als Höhepunkt der jugendbewegten Phase der sozialdemokratischen Arbeiterjugendvereine. Mit Singen, Volkstanzen, Spielen und dem Outfit der jugendlichen
Teilnehmer glich dieser Arbeiterjugendtag einem Treffen des Wandervogels.
Der Einbruch des Wandervogels in die sozialdemokratischen Jugendorganisationen veränderte ihren Charakter zu Freizeitorganisationen und entfernte sie
von der unmittelbaren Beteiligung an den politischen Aktionen, bei denen sie in
der Regel Hilfsdienste zu leisten hatten. Das konnte zumindest zeitweise zur Entpolitisierung führen, stärkte aber längerfristig das jugendliche Selbstbewusstsein
und schuf damit die Basis für eine spätere bewusste Parteilichkeit.
Die Ausbreitung der Stilformen der bürgerlichen Jugendbewegung auf die
SPD-orientierte Arbeiterjugend in den 1920er Jahren zeigt, dass diese kein Privileg der bürgerlichen Schichten waren, sondern ein demokratisches Potential enthielten, das auch von der Arbeiterjugend genutzt und weiterentwickelt
werden konnte.
Ein Ergebnis davon war, dass es unter den späteren Bundestagsabgeordneten
der SPD eine ganze Reihe von ehemaligen Angehörigen sozialistischer Jugend-
Meißner-Formel der Jugendbewegung. H. 7 der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener
Kreis. Berlin 2013, S. 58 – 60, 59)
180
Eckard Holler
organisationen gab, die von den Idealen der Jugendbewegung geprägt worden
waren (u.a. Erich Ollenhauer, Willy Brandt, Marta Schanzenbach).28
Der Hofgeismarkreis der Jungsozialisten
Die Impulse der Jugendbewegung, die den Weimar-Tag der Arbeiterjugend 1920
bestimmt hatten, wirkten sich auf die Jungsozialisten aus, die sozialdemokratische Jugendorganisation für die über 18jährigen Mitglieder der Arbeiterjugend.
Der Verband entwickelte zwei gegensätzliche politische Flügel. Der Hofgeismarkreis vertrat einen ethisch verstandenen, nichtmarxistischen Sozialismus, der
sich zu Volk und Staat bekannte und die Weimarer Republik verteidigte, während
die Hannoveraner den Auffassungen des Wiener Neomarxisten Max Adler folgten
und am orthodoxen Marxismus des politischen Klassenkampfes und der revolutionären Gesellschaftsveränderung festhielten. Der Hofgeismarkreis wurde 1926
aus den Jungsozialisten hinausgedrängt, setzte aber seine Tagungen und seine
publizistische Arbeit bis zum Verbot 1933 fort. Theoretisch waren die Hofgeismarer ihrer Zeit voraus. Die Bedeutung ihrer Arbeit kam erst 1959 bei der Formulierung des Godesberger Programms zum Tragen, als ihre theoretischen Bemühungen um Nation und Staat in das neue Parteiprogramm übernommen wurden.
Bund Freier Sozialistischer Jugend
Ein von KPD und SPD unabhängiger, linkssozialistischer Jugendverband entstand
1926 unter dem Namen Bund freier sozialistischer Jugend (BFSJ)29 durch den
Zusammenschluss einer Reihe parteipolitisch unabhängig gebliebener sozialistischer Jugendorganisationen. Dazu gehörten die Reste der Freien Proletarischen
Jugend, der Orden junger Menschen, die Freie Aktivistische Jugend, die Wanderscharen e.V. und die Landfahrer e.V. Der BFSJ bestand bis 1933. Er war jugendbewegt, aber politischer als die SAJ und stark in der Friedenspolitik engagiert.
Eine Aktivität war die Beteiligung an den internationalen Treffen zur Gründung
eines Weltbundes der Jugend für den Frieden. Obwohl die Treffen von einer Viel-
28 Vgl. Eppe, Heinrich/Herrmann, Ulrich (Hrsg.): Sozialistische Jugend im 20. Jahrhundert.
Weinheim/München 2008.
29 Die 1926 entstandene FSJ ist nicht identisch mit der FSJ, die 1916 unter dem Einfluss von Karl
Liebknecht und anderen entstand, 1920 ihren Namen in Kommunistische Jugend Deutschland
(KJD) änderte und zum Jugendverband der KPD (KJVD) wurde.
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
181
zahl von Jugenddelegierten aus dem In- und Ausland besucht wurden, scheiterte
die Weltbundgründung an den unüberwindbaren Gegensätzen zwischen den
linken Fraktionen. Mitglied im Bundesvorstand und Delegierter des BFSJ beim
Weltjugendtreffen auf der Freusburg im August 1927 war Wolfgang Abendroth,
der spätere Politologieprofessor an der Universität Marburg, der lange Zeit den
einzigen Lehrstuhl einer bundesdeutschen Universität innehatte, an dem Marxismus gelehrt wurde. Mit seinem wallenden weißen Haar repräsentierte Wolfgang
Abendroth noch im hohen Alter den Phänotyp eines vom Wandervogel geprägten, jugendbewegten Wissenschaftlers, der auch Studenten aus der Nachkriegsjugendbewegung und insbesondere aus ihrem jungenschaftlichen Zweig anzog.
Walter Hammer (1888–1966) – Pazifismus aus dem Geist der
Jugendbewegung
Beteiligt an der internationalen Friedensbewegung in den 1920er Jahren war
der Verleger Walter Hammer (1888–1966). Er hatte der Wandervogelbewegung
angehört und wurde durch das Erlebnis des 1. Weltkriegs zum überzeugten Pazifisten. Von 1920–1927 gab er die der Jugendbewegung nahestehende Zeitschrift
Junge Menschen30 heraus, die pazifistisch und humanitär gerichtet war. Walter
Hammer betätigte sich in der Republikanischen Partei und trat vor 1933 für eine
gegen den Nationalsozialismus gerichtete Einheitsfront von SPD und KPD ein. Er
überlebte mit Glück die NS-Zeit und baute nach 1945 das Walter-Hammer-Archiv
für Widerstand und Verfolgung auf, das nach seinem Tod 1966 dem Institut für
Zeitgeschichte München übergeben wurde.
Der Leuchtenburgkreis
Ehemalige Mitglieder der Jugendbewegung im Alter von 25–35 Jahren, die der SPD
nahestanden, trafen sich zwischen 1924 und 1933 im Leuchtenburgkreis um Fritz
Borinski, der selbst der Deutschen Freischar (DF) und der SPD angehörte. Die jüngeren Teilnehmer waren in der Regel in der Jungenschaftsarbeit der DF tätig. Die
Treffen des Kreises fanden ein- bis zweimal pro Jahr auf Leuchtenburg (bei Jena)
statt und verfolgten die Intention, „mit der Haltung der Jugendbewegung die
30 Oschilewski, Walter G./Walter-Hammer-Kreis (Hrsg.): Junge Menschen. Monatshefte für
Politik, Kunst, Literatur und Leben aus dem Geiste der jungen Generation der zwanziger Jahre
1920–1927. Ein Auswahlband. 2. Auflage. Frankfurt am Main 1982.
182
Eckard Holler
demokratische Aufgabe als verbindlich zu bejahen“. Gesucht wurde eine „Verbindung zu den jungen Kräften der Arbeiterschaft in den Kreisen der Jungsozialisten und der Arbeiterbildung.“ Referenten waren u.a. Adolf Reichwein, Hermann
Schafft, Kurt Mothes, Hermann Heller, Karl Jaspers. Ortsgruppen bestanden u.a.
in Leipzig, Dresden, Chemnitz und Jena. Der Kreis hatte Kontakt zu der Zeitschrift
Neue Blätter für den Sozialismus, die von Fritz Klatt, Eduard Heimann und Paul
Tillich herausgegeben wurde. Mit den Jahren wurde die Abgrenzung gegenüber
Faschismus und Bolschewismus zur eigentlichen Aufgabe. Die Entwicklung gipfelte in der der Oktober-Tagung 1932 zum Thema Mit oder gegen Marx zur deutschen Nation. Sie war zugleich die letzte Tagung und brachte eine spannungsreiche Auseinandersetzung zwischen Adolf Reichwein, Wilhelm Rössle (Tat-Kreis)
und Otto Strasser. Der im Buchhandel erschienene Tagungsbericht wurde
behördlich beschlagnahmt, der Kreis löste sich Ende März 1933 auf.31
Der Internationale Jugendbund (IJB) und der
Internationale Sozialistische Kampfbund (ISK)
Ein den Ideen der Jugendbewegung nahestehender Bund, der zusätzlich von den
ethisch-sozialistischen Ideen des Neukantianers Leonard Nelson (1882–1927)
bestimmt war, war der 1917 nach Auseinandersetzungen mit der Freideutschen
Jugend gegründete Internationale Jugendbund (IJB), der 1926 in Internationaler
Sozialistischer Kampfbund (ISK) umbenannt wurde. Er verstand sich als Elitebund und verlangte von seinen Mitgliedern eine alkohol- und nikotinfreie und
vegetarische Lebensweise, den Austritt aus der Kirche und die aktive Mitgliedschaft in einer der sozialistischen Parteien der Linken. 1925 fasste die SPD jedoch
einen Unvereinbarkeitsbeschluss, der die gleichzeitige Mitgliedschaft im IJB
ausschloss. Der IJB bzw. ISK hatte nie mehr als 300 Mitglieder, gab jedoch von
1931–1933 die gegen die NSDAP gerichtete Tageszeitung Der Funke heraus. Erwähnenswert ist der Aufruf dieser Zeitung zum Bündnis von SPD und KPD zur Reichstagswahl vom Juli 1932. Von 1933 bis 1938 bestand der ISK in der Illegalität weiter.
Nach 1945 traten die ehemaligen ISK-Mitglieder meist in die SPD ein. Führende
Positionen erreichten u.a. Willi Eichler (1896–1971), Otto Brenner (1907–1972) und
Alfred Kubel (1909–1999).32
31 Vgl. Der Leuchtenburgkreis (mit Beiträgen von Fritz Borinski u.a.). In: Werner Kindt (Hrsg.),
Dokumentation der Jugendbewegung. Bd. 3: Die deutsche Jugendbewegung 1920–1933. Die
bündische Zeit. Quellenschriften. Düsseldorf/Köln 1974, S. 1045–1049.
32 Ebd., S. 1043f.
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
183
Adolf Reichwein (1898–1944)
Adolf Reichwein war als 15-jähriger Schüler aktives Mitglied des Wandervogels in
Friedberg und wurde dadurch für seine spätere reformpädagogische und politische
Tätigkeit geprägt. Nach dem 1. Weltkrieg, aus dem er schwerverwundet zurückkam,
wurde er überzeugter Pazifist und Anhänger eines demokratischen Sozialismus.
Während des Studiums in Marburg schloss er sich der hochschulreformerischen
und jugendbewegten Studentengruppe Akademische Vereinigung Marburg an
und initiierte eine sozialpolitische Arbeitsgemeinschaft von Studenten und Jungarbeitern. Danach wurde er für den Volkshochschulverband in Thüringen tätig und
Leiter der VHS in Jena. Ein Ergebnis seiner reformpädagogischen Arbeit war 1926
die Gründung und Leitung des Jungarbeiterwohnheims Beuthenberg in Jena, wo
er auch Kontakte zur KPD hatte. Zu den Aktivitäten der VHS gehörten neben den
Vorträgen und Kursen auch Freizeitunternehmungen im Stil der Jugendbewegung,
u.a. eine achtwöchige Skandinavienreise mit den Arbeiterjugendlichen des Jenaer
Wohnheims Beuthenberg im Sommer 1928, die teils als wissenschaftliche Exkursion, teils als abenteuerliche Wildniswanderung durchgeführt wurde. Von 1929 bis
1930 war er zusätzlich zu seiner VHS-Tätigkeit persönlicher Referent des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker und pendelte mit seinem Sportflugzeug
zwischen Berlin und Jena. Sein Aufgabengebiet war die Demokratisierung des Bildungswesens. 1930 gab er angesichts des Erstarkens der NSDAP seine parteipolitische Zurückhaltung auf und trat der SPD bei. Von den Nazis im April 1933 als Professor für Geschichte entlassen, nahm Reichwein eine Stelle als Grundschullehrer
an einer einklassigen Landschule in dem Dorf Tiefensee in der Mark Brandenburg
an und machte aus der Landschule ein erfolgreiches Schulmodell nach den Grundsätzen der Reformpädagogik. Im Frühjahr 1939 ging er als Museumspädagoge an
das Staatliche Museum für Deutsche Volkskunde nach Berlin, um engeren Kontakt
zu den Widerstandkreisen zu haben. Zusammen mit dem Sozialdemokraten Julius
Leber nahm er Verbindung zum Widerstand des Kreisauer Kreises auf. Reichwein
entwickelte ein bildungspolitisches Programm für eine Schulpolitik nach Hitler
und war in der zu bildenden Regierung als möglicher Kultusminister vorgesehen.
Beim Versuch, eine Verbindung zur illegalen KPD herzustellen, wurde er durch
einen Spitzel verraten, verhaftet und am 20. Oktober 1944 zum Tode verurteilt und
ermordet. Die Grundlagen für die geistige und politische Erneuerung Deutschlands
nach Hitler sollten seiner Vorstellung nach „die ethischen Werte des Christentums
und die Ideen eines undogmatisch verstandenen Sozialismus“33 sein.
33 Amlung, Ullrich: „... in der Entscheidung gibt es keine Umwege“. Adolf Reichwein 1898–1944.
Reformpädagoge, Sozialist, Widerstandskämpfer. Marburg/Berlin 1994.
184
Eckard Holler
Ernst Friedrich (1894–1967) und die
Anarchistische Jugendbewegung Freie Jugend
Die 1923 von Ernst Friedrich gegründete Freie Jugend (FJ) stand in der Tradition
des Anarchismus und der Jugendbewegung. Sie umfasste in ca. 27 Gruppen rund
600 Mitglieder, die zu gemeinsamen Fahrten und Treffen zusammenkamen. Der
zentrale Verknüpfungspunkt war die von Ernst Friedrich herausgegebene Zeitschrift Freie Jugend, die in einer Auflage von 2000 erschien (einmal sogar 50
000). Anlaufstelle für die Mitglieder und Sympathisanten der FJ war zunächst
die Wohnkommune eines Jugendheims der Freien Sozialistischen Jugend (FSJ) in
Berlin. Nach deren Auflösung richtete die FJ ein Internationales Haus ein, in dem
ein Antikriegsmuseum, eine Buchhandlung, Wohnungen für Mitglieder und der
Verlag sowie die Druckerei der Zeitschrift Freie Jugend – Jugendschrift für herrschaftslosen Sozialismus untergebracht waren. Im Internationalen Haus wurden
politische und kulturelle Veranstaltungen für ein großes Spektrum von linken
Gruppen und Personen durchgeführt.
Der 1894 in Breslau geborene Ernst Friedrich war in seiner Heimatstadt 1908
Mitbegründer des ersten Arbeiterjugendvereins, 1911 trat er in die SPD ein, radikalisierte sich aber mit dem Beginn des 1. Weltkriegs und wurde zum kompromisslosen Kriegsgegner. Wegen Sabotageaktionen wurde er 1917 inhaftiert, im
Zuge der Novemberrevolution jedoch 1918 befreit. In Berlin schloss er sich der
von Karl Liebknecht gegründeten Freien Sozialistischen Jugend (FSJ) an. Nach
ihrer Auflösung bzw. Überführung in den KJVD blieb er Wortführer der Freien
Jugend, einem Jugendverband, der einen antiautoritären Sozialismus mit der
Wandervogel-Romantik verband. In der Weimarer Republik wurde er zum Fokus
eines autonomen und jugendbewegten Anarchismus mit erheblicher öffentlicher
Ausstrahlung. Ein Beispiel dafür ist sein Rednerauftritt bei der Antikriegsdemonstration in Berlin am 31.07.1921 vor 100 000 Menschen, ein anderes sein Buch
Krieg dem Kriege (1924), das in seinem Verlag Freie Jugend erschien und bis 1930
10 Auflagen erlebte.
1925 gründete er in Berlin das Antikriegsmuseum, das 1933 von den Nazis
zerstört und in ein SA-Sturmlokal umgewandelt wurde. Nach kurzer Schutzhaft
gelang ihm 1933 zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern die Flucht aus
Deutschland. In Frankreich schloss er sich 1943 der Résistance an.
Nach 1945 kehrte er nach Berlin zurück und machte den Vorschlag, in der
Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche in Berlin ein Friedensmuseum einzurichten, der 1950 jedoch vom Berliner Senat abgelehnt wurde. Wiederentdeckt
wurde Ernst Friedrich in der BRD in der Friedensbewegung in den 1980er Jahren.
Das 1982 wiedergegründete Friedensmuseum in Berlin erinnert an ihn.
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
185
Politisierung der Bündischen Jugend ab 1929
1929 erreichte die politische Radikalisierung mit der einsetzenden Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeit die aktivistischen Teile der sich bislang
als unpolitisch verstehenden bürgerlichen Jugendbewegung und weckte ihr politisches Interesse. Von besonderer Attraktivität war der Nationalbolschewismus,
eine politische Richtung, die den Nationalsozialismus der NSDAP als zu wenig
revolutionär und den Kommunismus der KPD als zu wenig national kritisierte
und einen unabhängigen Kommunismus als sogenannte Dritte Front anstrebte.
Aufgrund der Kritik an Hitler und dem kapitalistischen Wirtschaftskurs der
NSDAP wurden führende Nationalbolschewisten, zu denen u.a. der bekannte
Jugendbewegte Karl Otto Paetel gehörte, nach 1933 von den Nazis verfolgt und in
die Emigration getrieben.
Karl O. Paetel (1906–1975)
Karl Otto Paetel war ursprünglich Mitglied der Deutschen Freischar und gehörte
zum engeren Kreis der bündischen Jugend. Er wurde durch seine publizistische
Tätigkeit und sein Programm eines Bündischen Sozialismus bekannt. Politisch
arbeitete er an einer Synthese zwischen der Jugendbewegung und dem Nationalbolschewismus. Der Ausgangspunkt des Bündischen Sozialismus war das
Gemeinschaftserlebnis der Jugendbewegung. Seine Definition aus dem Jahr 1929
lautete: „Sozialismus ist eine Gesinnung, eine menschliche Haltung, die im Wir
statt im Ich denkt. Sozialisten wurden wir als Glieder der bündischen Jugend,
deren Lebensgefühl kollektivistisch-sozialistisch ist“.34 Im Unterschied zu den
meisten anderen Wortführern des Nationalbolschewismus vertrat er eine sozialrevolutionäre, antikapitalistische Linie, die ein Bündnis mit der KPD nicht ausschloss. Seine linksnationale Position kostete ihn auch im August 1930 die Stelle
als Chefredakteur der überbündischen Zeitschrift Die Kommenden.
Nach der Machtübernahme durch die Nazis emigrierte er nach Paris und
begann mit eigenen Periodica, den bündischen Jugendwiderstand gegen Hitler
zu organisieren. 1937 beteiligte er sich an der von Theo Hespers und Hans Ebeling
(plato) initiierten Gründung der Widerstandsorganisation Deutsche Jugendfront.
Einfluss hatte er auf die illegale bündische Gruppe um Günter Platz und Michael
34 Zit. nach: Schüddekopf, Ernst-Otto: Linke Leute von rechts, Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik. Stuttgart 1960, S. 334.
186
Eckard Holler
Jovy35 aus dem Raum Bonn-Köln, mit der er sich 1938/1939 mehrfach in Frankreich
traf und die er zu Widerstandsaktionen motivierte. Im Dezember 1939 flog die
Gruppe auf. Nach zweijähriger Untersuchungshaft wurde der Hauptangeklagte
Michael Jovy zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Paetel selbst emigrierte 1941
in die USA, nachdem ihm 1939 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen und
er als Hochverräter zum Tode verurteilt worden war. Nach 1945 unterstützte er
von den USA als US-Staatsbürger eine Politik der Neutralisierung Deutschlands.
Mit seinem Rundbrief Gesprächsfetzen hielt er weiterhin Kontakt zu bündischen
Kreisen in der BRD. Im Freideutschen Kreis hatte er in Heinz Gruber (heigru) einen
Vertrauten. Aus Verbundenheit mit der deutschen Jugendbewegung verfügte er in
seinem Testament, dass seine Urne aus den USA überführt und in Witzenhausen
am Fuß der Jugendburg Ludwigstein bestattet werden solle.
Harro Schulze-Boysen (1909–1942) – Überwindung der
Parteien durch eine Partei des Lebens
Harro Schulze-Boysen wuchs in Kiel und Duisburg in einer national denkenden,
einflussreichen Offiziersfamilie auf. Er war Großneffe des Admirals von Tirpitz
und des Soziologen Ferdinand Tönnies. Als Schüler wurde er wegen seiner Teilnahme am Ruhrkampf kurzfristig verhaftet. Mit 14 Jahren schloss er sich der
Duisburger Jugendgruppe des Jungdeutschen Ordens von Arthur Mahraun an,
der „Fronterlebnis und Gemeinschaftsgeist“36 auf die Jugend übertragen wollte.
In der Jungdeutschen Ordensjugend kam es zu einer Verbindung der nationalistischen Ideen der Frontkämpfergeneration des 1. Weltkriegs mit der romantischen
Gemeinschaftsutopie der Jugendbewegung. Mit dem Wechsel an die Berliner Universität 1930 begann eine Linkswendung und eine Distanzierung von den Ideen
Mahrauns. Schulze-Boysen nahm Kontakte zu Strassers Schwarzer Front und
zu Koebels Rotgrauer Garnison auf, wo er eine Zeitlang auch wohnte. Bei einem
Frankreich-Aufenthalt bekam er Verbindungen zur linken nationalrevolutionären
Zeitschrift Plans und organisierte als ihr Berliner Verbindungsmann ein Treffen
der revolutionären Jugend Europas, das die Abschaffung des kapitalistischen
Systems und die Liquidierung des Diktats von Versailles forderte. 1932/33 wurde
35 Bothien, Horst-Pierre: Die Jovy-Gruppe. Eine historisch-soziologische Lokalstudie über nonkonforme Jugendliche im „Dritten Reich“. Geschichte der Jugend. Bd. 19. Münster 1995.
36 Coppi, Hans / Andresen, Geertje (Hrsg.): Dieser Tod paßt zu mir. Harro Schulze-Boysen –
Grenzgänger im Widerstand. Briefe 1915 bis 1942. Berlin 1999, S. 39
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
187
er Herausgeber der revolutionären, linksunabhängigen Zeitschrift Gegner37 und
versuchte, eine Jugendbewegung der Gegner-Leser ins Leben zu rufen. In gutbesuchten Diskussionsveranstaltungen in Berlin agitierte er gegen die Verknöcherung der linken und rechten Parteien. Die Zeitschrift Gegner nahm unter seiner
Leitung eine immer stärker werdende Frontstellung gegen den Nationalsozialismus ein, stellte sich vorbehaltlos auf die Seite des Proletariats und urteilte positiv
über die Sowjetunion. Schulze-Boysen war mit Eberhard Koebel-tusk befreundet
und wurde von ihm im Karl-Liebknecht-Haus der KPD vorgestellt. Er ging jedoch
Koebels Weg zur KPD nicht mit, sondern blieb parteipolitisch unabhängig.
Den Nazis war er als Gegner-Redakteur und öffentlicher Redner so verhasst,
dass die SS-Standarte 6 am 26.04.1933 die Redaktionsräume überfiel, die anwesenden Redakteure in einen Folterkeller nach Berlin-Charlottenburg verschleppte
und schwer misshandelte. Schulze-Boysens musste mitansehen, wie sein Freund,
der jüdische Henry Erlanger, vor seinen Augen tot geschlagen wurde. Er selbst lief
viermal nackt durch die Gasse der SS-Leute, die mit bleibeschwerten Peitschen
auf ihn einschlugen. Auch wurden ihm Hakenkreuze in die Oberschenkel eingeritzt. Dank der familiären Beziehungen zum Berliner Polizeipräsidenten kam er
mit dem Leben davon. Überliefert ist sein Kommentar zu den Erlebnissen: „Ich
habe meine Rache auf Eis gelegt“.38 Als Offizier im Luftfahrtministerium begann
er nach 1933 mit dem Aufbau eines weitverzweigten Widerstandsnetzes, das mit
mehreren Hunderten von Beteiligten die vermutlich größte Widerstandorganisation gegen Hitler war. Sie war informell aufgebaut und basierte auf Freundschaftsbeziehungen, wie sie in der Jugendbewegung gepflegt wurden. Auch Kommunisten waren einbezogen, dominierten jedoch nicht. Durch die Fahrlässigkeit der
sowjetischen Abwehr, deren Funksprüche von der deutschen Abwehr dechiffriert
wurden, wurde der Widerstandskreis im August 1942 enttarnt. Schulze-Boysen
wurde als Kopf der Gruppe als erster am 31.08.1942 verhaftet und am 22.12.1942
im Alter von 33 Jahren durch den Strang hingerichtet. Er lässt sich als ein jugendbewegter Berufsrevolutionär charakterisieren, der nicht für ein Parteiprogramm,
sondern für eine Partei des Lebens gegen die Nazis kämpfte. Die Schulze-BoysenHarnack-Kuckhoff-Gruppe, die von den Nazis Rote Kapelle genannt wurde, wurde
nach 1945 von kommunistischer Seite instrumentalisiert und von westdeutscher
Seite als sowjetische Spionageorganisation diskreditiert. Ihre Bedeutung wird bis
37 Die Zeitschrift Gegner wurde 1932 von dem Schweizer Industriellen und Gründer des bündischen Grauen Corps Fred Schmid als Mitherausgeber unterstützt und finanziert.
38 Schüddekopf, Ernst-Otto, a.a.O., S. 354
188
Eckard Holler
heute öffentlich nicht anerkannt, wobei sich in neueren Untersuchungen eine
veränderte Sichtweise andeutet, die ihren Intentionen eher gerecht wird.39
Der linke katholische Jugendwiderstand von Theodor Hespers
(1903–1943)40
Theodor Hespers, der 1903 in Mönchgladbach in einer katholischen Familie
geboren wurde, war ab 1917 Mitglied im katholischen Jugendbund Quickborn,
dem 1909 entstandenen ältesten Bund der katholischen Jugendbewegung, der
Ziele wie Natürlichkeit, Koedukation, Lebensgestaltung aus dem Glauben, Völkerverständigung und Friedenseinsatz verfolgte. An den Werkwochenenden auf
Burg Rotenfels nahmen u.a. Romano Guardini und Walter Dirks teil. Politisch
aktiv war Theo Hespers in den 1920er Jahren im Friedensbund deutscher Katholiken (FDK) um Karl Förster, in der Vitus-Heller-Bewegung und in der ChristlichSozialen Reichspartei (CSRP). Für diese arbeitete er in Ausschüssen der Stadtverordnetenversammlung Mönchengladbach und kandidierte für den Preußischen
Landtag. Aus Enttäuschung über die politische Inkonsequenz der CSRP trat er
schließlich aus und begann eine Tätigkeit für die KPD-nahe rote Gewerkschaftsorganisation. Da er bei der Reichstagswahl am 5.3.1933 für die Einheitsliste der
Arbeiter und Bauern kandidiert hatte, wurde er von den Nazis verfolgt und musste
fliehen. Zunächst fand er Aufnahme in einem Kloster in Holland, später lebte er
mit seiner jungen Familie in Melick an der Roer bei Roermond. Dort begann er
eine breitgespannte Widerstandsarbeit, bei der seine Wohnung zur Anlaufstelle
für emigrierte SPD- und KPD-Mitglieder und auch für jüdische Emigranten (u.a.
aus dem jüdischen Wandervogelbund Die Kameraden) wurde, die für die illegale
KPD arbeiteten. 1935 wurde er von der Gestapo zur Fahndung ausgeschrieben,
1937 wurde ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt.
1935 begann die enge Zusammenarbeit mit dem bündischen Emigranten Dr.
Hans Ebeling (plato), der von 1924–1934 Bundesführer des inzwischen verbotenen Jungnationalen Bundes war. Zusammen mit ihm gründete er 1935 die bündische Exil-Organisation Arbeitskreis Bündischer Jugend (AKBJ), der die Sonderin-
39 Nelson, Anne: Die Rote Kapelle. München 2010; vgl. dazu die Rezension von Holler, Eckard:
Anne Nelson: Die Rote Kapelle. Die Geschichte der legendären Widerstandsgruppe. In: Das Argument 288 (2010), H. 4/5, S. 307–308.
40 Als Quelle benutzt: Barbers, Meinulf: Theo Hespers – ein Widerstandskämpfer, der aus dem
Quickborn kam. Referat am 18.08.2003 auf Burg Rothenfels. http://www.quickborn-ak.de/html/
body_theo_hespers.html (10.01.2011).
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
189
formation deutscher Jugend und die Bündischen Rundbriefe herausgab. Beteiligt
waren u.a. auch Karl O. Paetel, Fritz Borinski, Walter Hammer und anfangs auch
Eberhard Koebel-tusk. Am 17./18.07.1937 gründeten Theo Hespers und Hans
Ebeling in Brüssel die Deutsche Jugendfront als Zusammenschluss der deutschen
Widerstandsjugend in der Emigration. Gedacht war an die Bildung einer Emigrationsführung der deutschen Jugendverbände als Gegenstück zur NS-Reichsjugendführung. Mitgründer waren u.a. Karl Otto Paetel, Hans Stoffers (SPD),
Erich Jungmann (KJVD), Werner Kowalski (KPD) und Vertreter der belgischen,
niederländischen und britischen Jugend. Kontakte bestanden in die Länder
Frankreich, Luxemburg, Schweiz, Dänemark, Schweden und Tschechoslowakei.
Die Deutsche Jugendfront war gedacht als ein breites Bündnis unterschiedlicher
deutscher Jugendorganisationen unter Einschluss der deutschen Kommunisten,
aber unter Führung der bündischen Jugend. Die Kommunisten wurden jedoch
ein Jahr später wegen ihr Zustimmung zu den Moskauer Prozessen ausgeschlossen. Publizistisches Organ der Deutschen Jugendfront war die Monatszeitschrift
Kameradschaft (Nov. 1937–Feb. 1940), die zuerst in Brüssel, später in Amsterdam
in einer Auflage von 2000 Exemplaren gedruckt wurde. Die Deutsche Jugendfront
wurde von ihren nationalsozialistischen Gegnern sehr ernst genommen, wie der
ausführliche Gestapo-Bericht vom 22.2.194241 zeigt.
Während Hans Ebeling nach der Besetzung der Niederlande durch die Nazis
die Flucht nach England gelang, wurde Theo Hespers verhaftet und 1943 nach
grausamen Folterungen, die der Erpressung von Namen dienten, in BerlinPlötzensee hingerichtet. Sein politisches Vermächtnis war die Zukunftsvision:
So wollen wir Deutschland42, die ein freies, rechtsstaatliches, demokratisches
Deutschland mit einem starken sozialistischen Einschlag anstrebte. Getragen
war diese Vision von einem lebendigen Katholizismus, der von der Vorstellungswelt der linkskatholischen Jugendbewegung geprägt war. Der Eigentums- und
Wirtschaftsteil dieser Zukunftsvision entwickelte Gedanken, die sich im Ahlener
Programm der CDU von 1947 wiederfinden.
41 Gestapo Berlin, Bericht vom 22.2.1942. Die Deutsche Jugendfront, Institut für Zeitgeschichte
München, Fa 117/10 (zit. in: Klönne, Arno: Jugend im Dritten Reich. Düsseldorf/Köln 1982, S. 218f.).
42 So wollen wir Deutschland, Aufruf junger katholischer Deutscher: In: Kameradschaft 12 (1938)
[Nachdruck 1983, S. 228–233].
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Eckard Holler
Eberhard Koebel-tusk (1907–1955) und dj.1.11
Eberhard Koebel, genannt tusk43, gehört zu den bündischen Jugendführern der
1920/30er Jahre, deren Nachwirkung bis heute anhält. Die von ihm eingeführten
Neuerungen überlebten die NS-Zeit und führten nach 1945 mit den autonomen
Jungenschaften zu einer bemerkenswerten Jugendkultur in der BRD, die Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte.
Koebels bleibende Leistung war 1929 die Gründung des Jugendbundes dj.1.11
(= deutsche jungenschaft vom 1.11.[1929]) und 1931 die Programmschrift Der
gespannte Bogen. Durch die Betonung der jugendlichen Autonomie hatte dieser
Bund eine Avantgardefunktion und begründete mit der Jungenschaftsbewegung
die Dritte Welle der deutschen Jugendbewegung nach Wandervogel und Bündischer Jugend.
tusks Linkswendung 1932
Eberhard Koebel-tusk stammte aus einer alteingesessenen Juristenfamilie aus
Stuttgart, die dem gehobenen Bürgertum angehörte und deutschnational eingestellt war. Sein Vater war Richter am Oberlandesgericht in Stuttgart und starb
unerwartet bereits 1927. Seine Mutter, Tochter eines schwäbischen Textilfabrikanten, war Hitleranhängerin und trat 1929 in die NSDAP ein. Auch Eberhard, ihr
jüngster von drei Söhnen, war bereits als Schüler überzeugter Hitleranhänger.
Durch seine Aktivität und vor allem durch seine publizistische Tätigkeit machte
tusk in der Jugendbewegung auf sich aufmerksam. 1930, kurz nach der dj.1.11Gründung, wechselte er beruflich von Stuttgart nach Berlin und sorgte mit seinem
demonstrativen Eintritt in die KPD an Hitlers Geburtstag am 20.04.32 für politisches Aufsehen. Ausgelöst wurde sein politischer Wandel durch die Notlage der
Arbeiterjugend, die sein Gerechtigkeitsempfinden verletzte, und durch die revolutionären Bestrebungen in der jungen Intelligenz in Berlin, in deren Kreisen er
sich bewegte. Vorbild für tusk war insbesondere der Reichswehrleutnant Richard
Scheringer, der sich 1931 in einer öffentliches Erklärung von Adolf Hitler losgesagt und der KPD angeschlossen hatte.
Der demonstrative KPD-Eintritt war von tusk als eine öffentliche Aktion
inszeniert, die signalisieren sollte, dass die bürgerliche Jugend das Bündnis mit
der Arbeiterjugend suchte, um Hitler zu verhindern und den Sozialismus als die
gerechtere Gesellschaftsordnung aufzubauen. Auch war damit die Aufforderung
43 Siehe. Anm. 12.
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
191
an die Jugendbewegung verbunden, ihm in die KPD zu folgen. Der selbst mit dem
Führungskreis der dj.1.11 nicht abgesprochene Schritt verfehlte jedoch die beabsichtigte Wirkung und hatte schwerwiegende Folgen, die nicht bedacht worden
waren. Für die Bündische Jugend war der KPD-Eintritt von tusk ein Skandal erster
Ordnung und machte ihn aus der Sicht ihrer führenden Vertreter endgültig zum
unberechenbaren Wirrkopf. Die maßgebenden Bünde der freien Jugendbewegung reagierten mit einer sofortigen gemeinsamen Erklärung44, in der sie sich in
scharfer Form von dem „kommunistischen Einbruchsversuch in die Jugendbewegung“ distanzierten. Selbst in der dj.1.11 stieß der KPD-Eintritt auf Unverständnis
und führte zum Austritt eines Großteils der Mitglieder. Die KPD, der sich tusk
als neues Mitglied im Unterbezirk Kreuzberg vorstellte, konnte mit dem eigenwilligen Jugendführer nichts anfangen und hielt ihn für einen linken Abenteurer,
dem man misstraute. Sein KPD-Beitritt wurde also nicht allgemein bewundert
(und nachgeahmt), sondern führte– ganz im Gegenteil – zu seiner doppelten
Isolierung45.
Taktik im Jahre 1933 zur Rettung der dj.1.11
Offenbar hatte sich tusk seine Aktionsmöglichkeiten als KPD-Mitglied anders
vorgestellt. Tatsächlich beschränkten sie sich vor allem auf die Pfadfindersparte
im Arbeitersportverein Fichte in Berlin, wo er den dj.1.11-Stil durchsetzte und für
die Arbeiterjungen Kohtenfahrten und Lagerfeurabende organisierte. Eberhard
Koebel blieb nur etwa ein Jahr bei der KPD. An Ostern 1933 – inzwischen hatte
Hitler mit der NSDAP die Macht übernommen, aber die von der KPD erwarteten
Gegenmaßnahmen waren ausgeblieben – erklärte er das politische Bündnisprojekt, das er mit dem KPD-Beitritt verfolgt hatte, für gescheitert und gab seinen
KPD-Mitgliedsausweis zurück. Seine politischen Initiativen richteten sich nun
darauf, für die dj.1.11 im Dritten Reich einen Platz zum Überleben zu finden. Es
gelang ihm jedoch nicht, in Gesprächen mit der Reichsjugendführung und der
Reichswehr die dj.1.11 als legale Jugendorganisation zu erhalten. Seine Initiativen
wurden vielmehr als Zersetzungsversuche der Hitlerjugend betrachtet, erregten
den Zorn der HJ-Führung unter Baldur von Schirach und führten im Januar 1934
zu seiner Inhaftierung im berüchtigten KZ Columbia-Haus in Berlin. Dort erlitt er
44 Die Distanzierungserklärung wurde abgedruckt am 17.04.1932 in: Die Kommenden 16 (1932).
45 Vgl. dazu: Holler, Eckard (Hrsg.): Hier gibt es Jungen …. tusks KPD-Eintritt und die jungenschaftliche Linke nach 1945. H. 6 der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis. Berlin 2012, S. 14 f.
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Eckard Holler
einen seelischen Zusammenbruch und beging zwei Selbstmordversuche, die zu
bleibenden gesundheitlichen Schäden führten. Mit der schriftlichen Selbstverpflichtung, sich nicht mehr in der bündischen Jugend zu betätigen, andernfalls er
in ein KZ eingewiesen würde, wurde er nach vier Wochen schwerverletzt entlassen.46 Die Warnung, dass von den Nazis seine Liquidierung beschlossen worden
sei, bewog ihn im Juni 1934 zur Emigration nach Schweden und von dort nach
Großbritannien. Nach einem Sprachstudium mit Abschluss wurde er Lehrer an
verschiedenen Privatschulen. Erst 1948 wurde ihm und seiner Familie die Rückkehr nach Deutschland genehmigt.
Gegen Kriegsende wurde er in London in der kommunistisch gesteuerten
Freien Deutschen Bewegung (FDB) und für die Exil-FDJ tätig. Von seinem Angebot,
beim Aufbau der FDJ in der SBZ bzw. DDR mitzuarbeiten, machten die deutschen
Kommunisten keinen Gebrauch. 1951 aus der SED wegen des Verdachts der feindlichen Agententätigkeit ausgeschlossen und als freier Schriftsteller isoliert, starb
Eberhard Koebel-tusk 1955 in Berlin (DDR) im Alter von nur 48 Jahren.
dj.1.11 im Jugendwiderstand gegen den Nationalsozialismus
Für den bündischen Jugendwiderstand wurde tusk zu einem Mythos, um den sich
viele Legenden rankten. Eine organisierte Weiterexistenz der dj.1.11 in der Illegalität kam nicht zustande. Jedoch verbreitete sich tusks Jungenschaftsstil sowohl
innerhalb der Hitlerjugend als auch außerhalb bei den „bündischen Umtrieben,
wie die Nazis die Tätigkeit der illegalen bündischen Gruppen nannten. Noch 1936
sah die HJ-Führung in tusk das „Haupt einer großen geistigen Verschwörung“ mit
dem Ziel, „die Organisation der deutschen Jugend, Hitlerjugend und Deutsches
Jungvolk von innen zu zersetzen“.47 Es war jedoch nicht der Kommunismus von
tusk, als vielmehr der phantasievolle dj.1.11-Stil, der als eine attraktive Alternative
zur Hitlerjugend wirkte.
tusk als Hitlergegner
Koebel-tusks politische Bedeutung besteht darin, dass er als einer der bekannten
Jugendführer der freien bürgerlichen Jugendbewegung vor 1933 auf die Gefahr des
46 Geheimbericht Bündische Jugend der Reichsjugendführung vom 01.02.1936, Exemplar Nr. 021,
S. 10 (Abschrift von Paulus Buscher, 1983).
47 Ebd., S. 19.
Linke Strömungen in der freien bürgerlichen Jugendbewegung
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Nationalsozialismus hingewiesen hat und ihm mutig entgegen getreten ist. Dafür
musste er mit KZ-Haft, Schaden an seiner Gesundheit und Emigration bezahlen.
Sein Beispiel zeigt, dass es in der deutschen Jugendbewegung einen bewussten
Widerstand gegen Hitler gab und die gängige Behauptung, sie sei eine Bewegung
gewesen, die den Nationalsozialismus in Deutschland an die Macht gebracht
hat, zu differenzieren ist.48 Koebel-tusks Widerstand verdient eine besondere
Beachtung, da er von einem Jugendführer kam, der aus dem gehobenen schwäbischen Bürgertum stammte, das Hitler unterstützte, und wesentlich durch die
Erfahrung der Jugendbewegung zu seiner politischen Linkswendung veranlasst
wurde.
Die Sozialutopie der Jugendbewegung als
Ausgangspunkt für widerständiges Verhalten
Für den Großteil der Repräsentanten der behandelten linken Strömungen war
die Erfahrung der Jugendbewegung – nicht die Herkunft oder der Einfluss der
etablierten Erziehungsträger – das eigentliche Motiv, politisch aktiv zu werden
und sich im Widerstand zu engagieren. Um dem enormem Druck standzuhalten,
dem der einzelne beim Widerstandsverhalten ausgesetzt war, bedurfte es einer
starken Überzeugung von der Richtigkeit und Notwendigkeit seines Engagements. tusk berief sich auf eine „Verpflichtung“49, die sich aus der Mitgliedschaft
in der Jugendbewegung bzw. der dj.1.11 ergab und von den ehemaligen dj.1.11Mitgliedern verlangte, als Erwachsene an den Jugendträumen festzuhalten und
für eine „gerechte[n] Zukunft50 zu kämpfen. Die „Verpflichtung“, von der hier
gesprochen wurde, bezog sich auf die Grundintention der Jugendbewegung, die
Ernst Bloch als ihre Sozialutopie identifizierte. Die Widerstandsforschung könnte
48 Die Verwandtschaft von Jugendbewegung und Hitlerismus hat Harry Pross in seinen Publikationen betont, vgl. Ders.: Das Gift der blauen Blume. In: Vor und nach Hitler. Zur deutschen
Sozialpathologie. Olten/Freiburg i. Br. 1962. Dass Jugendbewegung und Hitlerismus „Geburten
desselben Schoßes“ seien, behauptete Harry Pross in dem Brief vom 27.11.1964 an den Verfasser
[abgedruckt in: Holler, Eckard (Hrsg.): 100 Jahre Hoher Meißner 1913–2013. H. 7 der Schriftenreihe in Verbindung mit dem Mindener Kreis. Berlin 2013, S. 100] Die bislang unbekannte Mitgliedschaft von bekannten Jugendbewegten in der NSDAP ist Thema von Niemeyer, Christian:
Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Tübingen 2013.
49 Koebel-tusk, Eberhard: Rundbrief an die dj.1.11 zum Eintritt in die KPD am 20.4.1933. In:
Ders.: Werke. Bd. 1: Große Umwege. Edermünde 2004, S. 308.
50 Ebd.
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Eckard Holler
mit der Analyse der jugendbewegten Sozialutopie, die Grundlage und Motivation
für das widerständige Verhalten war, das Verständnis für den Jugendwiderstand
erweitern und neue Einblicke in das Widerstandsverhalten von Männern und
Frauen gewinnen, die aus der Jugendbewegung kamen.