Westfälische Wilhelms-Universität
Historisches Seminar
Prüfungsmodul
Prüfer: Prof. André Krischer und Prof. Matthias Pohlig
Was ist London? Konstruktion und Erfahrung eines
großstädtischen Raumes im 18. Jahrhundert.
Marcus Rosenfeld
Hansaring 7
48155 Münster
Matrikelnummer: 35041
Telefon: 01752071780
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1
2. Theoretische Vorüberlegungen
2.1. Definitionen von Stadt
6
2.2. London im 18. Jahrhundert
12
2.3. Erfahrung von Raum
17
3. (Ab)Bilder der Stadt - Konstruktionen von London in Karten
3.1. Quellenwert von und Umgang mit Karten
21
3.2. Plankarten der Stadt
26
3.3. Linearkarten der Stadt
34
4. Wahrnehmung der Stadt von außen: London in Reiseberichten
4.1. Der Reisebericht als historische Quelle
42
4.2. Uffenbachs merkwürdige Reisen
47
4.3. Pöllnitz' Reisenachrichten
54
4.4. Lichtenbergs Briefe und Tagebücher aus London
61
4.5. Moritz' Reisen eines Deutschen in England
71
5. Wahrnehmung der Stadt von innen: London im Spiegel seiner Bewohner
5.1. Defoe - A tour through the whole island of Great Britain
81
5.2 James Boswells London Journal
92
6. Fazit: Wovon redet man, wenn man von London redet?
99
7. Quellen
105
8. Literatur
107
9. Anhang
116
1. Einleitung
Kaum eine Stadt ist in der Frühen Neuzeit so stetig und so rasant gewachsen wie London.
Noch Anfang des 16. Jahrhunderts lebten circa 125.000 Menschen in dem Gebiet, das damals
wie heute als London bezeichnet wurde, der größte Teil davon in der City of London. Hundert
Jahre später hatte sich die Bevölkerung auf über 200.000 erhöht. Noch einmal hundert Jahre
später, um das Jahr 1700 herum, überschritt die Einwohnerzahl bereits eine halbe Million.1
Von diesen lebte allerdings nur noch ein Bruchteil in der ursprünglichen City of London. Der
Rest hatte sich außerhalb der alten Stadtgrenzen der City angesiedelt. Diese "Londoner"
lebten in der City of Westminster, in Southwark und Lambeth am Südufer der Themse oder in
den nördlichen Trabantensiedlungen Bloomsbury oder Holburn. Trotz dieser Vielzahl an
verschiedenen Siedlungen bzw. kommunalen Gliederungen wurde in der Regel trotzdem von
London als einer Stadt gesprochen. Der Sammelbegriff London überbrückte hier die
begriffliche Disparität und integrierte, zumindest auf dem Papier, die Bewohner der
verschiedenen Citys, Countys und Parishes in ein einziges städtisches Konglomerat.
Dieses Konglomerat war nicht nur begrifflich miteinander verschränkt. Auch räumlich
waren die städtischen Verwaltungseinheiten zu einem nicht zu separierenden Ganzen
verschmolzen, weswegen die gemeinsame Bezeichnung auch hier durchaus ihre Berechtigung
hatte. Das bedeutet allerdings nicht, dass die einzelnen Gliederungen ihre Bedeutung verloren
hätten, oder dass das gesamte städtische Gebiet unter einer zentralen Verwaltung bzw.
Autorität stand. Das genaue Gegenteil trifft den Sachverhalt besser. Es dauerte bis zum Jahr
1889, bis mit dem London County Council eine Instanz geschaffen wurde, die für die
Verwaltung des gesamten Ballungsgebiets verantwortlich war. Erst gegen Ende des 19.
Jahrhunderts wurden also Realitäten anerkannt, die sich bereits sehr viel früher als Problem
erwiesen hatten. London war nämlich schon vorher nicht nur die größte Stadt der britischen
Inseln, sondern lange Zeit auch die größte Stadt Europas gewesen. Hier zeigten sich wie unter
einem Vergrößerungsglas die sozialen, politischen und gesellschaftlichen Spannungen und
Widersprüche der Frühen Neuzeit in England: Der Widerspruch zwischen der
gesellschaftlichen Theorie der Great Chain of Being und der tatsächlichen sozialen Realität,
das Ringen um die Macht in England zwischen der Krone und dem Parlament oder die
Diskrepanz zwischen modernen urbanen Problematiken, wie z.B. wachsender Kriminalität,
Versorgungsproblemen oder Fragen der politischen Partizipation, um nur einige zu nennen.
Im Kontrast zu diesen neuen Fragen standen die mitunter jahrhundertealten
1
Zu den Zahlen und der Bedeutung des Wachstums Londons' vgl.: Boulton, Jeremy, London 1540 - 1700, in:
The Cambridge Urban History of Britain. Volume II, hrsg. v. Peter Clark, Cambridge 2000, S. 315 - 346.
1
Lösungsversuche und Herangehensweisen, die von offizieller Seite benutzt bzw. angewandt
wurden. Im 18. Jahrhundert verfügte London weder über eine einheitliche Verwaltung noch
eine Polizei.2 Die Probleme wurden nach wie vor auf dem Level des Parish bzw. Countys
geregelt. Das führte zu einem kaum zu überblickenden Nebeneinander von Personen,
Institutionen und Organisationsformen, die mit ihrer kaleidoskopischen Vielgestalt sicherlich
nicht erst heutige Historiker vor ein komplexes Problem stellt.3
Angesichts dieses Einstiegsbefundes stellt sich die Frage: Was ist eigentlich London
im 18 Jahrhundert? Oder genauer gesagt: Wovon redet man, wenn man von London redet?
Dabei liegt eine Perspektive zu Grunde, wie sie Robert Darnton schon 1989 formulierte:
"In jeder einzelnen Formulierung drückt sich ein fremdes Bewusstsein aus, das eine Welt
zu ordnen versucht, die nicht mehr existiert. Um in dieses Bewusstsein einzudringen,
müssen wir unser Augenmerk eher auf die Art und Weise der Beschreibung richten als
auf die Gegenstände, die beschrieben werden. Hat unser Autor von hergebrachten
Mustern zur Strukturierung städtischer Topographie Gebrauch gemacht? Wo zog er seine
Linien, um ein Phänomen vom anderen zu trennen? [...] Unsere Aufgabe besteht nicht
darin. herauszufinden, wie Montpellier 1768 tatsächlich ausgesehen hat, sondern zu
verstehen, wie unser Betrachter es betrachtet hat."4
Diese Frage steht im Zentrum des ersten Teils dieser Arbeit. Begibt man sich auf die Suche
nach dem Bild der Stadt London in der zeitgenössischen Literatur zu machen, stößt man auf
widersprüchliche Aussagen. Dem einen galt London als: "the most spacious, populous, rich,
beautiful, renowned and noble city in the country, the seat of the British empire, the Exchange
of Great Britain and Ireland; the Compendium of the Kingdom, the Vitals of the Commonwealth.”5 Dem anderen schauderte es schon beim Gedanken an London: "No nation can
reproach us for want of expence in our public buildings, but all nations may want for our want
of elegance and discernment in the execution."6
London war alles andere als das einheitliche Konstrukt, das sein Name so
selbstverständlich suggeriert. London schien sich schon durch seine schiere Größe den
gängigen Ordnungskategorien zu entziehen und beanspruchte eine Sonderrolle, blieb dabei
aber in seinen Grenzen und seiner genauen Definition erstaunlich kontur- und kontrastarm.
2
Auch wenn die Zeitgenossen selbst London als wohlgeordnet empfunden haben. Vgl. dazu: Shoemaker, Robert
B., Prosecution and Punishment. Petty Crime and the Law in London and Rural Middlesex, c. 1660–1725,
Cambridge 1991, S. 9f.
3
Zu den genauen Angaben vgl.: Schwarz, Leonard, London 1700 - 1840, in: The Cambridge Urban History of
Britain. Volume II, hrsg. v. Peter Clark, Cambridge 2000, S. 641 - 672, hier: S.659ff.
4
Darnton, Robert, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution,
München 1989, S. 127.
5
Hatton, Edward, A New View of London, London, 1708, S. 1.
6
Anonymous, A Critical Review of the Puplic Buildings , Statues and Ornaments in and about London and
Westminster, London 1734, XXX. Um die Identität des Schreibers des Textes gibt es eine Kontroverse. Die
British Librar vermutet den Architekten James Ralph hinter den Text, die National Biography jedoch
widerspricht dem. Zur Kontroverse auch: Baron, Xavier, London 1066 - 1914. Literary Sources & Documents.
Volume I Medival, Tudor, Stuart and Georgian London 1066 - 1800, Mountfield 1997, S. 631.
2
Beginnt man mit der Recherche zu London, steht man scheinbar erst einmal einer
definitorischen Hydra gegenüber. In dieser Arbeit geht es deshalb vor allem um zwei Fragen:
Welche Bilder/Imaginationen der Großstadt London existierten in der Frühen Neuzeit? Wie
lassen sich die verschiedenen Wahrnehmungen der Stadt mit dem Sprachgebrauch, das urbane
Ganze als ‚London‘ zu bezeichnen, vereinbaren? Dazu werden verschiedene Arten von
Quellen untersucht. Im ersten Teil der Arbeit stehen kartografische Quellen aus dem 18.
Jahrhundert im Mittelpunkt. Stadtpläne bzw. Stadtkarten sind bis heute eines der gängigsten
Mittel zur Visualisierung des Raumes und sind aus diesem Grund eine sehr gut geeignete
Quelle zur Analyse des Londonbegriffs der Zeitgenossen. An keiner anderen Stelle findet sich
die Vorstellung des großstädtischen Raumes in so verdichteter und unmittelbar zugänglicher
Art und Weise. Dabei werden zwei verschiedene Arten von Karten berücksichtigt, die den
städtischen Raum in jeweils unterschiedlicher Weise medial transformieren. Zum einen die so
genannten Plankarten der Stadt, deren Darstellungskonventionen den modernen Stadtplänen
sehr ähnlich sind. Sie sind aus einer fiktiven Vogelperspektive gezeichnet und sollen dem
Leser im wörtlichen und übertragenden Sinne einen Überblick über den gesamten
großstädtischen Raum gewähren. Zum anderen werden auch Karten aus der Linearperspektive
mit einbezogen. Bei dieser Art der Karte handelt es sich um eine Sicht auf die Stadt von
einem tatsächlichen oder fiktiven Beobachtungspunkt aus. Diese Art der Karte war eher dazu
gedacht dem Betrachter einen Eindruck vom Anblick der Stadt zu gewähren, als ihn den
gesamten Raum überblicken zu lassen. Der Fokus dieser Karten lag also eher auf einem
veranschaulichenden Aspekt. Das bedeutet, dass der Ausschnitt des dargestellten Raums
deutlich kleiner war und dass die zum Einsatz kommenden Techniken der Darstellung sich
grundsätzlich von den Plankarten unterschieden. Da es sich bei dieser Arbeit um das Bild von
der Großstadt insgesamt drehen soll, wurde auf Abbildungen von einzelnen Gebäuden,
Straßenzügen, Sehenswürdigkeiten oder Alltagsszenen verzichtet. Stattdessen werden diese
beiden am weitesten verbreiteten Arten der Stadtkarte als Quellen berücksichtigt.
Um einen besseren Eindruck zu bekommen, werden zudem schriftliche Quellen
berücksichtigt. Das 18. Jahrhundert bietet eine nahezu unübersehbare Fülle an schriftlichen
Zeugnissen, die sich in der einen oder anderen Form mit der Großstadt London beschäftigen.
Nahezu in jedem literarischen Genre finden sich Texte, die das Thema streifen oder sogar als
Hauptaspekt beinhalten. Für diese Arbeit wurde vor allem auf die Gattung des Reiseberichts
zurückgegriffen, da dieser Quellentyp für das Erkenntnisinteresse besonders geeignet
erscheint. Reisende nehmen den großstädtischen Raum aus der Perspektive eines
Außenstehenden wahr und können so dem Leser einen Blick auf die "realisierte
3
Außenwirkung"7
des
großstädtischen Raums
vermitteln,
die von den Reisenden
wahrgenommen, kommentiert und kommuniziert wird. Vor allem werden hierfür
Reiseberichte von Reisenden aus dem Alten Reich berücksichtigt, da ihre Erfahrung der
Großstadt als besonders eindrücklich gesehen werden darf, da es im Reich keine Stadt gab,
die von ihrer Größe her auch nur annähernd an London heranreichte. Wien, Hamburg und
später Berlin8 sind weder von ihren Einwohnerzahlen, noch von ihrem Wachstum oder ihrer
räumlichen Ausdehnung her mit der Hauptstadt Großbritanniens zu vergleichen, weswegen
die Reisenden die Erfahrung des großstädtischen Raums Londons als eine Besonderheit
empfunden haben dürften. Durch die Einbeziehung von Reiseberichten aus verschiedenen
Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts soll ferner der Blick für Veränderungen und Kontinuitäten
in der Wahrnehmung der Großstadt geschärft werden. Abgerundet wird das Bild durch die
Einbeziehung von schriftlichen Zeugnissen, welche von den Bewohnern der Stadt selbst
geschrieben worden sind. Es ist zu erwarten, dass deren Art der Beschreibung von denen der
Reisenden abweicht und der Fokus dieser Texte auf anderen Begebenheiten liegt. Nachdem
also anhand der Karten und der Reiseberichte ein Grundstein der Wahrnehmungsanalyse
gelegt wurde, sollen die Schriften der Einwohner diesen unterstützend akzentuieren und die
Besonderheiten in der Wahrnehmung der Stadt London weiter herausstellen. Neben der
Wahrnehmung der Stadt durch die Reisenden und ihre Einwohner soll allerdings ebenfalls im
Blick behalten werden, wie diese das Bild der Großstadt für sich selbst konstruieren und
dieses Konstrukt dann kommunizieren.
Um diese Frage sinnvoll zu beantworten, soll in einem ersten Schritt versucht werden,
den Begriff der Stadt von zwei historischen Seiten einzufassen. Zum einen wird in aller Kürze
das Stadtbild des Mittelalters herausgearbeitet, um zu zeigen, von welchem Ausgangszustand
auch bei London auszugehen ist. Im Kontrast dazu wird das Bild der modernen Groß- oder
Weltstadt skizziert. Eingerahmt durch diese zwei temporalen Pole soll die spezifische
Eigenheit der Großstadt des 18. Jahrhunderts sichtbar werden, ohne sie zu archaisieren oder
als reine Transition zur modernen Großstadt misszuverstehen. Die Besonderheit der
frühneuzeitlichen Stadt als eigenständiges Untersuchungsgebiet wird demzufolge erst am
Ende des Kapitels vorgenommen werden. Ferner werden zur Analyse der Raumwahrnehmung
und Raumkonstruktion in einem eigenen Kapitel die Grundlagen der modernen
Raumforschung rezipiert, um die später benutzten analytischen Werkzeuge und Begriffe
7
Löw, Martina, Von der Substanz zur Relation. Soziologische Reflexionen zu Raum, in: Der Raum der Stadt.
Raumtheorien zwischen Architektur, Soziologie, Kunst und Philosophie in Japan und im Westen, hrsg. v. Jürgen
Krusche, Marburg 2008, S.39.
8
Zur Größe der deutschen bzw. europäischen Städte im Vergleich: Schilling, Heinz, Die Stadt in der Frühen
Neuzeit, München 2004, S. 5; Speziell für das Alte Reich: Ebd. S. 11.
4
aufzuzeigen
und
zu
definieren,
welches
Verständnis
der
Begriffe
und
welche
Analysemethoden Verwendung finden werden. Diese Herstellung von Methodenkompetenz
ist wichtig, um den Grundstein für eine valide Quellenkritik und Quellenanalyse vornehmen
zu können. Abschließend werden die gewonnenen Ergebnisse aus den verschiedenen
Teiluntersuchungen in einem Fazit zusammengeführt, um ein sich hieraus ergebendes Bild zu
beschreiben, dass dann in einen größeren Kontext eingeordnet werden soll.
5
2. Was ist London? Wahrnehmung, Gliederung und Vorstellungen des städtischen Raums
2.1. Definitionen von Stadt
In diesem Kapitel wird das begriffliche Instrumentarium behandelt, das im weiteren Verlauf
der Arbeit die Grundlage für die Analyse bilden wird. Bevor aber die frühneuzeitliche
Terminologie Gegenstand der Untersuchung sein kann, muss zunächst einmal darüber
reflektiert werden, was der Begriff "Stadt" im Mittelalter bedeutete. Erst wenn man diesen
Ausgangspunkt klar ausgelegt hat, kann man sich den divergierenden Definitionen der
Gegenwart und des 18. Jahrhunderts annähern und die Unterschiede im zeitlichen Kontrast
herausarbeiten, denn der Begriff der Stadt hat im Laufe der Zeit in unterschiedlichen
Kontexten mannigfaltige Bedeutungen inne gehabt. Der Rekurs auf mittelalterliche und
moderne Definitionen ist darum ein essentielles Mittel, die zeitliche Verschiebung und den
damit einhergehenden Bedeutungswandel aus moderner Perspektive nachvollziehen zu
können.
Ein Blick in die Forschungsliteratur zur mittelalterlichen Stadt macht auf den ersten
Blick vor allem eines deutlich, nämlich, dass keine Eindeutigkeit darin besteht, was unter dem
Begriff Stadt genau zu fassen bzw. zu verstehen ist. Je nach Blickwinkel und Fragestellung
werden unterschiedliche Begriffe verwandt, da die zeitgenössische Auffassung – ‚Stadt ist,
wer Stadtrecht besitzt‘– für den modernen Historiker an vielen Stellen unzureichend und nicht
zielgerichtet genug ist. Die heute gebräuchlichste Definition stammt von Franz Irsigler. Er
definiert Stadt als "eine vom Dorf und nichtagrarischen Einzwecksiedlungen unterschiedene
Siedlung relativer Größe mit verdichteter, gegliederter Bebauung, beruflich spezialisierter und
sozial geschichteter Bevölkerung und zentralen Funktionen (politisch-herrschaftlichmilitärisch, wirtschaftlich, kultisch-kulturell) für eine bestimmte Region oder regionale
Bevölkerung."9 Diese Definition ist so zutreffend wie allgemein und weitläufig gehalten.
Ohne weiteres könnte man damit auch die Stadt der Frühen Neuzeit oder des 19. Jahrhunderts
beschreiben. Es ist also kein Wunder, dass in der Forschung immer wieder zwischen
verschiedenen Typen der Stadt unterschieden wird. Man spricht von Reichsstädten, freien
Städten, Landstädten etc.. Gleichzeitig wurde manche Ortschaft, die nach heutigen Maßstäben
höchstens als Dorf einzustufen wäre, auch als Stadt bezeichnet. Trotz der vielen
konkurrierenden speziellen und der sehr weitgefassten allgemeinen Definitionen gibt es ein
geteiltes Set an Merkmalen, die die mittelalterliche Stadt als solche auszeichnen. Es gab
9
Ursprünglich findet sich die Definition bei Irsigler, Franz, Die Stadt des Mittelalters: Entstehung, Struktur,
Leistung, in: Meyers Illustrierte Weltgeschichte, Bd. 11: Der Aufstieg der Städte (11.-12. Jh.),
Mannheim/Wien/Zürich 1980, S. 152-157. Zuletzt aufgegriffen von ihm selbst wurde sie hier: Irsigler, Franz,
Was machte eine mittelalterliche Siedlung zur Stadt?, in: Universitätsreden des Saarlandes 51 (2003), S. 17 - 44.
6
sicherlich nur wenige Städte, die alle der folgenden Kriterien zu jeder Zeit voll erfüllten.
Vielmehr ist davon auszugehen, dass Mischungen, Abstufungen und Teilerfüllungen der
Kriterien bei einer wortgetreuen Auslegung in der Analyse den Regelfall darstellen. Die
folgenden Punkte sind also nach Max Weber als Idealtyp zu verstehen, in dem "bestimmte
Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen
Kosmos gedachter Zusammenhänge"10 aneinandergefügt werden. Der Idealtypus soll
ermöglichen, eine bewusste Idealisierung und Überzeichnung einer mittelalterlichen Stadt zu
beschreiben, die so in der Realität nicht existiert hat, aber in ihren scharfen, klaren Konturen
hilft, die spezifische Gestalt des untersuchten Gegenstands zu erfassen. Gleichzeitig versteht
sich die Aufzählung von zentralen, idealtypischen Merkmalen der Stadt auch als eine Art
Kriterienkatalog. Diese Methode fand zum ersten Mal in den 80er Jahren größere Verbreitung
in der Forschung, wird aber heute nach wie vor benutzt, wie Hirschmann gezeigt hat.11
Als besondere Kennzeichen einer europäischen Stadt des Mittelalters können mehrere
Punkte festgehalten werden. Eines dieser Merkmale sind ein besonderes Recht bzw. spezielle
Vorrechte, die die Stadt gegenüber ländlichen Ansiedlungen genießt. Innerhalb eines klar
definierten Bereichs galt in vielen Teilen Europas im Mittelalter ein gesondertes Recht.
Räumlich sichtbares Zeichen dieser Trennung war häufig die städtische Ummauerung. Die
Stadtmauer als weithin sichtbares Zeichen städtischer Souveränität war zwar bei weitem nicht
das typische Zeichen zu dem es häufig gemacht wird.1213 Intern konnte dieser Rechtsraum des
Weiteren durchaus noch weiter differenziert sein, wie das Beispiel der kirchlichen bzw.
bischöflichen Sonderrechte in vielen Reichsstädten zeigt.14 Was weiterhin die interne
Gliederung der Stadt dieser Zeit betrifft, so spielten die spezifischen städtischen
Kooperationen eine tragende Rolle. Städtischer Rat, Gilden, Zünfte etc. waren für die
städtische Gesellschaft von hoher Bedeutung und prägten das Leben in der mittelalterlichen
Stadt.15 Als letzten Punkt können die multiplen Funktionen erwähnt werden, die die Stadt in
ihrer jeweiligen Region erfüllt hat. Städte waren häufig ein Ort, an dem sich wirtschaftliche
Macht konzentrierte. Am auffälligsten zeigte sich dies an dem Markt, dem räumlich10
Weber, Max, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre, Tübiungen 1968, S. 190f.
11
Hirschmann, Frank G., Die Stadt im Mittelalter, München 2009, S. 68f.
12
Die städtische Befestigung ist trotzdem weiterhin die räumliche Grundlage bzw. der Startpunkt einer
Erkundung der Einheit einer Stadt. Vgl.: Jöchner, Cornelia, Einführung, in: Räume der Stadt. Von der Antike bis
heute, hrsg. v. Cornelia Jöchner, Berlin 2008, S. 9 - 23, hier S. 14. Generell zur städtischen Befestigung:
Mintzker, Yair, The Defortification of the German City, 1689-1866, Cambridge 2012.
13
Vgl. dazu: Isenmann, Eberhard, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter: 1250 - 1500; Stadtgesellschaft, Recht,
Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 20f.
14
Vgl dazu exemplarisch: Schmieder, Felicitas, Die mittelalterliche Stadt, Darmstadt 2012, S. 73 - 80.
15
Ebd. S. 101ff.
7
regionalen Zentrum des Handels und Gewerbes sowie eine der zentralen Institutionen der
städtischen Gesellschaft. Der Markt bzw. das physische Vorhandensein eines Marktes ist für
viele Forscher so wichtig, dass es zum Teil der Definition von Stadt geworden ist. Max Weber
beispielsweise führt den Markt als zweiten von fünf Eckpunkten der idealtypischen
okzidentalen Stadt an.16 Neben dem ökonomischen war eine Stadt aber auch häufig das
rechtspflegerische, administrative sowie demographische Zentrum einer Region. An den
Begriff der Stadt ist immer auch eine gewisse Größe geknüpft, die die Stadt rein zahlenmäßig
von dem Dorf oder ähnlichen Figurationen scheidet.
In der Moderne sieht das Bild etwas anders aus. Das Stadtbild hat sich im Vergleich
zum Mittelalter geändert, auch wenn die Grundzüge noch immer gleich klingen. Der Duden
definiert beispielsweise eine Stadt schlicht als "größere, dicht geschlossene Siedlung, die mit
bestimmten Rechten ausgestattet ist und den verwaltungsmäßigen, wirtschaftlichen und
kulturellen Mittelpunkt eines Gebietes darstellt" oder alternativ als eine "große Ansammlung
von Häusern [und öffentlichen Gebäuden], in der viele Menschen in einer Verwaltungseinheit
leben".17 In Abgrenzung dazu wird ein Dorf als "ländliche Ortschaft, kleinere Siedlung mit oft
bäuerlichem Charakter" definiert.18 Diese Definitionen bilden also dem Duden nach den
gängigen Konsens darüber ab, was eine Stadt heute ausmacht. Naturgemäß sind diese
Definitionen recht kurz und so allgemein wie nur eben möglich gehalten. Die Stadt wird hier
einfach als geografische Siedlungseinheit mit bestimmten Charakteristika gedacht und ist
gegenüber dem Dorf in Größe, Rechten und Charakter unterschieden. Es ist vor allem in dem
letzten Attribut bereits angelegt, dass eine Stadt auch durch die menschliche Wahrnehmung
zu ihrem Status gelangen kann, denn wenn das Dorf vor allem durch einen bäuerlichen
Charakter definiert ist und die Stadt das kulturelle Zentrum einer Region darstellt, dann
bedeutet das gleichzeitig, dass die Stadt ebenfalls einen bestimmten Charakter haben muss,
um nicht nur ein großes Dorf zu sein. Bis zu diesem Punkt gehen diese Alltagsdefinition der
Gegenwart und die Definition von Irsigler noch nicht weit auseinander. In der oben zitierten
Duden-Definition spielt auch die Größe des geschlossenen Siedlungsgebiets eine
entscheidende Rolle. Ob man es nun mit einer Stadt, einer Großstadt oder einem Dorf zu tun
hat, hängt auch davon ab, wie viele Menschen dort leben. Dieser Punkt lässt sich für die
Gegenwart relativ leicht lösen. Eine Stadt in der Gegenwart ist nicht nur eine gefühlte,
16
Weber hat seinen einflussreichen Stadtbegriff nicht mehr zu Lebzeiten veröffentlichen können. Er erschien
erst posthum. Die anderen Punkte seiner Stadtdefinition umfassen die Befestigung, eigenes Recht,
Verbandscharakter und eigenes Gericht bzw. teilweise eigenes Recht. Vgl. dazu: Weber, Max, Wirtschaft und
Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 2. Halbband ,Tübingen 1976, S. 35 ff
17
Vgl.: http://www.duden.de/rechtschreibung/Stadt#Bedeutung1a (Letzter Aufruf 26.08.2013)
18
Vgl.: http://www.duden.de/rechtschreibung/Dorf#Bedeutung1 (Letzter Aufruf 26.08.2013)
8
sondern auch eine verwaltungstechnische und rechtliche Größe. Es gibt genaue Grenzen,
innerhalb derer sich die Stadt als juristisches Gebilde abspielt, und wer innerhalb dieser
Grenzen lebt, der zählt zu den Einwohnern der Stadt. Im weiteren Umkreis der Stadt befinden
sich dann selbstverständlich noch dependente Siedlungen bzw. Vororte, die mit der Stadt in
engem Zusammenhang stehen, aber definitorisch eigenständige Gebilde des kommunalen
Rechts sind. Sollte eine Stadt zu schnell wachsen, so dass sie ihre Grenzen überschreitet, dann
ist es in der Gegenwart auch möglich, eine Eingemeindung vorzunehmen und eine
überflüssige Rechtsgröße fallen zu lassen. Eine Stadt bleibt somit eine leicht zu definierende,
eindeutige juristische Größe. Sie lässt sich schnell und klar erfassen, zumindest was ihren
rechtlichen Stand angeht.
Die Abgrenzung des modernen zum mittelalterlichen Bild ist an dieser Stelle aus
mehreren Gründen nicht zielführend. Der offensichtlichste Grund dafür ist, dass man bei
einem solchen Vorgehen die Entwicklungen der Frühen Neuzeit künstlich aus dem Auge
lassen würde und damit auch sämtliche Wandlungen, die die städtischen Institutionen in
dieser Zeit unterlaufen haben. Friedrich Lenger fasst die Grenzen des Vergleichs gut
zusammen, wenn er schreibt:
"[...] kann man sich doch über die Stadt im Mittelalter sehr viel leichter und umfassender
informieren als über die Stadt im 20. Jahrhundert. Der Anteil der in Städten lebenden
Bevölkerung und die Intensität ihrer Erforschung scheinen sich umgekehrt proportional
zueinander zu verhalten. Der Hauptgrund für diese paradoxe Situation dürfte darin
bestehen, dass die Stadt in der Vormoderne baulich, rechtlich, sozial und politisch sehr
viel deutlicher vom Land unterschieden war, als das für das 19. oder das 20. Jahrhundert
der Fall ist. Der Bedeutungsgewinn der Stadt ging offenbar mit dem Verblassen klarer
Konturen einher."19
Diesem Befund kann man für den allgemeinen Begriff Stadt durchaus zustimmen. Allerdings
muss man den Blick nicht synchron auf die gleichen Begriffe, sondern asynchron auf urbane
Gebilde mit ähnlicher Bedeutung lenken.
Geht man also definitorisch eine Stufe höher, so wird das Besondere des modernen
Stadtbegriffs deutlich, der vor allem mit Blick auf die Großstädte und Metropolen der
Gegenwart entwickelt wurde. Als Beispiel soll hier die Definition des Begriffes "Weltstadt"
dienen, da hier der besondere Zuschnitt deutlich wird. Diese ist eine "Großstadt, besonders
Millionenstadt, mit internationalem Flair"20 Der extrem unscharfe Begriff "Flair" wird hier
benutzt, da eine rein technische Unterscheidung zwischen Millionenstädten wie Berlin, Wien,
New York, Kopenhagen oder Tokyo ab einem bestimmten Punkt nur noch schwer zu leisten
19
Lenger, Friedrich, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S.
11.
20
http://www.duden.de/rechtschreibung/Weltstadt (Letzter Aufruf 26.08.2013)
9
ist. Infrastrukturell, regional und vielleicht sogar national nehmen die Städte vergleichbare
Positionen und Funktionen wahr, aber trotzdem gibt es eine gewisse Scheu davor, Städte wie
London und Marseille auf eine Stufe zu stellen. Auf einer hohen abstrakten Ebene kommt
man an diesem Punkt allerdings nicht weiter. Der vage Begriff des "Flair" hilft hier nur
bedingt und ist definitorisch zu unscharf, um als analytisches Instrument benutzt werden zu
können. Der alltägliche Sprachgebrauch reicht nicht mehr aus, um die Feinheiten der
Unterscheidung in der menschlichen Wahrnehmung klar beschreiben zu können.
Die wissenschaftliche Stadtforschung kann an diesem Punkt weiterhelfen, in dem sie
ein Instrumentarium zur Beschreibung und Analyse der (modernen) Stadt liefert. Die
Soziologin Martina Löw hat versucht, den Begriff der Atmosphäre einer Stadt damit zu
umschreiben, dass Atmosphäre die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung von
Menschen und sozialen Gütern in ihrer räumlichen (An-)Ordnung sei.21 Die Atmosphäre einer
Stadt wäre also in dieser Deutung die menschliche Wahrnehmung von komplexen
Arrangements im städtischen Raum. Das eine Arrangement würde demnach eher als ländlich,
das andere als groß- oder weltstädtisch wahrgenommen. Sie spielt eine wichtige Rolle in der
Ausgestaltung der spezifischen Identität einer Stadt in Abgrenzung zu anderen Städten. Das
Selbstbild einer Stadt ist in hohem Maße ein Mittel der Identitätsstiftung nach innen durch
eine Abgrenzung nach außen. Martina Löw spricht hier vom "Image" der Stadt.22 Viele
Forscher sind auch bereit einzugestehen, dass es neben dem definitorischen Dreischritt DorfStadt-Großstadt noch eine weitere Kategorie gibt, eine Art Ausnahmekategorie in der sich
viele Städte wiederfinden, die in ihrem jeweiligen Kontext herausstechen und Ihresgleichen
wohl eher international als national zu suchen haben. Diese Annahme geht davon aus, dass
die Atmosphäre einer Stadt wie London eher mit Paris, New York oder Tokyo zu vergleichen
ist, als mit Birmingham, York oder Manchester. Diese Modelle nennen sich beispielsweise
"Global City" und richten sich explizit an die wenigen Metropolen von Weltrang. 23 Dabei
wendet sich das in der Folge skizierte Modell der Global City explizit gegen das ältere Modell
der "Weltstadt", dem es einen weniger modernen Zuschnitt als vielmehr einen allgemeinen
Charakter zuspricht.24 Es wird hier davon ausgegangen, dass diese modernen Metropolen
vergleichbare räumliche und mentale Strukturen bzw. Arrangements herausbilden, die dazu
berechtigen, diese Städte in einen engeren Kontext zueinander als zu ihren nationalen
21
Vgl. Löw, Martina, Relation, S.39.
Löw, Martina, Soziologie der Städte, Frankfurt am Main 2008, S. 14ff.
23
Eine erste Einführung in die Konzepte findet sich bei: Löw, Martina, Steets, Silke, Stoetzer, Sergej,
Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Köln / Weimar / Wien 2008., S. 112ff.
24
Vgl. dazu: Sassen, Saskia, Global City. Einführung in ein Konzept und seine Geschichte, in: Peripherie 81/82
(2001), S. 10 - 31, hier: S. 11.
22
10
Bezugsstädten setzen. Eine Global City ist durch verschiedene Eigenschaften gekennzeichnet,
die allerdings erneut nach Weber als Idealtypus verstanden werden sollten, um das analytische
Erkenntnispotenzial nicht durch Einzelfallabweichungen unter-zu-bewerten.25 Grob definiert
sind Global Citys in einer globalisierten Welt Verdichtungs- und Knotenpunkte eines
transnational-urbanen Netzwerkes. Sie fungieren als Sitz von internationalen Konzernen,
Regierungen und als Zentren für Finanz- und Handelswesen. Sie sind in ihrem jeweiligen
nationalen Kontext herausragend und Orte für Innovation, Kreativität und generelle
gesellschaftliche Entwicklung. Die moderne Global City ist ferner Ort eines bestimmten
Urbanitätsgefühls, etwas, das im Duden als Flair und von Stadtsoziologen wie Löw als
Atmosphäre beschrieben wird.26 Auch die Größe der Stadt spielt natürlich eine Rolle. Global
Citys sind Städte von "unerhört großer Bevölkerung"27, aber im Zeitalter des stetigen
Bevölkerungswachstums der Erde und der fortlaufenden Tendenz zur Urbanisierung ist die
Einwohnerzahl alleine kein ausreichendes Kriterium mehr. Der alte Forschungsbegriff der
"Millionenstädte"28 wurde genau aus diesem Grund abgelegt. Der spezifische Stadtbegriff der
Moderne zielt also vor allem auf die Multifunktionalität der Städte ab, die in einem
weltweiten Netzwerk verbunden sind und in verschiedenen Teilen der Erde ähnliche
Funktionen übernehmen.
Für die Frühe Neuzeit hingegen gelten die zuvor herausgearbeiteten Maßgaben nicht
zwingend. Forscher wie Isenmann gehen zwar davon aus, dass es im Großen und Ganzen
einen alteuropäischen Stadttypus gibt, der sich im hohen Mittelalter ausdefinierte und erst mit
den Umwälzungen der Industrialisierung abgelöst wurde.29 Jedoch muss auch Isenmann
eingestehen, dass die Stadt in der Frühen Neuzeit eine Vielzahl von Änderungen im Vergleich
zum Mittelalter durchlaufen hat. Er selbst zählt sie auf, wenn er schreibt: "[...] Ergänzungen
durch weitere Spezies von Städten (Residenz-, Festungs-, Exulantenstädte), Stagnations-,
Niedergangs- oder aber Übergangserscheinungen, Autonomieverluste[] oder Verflechtungen
25
Das Feld der modernen Großstadtforschung ist ein enorm produktives Feld, in dem verschiedene inhaltliche
Ausrichtungen und Begriffbildungen miteinander konkurrieren. Für den hier angepeilten Zweck einer
Arbeitsdefiniton der modernen Großstadt als Kontrast zu ihrem frühneuzeitlichen Pendant wurde auf eine breite
Rezeption des Forschungsgebiets verzichtet. Stattdessen fußen die folgenden Ausführungen auf den anerkannten
Grundlagenwerken von Sassen, Global City; Sassen, Saskia, The Global City. New York, London, Tokyo,
Princeton / London 2001; und Überblickswerken wie: Reif, Heinz, Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden,
in: CMS Working Paper Series 1 (2006), S. -21. Zur konkurierenden Begriffsbildungen und den Abgrenzungen
der
Begriffe
voneinander
vgl.:
Smith,
Richard
G.,
Critical
Urbanism
Now,
in:
http://www.medellin.unal.edu.co/~esplanurb/images/eventos/Richard_Smith.pdf (Letzter Aufruf: 15.02.2014).
26
Zum Gefühl der Urbanität: Clark, David, Urban World / Global City, London / New York 1996, besonders: S.
100 - 136.
27
Reif, Metropolen, S. 4.
28
Sassen, Global City, S. 11ff.
29
Vgl. dazu: Isenmann, Stadt im Spätmittelalter, S. 12.
11
in die Territorialwirtschaft [...]".30 Die Stadt in der Frühen Neuzeit zeichnet sich also vor
allem durch eine funktionale Differenzierung aus. Auch Heinz Schilling stellt diese Tendenz
als grundlegenden Unterschied der frühneuzeitlichen zur mittelalterlichen Stadt dar. In seiner
Wahrnehmung sind es vor allem die "Differenzierung und Funktionalisierung"31, die zu den
"tiefgreifende[n] strukturelle[n] Veränderungen innerhalb des Städtesystems"32 geführt haben.
Zwar sind die Kontinuitäten zur mittelalterlichen Stadt klar ersichtlich, aber die Spezifika der
Stadt in der Frühen Neuzeit dürfen dabei nicht übersehen werden. Schon Jan de Vries schrieb
1984 zum Unterschied der frühneuzeitlichen Stadt zu ihren Vorläufern und Nachfolgern: "The
post-medieval, pre-industrial city was clearly no longer a 'non-feudal island in a feudal sea'.
Nor was it the center of technological change, social modernization and proletarization that
the nineteenth-century city is taken to be."33 Wollte man in der Frühen Neuzeit eine Stadt
ausmachen, so boten nach wie vor die Fortifikation zum einen und das Recht zum anderen
einen guten Anhaltspunkt. Das Eine begrenzte den städtischen Raum ganz offensichtlich nach
außen und bildete den weithin sichtbaren Rahmen der städtischen Einheit, das Andere bildete
die Grundlage der ggf. vorhandenen Sonderstellung der Stadt im Rechtssystem und damit
auch ihre Unterscheidbarkeit von "Dörfern" oder anderen menschlichen Siedlungsformen.
Wenn man die modernen Definitionen von Stadt und Weltstadt als Arbeitsgrundlage nimmt,
dann muss die offensichtliche und sicherlich eine der bedeutendsten Anpassungen das
Verständnis von Verwaltung betreffen. Wenn der moderne Leser mit dem Begriff ‚Stadt‘ in
Kontakt kommt, so hat er sicherlich das unausgesprochene Bild einer kommunal
organisierten, modernen Stadt mit all ihren Organisationen und Institutionen im Blick. An
diesem Punkt unterscheidet sich die Stadt der Frühneuzeit allerdings fundamental von ihren
modernen Gegenparts. Eine tiefgreifende, nationalstaatliche Verwaltung, wie sie dem
westlichen Europäer heute so natürlich vorkommt, war in dem angesprochenen Zeitraum nur
in Ansätzen vorhanden. Je nach Stadt und Region konnten die Rechte und die Organisation
der städtischen Gebilde massiv voneinander abweichen.
2.2. London im 18. Jahrhundert
Spricht man von London im 18. Jahrhundert, so muss man festhalten, dass die im
letzten Kapitel präsentierten Überlegungen zu kurz greifen. Mit diesen Herangehensweisen
30
Ebd.
Schilling, Stadt, S. 20.
32
Ebd.
33
Vries, Jan de, European Urbanization 1500 - 1800, London 1984, S. 8.; Der Gedanke findet sich in jüngster
Zeit auch bei: Blondé, Bruno, Damme, Ilja van, Early Modern Europe. 1500 - 1800, in: The Oxford Handbook
of Cities in World History, hrsg. v. Peter Clark, Oxford 2013, S. 240 - 257, hier: S. 241.
31
12
kann man sich der historischen City of London nähern, die in sich eine administrative und
räumliche Einheit darstellt, wie sie gerade beschrieben wurde. Das Phänomen London lässt
sich damit allerdings nicht hinreichend beschreiben, da "London" aus mehr als der City of
London bestand. Die Großstadt London, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit im Fokus
stehen wird, entzieht sich den gängigen definitorischen Zugriffen. Um der Besonderheit
Londons gerecht zu werden, muss bei der Bezeichnung Londons als Großstadt stets der
Widerspruch zwischen der administrativen Zersplitterung und der räumlichen Verzahnung der
Großstadt London mitgedacht werden.34
Diese besteht aus einem historisch gewachsenen Geflecht sich überlappender
juristischer und administrativer Gliederungen, die sich mit dem Begriff der Stadt nur
unzureichend abbilden lassen. London an sich ist nicht die Bezeichnung einer einzelnen Stadt,
sondern eher ein Sammelbegriff unter dem man - je nach Betrachtungsgegenstand - eine
ganze Menge verschiedener Dinge fassen kann. Am simpelsten drückt sich dieser Gegensatz
sicherlich in der Dichotomie zwischen City und Rest der Region aus. 35 Bei dieser einfachen
Unterscheidung legt man besonderen Wert auf die historische Besonderheit der City mit ihren
Vorrechten und ihrem historisch gewachsenen Kern im Gegensatz zu den weniger
privilegierten und jüngeren Teilen der Großstadt. In dieser Ansicht nimmt die Kontinuität der
City of London in ihren räumlichen und juristischen Grenzen einen Sonderraum ein, der
sicherlich bis zu einem bestimmten Punkt gerechtfertigt ist. Immerhin stellt die City
tatsächlich den Nukleus des Londoner Stadtgebiets dar. Jahrhundertelang beherbergte die City
auch das Gros der Einwohner der Stadt. Noch um 1300 waren es knapp 80 - 90%. Dieser
Wert sank jedoch bis 1700 auf 33 % und verlor noch einmal mehr als die Hälfte bis zum Ende
des Jahrhunderts.36 Die Bedeutung der City als Siedlungszentrum schrumpfte im Laufe der
Frühen Neuzeit also zusammen.
Ganz ähnlich verhielt es sich mit der politischen Bedeutung der City of London. Noch
im Mittelalter war die Unterstützung der City für nahezu alle Könige oder Prätendenten von
34
Eine Uneinigkeit der administrativen, räumlichen, politischen und juristischen Kategorien in der Definition
oder Wahrnehmung der Stadt hat in der Stadtsoziologie durchaus einen Niederschlag gefunden. Vgl.
exemplarisch: Löw, Martina, Von der Substanz zur Relation, S. 35.
35
Vgl. dazu exemplarisch: Wareing - The Jaggers Approach to Early Modern London, in: Journal of Urban
History 29 (2003), S. 736 - 749, hier: S. 737)
36
Zu den Einwohnerzahlen und dem Verhältnis zwischen der City und dem Rest der Region vgl.: Keene, Derek,
Growth, Modernisation and Control: The Transformation of London's Landscape, c1500 - c1750, in: Two
Capitals. London and Dublin 100 - 1840, hrsg. v. Peter Clark & Raymond Gillespie, Oxford 2001, S. 7 - 38, hier
S. 8.
13
essentieller Bedeutung.37 Die Zustimmung oder Ablehnung der City war oft das Zünglein an
der Waage und entschied über das Gelingen oder das Scheitern eines Aufstandes oder sogar
über die Krönung eines Monarchen. Selbst in elisabethanischer Zeit und im englischen
Bürgerkrieg spielte die City of London bzw. ihre Amts- und Würdenträger eine entscheidende
Rolle.38 Man kann nur mutmaßen, ob die Geschichte eine andere Wendung genommen hätte,
wenn der damalige Sheriff von London Lord Essex 1601 nicht hätte festnehmen lassen oder
wenn sich die Stadt im Bürgerkrieg auf die Seite von Karl I. geschlagen hätte. Allerdings
schwand diese Bedeutung. 1630 schon hatte die City das Angebot der Krone, die
administrative Oberhoheit über die Region zu übernehmen, abgelehnt, und eher auf seinen
informellen Einfluss in den Vororten gesetzt.39 Mit dem Aufstieg der Vororte im Laufe des
18. Jahrhunderts und der Stabilisierung der monarchischen Regierung nach dem Ende des
Bürgerkriegs verlor die City weiter an Bedeutung. Es ist also unter Umständen etwas zu kurz
gegriffen, die City einseitig so hervorzuheben.
Forscher wie Derek Keene gehen beispielsweise von einer Aufteilung in drei große
Pole der Stadt aus. Neben der City of London als kommerzielles und historisches Zentrum
wird der City of Westminster ein ebenso starkes Gewicht ab dem 18. Jahrhundert
zugemessen.40 Westminster kann als Sitz der monarchischen Regierung und der High Society
mit einiger Berechtigung ein solcher Status zugesprochen werden. Neben diesen beiden Polen
wird der Rest der Stadt naturgemäß relativ klein in seiner Bedeutung und nur summarisch
erfasst. Diese Aufteilung Londons in Pole und Peripherie deutet auf das Kernproblem der
Historiografie Londons hin. Nimmt man zum Beispiel die Bedeutung vom Königshof in
Westminster für die Stadtgeschichte Londons, so kommt man schnell zu einem Grundproblem
der Stadtgeschichtsschreibung Londons. Es ist notorisch unklar, wo die Geschichte der Stadt
aufhört und die Geschichte Englands beginnt.41 Der besonderen Rolle Londons innerhalb
Englands ist es zu verdanken, dass nahezu jedes größere nationale Ereignis sich ebenfalls in
37
Zu Londons Rolle in diversen Konflikten im Mittelalter und besonders seiner Rolle im Rosenkrieg vgl.:
Buchholz, Robert O., Ward, Joseph P., London. A Social and Cultural History, 1550 - 1750, Cambridge 2012, S.
18 - 21.
38
Vgl. ebd. S. 284f.; Boulton, London, 341.
39
Vgl. zur Ablehnung der Administration auch: Clark, Peter, The Multi-Centred Metropolis: The Spatial and
Cultural Landscapes of London, 1660 - 1840, in: Two Capitals. London and Dublin 100 - 1840, hrsg. v. Peter
Clark & Raymond Gillespie, Oxford 2001, S. 239 - 263, hier: S. 252. Zum informellen Einfluss der Krone:
Archer, Ian W., Government in early modern London. The Challenge of the Suburbs, in: Gillespie, Two
Capitals, S. 133 - 147.
40
Beispielsweise: Keene, Growth, S. 8.
41
Vgl zu diesem Problem auch: Krischer, André, Politische Kommunikation und Öffentlichkeit in London. Zur
Entwicklung einer Großstadt im 17. Jahrhundert aus mediengeschichtlicher Perspektive, in: Die Stadt als
Kommunikationsraum. Reden, Schreiben und Schauen in Großstädten des Mittelalters und der Neuzeit, hrsg. v.
Irmgard Ch. Becker (Stadt in der Geschichte 36), Ostfildern 2011, S. 55-87, hier: S. 62ff.
14
London niederschlug. Umgekehrt galt dies auch. Der Königshof verdeutlicht dieses Dilemma
sicherlich am passendsten. Von ihrer Natur her sind Ereignisse bei Hofe sicherlich eher Teil
der nationalen Geschichte. Allerdings ist der Hof so nahe an London und später mitten im
Stadtgebiet von London gelegen, dass es nur wenige Entscheidungen des Hofes gab, die sich
nicht unmittelbar auf London niedergeschlagen haben, sieht man einmal von der
Bürgerkriegszeit und dem Exil des Hofes in Oxford ab. Umgekehrt haben wichtige Ereignisse
im (restlichen) Stadtgebiet Londons unmittelbar die Aufmerksamkeit des Hofes erlangt und
nicht selten sein Eingreifen verlangt. Auch beim Blick in die Historiografie Londons stolpert
man immer wieder über dieses Problem. Sobald die politische Geschichte Londons behandelt
wird, lässt es sich nicht vermeiden, sich mit der politischen Geschichte Gesamtenglands zu
befassen. Dies mag in bestimmter Hinsicht für die Geschichte jeder Hauptstadt gelten, aber im
Falle Londons ist diese Tendenz besonders stark ausgeprägt. Man wird also von Anfang an
konstatieren müssen, dass eine klassische Stadtgeschichtsschreibung – wie man sie für die
Städte im Reich verfasst hat – für London nicht zu verwirklichen sein wird und man würde
durch eine perspektivische Engführung auch der Stadt und ihrer Bedeutung wohl kaum
gerecht werden können.
Das bedeutet auch, dass London ein absolutes Ausnahmeprodukt für seine Zeit ist und
sich damit schwer in die gängigen Definitionen einer frühneuzeitlichen Stadt einfügen lässt.
Als definitorische Stütze kann man versuchen, sich über den bereits zuvor erwähnten Begriff
der World oder Global City anzunähern. "Der Begriff Global City geht in qualitativfunktionaler Hinsicht über die Begriffe Weltstadt, Metropole und Megastadt hinaus und
beschreibt v.a. die Funktion der Kontrolle über Produktion und Märkte innerhalb eines Netzes
von Städten und hierarchisch strukturierten Produktionsprozessen."42 Diese Definition, die
natürlich in ihrem Kern auf moderne Metropolen der globalisierten Welt abzielt, kann mit
einiger Berechtigung auch für das frühmoderne London angewandt werden. Immerhin war
London der Knotenpunkt des im Entstehen begriffenen britischen Weltreichs schlechthin.
Genau wie die britischen Überseebesitzungen, so wuchs auch London im 18 Jahrhundert
massiv und nahm genau die oben beschriebene Funktion ein, also die die zentrale Handelsund Marktstadt eines großen, weltweiten Wirtschaftsverbunds. Ferner liefert diese
Betrachtungsweise auch eine Erklärung für die symbiotische Beziehung zwischen städtischer
und nationaler Geschichte. In Großbritannien konzentrierten sich Informationen und
Entscheidungsgewalt zu einem guten Teil in der kommerziellen Zentrale London und
Informationsflüsse sind selten an die administrativen Grenzen eines Burroughs oder einer City
42
http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/9176/global-city-v7.html
15
gebunden. In dem Maße, in dem sich die ehemals separaten Siedlungsgebiete zu einem
städtischen Komplex verbanden, so bewegten sich auch Menschen und Informationen in
diesem neu geschaffenen Raum über formale Grenzen hinweg.43
Betrachtet man ferner die weiteren definitorischen Grundlagen einer Global City, so
fallen schnell weitere Ähnlichkeiten auf.44 Global Citys sind nicht nur Knotenpunkte, sondern
auch Orte extremer sozialer Ungleichheit, Zentren der Finanz- und Kommunikationskultur
sowie Machtzentren. All dies trifft auch auf London zwischen 1700 und 1800 zu. Es gab
einen großen Zustrom von armer Landbevölkerung und einen ohnehin hohen Anteil an
vergleichsweise armen Menschen in London, die versuchten sich ein Leben aufzubauen bzw.
und zu überleben. Andererseits wohnten in Westminster oder der City einige der reichsten
Menschen des gesamten Königreichs und auch der Adel baute große repräsentative Villen in
dem urbanen Komplex.45 Die Gegensätze zwischen Arm und Reich sind hier sofort
offensichtlich und – bedenkt man Londons Größe – auch im größeren Maße als auf dem Land
vorhanden. Allem voran, weil sich Arm und Reich jederzeit begegnen konnten. Wie Derek
Keene herausgearbeitet hat, gab es eine ungewöhnliche geringe Separierung von Arm und
Reich in London. Zwar wurden natürlich auch in London mit dem Wachstum der
Einwohnerzahl auch räumliche Separierungstendenzen sichtbar, aber in der Stadt lagen
beispielsweise die großen Handelszentren – The Strand und die City – in unmittelbarer Nähe
zu den am dichtesten bevölkerten Stadtteilen, in welchen sich in aller Regel die armen
Bewohner der Stadt konzentrierten.46 Es darf also davon ausgegangen werden, dass sich Arm
und Reich in London nahezu täglich begegneten.
Ferner war London als Handels- und Finanzstadt mit Abstand die bedeutendste ihrer
Art im Königreich und die wirtschaftlichen Eliten sammelten sich in London. Die Bank of
England oder die Londoner Börse sind Monumente der Bedeutung der Stadt in diesem Sektor
und prägten ihren Standort über ihre reine Präsenz hinaus. Schlussendlich sind die beiden
Häuser des Parlaments und der Königshof unzweifelhaft die größte Akkumulation politischer
Macht an einem Ort in Großbritannien. Nicht nur die Institutionen, sondern auch die
Menschen als deren Verkörperung befanden sich selbstverständlich räumlich verdichtet an
einem Ort. Die entstehenden Wechselwirkungen haben dazu beigetragen, dass sich London
als eine der ersten Städte Europas in der Frühen Neuzeit zu einer Metropole entwickelt hat.
43
Zumal es zu diesen administrativen Grenzen keine bzw. nur sehr marginale räumliche Entsprechungen gab,
wie in Kapitel 3 gezeigt werden wird.
44
Die folgenden Punkte nehmen Bezug auf Löw, Einführung, S. 112ff.
45
Vgl.: Schwarz, London, S. 663ff.
46
Vgl.: Keene, Growth, S. 17 - 20.
16
Zugespitzt formuliert handelte es sich bei London um die erste Global City der Frühen
Neuzeit.47
2.3. Erfahrung von Raum
Beginnt man den Raum als Kategorie historischer Forschung zu untersuchen, so muss am
Beginn eine Definition des Begriffs stehen. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde der
Raum selbst, sprich die Stadt, das Dorf oder auch das Innere eines Hauses, hauptsächlich als
eine natürliche, suprahumane Kategorie definiert. Diese Vorstellung vom Raum wird von
Forschern wie Löw heute absolutistisch genannt. Der Raum wurde als Container des
menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft gesehen; ein Raum, in dem sich
menschliche Prozesse abspielten und der die Bühne bot für Handeln, das innerhalb seiner
Grenzen passierte.48 Ihm wurde damit eine von menschlichem Handeln und Zuschreibungen
unabhängige Realität zugesprochen.49
Diese Containervorstellung ist heute größtenteils überwunden und man kann den
Raum in anderen Kategorien beschreiben. Da wäre zum einen die grundlegend andere
Vorstellung, dass der Raum selbst Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses ist. Folgt
man der Soziologin Martina Löw, dann ist nicht das Objekt Raum, sondern der Raum spannt
sich zwischen Objekten auf.50 Dieser Raum wird durch menschliche Handlungen also erst
hergestellt und bekommt seine spezifisch-fluide Gestalt. In diesem Konstruktionsprozess
muss man die zwei grundlegenden Zwillingsprozesse des "Spacing" und der "Synthese"
beachten, wenn man den Prozess durchdringen möchte.
Der erste Begriff beschreibt den Prozess des Einrichtens und Positionierens von
Gütern im Raum. Hierbei ist der Begriff "Güter" in einem sehr weiten Sinne zu verstehen. Es
können sowohl materielle Dinge wie auch immaterielle Institutionen oder abstrakte
Symbolisierungen gemeint sein. Dieses Positionieren von Gütern ist des Weiteren immer nur
relational zu anderen Gütern zu verstehen. Kein Gut im Raum steht für sich und verfügt über
einen eigenen Sinn abseits seines Zusammenhangs. Das Herstellen eines solchen
47
Theo Barker geht sogar so weit London als erste Megalopolis Europas zu titulieren: Barker, Theo, London. A
unique Megalopolis, in: Megalopolis. The giant City in History, hrsg. v. Theo Barker und Anthony Sutcliffe,
Macmillan 1993, S. 43 - 60. Ähnliche Gedanken äußerte auch schon de Vries, der in seinem Gedankengebäude
auch bereits den Aspekt des vernetzten Systems von Städten mitgedacht hatte: Vries, Urbanization, S. 9f.; 95 120.
48
Das Bild des Raums als Container ist eine gängige Metapher, die allerdings heute kaum noch Verwendung
findet. Vgl. dazu exemplarisch: Krusche, Jürgen, Der Raum der Stadt - Einführung, in: Der Raum der Stadt
S. 9 - 18, hier: S. 10.
49
Vgl.: Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 63.
50
Vgl.: Löw, S. 51; Löw, Raumsoziologie, S. 160. Die folgenden Aussagen zu Spacing und Synthese beziehen
sich, so nicht anders angegeben, ebenfalls auf den hier zitierten Text.
17
Zusammenhangs nennt man Synthese. In diesem Prozess werden die einzelnen Güter
zusammengeführt und durch menschliche Vorstellungs- bzw. Abstraktionskraft zu einem
bestimmten Ort verschmolzen. Dieser neu entstandene Ort wird mit einer Vielzahl von
Bedeutungen und Inhalten aufgeladen und bekommt so seine individuelle, spezifische Gestalt.
Martina Löw zieht daraus den definitorischen Schluss: "Raum ist eine relationale
(An)Ordnung sozialer Güter und Menschen an Orten".51
Durch die kollektive Syntheseleistung vieler Menschen konstruiert sich somit der
Raum als soziale Kategorie und entfaltet seine Wirkung im Kontext menschlicher Nutzung.
Durch diese soziale Konstruktion des Raums entsteht auch die spezifische Atmosphäre des
Raums, die dann in der Folge unterschiedlich wahrgenommen werden kann, etwa als
provinziell, städtisch oder sogar weltstädtisch. Somit ist die Atmosphäre einer Stadt immer
auch auf die Bewohner einer Stadt zurückzuführen, da sie der Grundstein der kollektiven
Synthese sind. Durch den kombinierten Effekt der Konstruktion und der Wahrnehmung
räumlicher Arrangements und der gezielten Beeinflussung dieser beiden Prozesse entsteht ein
spezifisches Bild bzw. Image der Stadt, das sowohl nach außen wie auch nach innen
transportiert wird. Es wird sozusagen gleichzeitig persönlich individualisiert, wie auch
überpersönlich externalisiert und objektiviert. Dieses Arrangement wird dann in seiner
Erscheinungsform als verstetigte Objektivierung eines kollektiv geformten Images
wirkmächtig und beeinflusst seinerseits die vorgelagerten Prozesse, so dass der Prozess der
Imagebildung stets als in Bewegung und nicht als statisch-abgeschlossen betrachtet werden
muss.52 Die Stadt ist somit nie eine objektiv vorhandene Tatsache bzw. ein überindividuelles,
statisches Objekt, sondern selbst Teil des fortlaufenden Prozesses der Identitätszuschreibung
und Identitätskonstruktion. Jede Generation konstruiert sich ihre eigene (städtische) Identität,
allerdings fängt sie dabei niemals ganz neu an. Die externalisierte und objektivierte Gestalt
der Stadt tritt mit den Konstruktionsbemühungen ihrer Bewohner in einen Austauschprozess
und sorgt somit dafür, dass eine symbiotische Beeinflussungsbeziehung zwischen der Stadt
und ihren Bewohnern entsteht. Löw spricht hier von der Dualität von Handeln und Struktur
und meint, dass der Raum gleichzeitig durch Handeln strukturiert wird und Räume das
Handeln strukturieren.53 Dadurch wird der doppelt verschränkte Prozess betont und das
Faktum hervorgehoben, dass Räume ebenso Gegenstände der sozialen Konstruktion sind wie
andere mit sozialer Bedeutung aufgeladenen Dinge und genau wie diese auf ihre
51
Ebd. S. 224.
Dieser Denkansatz bezieht sich auf die inzwischen klassische Theorie der sozialen Konstruktion der
Wirklichkeit von Berger und Luckmann. Vgl.: Berger, Peter L., Luckmann, Thomas, Die soziale Konstruktion
der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 2007.
53
Löw, Raumsoziologie, S. 63.
52
18
menschlichen Gegenstücke zurückwirken. Ray Porter hat diese überpersonelle Beziehung
zwischen Stadt und Einwohner in seinem Buch wie folgt auf den Punkt gebracht: "People
make their own cities but never under conditions of their own chosing."54
Eine Stadt ist aber mehr als nur eine Ansammlung von Raum bzw. Räumen, die eine
bestimmte Atmosphäre erzeugen. Die Perspektive auf den Raum lässt den Wissenschaftler
mit einer grundsätzlich anderen Herangehensweise an seine Fragestellungen treten als das bei
einer Betonung anderer Kategorien, wie beispielsweise Zeit bzw. zeitliche Abfolge, der Fall
wäre. Die Annäherung an historische Fragestellungen über die Perspektive des Raums sorgt
dafür, dass der Blickwinkel sich grundlegend verändert. Während der traditionelle Blick des
Historikers von der Zeit her kommt und auf lange Linien der Entwicklung und Veränderung
blickt, funktioniert der Blick vom Raum her nach einem anderen Prinzip. "Statt weiter auf die
großen Linien von Entwicklung und Wandel zu fokussieren, schärft die Kategorie des
Raumes die Perspektive für die Machtverhältnisse im Machen und Erleiden von Geschichte
(..)" hat es Aleida Assmann formuliert.55 Die Raumperspektive lenkt den Blick also auf
soziale Konstruktionsprozesse und hilft dabei den Umgang von Menschen mit mehrdeutigen,
unterschiedlich konnotierten Räumen in den Blick zu nehmen.56 Pointiert ausgedrückt hat es
Karl Schlögel: "Vom Raum zu sprechen heißt von der Gleichzeitigkeit all dessen zu sprechen,
was in einem bestimmten Augenblick, in einer bestimmten Epoche präsent, kopräsent,
koexistent ist."57 Der räumliche Blick ist also keine grundsätzliche Revolution der
historischen Forschung, sondern in dieser Wahrnehmung eher eine Akzentverschiebung bzw.
eine Refokussierung des Blicks auf bestimmte räumliche Phänomene.58 Folgerichtig zieht
Schlögel daraus den Schluss: "Der Temporalität muss die Spatialität zur Seite gestellt
werden".59
54
Porter, Roy, London. A Social History, London 1994, S. XV.
Assmann, Aleida, Geschichte findet Stadt, in: Kommunikation - Gedächtnis - Raum. Kulturwissenschaften
nach dem "Spatial Turn", hrsg. v. Moritz Csaky und Christoph Leitgeb, Bielefeld 2009, S. 13 - 27, hier: S. 17.
56
Die Wende in der Wahrnehmung des Raumes ist seit den 1980er Jahren auch als so genannter "spatial
turn"bezeichnet worden.
57
Schlögel, Karl, Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in den Geschichts- und
Kulturwissenschaften, in: Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, hrsg. v. Heinz Dieter Kittsteiner,
München 2004, S. 261 - 284, S. 274.
58
Ebd. S. 265.
59
Ebd. S. 275. Schlögel ist insgesamt einer der wichtigsten Ideengeber der deutschen Variante des spatial turns
gewesen. Allen voran sein Buch: Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und
Geopolitik, München / Wien 2003. ist eine der zentralen Impulsgeber gewesen. Selbstverständlich ist Schlögels
Konzeption nicht unwidersprochen geblieben. An dieser Stelle soll es aber nicht um eine Nachzeichnung einer
wissenschaftlichen Debatte, sondern um die Nutzbarmachung der Ergebnisse für eine bestimmte Fragestellung
gehen. Zur Diskussion um den spatial turn im allgemeinen und Schlögels Beitrag im speziellen sei deshalb auf
folgenden Beitrag verwiesen: Döring, Jörg, Thielmann, Tristan, Einleitung. Was lesen wir im Raume? Der
Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und
Sozialwissenschaften, hrsg. v. Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld 2008, S. 7 - 48, besonders ab S. 22.
55
19
Um Missverständnissen vorzubeugen, muss man ferner zwischen Raum und Ort
differenzieren. Ort bezeichnet eine eher statische Kategorie, die darauf abzielt, einem fixen
Punkt – wie zum Beispiel einem Gebäude, einer Straße, einem Denkmal oder Ähnlichem –
eine bestimmte Geschichte zuzu- und damit festzuschreiben. Orte sind demnach dadurch
bestimmt, dass sie bereits mit einer bestimmten Geschichte bzw. Bedeutung aufgeladen sind.
Dem gegenüber bezeichnet "Raum" eher den dynamischen Prozess der Konstruktion bzw.
(An)Ordnung von Dingen. Raum weist auf den prozessualen, modifizierbaren Charakter hin.
In dem hier untersuchten Beispiel der Stadt London im 18. Jahrhundert lenkt die
Raumperspektive den Blick des Betrachters also nicht primär auf die Bedeutung prominenter
Orte im Stadtgebiet, sondern auf die Bewegung der Menschen zwischen diesen Orten und die
Art und Weise wie Orte im Raum miteinander vernetzt, erfahren, erschlossen und ggf.
beherrscht werden. Orte sind im Raum bestimmte Knoten- oder Fixpunkte, die die Erfahrung
des Raums strukturieren. Sie übernehmen Symbolisierungs- und Repräsentationsfunktionen.
Dieses Zusammenspiel von Orten und Räumen in der sozialen Konstruktion von
wahrgenommenen räumlichen Ensembles wird auch als "mapping" bezeichnet.60 Dieser
Prozess verweist "auf die Schnittstelle zwischen Raum und Zeit, aufgrund ihrer [der
Raumperspektive. Anm. des Autors] Überlagerung der physisch-räumlichen Strukturen durch
(subjektive) Erinnerungsakte."61 Die Aufgabe des Historikers ist es also diesen
Erinnerungsakten nachzuspüren und ihre Spuren zu deuten. Natürlich ist es heute nicht
möglich individuelle Denkprozesse zu untersuchen, also den jeweiligen Zeitgenossen in den
Kopf zu sehen, aber es ist möglich den Ausdrücken dieser Denkprozesse nachzugehen.
Bestimmte Quellenarten bieten sich an, diesen Prozessen nachzugehen und ihren Widerhall
sichtbar zu machen.
60
Vgl.: Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Hamburg
2006, S. 299.
61
Ebd. S. 300.
20
3. (Ab)Bilder der Stadt - Konstruktionen von London in Karten
3.1. Quellenwert von und Umgang mit Karten
Wenn man an Bilder der Stadt denkt, dann sind Karten sicherlich eine der ersten
Assoziationen, die sich aufdrängen. Karten sind von jeher der Versuch der Menschen
gewesen, die konkrete, wahrgenommene Wirklichkeit zu abstrahieren und somit schneller
zugänglich zu machen. Die nicht abbildbare holistische Komplexität der Erfahrung musste
dazu also auf ein leichter erfahrbares Level und damit Medium gehoben werden. Dabei muss
man sich klar machen, dass der heutige Standard der Kartografie in der Frühen Neuzeit nicht
galt. Die moderne Kartographie gibt maßstabsgetreue Abbildungen heraus, die die
Wirklichkeit unter bestimmten Bedingungen so realistisch wie möglich widergeben.
Stadtpläne, Wanderkarten oder topographische Karten haben dabei natürlich unterschiedliche
Ziele und Zielgruppen, die bedient werden wollen. Das heißt aber nicht, dass diese Arten von
Karten nicht nach ähnlichen Prinzipien funktionieren würden. Im Grunde versuchen all diese
Karten den Beobachter in eine Vogelperspektive über die abstrahierten Gegenden zu
versetzen, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Besonderheiten zu lenken und ihm
ermöglichen, sich ein Bild vom Raum zu machen oder sich in diesem Raum zu bewegen ohne
eigene Erfahrung von jenem zu haben.
All das setzt zweierlei voraus: Zum einen das Vorhandensein exakter Vermessungsund Verarbeitungstechniken, zum anderen ein tieferes Verständnis vom Umgang mit Karten.
Karten sind aus dem modernen Alltag nicht mehr wegzudenken. Es gibt sie in allen Formen
und Größen sowie für die unterschiedlichsten Zwecke: Stadtkarten, Landkarten,
Wanderkarten, usw. Viele Karten werden gar nicht mehr gedruckt, sondern existieren nur
noch digital, wobei sie dem Benutzer vielfältige Interaktionsmöglichkeiten bieten. Die
meisten Menschen bewegen sich wie selbstverständlich mithilfe von Karten in bekannten oder
unbekannten Räumen Karten sind also in der Gegenwart vergleichsweise günstige,
diversifizierte Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs.
In der Frühen Neuzeit hingegen kann man solche Techniken nicht einfach als gegeben
voraussetzen. Es versteht sich von selbst, dass den Kartographen des 18. Jahrhunderts weder
Luft- geschweige denn Satellitenbilder zur Verfügung standen, die sie als Grundlage ihrer
Karten benutzen konnten. Sie bedienten sich vor allem der Landvermessung vermittels des
mathematischen Verfahrens der Triangulation. Die so erworbenen Daten über Abstände und
Größenverhältnisse konnten anschließend mit verschiedenen Werkzeugen 62 auf Papier
62
Zu dem Arbeitsgerät der Kartographen vgl.: Lindgren, Uta, Land Surveys, Instruments, and Practitioners in the
Renaissance, in: The History of Renaissance Cartography, S. 477 - 508.
21
übertragen
werden,
um
so
eine
annähernd
objektiv
korrekte
Darstellung
der
Größenverhältnisse zu erzielen. Diese Art der Kartenerstellung war in der gesamten
europäischen Frühen Neuzeit – spätestens seit der so genannten Scientific Revolution im 16.
Jahrhundert63 – die dominierende und akzeptierte Art und Weise, Karten anzufertigen. Dabei
war allerdings objektive wissenschaftliche Exaktheit nicht so ausschlaggebend wie der
vermittelte Eindruck, glaubhaft zu sein.64
Allerdings war die benutzte Technik nicht der einzige Unterschied zur modernen
Karte. Es muss festgehalten werden, dass auch der Umgang mit Karten kulturell anders
geprägt war. Karten waren keine Alltagsprodukte. Vielmehr waren sie seltene und nur von
einer kleinen Bevölkerungsschicht genutzte Gegenstände. Trotzdem erlauben sie dem
Beobachter einen Einblick in die Vorstellungswelt der Zeitgenossen. Karten im Allgemeinen
und Stadtpläne im Besonderen sind immer auch ein Abbild der gesellschaftlichen
Vorstellungen vom Raum, den sie beschreiben. Karten sind in diesem Sinne verstetigte
"mental images" eines Raums, der durch menschliche Interaktion gebildet wird, diese
Interaktion aber auch durch seine spezifische Gestalt beeinflusst und damit auf seine eigene
Konstruktion zurückwirkt. Ein Stadtplan kann zum Zweck der Analyse dieser Vorstellungen
allerdings nicht einfach als Illustration oder objektive Abbildung der Wirklichkeit betrachtet
werden. Die heutige Vorstellung von einer quasi objektivierbaren Wirklichkeit, die sich
maßstabgetreu in der Karte wiederfindet, verleitet zu leicht dazu, Karten nicht eingehend
genug
zu
betrachten.
Eine
Karte
bedarf
allerdings
derselben
quellenkritischen
Herangehensweise, die auch bei schriftlichen Quellen Verwendung finden würden. Man muss
ihr sozusagen Textstatus zugestehen und sie auch dementsprechend behandeln. In diesem
Sinne arbeitet dieses Kapitel mit der Herangehensweise von Hartmut Stöckl, der zum
Quellenwert von Bildern geschrieben hat: "Ich verwende den Textbegriff in Bezug auf Bilder
aber nicht nur, um ihre Komplexität und Gegliedertheit zu betonen. Wenn Bildern Textstatus
zuerkannt wird, geht es [...] auch darum, visuelle Zeichenphänomene systematisch auf
kommunikative Situationen zu beziehen."65 In diesem Sinne geht es also unter anderem
darum, die Bilder des städtischen Raums London in den Prozess der Identitätskonstruktion
durch Kommunikation einzubeziehen. Diese Selbstversicherung und Identitätskonstruktion
63
Wintle, Michael, Renaissance maps and the construction of the idea of Europe, in: Journal of Historical
Geography 25 / 2 (1999), S. 137 - 165, hier: S. 140.
64
Harley, Brian J., Power and Legitimation in the English Geographical Atlases of the Eighteenth Century, in:
John A. Wolter & Ronald E. Grim (Hrsg.), Images of the World. The Atlas through History, Washington D.C.
1997, S. 161 - 206, hier: S.192.
65
Stöckl, Hartmut, Die Sprache im Bild - das Bild in der Sprache: zur Verknüpfung von Sprache und Bild im
massenmedialen Text, Berlin 2004, S. 96.
22
durch Karten ist eine grundlegende Funktion dieses Mediums und darf dementsprechend nicht
ignoriert werden, auch wenn diese Schlussfolgerung nicht unbedingt auf der Hand liegt. Um
sich dem Sachverhalt anzunähern, lohnt sich ein vergleichender Blick zurück. Noch im
Mittelalter waren Karten in einem weitaus höheren Maße idealisiert. Zum einen sicherlich,
weil die Technik zur perspektivisch korrekten Darstellung noch nicht bzw. nicht mehr
bekannt war, zum anderen aber auch, weil eine andere Aussage über den dargestellten Raum
getroffen werden sollte. Zugespitzt formuliert ging es mittelalterlichen Karten um die
symbolische Abbildung der göttlichen Ordnung auf Erden.66 Man findet auf christlichen
Weltkarten oftmals Jerusalem im Zentrum der Welt, ein Platz, der ihr als heilige Stadt des
Christentums zukam.67 Auch in mittelalterlichen Stadtplänen dominierte das symbolische
Element der Darstellung eines Ideals über die mathematisch korrekte Abbildung von
Verhältnissen.68
Von solchen ideellen Aussagen über den dargestellten Raum wandte sich die
Kartographie der Frühen Neuzeit ab. Allerdings sollte man nicht den Fehler machen, der
Karte des 18. Jahrhunderts – oder auch denen aller folgenden Jahrhunderte – Ideologiefreiheit
zu attestieren. John Brian Harley hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei Karten
genau wie bei jeder anderen Quelle auch um einen Teil eines weitaus größeren Diskurses
handelt und sich in einer Karte, obwohl sie einen objektivierenden Anspruch stellt, immer um
ein diskursives Element handelt, welches sich in bestimmter Art und Weise artikuliert und
seine Bedeutung abbildet.69 Selbst die nüchternste Karte ist nicht objektivierte Darstellung der
Wirklichkeit, sondern ein Teil des wissenschaftlichen Diskurses und somit Träger von
Bedeutung. Karten erschufen und erschaffen einen geteilten Wissensraum innerhalb dessen
Grenzen gedacht, interpretiert und gearbeitet werden konnte.70 Als Voraussetzung dafür ist
noch einmal die scientific revolution anzusprechen, in der sich der Fokus der
Kartenproduktion von einer religiös-ideologisch idealisierten Symbolik in der Abstraktion zu
einer "objektiven" schematisch-abstrakten Abbildung des dargestellten Raumes gewandelt
hat. Die Referenzierbarkeit des abgebildeten Raumes im erfahrenen Raum, beispielsweise
durch Beschriftungen oder Legenden, ermöglichte einen indexikalischen Bezug zwischen der
abstrakten Karte und dem tatsächlich erlebten Raum. Durch diese Möglichkeit der mittelbaren
66
Vergleiche dazu: Baumgärtner, Ingrid, Die Wahrnehmung Jerusalems auf mittelalterlichen Weltkarten, in:
https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2006053112651/3/jerusalem-o.pdf.
67
Vgl. zu diesem Punkt: Burke, Peter, Culture: Representations, in: The Oxford Handbook of Cities in World
History, hrsg. v. Peter Clark, Oxford 2013, S. 438 - 463, besonders: S. 443ff.
68
Genauer dazu: Wintle, Renaissance, S. 140.
69
Harley, John Brian, Deconstructing the Map, in: Cartohraphica 26/ 2 (1989), S. 1-20.
70
Zu diesem Konzept der Karte als Wissensraum: Turnbull, David, Cartography and Science in Early Modern
Europe: Mapping the Construction of Knowledge, in: Imago Mundi 48 (1996), S. 5 - 24, besonders: S. 6.
23
Beziehung wurde die Konstruktion eines solchen Wissensraums erst möglich. 71 Dabei
versteht es sich von selbst, dass dieser konstruierte Raum nicht losgelöst von seinem
Entstehungsumfeld existierte, sondern Teil dessen war. Harley hat dafür den treffenden
Ausdruck "Science itself becomes the metaphor"72 gewählt, um zu verdeutlichen, dass auch
ein Bild als Text und seine Aussagen dementsprechend als Metaphern gelesen werden können
und müssen. In dem hier vorgestellten Sinne ist Rhetorik also ein universeller Bestandteil der
Kartografie. Die Selektion, Abstraktion, Klassifikation, gewählte Symbole etc. sind allesamt
als rhetorische Mittel des Zeichners in einem geteilten symbolischen System zu betrachten.
Damit ist die Karte auch Transporteur von Machtverhältnissen im Sinne Foucaults.
Durch Anordnungen, Symbolisierungen, Gewichtungen, Auslassungen oder anderer
Veränderungen ist eine Karte immer auch Abbild eines bestimmten Machtverhältnisses.73
Jede Karte reproduzierte eine gewisse diskursive Aussage, die sich in ihr verstetigte und
visuell widerspiegelte. Eine Karte strukturierte die Geografie folgend einem Set von
Glaubenssätzen darüber, wie die Welt sein sollte und präsentierte das Ergebnis in
objektivitätssuggerierender Weise als Wahrheit.74 Die so getroffenen Aussagen wurden zwar
im zeitgenössischen Diskurs schlicht als wahr bezeichnet und die den Karten innewohnende
‚Wahrheit‘ als selbstevident angesehen,75 aber aus wissenschaftlicher Sicht gesprochen,
bedeutet der angesprochene Mechanismus, dass eine Karte als produzierter Ausdruck des
Machtdiskurses immer Rückschlüsse und Aussagen über ihren Entstehungskontext zulässt,
der niemals frei von unterschwelligen Aussagen ist. Ein bekanntes Phänomen dieser Art des
unterschwelligen Bedeutungstransports stellt zum Beispiel das Faktum dar, dass sich in
nahezu allen Karten das vom Zeichner als zentral empfundene Objekt – sei es nun ein
Stadtteil, Gebäude, Kontinent o.Ä. – im Zentrum der Abbildung wiederfand. Dieser Effekt ist
in der Kartografie auch als "omphalos syndrom" bekannt und findet sich auch in Karten des
18. Jahrhunderts wieder.
Es gibt eine große Menge verschiedener Darstellungen Londons im 18. Jahrhundert.
Diese unterscheiden sich nicht nur in formalen Kriterien wie Größe, Herstellungsart,
Verbreitung oder Kolorierung voneinander, sondern auch in ihren Herangehensweisen an den
71
Vgl.: Dünne, Jörg, Die Karte als Operations-und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums, in:
Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hrsg. v. Jörg Döring und Tristan
Thielmann, Bielefeld 2008, S. 49 - 69, besonders S. 49 - 57.
72
Harley, Deconstructing, S. 10.
73
Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 300.; Harley, Deconstructing.
74
Zum Zusammenhang von Karte und Macht: Harley, J. Brian, Maps, knowledge, and power, in: Geographic
Thought. A praxis perspective hrsg. v. George Henderson & Marvin Waterstone, London & New York 2009, S
129 - 148, besonders: S. 136.
75
Zu dieser Wahrnehmung vgl.: Mayhew, Robert J., Elightenment Geography. The Political Languages of
British Geography, 1650 - 1850, New York 2000, S. 30f.
24
thematischen Komplex ‚Stadt‘. Dies schließt nur Abbildungen ein, die einen Anspruch
formulieren "London" abzubilden. Ansichten einzelner Gebäude oder Stadtteile fallen hiermit
aus dem definitorischen Rahmen. Betrachtet werden sollen in der Folge also nur jene
bildlichen Quellen, die man als Herangehensweisen an die Darstellung der Stadt
kategorisieren kann. Als grobe Vorstrukturierung kann man diese Darstellungen in zwei
Kategorien einteilen. Zum einen gibt es die Abbildungen, die am ehesten der modernen
Vorstellung eines Stadtplans entsprechen. Dabei handelt es sich um schematisch
abstrahierende Darstellungen aus der Vogelperspektive, die den gesamten großstädtischen
Komplex abbilden. Die Vogelperspektive wurde von den Künstlern der italienischen
Renaissance zum ersten Mal in der Neuzeit zur Darstellung städtischer Räume benutzt. Die
Techniken, die dabei zum Einsatz kamen, waren nach modernen Maßstäben nicht akkurat,
aber nichtsdestotrotz stellen sie eine realistische Annäherung an die tatsächlichen räumlichen
Gegebenheiten dar, auch wenn sie gezwungenermaßen an einigen Stellen Ungenauigkeiten
beinhalten.76 Diese Art von Karten geben sich in der Regel relativ nüchtern und arbeiten
wenig mit Illustrationen oder Vignetten. Die einzige regelmäßige Ausnahme stellen solche
Karten dar, die mit einzelnen Plandarstellungen wichtiger Gebäude oder Orte arbeiten.
Insgesamt wurde diese Art von Karte zumeist nur von einer relativ schmalen, lokalen Elite
benutzt.77 Harley geht so weit, die Kartografie als eine "science of princes" zu bezeichnen.78
Zum anderen gibt es Abbildungen aus der Zentralperspektive, die die Stadt aus der Sicht eines
virtuellen Betrachters darstellen. Zumeist ist dieser Platz eine erhöhte Position vor der Stadt,
von der aus sich die einzelnen Landmarken auch problemlos abbilden lassen ohne in der
Perspektive allzu große Zugeständnisse, sprich Anpassungen bzw. Abänderungen, eingehen
zu müssen. Diese Art von Karten arbeitet deutlich stärker als die erste Art mit Illustrationen,
Kartenvignetten oder räumlichen Emphasen.79 Ferner beschränken sich diese Karten in der
Regel auf einen bestimmten Bereich, den sie abbilden, da die Perspektive an sich kaum dazu
geeignet ist, die gesamte räumliche Ausdehnung einer Stadt abzubilden, vor allem nicht die
einer Großstadt wie London. Ballon und Friedmann beschreiben die Schwäche der
Linearperspektive pointiert:
76
Zu den Techniken der Darstellung und den Methoden der Datenerhebung frühneuzeitlicher Kartografen vgl.:
Lindgren, Land Surveys; Ballon, H., Friedman, D., Portraying the City in Early Modern Europe: Measurement,
Representation, and Planning, in: The History of Cartography III, hrsg. v. David Woodward, Chicago 2007, S.
680-704.
77
Vgl.: Ballon, Portraying the city, S. 696.
78
Harley, Maps, S. 131.
79
Vgl.: Ballon, Portraying, S. 687.
25
"While linear perspective worked magically to create the illusion of a restricted space,
such as a piazza, its constraints – its rules of representation – rendered it of little use in
making city views. Linear perspective was inadequate to reveal the physical expanse of a
city, to convey the spatial relations among a profusion of individual structures, and to
permit an infinite number of focal points."80
Nichtsdestotrotz wurde diese Art der Darstellung auch im 18. Jahrhundert noch verwandt.
Dabei sprach die Linearkarte ein grundlegend anderes Publikum an und arbeitete
dementsprechend auch mit anderen Methoden, um letztlich ein anderes Ziel zu erreichen.
Dies soll in der Folge zunächst an jeweils anhand eines Vertreters der jeweiligen Gattung
genau betrachtet und analysiert werden. Von diesen Archetypen ausgehend werden weitere
Beispiele akzentuierend oder kontrastierend analysiert werden, um ein möglichst
vollständiges Bild zu synthetisieren.
3. 2. Plankarten der Stadt
Als erstes soll eine Karte aus dem Jahre 1758 betrachtet werden. Sie ist betitelt mit "A Map of
London, Westminster and Southwark. With ye New Buildings to ye Year 1758", wurde von
Mary Cooper erstellt und in London gedruckt.81
Abb. 1: Mary Cooper, A Map of London, London 1758 .
80
Ebd. S.688.
Abb.1: Cooper, Mary, A Map of London, Westminster and Southwark. With ye New Buildings to ye Year
1758,
London
1758.
http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?assetId=903584&objec
tId=3308475&partId=1 Ausführlichere Angaben finden sich bei: Howego, James, Printed Maps of London circa
1553 - 1850, Kent 1964, S. 105. Alle Karten finden sich auch in höherer Auflösung im Abbildungsverzeichnis.
81
26
Im Original ist die Karte 255mm hoch und 466mm breit. Damit hat sie nicht die Ausmaße
einer Wand- oder Schmuckkarte, sondern dürfte vielmehr ein Gebrauchsgegenstand gewesen
sein. Wie bereits oben erwähnt, handelt es sich um eine Darstellung des Stadtgebiets aus der
Vogelperspektive. Der Plan ist nicht koloriert und verfügt weder über Illustrationen noch über
Vignetten. Laut der Beschreibung im linken oberen Teil der Karte handelt es sich um eine
Karte von London, Westminster und Southwark mit den neuen Gebäuden bis ins Jahr 1758.
Man kann erkennen, dass diese drei Entitäten zu jenem Zeitpunkt bereits zu einem städtischen
Komplex verschmolzen waren. Lediglich die alte Stadtmauer der City of London, die in
dieser Karte noch eingezeichnet ist, deutet auf die räumliche und juristische Separation der
City of London vom Rest der Großstadt hin. Dieses Zeichen wurde dafür allerdings umso
stärker gesetzt. Die City of London steht eindeutig im Zentrum der Karte und ist nicht nur
durch diese Platzierung herausgehoben. Auf den ersten Blick ist auch die London Wall eines
der auffälligsten räumlichen Zeichen, auch wenn die Mauer zum Enstehungszeitpunkt der
Karte komplett von der rasant wachsenden Großstadt eingeschlossen worden war. Die
früheren Freiflächen zwischen den städtischen Zentren waren zu dieser Zeit bereits komplett
urban erschlossen und besiedelt. Zwischen der City of London und Southwark liegt die
Themse als natürliche Grenze. Es ist aber sofort ersichtlich, dass diese Grenze zu diesem
Zeitpunkt bereits auf verschiedene Weisen von den Bewohnern überwunden wurde. Als
deutliche Landmarken treten die London Bridge zwischen der City of London und Southwark
im Zentrum der Karte und die Westminster Bridge zwischen Westminster und Lambeth im
Osten der Karten ins Blickfeld. Westlich zwischen London Bridge und östlich von
Westminster Bridge sind ferner in dichter Abfolge Fährübergänge eingezeichnet, die einen
weniger stetigen, aber dennoch möglichen Passageweg über die Themse darstellen. Östlich
der London Bridge werden diese Fährpunkte weniger und die Abstände größer.
Das östliche Ende der Karte ist aber auch aus anderen Gründen interessant, denn man
erkennt hier, dass die Abbildung der Region im Osten einfach abbricht. Im Südosten der
Darstellungen endet die Darstellung der besiedelten Fläche übergangslos. Gleiches gilt für das
Südende von Southwark. Hier muss allerdings einschränkend ergänzt werden, dass am
südlichen Ende Southwarks bereits landwirtschaftliche Nutzflächen eingezeichnet sind und
die Besiedlung südlich der Themse im Vergleich zum nördlichen Ufer deutlich weniger stark
und ausgeprägt ist. Für den südöstlichen Teil nördlich der Themse gelten diese
Einschränkungen allerdings nicht. Die Art und Weise der Darstellung deutet darauf hin, dass
hier tatsächlich schlicht die Darstellung beendet wurde, denn an den anderen Endpunkten der
Karte ist eindeutig eine andere Vorgehensweise gewählt worden. Am südlichen und
27
westlichen Ende von Westminster ist zu erkennen, dass sich dort unbesiedeltes Gebiet
befindet. Nördlich und nordöstlich der City of London ist dieselbe Darstellungsform zu
beobachten. Zwar führen Straßen virtuell über den Kartenrand hinaus, aber es ist eindeutig
festzustellen, dass die Besiedlung hier endete. Im Südosten deutet die Darstellung von relativ
dichter und geschlossener Besiedlung, sowie eine Häufung von Fährpunkten in der Nähe von
Greenwich darauf hin, dass hier zwar die Darstellung, nicht aber die Besiedlung endete. Die
Besiedlung in diesem nicht mehr abgebildeten Bereich wurde anscheinend von der
Kartografin entweder als nicht mehr zwingend abbildungsbedürftig, oder als nicht mehr zur
Großstadt gehörig definiert.
Der Darstellungsstil ist insgesamt sehr schematisch und nüchtern gehalten und
vermittelt den Eindruck von Objektivität. Dieser Stil wird nur an wenigen Stellen zu Gunsten
von Darstellungen wichtiger Gebäude im Planstil unterbrochen. Diese Darstellungen heben
die entsprechenden Gebäude wie Piktogramme aus ihrer Umgebung hervor und weisen auf
ihre Bedeutung hin. Neben den bereits erwähnten Brücken über die Themse haben der Tower
of London und St Paul‘s Cathedral beispielsweise eine solche Sonderbehandlung erhalten und
stechen dem Betrachter der Karte sofort ins Auge. Wenn man etwas genauer hinschaut, so
fallen einem aber auch eine ganze Reihe weiterer Gebäude auf. Im gesamten Metropolgebiet
sind Kirchen hervorgehoben, wenn auch von diesen nur Westminster Abbey eine ähnlich
herausragende Stellung wie St Paul‘s auf der Karte einnahm. Ohne jedes einzelne
hervorgehobene Gebäude einzeln besprechen zu wollen, fällt an ihrer räumlichen Verteilung
allerdings etwas auf: Mit Abstand am häufigsten finden sich Hervorhebungen im Bereich der
City of London. Danach kann man einem imaginären Band über die Fleet Street, The Strand,
New Exchange und Kingsstreet bis Westminster Abbey folgen. Um dieses Band herum
konzentrieren sich die restlichen Abbildungen. Außerhalb von Westminster, der City und
ihrer Hauptverbindungsstraße, wirkt die Stadt relativ arm an piktografischen Hervorhebungen.
Diese Art der Darstellung lässt einige Rückschlüsse auf die Vorstellung des
städtischen Raums durch die Kartenmacherin zu. Dabei muss man bedenken, dass die
Kartografin in einer Karte nicht nur ihre eigene Vorstellung des Raums niederlegte, sondern
die Erwartungen eines bestimmten Publikums im Blick hatte. Es ist also davon auszugehen,
dass sie sich in der Darstellung an einen gewissen überindividuellen Standard gehalten haben
wird und man aus diesem Grund die Beobachtungen, welche anhand dieser Karte getroffen
werden, auch Autorität jenseits der Person der Kartografin zuweisen können wird.
Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf zeigt die Karte einige Besonderheiten der
Großstadt. Die ursprüngliche City of London nahm in der Wahrnehmung eine deutliche
28
Sonderstellung ein.82 Die eingezeichneten Stadtmauern und die Fülle an besonderen
Gebäuden sorgten dafür, dass die City auf den ersten Blick als spezielle Entität
wahrgenommen werden kann. Die Stadtmauern hatten zu diesem Zeitpunkt ihre ursprüngliche
Funktion als Begrenzung des städtischen Rechtsgebiets und der Verteidigung gegen Feinde
von außen längst verloren. Eine militärische Notwendigkeit für die Stadtmauer, wie sie von
der römischen Zeit bis ins Mittelalter angenommen werden kann, war hier nicht mehr zu
erkennen. Vielmehr hatte die Mauer eine Transformation ihrer Bedeutung erlebt, weg von
einem Bollwerk und hin zu einem räumlichen Distinktionsmerkmal.83 Die tatsächlichen
juristischen Grenzen der City gehen an einigen Stellen über die Mauer hinaus,84 aber das
Kerngebiet des mittelalterlichen Londons wurde nach wie vor davon umschlossen. Man kann
also davon ausgehen, dass die Stadtmauer hier zumindest in der Wahrnehmung und
Identitätskonstruktion nach wie vor eine ähnliche Funktion eingenommen hat, wie sie es auch
in den Städten Kontinentaleuropas getan hat. Die städtische Mauer stellte hier den abstraktsymbolischen und konkret-räumlichen Übergang zwischen der städtischen Gemeinschaft und
dem umgebenden Land dar. Im Falle von London kann angenommen werden, dass diese
Distinktion weniger scharf gewesen sein dürfte, aber vollkommen bedeutungslos war sie
ebenfalls noch nicht, denn in diesem Fall gäbe es kaum Grund die Mauer nach wie vor in
Karten abzubilden und so neben der physischen auch auf der ideellen Ebene zu bewahren. Die
eingezeichnete Stadtmauer Londons ist ein Hinweis darauf, dass in der Vorstellung der
Zeitgenossen die City of London nach wie vor einen Sonderstatus einnimmt, der sich auch in
Landmarken räumlich ausdrückt. Im Unterschied dazu war Westminster nicht von den es
umgebenden Stadtteilen auf den ersten Blick so deutlich zu unterscheiden wie die Ciyt of
London. Was allerdings nicht bedeutet, dass es keine eindeutigen Landmarken gab, die
Westminster für den Zeitgenossen eindeutig gekennzeichnet haben. Schon die ikonische Form
des St James‘s Park bei Westminster dürfte eine ähnlich markante Landmarke dargestellt
haben wie die London Wall oder der Tower als östliche Begrenzung der City.
Ein weiterer Hinweis auf die These von der Wahrnehmung der Großstadt als
Zusammensetzung aus verschiedenen Teilen ist die Tatsache, dass in der Betitelung der Karte
noch zwischen Westminster, London und Southwark differenziert wurde. Die Großstadt
wurde zwar hier räumlich als eine große Konglomeration dargestellt, im Titel wurde aber
noch immer auf die formale Dissonanz verwiesen. Die juristischen Unterschiede zwischen
82
Vgl. dazu auch die Ausführungen zum omphalos syndrom auf S. 17.
Ferner fällt der endgültige Abriss der verbliebenen Stadttore ungefähr in die Entstehungszeit der Karte. David
Lloyd gibt an, dass die alten Tore zwischen 1750 und 1760 endgültig abgerissen wurden. Vgl. dazu: Lloyd,
David W., The Making of English Towns. 2000 Years of Evolution, London 1992, S. 124f.
84
Vgl. Ebd. S. 123ff.
83
29
den einzelnen Städten innerhalb der Großstadt waren den Zeitgenossen also zumindest so
wichtig, dass sie es noch in der Beschriftung der Karte abgebildet haben. Die Spannung
zwischen der Aussage des Bildes und des beschreibenden Textes dürfte auch den
Zeitgenossen deutlich gewesen sein, aber offensichtlich war es wichtig zu verdeutlichen, dass
man es trotz des räumlichen Anscheins nicht mit einer großen, sondern einem
Zusammenschluss von verschiedenen Städten zu tun hatte. Dies deutet einerseits darauf hin,
dass es der City gelungen war, ihre historische Sonderstellung nicht nur rechtlich, sondern
auch symbolisch stark im Diskurs zu verankern und somit ihren Sonderstatus auf mehreren
Ebenen gefestigt hatte.
Betrachtet man zum Vergleich eine Karte, die circa dreißig Jahre zuvor gedruckt
wurde, so sieht man auf den ersten Blick große Übereinstimmungen, die allerdings den Blick
für die ebenso bedeutenden kleinen Unterschiede nicht verstellen sollten. Die Karte war
ursprünglich als Illustration in dem Atlas "A new general atlas containing a geographical and
historical account of the world" im Jahre 1720 erschienen und wurde von ihrem Zeichner
Parker mit "Map of London; stretching to the New River Head, Whitechapel, Lambeth, and
Buckingham House" betitelt. In ihrem ursprünglichen Format wurde sie im Verhältnis 506 zu
588 Millimeter gedruckt. Außerdem erfuhr sie mindestens eine Neuauflage.85
Abb.2: Parker, S., Map of London; stretching to the New River Head, Whitechapel, Lambeth,
and Buckingham House
85
Abb. 2.Parker, S., Map of London; stretching to the New River Head, Whitechapel, Lambeth, and
Buckingham House, in: A new general atlas containing a geographical and historical account of the world, hrsg.
v. Daniel Browne, Lonson 1721. Genauere Angaben auch bei: Howgego, Printed Maps, S. 81. Sämtliche
abgebildeten Karten finden sich zum genaueren Vergleich in höherer Auflösung im Anhang.
30
Auf den ersten Blick fällt auf, dass zu dieser Zeit das Wachstum der Stadt noch nicht so weit
fortgeschritten war, vor allem der Teil der Großstadt südlich der Themse ist deutlich
bescheidener besiedelt als im Vergleichsbild. Die Westminster Bridge ist zu diesem Zeitpunkt
noch nicht gebaut und der Fährverkehr etwas weniger dicht. Allerdings ist auch auf dieser
Karte die Stadtmauer der City ein sofortiger Blickfang..
Einige weitere Dinge sind an der Karte interessant. Zum einen wurde sie von ihrem
Zeichner mit zwei verschiedenen Titeln ausgestattet. Neben dem bereits genannten, der sich
in der links oben abgebildeten Vignette findet, gibt es einen Überschrifttitel, der lautet "A
Plan of the Citys of London, Westminster and Borough of Southwark; With the new
Additional Building Anno 1720". Hier herrschte offensichtlich eine gewisse Unklarheit
bezüglich der abgebildeten Großstadt. Auch hier wurde formal auf die Uneinigkeit der
Partikularstädte verwiesen, allerdings eine davon an exponierter Stelle auf mehrere Arten
hervorgehoben. Die im oberen linken Rand der Karte angebrachte Vignette sticht allein durch
ihre kunstvollen Zeichnungen heraus und zieht den Blick des Betrachters eher an, als die
nüchterne Überschrift. In dieser Vignette befindet sich allerdings nur der Name London. Die
anderen Bestandteile der Großstadt werden nicht explizit genannt. Ferner finden sich dort
prominent die Symbole der City of London wieder. Die beiden Drachen als Wappentiere der
City bilden den Rahmen, das Wappen der Stadt – das rote Kreuz auf weißen Grund mit rotem
Schwert im linken oberen Viertel – nimmt das obere Ende ein. Im unteren Zentrum sieht man
ein gekröntes Haupt über gekreuztem Richtschwert und Zepter. Den Vordergrund bilden
Symbole des besonderen Rechtsstatus und der Prosperität der City of London.
Diese besondere Betonung der City of London in der Vignette könnte auch erklären,
wieso die City ansonsten – im Vergleich zu der vorher betrachteten Karte – deutlich an den
Rand gerückt ist. Sie nimmt nicht mehr das unmittelbare Zentrum ein, sondern liegt hier
eindeutig in der rechten Bildhälfte. Dies ist allerdings nur auf den ersten Blick eine Reduktion
der Rolle der City im städtischen Verbund. Im Zusammenspiel zwischen der Vignette mit den
Symbolen der City und der starken optischen Hervorhebung der Stadtmauern, entsteht ein
symbolischer Doppelpol, der die Spannung der Karte ausmacht und dominiert.
Zum anderen nimmt eine Legende mit Ortserklärungen das untere Viertel des Bildes
ein. Bei diesen Erklärungen bzw. Erläuterungen werden die eingezeichneten Kirchen der
Städte genannt, von denen die City of London mit 62 Westminster (7) und Southwark (8) bei
weitem überragt. Bei den öffentlichen Gebäuden ist allerdings Westminster mit 8 vor der City
(6) und Southwark (0) führend. Dafür wird sehr viel Platz darauf verwandt, die einzelnen
Parishes und Bouroughs, sowie deren jeweiligen rechtlichen Stand aufzulisten, in diesem Fall
31
also ob sie sich innerhalb, teilweise innerhalb oder außerhalb der Mauern befinden. Die
Erläuterung zur City nehmen mindestens 2/3 des unteren Bildrandes ein und zeigen so auf
eine ganz eigene Art die Bedeutung der City innerhalb des großstädtischen Kontexts sowie
die juristische Komplexität der Citykooperation.
Auch diese Karte deutet also auf die besondere Bedeutung der City für die
Wahrnehmung der Großstadt hin. Ferner wird deutlich, dass auch die Verbindungsstraße
zwischen der City of London und Westminster für die Bewohner wichtig war, da die Anzahl
der eingezeichneten Piktogramme hier stark erhöht ist. Man sollte die Bedeutung dieser
Einzeichnungen in den passenden Kontext setzen. Zunächst einmal bedeutet die
Einzeichnung, dass diese Gebäude vom Hersteller der Karte für wichtig gehalten worden sind.
Es bedeutet nicht, dass sie für jeden Londoner die gleiche oder auch nur eine ähnliche
Bedeutung hatten. Wie bereits erwähnt, können die individuellen Konstruktionen von Raum
von den intendierten Meinungen einer Karte oder der ggf. in ihr artikulierten
Mehrheitsmeinung abweichen. Nichtsdestotrotz scheint es angemessen, zu konstatieren, dass
diese genannten Bereiche bzw. Gebäude für die nach außen kommunizierte bzw.
wahrgenommene Identität der Stadt eine besondere Bedeutung spielen.
Dies musste sich allerdings nicht zwangsläufig in jeder Karte niederschlagen. In der
Karte "A new and correct plan of London, Westminster and Southwark, with several
additional improvements, not in any former survey" die von James Dodsley 1761 als Vorsatz
des sechsten Bandes seines Werkes "London and its Environs Described" erschienen ist, kann
man
im
Vergleich
einige
bedeutende
Unterschiede
feststellen.
Abb. 3 Dodsley, James, A new and correct plan of London, Westminster and Southwark, with
several additional improvements, not in any former survey, in: London and its Environs
Described Volume VI, hrsg. v. ebd., London 1761. 86
86
http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?assetId=1161935&ob
jectId=3416992&partId=1 Zu genaueren quellenkritischen Angaben vgl.: Howgego, Printed Maps, S. 109.
32
Zuerst zum offensichtlichen, aber trotzdem bedeutenden Unterschied zu den beiden zuvor
besprochenen Karten. Diese hier ist koloriert und damit in der Lage auf eine gänzlich andere
Art und Weise Hervorhebungen bzw. Emphasen umzusetzen als ihre Vorgänger. Die
räumliche Ausdehnung der Metropolregion ist noch annähernd gleich geblieben, auch wenn
man das Wachstum im Nordwesten und Nordosten der Stadt hier deutlich feststellen kann.
Der Zeichner hatte in diesem Plan die Akzente der Stadt allerdings deutlich anders gewichtet.
In dieser Karte wurden die Hauptverkehrsstraßen gelb hervorgehoben, wichtige Landmarken
in rosa bzw. rot und öffentliche Plätze / Gebäude ebenfalls gelb hervorgehoben. Auffallend
dabei ist vor allem, dass die Stadtmauer in diesem Plan nicht mehr eingezeichnet ist. Auch die
in den anderen Karten piktografisch hervorgehobenen Stadttore sind nicht mehr
eingezeichnet. Optisch erscheint die Region in diesem Fall also deutlich geschlossener und
einheitlicher als in allen zuvor betrachteten Karten. Trotzdem wird in der Bezeichnung des
Plans noch immer auf London, Westminster und Southwark verwiesen, auch wenn die
Unterscheidbarkeit der drei Teilstädte innerhalb der Großstadt in dieser Karte in keiner Weise
mehr auszumachen ist. Alle Distinktionsmerkmale, wie beispielsweise Parishverzeichnisse,
Vignetten, Piktogramme o.ä., die auf einen solchen Unterschied hindeuten könnten, finden in
dieser Darstellung keinen Platz. Stattdessen zeigt diese Karte die Straßennetze der Großstadt,
wobei die Hauptstraßen wie erwähnt hervorgehoben wurden. Diese Hauptstraßen bildeten die
Hauptverkehrswege und damit die am stärksten frequentierten Straßen der Großstadt. Eine
Karte die diese Wege besonders betonte, konnte demnach auch als eine Abbildung der
Verkehrs- und damit Menschenströme durch den urbanen Raum gedeutet werden. Es wird
deutlich, dass die administrativen Grenzen der Teilgebiete, sei es nun die City of London oder
Westminster, keine Grenze für den Weg durch die Großstadt darstellten. Es sind keine
Grenzen oder unerwarteten Brüche eingezeichnet. Vielmehr wurde anscheinend bewusst auf
Grenzmarkierungen im Raum, wie die London Wall oder die Stadttore, verzichtet. An die
Stelle der Distinktion zwischen der City und dem Rest der Großstadt trat in dieser Karte der
Hinweis auf die tatsächliche großstädtische Verbundenheit. Die großen Straßen Londons, hier
besonders farblich hervorgehoben, lenkten den Blick des Betrachters auch auf das
Gemeinsame. Sie zeigten auf, dass die einzelnen Bestandteile der Großstadt in Wirklichkeit
längst miteinander verwoben waren.87
87
Bilder wie diese könnten unter anderem der Grund dafür sein, dass viele populärwissenschaftliche
Beschreibungen von London sich biologistischer Vergleiche von London als Organismus und seinen Straßen als
Venen und Arterien bedienen. Vgl exemplarisch: Ackroyd, Peter, London: A Biography, New York 2003. Zur
Kritik an diesem Vorgehen: Gray - Tales of the City: Writing London's Histories, in: Journal of Urban History
35 (2009), S. 913 - 917.
33
Trotzdem kann man erkennen, dass die City of London eine herausragende Rolle in
der Großstadt einnahm. Sie war der einzige Ort in der Stadt, in dem sich diese Verkehrsadern
an multiplen Stellen geschnitten haben und somit auch in dieser Hinsicht ein Unikum in der
Region.88 Ferner ist auch auf dieser Karte die absolute Anzahl an piktografisch
hervorgehobenen Gebäuden in der City deutlich höher als im Rest der Stadt. In dieser
Hinsicht bestätigt diese Karte also den Eindruck, den man aus den Vorgängern gewinnen
konnte. Die City of London spielte in der Großstadt eine herausragende Rolle als historischer
Kern, am dichtesten besiedelter Teil und Verkehrs- bzw. Kommunikationszentrum. Ihr
nachgeordnet waren die City of Westminster und Southwark, welche im Vergleich zu den
historisch jüngeren Teilen der Stadt aber noch immer herausragen. So bleibt auch hier der
Eindruck, dass die Wahrnehmung der Stadt ganz von der Perspektive abhängt. Die
ursprünglichen drei Pole der Großstadt wurden augenscheinlich noch als voneinander
unterscheidbar wahrgenommen, wenn auch der theoretische Fluss von Menschen zwischen
diesen Partikularentitäten davon wenig beeinträchtigt gewesen sein dürfte. Zumindest
wachsen im Laufe der betrachteten Zeit die ursprünglich räumlich deutlich voneinander
getrennten Bereiche immer weiter zu einer großen Region zusammen. Für die Orientierung in
diesem neuen städtischen Raum scheinen Landmarken von höherer Bedeutung zu sein als
Straßennamen, denn die herausragenden bzw. wichtigen Gebäude sind vermittels einer
speziellen Technik in den Karten hervorgehoben, die meisten Straßen hingegen sind nicht
einmal beschriftet. Außerdem scheinen die administrativen Gliederungen auch nicht völlig
bedeutungslos gewesen zu sein, wenn man sich in der Stadt bewegte. Zumindest ihre
Aufzählung auf einer der betrachteten Karten deutet in diese Richtung.
3.3. Linearkarten der Stadt
Betrachtet man Karten die mit Linearperspektive arbeiten, so bietet sich ein anderer Eindruck
von der Großstadt. Diese Darstellungsform findet sich vor allem zu Beginn des 18.
Jahrhunderts. Beispiele aus der Zeit nach 1740 sind nur noch vereinzelt anzutreffen. Der Plan
aus der Vogelperspektive hatte sich zu dieser Zeit als vorherrschende Darstellungsform der
Großstadt etabliert. Betrachtet man die Beispiele aus dem 18. Jahrhundert, so fällt auf, dass
sich hier nicht nur die Darstellungsform, sondern auch die Aussage über die Stadt eine andere
ist. In dem ungefähr 1700 im Format 402 zu 516 mm in Amsterdam veröffentlichten Plan von
Frederick de Wit "A view of London showing the buildings on either side of the river Thames
88
Diese Aussage muss insofern eingeschränkt werden, als das sich auch in Southwark, genauer gesagt bei St
George‘s Fields, mehrere Hauptstraßen an verschiedenen Stellen treffen, allerdings war diese Gegend zum
fraglichen Zeitpunkt nicht besiedelt.
34
including Wren's St. Paul's ; on hill in foreground group of men with dogs"89 bot sich ein
anderes Bild von London.
Abb. 4 Wit, Fredeirk de, A view of London showing the buildings on either side of the river
Thames including Wren's St. Paul's ; on hill in foreground group of men with dogs.
Diese Abbildung ist nur mit London überschrieben. Im rechten oberen Bildabschnitt findet
sich dementsprechend das Wappen der City of London. Im linken oberen Bildrand findet sich
das Wappen des Vereinigten Königreichs. Darunter befindet sich der Betrachter des Bildes in
der Position eines fiktiven Beobachters, der von einem Hügel im Süden auf Southwark und in
der Verlängerung über die London Bridge auf die City of London blickt. Westminster findet
sich in diesem Bild überhaupt nicht wieder. Die Art der Zeichnung deutet dem Betrachter
zwar an, dass sich die Großstadt auch über die Bildränder hinaus erstreckt, aber explizit
gemacht wurde es hier nicht. Mit London ist in dieser Darstellung primär die City of London
und Southwark gemeint, nicht die gesamte Region. In der Stadt selbst sind erneut die
wichtigsten Landmarken mit Zahlen und dazugehörigen Erklärungen versehen worden. Eine
Darstellung von Straßennetzen wäre in dieser Art der Darstellung auch gar nicht möglich
gewesen. Vielmehr wurden dem Betrachter andere Eindrücke über die Stadt vermittelt als es
89
Wit, Fredeirk de, A view of London showing the buildings on either side of the river Thames including Wren's
St. Paul's ; on hill in foreground group of men with dogs, Amsterdam 1700.
35
Vogelperspektivkarten getan haben. Da wäre an erster Stelle die Arbeit mit Illustrationen in
der Darstellung selbst. Planperspektivkarten konnten mit deutlich weniger abstrahierten
Darstellungen arbeiten. Der Betrachter konnte sich so eine genauere Vorstellung der
Architektur der Stadt machen als es einzelne Einschübe in den Vergleichskarten ermöglicht
hätten. Die Darstellung der Schiffe auf der Themse verriet dem Betrachter auch etwas über
die Konventionen des Schiffsverkehrs in der Stadt. Links der London Bridge wurden
hauptsächlich kleine Handels- und Fährenschiffe - inklusive der Fähranlegestellen dargestellt, während rechts von der Brücke große, mehrmastige Hochsee- und Kriegsschiffe
abgebildet wurden. Zum einen verdeutlicht dies die Vielfalt und die Bedeutsamkeit des
Schiffsverkehrs auf der Themse, zum anderen zeigt es den Sitz des Hochseehafens bzw. der
Admiralität in Greenwich rechts der London Bridge und damit an der Meeresseite Londons.
Am äußersten Rand der Karte bewegt sich auch eine kleine Flotte ostwärts.
Ferner bekam man durch die Darstellung von Mensch und Tier in der ländlichen
Umgebung im Vordergrund der Karte einen Eindruck von der Kleidung bzw. Mode und
Freizeitgestaltung bestimmter Menschen im urbanen Bereich. Der Zeichner konnte so dem
unbekannten Publikum einen Einblick in die Lebensweise in anderen Städten bzw. Ländern
geben und gleichzeitig dem versierten Publikum seine Kenntnis des Gebietes bestätigen und
somit auch Autorität für den Rest des Dargestellten beanspruchen. 90 Dargestellt wurden
Menschen verschiedener gesellschaftlicher Schichten und Besitzverhältnisse, allerdings in
dieser Karte keine Frauen.
Neben der Auflistung der wichtigsten Gebäude in der City of London ist diese Karte
auch mit einem kurzen einleitenden Text zu London in Latein, Niederländisch und Englisch
versehen, der einen Einblick in die Wahrnehmung der Stadt durch den Zeichner bzw. die
allgemeine Wahrnehmung der Stadt in der Zeit um 1700 erlaubt. Wörtlich lautet der Text:
"London. Formerly called Londonia a City of great Trafick the chiefest in great brittain
the throne of the Kingdom is situated on the River thames and Founded of Brutus
Constantinius the great compossed it with walls beautified ith with 120 churches St. Paul
the Cathedrall and a Stately Exchange Tower and other stately buildings being by the last
great fire almost consumed together with the most part of the City but now through the
great wealth of the Citizens buildt again91"
Der kurze Text versucht sich an einem generellen Abriss der Stadtgeschichte von der
römischen Zeit bis zum Großen Brand von 1666 und dem Wiederaufbau der City nach der
Katastrophe. Bereits in der Zeit um 1700 kann man einige Attribute feststellen, die
offensichtlich prägend für das Bild von London waren. Da wären zum Beispiel St Paul‘s und
90
91
Vgl.: Ballon, Portraying, S. 690.
Wit, A View of London
36
der Tower als offensichtlich prägende Gebäude der Stadt, die für die Bewegung in der Stadt,
ihren Wiedererkennungswert und ihr Gesicht von unverzichtbarer Bedeutung waren. Sie
fanden sich in nahezu jeder Karte und Reisebeschreibung wieder und waren sowohl
Wahrzeichen, wie auch, allein durch ihre Größe schon, Orientierungspunkt im Raum.
Interessanter als diese Bestätigung allerdings sind die Adjektive, die London in dieser
Beschreibung zugeschrieben wurden. In dieser Beschreibung war London die "chiefest
(town)" in Großbritannien, "the throne of the kingdom" und ein Ort "of great Trafick". Damit
wurde der City of London nicht nur im Rahmen der Großstadt, sondern überall auf den
britischen Inseln ein expliziter Sonderstatus zugesprochen. Die tatsächliche Königsstadt –
Westminster – wird in diesem Text nicht einmal erwähnt. Es bestätigt sich also die Annahme,
dass die City of London einen nicht unerheblichen Sonderstatus einnimmt, aber ihre Rolle in
der Großstadt bleibt auch hier unklar. Die Auflistung wichtiger Gebäude deutet erneut darauf
hin, dass eine Orientierung innerhalb der Stadt vor allem anhand prominenter Landmarken
stattfand und diese nicht nur für die Bewohner der Stadt, sondern auch für Menschen
außerhalb der Stadt zu wichtigen Wahrzeichen geworden waren, die als symbolische
Stellvertreter der Stadt zählen konnten und die Wahrnehmung des Raumes durch ihre
imposante Gestalt nachhaltig beeinflusst haben.
Ähnliche Erkenntnisse lassen sich auch aus anderen Karten dieser Zeit und in diesem
Stil ziehen. Die ebenfalls 1700 in Nürnberg erschienene Karte "A view of London, in the
middle ground the river Thames and Southwark, in the foreground group on a hill" des
deutschen Zeichners Johann Peter Wolff war zwar im Verhältnis deutlich kleiner ( 270 zu 325
mm) als ihr zuvor besprochenes Pendant, allerdings beruht sie auch auf einer in Holland
populären Vorlage.92 Der Stil der Karte ist unverkennbar der von de Wit ähnlich und auch die
Aussagen der Karte über die Stadt wirken ähnlich zu sein.
92
Vgl.
Angaben
des
British
Museum
auf:
http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?assetId=903542&objec
tId=3308165&partId=1
37
Abb. 5: Wolff, Johann Peter, A view of London, in the middle ground the river Thames and Southwark, in the
foreground group on a hill, Nürnberg 1700.93
Auch in diesem Bild steht der virtuelle Betrachter auf einem Hügel südlich von Southwark
und blickt von dort aus über Southwark auf die City of London. Die dargestellten Figuren
sind etwas anders. So ist im unmittelbaren Vordergrund dieses Mal nicht eine Gruppe von
Männern mit Hunden, die sich unterhalten und dabei die Stadt betrachten, sondern eine
eindeutig adlige Gesellschaft mit Personal zu sehen, die der Zeichner als Ausweis seiner
Kenntnis von Land, Leuten und Moden gewählt hat. Außerdem zeigte der Zeichner dem
Betrachter durch die Darstellung von Karren und Kutschen auf den Straßen und Flößen auf
der Themse etwas mehr von den Möglichkeiten der Fortbewegung im städtischen Kontext.
Ansonsten allerdings bleibt der Stil der Karte im Großen und Ganzen unverändert. Die
Aufteilung zwischen Fluss- und Hochseeschifffahrt links und rechts der London Bridge ist
gleich geblieben und auch die Bezeichnung der wichtigen Gebäude der Stadt hat sich nicht
93
Vgl. Ebd.
38
verändert. Der Betrachter ist also immer noch in der Lage, sich durch das reine Betrachten des
Bildes einen Überblick über die verschiedenen Landmarken der City of London und
Southwark zu verschaffen und bekommt einen Eindruck von der Architektur, der Kleidung
etc. der abgebildeten Stadt. Die Anordnung der bezeichneten Gebäude deutet auf einen
Vorrang der City in der Abbildung hin. Die Zählung beginnt mit Gebäuden auf der Nordseite
der Themse bzw. Fährpunkten. Gebäude in Southwark, wie beispielsweise das Globe Theatre,
werden erst am Ende der Auflistung erwähnt und sind auch zahlenmäßig deutlich in der
Unterzahl. Bedenkt man die Überschrift der Karte, so verwundert dies nicht. Der Ausschnitt,
der für die Karte gewählt wurde, macht deutlich, dass die City of London inzwischen nicht
mehr eine in sich geschlossene Siedlung, sondern Teil einer Großstadt geworden war. Von der
städtischen Mauer, oder anderen räumlichen Seperationszeichen, war hier nichts mehr zu
sehen. Zwar wurden am östlichen und westlichen Rand der Karte die Gebäude perspektivisch
immer kleiner, aber es ist deutlich, dass die Bebauung über den dargestellten Abschnitt
hinausging.
Was lässt sich also abschließend über Karten von London als (Ab-)Bilder der Stadt
sagen? Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die betrachteten Karten allesamt
Aussagen über die Art von Weise von Raumkonstruktion in der frühneuzeitlichen Stadt
machen, die sich in wesentlichen Punkten überschneiden. Für London bedeutet dies, dass die
ehemaligen Partikularstädte nach wie vor als solche wahrgenommen wurden. Die rechtliche
Eigenständigkeit der jeweiligen Entitäten wurde auf unterschiedliche Arten und Weisen
betont. Sei es durch die optische Betonung der London Wall oder subtiler durch die
Häufigkeit von Ortsbezeichnungen oder Verwendung von Symbolen in Vignetten. Trotz
dieser Emphase auf den konstruierten Charakter der Region bleibt der Eindruck, dass die
ehemalig eigenständigen Städte im Laufe der Zeit zu einer Großstadt zusammengewachsen
sind, die sich aus der Vogelperspektive als Einheit darstellt. Dieser Widerspruch zwischen der
Wahrnehmung der Teile und ihrer Summe macht die Spannung der Karten aus. Ihre schiere
Größe scheint die Stadt für gängige Ordnungskriterien inkompatibel zu machen. Die Symbole
der klassischen Stadt – Stadtmauer, Wappen, Sinnspruch etc. – sind zwar für die einzelnen
Teilstädte vorhanden, aber es hat sich noch keine gemeinsame bzw. geteilte Symbolik
durchgesetzt. Die Versuche der Kartenmacher, mit ihren Mitteln die Region zu beschreiben,
wirken auf der Ebene der Kommunikation über klassische Symbole der Macht und Autorität
uneinig und spiegeln sicherlich auch den unaufgelösten Widerspruch in der Wahrnehmung
der Stadt als einig und doch disparat wider. In der betrachteten Zeit scheint sich der Name
London allerdings zumindest für die Großstadt insgesamt langsam durchzusetzen.
39
Abgesehen von diesen Widersprüchen lassen sich allerdings noch andere Aussagen
über die Stadt aus den Karten herauslesen. Die Orientierung im Raum erfolgte anscheinend
am ehesten über das Wiedererkennen von Landmarken und das virtuelle Erstellen von
Abständen und Wegen durch die Stadt in einer Matrix von herausragenden Orten bzw.
Gebäuden. Einige dieser Gebäude scheinen auch für die Konstruktion einer spezifisch
städtischen Identität nicht unbedeutend gewesen zu sein. Die optische und schriftliche
Hervorhebung von St Paul‘s, dem Tower, Westminster Abbey, dem Globe Theatre etc. deuten
daraufhin, dass städtische Identität sich äußerlich an bestimmte klar wiederzuerkennende
Signifikanten knüpfte. Der Verlauf der London Wall und der Themse, das markant-wuchtige
Aussehen von St Paul‘s oder die typische Form von St James‘s Park konstruieren im 18.
Jahrhundert ein spezifisches Bild von der Stadt, vielleicht vergleichbar mit der Skyline
moderner Großstädte.
Karten bilden in diesem Kontext natürlich nur eine gewisse dominante Strömung
innerhalb des Ringens um Bedeutungszuschreibung ab, allerdings bekommt man über Karten
einen Zugang zu eben diesen dominanten Diskursen. Die Großstadt London wurde als
bedeutende und besondere Stadt im Königreich England gesehen und war für dieses
Königreich von herausragender Bedeutung. Innerhalb dieses Komplexes hatte die City of
London einen besonderen Status inne. Sie war der historische Nukleus der gesamten Region,
ihr wichtigster Handels- und Verkehrsknotenpunkt, der Sitz vieler identitätsstiftender
Landmarken und nicht zuletzt der Namensgeber der Region. London war auch eine Großstadt
in der die oberen und die untersten Gesellschaftsschichten dicht beieinander gelebt haben,
auch wenn sich durch das enorme Wachstum im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Tendenz zur
räumlichen Segregation herausgebildet hat. Man kann dies aus den in der City, an der Fleet
Street und The Strand entstehenden neuen Häusern der Oberschicht – welche sich auch in den
Karten verzeichnet fanden – ablesen. Im Kontrast zu dieser Entwicklung wirken die riesigen
neuen Wohnflächen im Norden, Nordosten und Nordwesten der Stadt seltsam inhaltsleer,
wenn man lediglich die Karten betrachtet. Die Anzahl herausgehobener Gebäude,
piktografisch gekennzeichneter Orte oder anderer Zeichen von besonderer Bedeutung, waren
hier so gut wie nicht verzeichnet. Dies zeigt zum einen, dass diese neuen Stadtteile für das
(Selbst-)bild der Großstadt nicht so bedeutend waren – was anhand ihrer relativen Neuheit
nicht verwundert –, zum anderen aber auch, dass diese Stadtteile im Diskurs eindeutig
weniger stark waren als ihre älteren Pendants.
Diese Aussage lässt sich ebenfalls dadurch stützen, dass die Dichte an wichtigen
Verkehrswegen in diesen neuen Stadtteilen deutlich weniger ausgeprägt war als sie es in den
40
drei Polen der Großstadt – London, Westminster und Southwark – gewesen ist. Um allerdings
an weitere Aussagen zur Wahrnehmung der Großstadt durch ihre Bewohner selbst zu
gelangen, muss man sich anderen Quellen annähern. Karten geben, wie ausgeführt wurde,
immer einen bestimmten Hauptstrang des Diskurses wieder und ihre Textualität liegt eher
unter als auf der Oberfläche. Um ein besseres Bild von der direkten Wahrnehmung der Stadt
bzw. ihrer Darstellung in anderen Medien zu kommen, verlagert sich der Fokus des folgenden
Kapitels auf schriftliche Zeugnisse von der Großstadt London.
41
4.Wahrnehmung der Stadt von außen: London in Reiseberichten
4.1. Der Reisebericht als historische Quelle
In diesem Kapitel wird die Perspektive von den bildlichen auf die schriftlichen Quellen
verlagert. Vorrangig sollen dabei Reiseberichte bzw. Reisebeschreibungen im Vordergrund
stehen. Reiseberichte haben als literarische Gattung einige Besonderheiten, die sie für die
Fragestellung dieser Arbeit besonders interessant machen. Dies sind ironischerweise genau
jene Eigenschaften, die dazu geführt haben, dass Reiseberichte lange Zeit als Quelle nicht
ernst genommen worden sind. In der Literaturwissenschaft wurden sie lange Zeit als eine
Gattung wahrgenommen, die eine "eigentümliche Zwischenstellung an der Grenze von
Fiktion und Faktographie"94 einnahm. Michael Habsmeier hat die gängige Kritik an dem
Quellenwert der Reiseberichte wie folgt zusammengefasst: "Alle Reisebeschreibungen von
Herodot bis heute werden misstrauisch betrachtet, da sie ganz offensichtlich subjektive
Übertreibungen und vielfach sogar Lügen enthalten. Sie entziehen sich daher auch den
strengen Kriterien historischer und ethnographischer Quellenforschung."95
Man muss zugestehen, dass die Kritik von Habsmeier Anfang der 1980er Jahre
formuliert worden ist und in der Forschung der Wert von Reisebeschreibungen als Quellen
inzwischen durchaus anerkannt ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Kritik der älteren
Forschung an Reiseberichten grundsätzlich falsch oder gegenstandslos ist. Manche
Vorbehalte gegen Reiseberichte als Quellen treffen in dem ein oder anderen Ausmaß zu.
Reiseberichte können wie jede andere Quelle auch hochgradig subjektiv, wenig objektiv und
reflektiert sein. Sie können Übertreibungen, falsche Wahrnehmungen oder bewusst falsche
Darstellungen von Orten, Räumen, Verhältnissen oder ähnlichem abbilden. Allerdings ist es
gerade diese unreflektierte Subjektivität, die die Reiseberichte zu einer hervorragenden Quelle
machen, wenn man versucht die zeitgenössische Wahrnehmung zu rekonstruieren. Hans
Jürgen Teuteberg bringt den Vorteil der Quellengattung für bestimmte Fragestellungen
pointiert zum Ausdruck, wenn er schreibt: "Sie [Anm. des Autors: die Quellengattung] ist aus
der unmittelbaren Anschauung entstanden und nicht durch distanzierte Reflexion verzerrt."96
94
Possin, Hans-Joachim, Reisen und Literatur. Das Thema des Reisens in der englischen Literatur des 18.
Jahrhunderts, Tübingen 1972, S. 9.
95
Harbsmeier, Michael, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer
historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Reiseberichte
als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, hrsg.
v. Antoni Maczak und Hans Jürgen Teuteberg, Wolfenbüttel 1982, S. 1 - 32, hier: S. 1.
96
Teuteberg, Hans Jürgen, Der Beitrag der Reiseliteratur zur Entstehung des deutschen Englandbildes zwischen
Reformation und Aufklärung, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und
Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, hrsg. v. Antoni Maczak und Hans Jürgen Teuteberg,
Wolfenbüttel 1982, S. 73 - 113, hier S. 95.
42
Der Reisebericht stellt das Erleben einer Reise in den Mittelpunkt seiner Erzählung
und versucht dem Adressaten, so der Autor denn einen bestimmten im Kopf hatte und nicht
nur ein Reisetagebuch geführt hat, das beschriebene Land bzw. die beschriebenen Räume und
Orte näherzubringen. Der Reisende, der sich von Ort zu Ort bewegt und dabei für sich selbst
einen Raum konstruiert bzw. als Außenstehender auf die Räume blickt, die sich aufspannen,
ist in diesem Fall ein sehr geeigneter Zeitzeuge, um einem Prozess nachzuspüren, der sich für
die meisten Zeitgenossen nicht aktiv, sondern als ständiger Hintergrundprozess abspielte und
der somit selten zum Objekt der bewussten Reflexion wurde.97 Die Reise hingegen ist eine
Möglichkeit, die Realität einer unbekannten Stadt bzw. eines Landes komplett neu zu
erfahren, und ist somit eine andere Art der Wirklichkeitserfahrung und vor allem in der
Aufklärung Teil eines neuen Bewusstseins.98
Waren es im 16. und 17. Jahrhundert vor allem die so genannten Kavalierstouren und
gelehrten Reisen, also die Reisen adliger junger Männer an bedeutende europäische Höfe, und
eher antiquarisch motivierte Reisen von Gelehrten, die die Masse der Reisenden ausgemacht
haben, von denen Berichte überliefert sind, so ändert sich dies im 18. Jahrhundert langsam.99
Immer mehr bürgerliche Reisende hinterließen Zeugnisse ihrer Reisen in andere europäische
Länder und Städte und legen damit nicht nur Zeugnis eines neuen aufgeklärt-bürgerlichen
Selbstverständnisses, sondern auch von den erfahrenen Räumen ab, durch die sie ihre Reisen
geführt haben. Das bedeutet nicht, dass die Kavalierstour zu existieren aufhörte, vielmehr
wandelte sich das Reiseverhalten. So begann auch der reisende Adlige im 18. Jahrhundert,
Städte in sein Repertoire aufzunehmen, die zuvor nicht zwingend notwendig gewesen wären
bzw. mancher Adliger der sich selbst als Aufklärer verstand und seine Konzeption der Reise
der "neuen bürgerlichen Reise" deutlich ähnlicher war als sie es einer "klassischen"
Kavalierstour des 16. oder 17. Jahrhunderts gewesen wäre.
Neben diesen Veränderungen des Charakters der Reise durch die Aufklärung, ist aber
auch noch ein anderer Einfluss zu beachten. Das 18. Jahrhundert als ein Zeitalter europäischer
Expansion in bisher noch nicht bekanntem Ausmaß, weckt generell das Interesse an anderen
Ländern und Formen des Exotischen. Als eine von vielen parallelen Entwicklungen steht hier
das
verstärkte
Reisen
als
eine
manifeste
Ausdrucksform
des
gesellschaftlichen
97
Von dieser Regel abweichende Beispiele werden zu späterem Zeitpunkt in dieser Arbeit besprochen.
Bödecker, Hans-Erich, Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung, in: Aufklärung und
Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Erich Bödecker et.
al., Göttingen 1986, S. 276 - 298, hier: S. 277.
99
Zur Kavalierstour vor dem 18. Jahrhundert vgl.: Ridder-Symoens, Hilde de, Die Kavalierstour im 16. und 17.
Jahrhundert, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hrsg. v. Peter J.
Brenner, Frankfurt am Main 1989, S. 197 - 223.
98
43
Zusammenhangs
zwischen
der
Erforschung
des
geografischen
Raums,
dem
wissenschaftlichen Fortschritt und der ökonomischen Entwicklung.100 All diese miteinander
verschränkten Prozesse sorgen – neben diversen anderen Folgeentwicklungen – auch dafür,
dass das Reisen in den gehobenen Schichten Europas, sowohl bürgerlichen wie adligen, ein
verstärktes Interesse erfährt. Dieses Interesse kann sich natürlich in verschiedenen Formen
und Zielen ausdrücken. Die Reise in unbekannt und fremd wirkende Teile des eigenen
Sprachraums, kann genauso Ziel einer aufklärerischen Reise sein wie das europäische
Ausland
oder
die
neue
Welt.
Der
Fokus
der
Reise
kann
auf
historischen,
naturwissenschaftlichen, oder anderen Begebenheiten etc. liegen. Der Grund bzw. die
Motivation zu reisen, ist von Fall zu Fall so unterschiedlich wie es die Reisenden selbst
sind.101 Festzuhalten sind lediglich zwei Dinge; zum einen dass das Reisen als Phänomen an
sich einen Wandel und eine Verstärkung durchläuft, zum anderen, dass es im Laufe des 18.
Jahrhunderts eine generelle Tendenz zur Verlagerung der thematischen Schwerpunkte gibt:
"vom Religiösen zum Politischen, von der Topographie zur Soziologie."102
Durch das verstärkte Reisen bürgerlicher Schichten, vor allem gegen Ende des 18.
Jahrhunderts, erlebte die literarische Gattung des Reiseberichts ein goldenes Zeitalter.
Zwischen 1750 und 1840 gelangt das Genre zu seiner weitesten Verbreitung und es entstand
ein Vielfaches an Werken im Vergleich zu den vorherigen oder folgenden Jahrzehnten.103 In
diesem Kontext ist natürlich nicht ausschließlich nicht-fiktionale Literatur entstanden. Neben
fiktiven Reiseberichten, die zumindest dem Stil und den äußeren Erscheinungsformen nach
dem Reisebericht ähneln, entstehen auch artverwandte Genres wie die Robinsonade oder der
Reiseroman.104 Das Interesse an (der Dokumentation) der Reise kann also nicht geleugnet
werden.
In diese Blütezeit fallen des Weiteren einige bedeutende Wandlungen des Genres.
Zum einen verändert sich die Perspektive der Autoren in der Tendenz dazu, dass der
Anspruch einer geschlossenen Erzählung zu Gunsten der Darstellung individueller
100
Vgl. dazu: Griep, Wolfgang - Reiseliteratur im späten 18.Jahrhundert, in: Deutsche Aufklärung bis zur
Französischen Revolution, hrsg. v. Rolf Grimminger, München 1980, S: 739 - 764, hier: S. 741.
101
Vgl. dazu: Jäger, Hans-Wolf, Reisefactetten der Aufklärung, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer
Gattung in der deutschen Literatur, hrsg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt am Main 1989, S. 261 - 283.
102
Maurer, Michael, Topographie und Wandel, in: O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche
Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, München 1992, S. 28.
103
Vgl. zur Geschichte des Genres und seiner Blütezeit auch: Ebd. ; Bönisch-Brednich, Brigitte, Reiseberichte.
Zum Arbeiten mit publizierten historischen Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Methoden der Volkskunde.
Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, hrsg. v. Silke Göttsch und Albrecht Lehmann,
Berlin 2007, S. 125 - 140.
104
Zur Geschichte des Genres und zu seiner Abgrenzung von benachbarten Gebieten vgl.: Brenner, Einleitung,
in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hrsg. v. Peter J. Brenner,
Frankfurt am Main 1989, S. 7 - 13.
44
Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozesse aufgegeben wird,105 zum anderen rückt "die Stadt"
und der Weg zu ihr als Fokus der Beschreibung an die Stelle "des Hofs" und bietet somit
einen neuen Einblick in das Alltagsleben der frühneuzeitlichen Stadt,106 welcher für die
Analyse von Raumkonstruktion zu Rate gezogen werden kann.107
In Reiseberichten kommt immer dem Besonderen und Anderem der bereisten Gegend
spezielle Aufmerksamkeit zu. Das Andere kontrastiert immer das Eigene, von dem aus der
Reisende gestartet ist. Aus diesem Grund werden in der Folge sowohl Reiseberichte von
Fremden, in diesem Fall von deutschen Englandreisenden nach London, wie auch Berichte
von Briten die nach London reisen bzw. fiktive Reiseberichte von Londonern ausgewertet
werden, um so einen möglichst aussagekräftigen Querschnitt der vorhandenen Quellen
abzubilden. Um ein wenig Ordnung in das auf den ersten Blick im Übermaß vorhandene
Quellenmaterial zu bringen, wird dabei in zwei Schritten vorgegangen. Zunächst werden
Zeugnisse bzw. Aussagen von Reisenden nach London berücksichtigt. Diese Autoren
kommen in der Regel als Fremde in die Stadt und beziehen ihr Wissen darüber aus Büchern
oder Erzählungen. Ihre Schilderungen lassen einen Blick darauf zu, wie sich die Großstadt
nach außen wahrnehmbar präsentiert. Der von den Bewohnern geschaffene urbane Raum
wirkt sozusagen auf den Reisenden ein und wird von diesem wahrgenommen, rezipiert und
schließlich in ihren Berichten beschrieben.
In einem zweiten Schritt werden Zeugnisse von Briten bzw. Londonern selbst
untersucht. Dabei soll die aktivere Seite der Raumkonstruktion betrachtet werden. Mitglieder
der untersuchten Gesellschaft gehen mit einem anderen Blick an ihre eigene Stadt heran, als
dies Reisenden von außerhalb möglich wäre bzw. war. Der Blick verlagert sich in diesem Teil
also auf die Art und Weise, wie die Bewohner selbst ihre Stadt wahrnehmen bzw. je nach
Perspektive ihren urbanen Raum konstruieren.
Es sei vorangestellt, dass die folgende Auswahl keinerlei Anspruch auf
Vollständigkeit erhebt, dafür ist der Quellenbestand an Reiseberichten aus dem 18.
Jahrhundert einfach zu groß. Vielmehr wird eine Auswahl von bekannten bzw. "typischen"
Reiseberichten getroffen, die als Exempel besprochen und denen Verweise auf bzw. Zitate
aus anderen Quellen zur Seite gestellt werden. Ziel dieser Auswahl ist es, die Hauptlinien der
Wahrnehmung bzw. die dominanten Varianten der Raumdeutung herauszuarbeiten. Es
105
Bödecker, Reisebeschreibungen, S. 293.
Ebd. S. 285.
107
Bei der Analyse von Reiseberichten muss man in Rechnung stellen, dass sie nicht als wissenschaftliche
Reflexionen geschrieben wurden. Trotzdem kann man sie als "Kulturdokument"in diesem Sinne gegen den
Strich lesen und so belastbare Aussagen treffen. Vgl. dazu auch: Bitterli, Urs, Der Reisebericht als
Kulturdokument, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9 (1973), S. 555 - 564.
106
45
versteht sich, dass dabei Minderheitenmeinungen bzw. abweichende Konstruktionen nicht
ausreichend gewürdigt werden können. Solche Meinungen bzw. Konstruktionen sind bei einer
Stadt von der Größe Londons zu erwarten. Ein homogener Diskurs über die Natur der Stadt
ist, wie sich bereits im vorangegangenen Kapitel gezeigt hat, eine absolute Fiktion. Es kann
deshalb nur das Ziel der Darstellung sein, die gängigste bzw. die am weitesten verbreitete
Darstellung aus den Quellen herauszudestillieren, ohne dabei die Engführung der eigenen
Perspektive aus den Augen zu verlieren.
46
4.2. Uffenbachs merkwürdige Reisen
Den Anfang in der Analyse macht der Bericht des deutschen Reisenden Zacharias Konrad von
Uffenbach108 von einer Reise über Niedersachen, Holland und England aus den Jahren 1709
bis 1711. Dieser Bericht wurde erst nach dem Tod des Frankfurter Patriziers im Jahre 1753
von seinem Freund Johann Georg Schelhorn ediert, gedruckt und veröffentlicht.109 Einige
Jahre vor dem Zeitpunkt seiner Reise war Uffenbach in Halle zum Juristen promoviert
worden und war danach nach Frankfurt gegangen, wo er begann, eine umfangreiche
Bibliothek aufzubauen und seine eigene Sammlung zu katalogisieren. Diese besagte Reise
war seine zweite und die erste, die ihn ins europäische Ausland führte. Uffenbach ist also ein
typischer Vertreter einer hochgebildeten, wohlhabenden Schicht von adligen Reisenden, die
Aufzeichnungen von ihrer Grand Tour hinterlassen haben.110 Von ihm selbst waren seine
Aufzeichnungen nicht für eine Publikation vorgesehen gewesen, denn bei seinem Tod
vermachte er dem späteren Editor und Verleger lediglich Handschriften, die dieser erst
sortieren musste, ehe sie in Druck gehen konnten. Nun ist es spekulativ, ob Uffenbach mit
einer postmortalen Publikation durch Schelhorn gerechnet hat oder nicht, aber es kann
berechtigterweise davon ausgegangen werden, dass Uffenbachs Beschreibungen nicht im
Hinblick auf ein bestimmtes Publikum oder mit einem deutlichen moralischen
Missionsauftrag formuliert worden sind. Diese Annahme macht Uffenbachs Aufzeichnungen,
wie alle dieses Typus‘, zu einer wichtigen Quelle, was das persönliche Erleben des Raumes,
die Bewegung durch und die Konstruktion von Raum angeht.
Die ersten Seiten seines Berichts über die Reise nach England, der erst im letzten
Drittel des zweiten Bandes beginnt, sind der Überfahrt von Holland nach England gewidmet
und beschreiben die Fahrt mit den Schiff und die Zustände an Bord, die Uffenbach durchaus
schockiert haben. Die Zustände unter Deck bei einem Sturm waren dem Edelmann ein Graus.
Er schreibt: "[...]will ich [...] mir ausgebeten haben, daß man mir nicht übelnehme, wenn ich
eine hässliche Sache nicht schön noch appetitlich beschreibe, sondern so, wie sie an sich
selbst leider! gewesen. / In dem Schiffe nun, wo das gemeine Volk beieinander war, sahe es
108
Alle Anmerkungen zu Uffenbachs Werdegang bzw. Vita beziehen sich auf die Angaben der Allgemeinen
Deutschen Biografie, da aktuellere Biografien oder Werke zur Person von Uffenbach nicht gefunden werden
konnten. Vgl.: Jung, Rudolf, „Uffenbach, Zacharias Konrad von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie (1895),
S. 135 - 137.
109
Zur Person Schelhorns: Bauer, Bernhard, „Schelhorn, Johann Georg“, in: Allgemeine Deutsche Biographie
(1890), S. 756 - 759.
110
Zum Begriff der Grand Tour vgl. exemplarisch: Stumpf, Nikola, Home Tour statt Grand Tour. Reiseliteratur
im Long Eighteenth Century und ihre Beiträge zu einem neuen Schottlandbild, Marburg 2012, S. 47 - 62.
47
ärger aus als in einem Schweinestalle."111 Hier wird deutlich, dass nicht allein Edelleute die
Überfahrt nach England auf sich nahmen, sondern der größte Teil der Reisenden aus dem
gemeinen Volk gestammt haben dürfte. Diese beiden Gruppen wurden auf dem Schiff, wenn
nicht gerade ein Sturm herrschte, auch räumlich voneinander getrennt. An sich handelt es sich
nur um eine kleine Randnotiz, aber sie zeigt schon deutlich, dass Uffenbachs Reise unter
einem völlig anderen Stern stand, als die Reisen gemeiner Leute nach England und wohl auch
anders als die anderer Edelleute: "[…] [J]ene aber wollten die Guinee sparen. Sie mussten
also in das Schiff selbst unter die gemeinen Leute."112
Nachdem er in England gelandet war, musste sich Uffenbach erst einmal durch
verschiedene Dörfer bewegen, denen er allesamt nur wenige Worte gewidmet hat. Die Stadt
Colchester beispielsweise wird mit folgenden Worten beschrieben: "Es stehet diese Stadt in
der Landschaft sehr ansehnlich, wird auch in den Delices d'Angleterre schön genennet, ist
aber nichts besonderes, ob es gleich ein sehr grosser Ort ist."113 Uffenbach hatte sich
offensichtlich, wie viele Reisende seines Standes und seiner Zeit, eine gewisse Vorbildung
über die Gegend seiner Reise angeeignet. Die Erwähnung der "Delices d'Angleterre", einer
Beschreibung von Sehenswürdigkeiten in England, legt diese Vermutung zumindest nahe und
deutet auf ein Spezifikum der Aneignung des Raumes durch den Reisenden des 18.
Jahrhunderts und der Entstehung der Reiseberichte hin. Die meisten Reisenden hatten sich
zum einen bereits zuvor in die bestehende Literatur eingelesen, 114 zum anderen folgten sie
zumeist einem bestimmten standardisierten Vorgehen bei der Erstellung des Berichts. 115 In
den meisten Fällen handelte es sich, vereinfacht gesagt, um einem Dreischritt aus Vorschrift,
Übertragung und Reinschrift, wobei zwischen Schritt eins und zwei der Theorie nach nicht
viel Zeit, zwischen Schritt zwei und drei aber sehr wohl einige Zeit liegen konnte. Die
Konsequenz aus diesem Vorgehen ist, dass die Reisenden, die diese Techniken anwandten,
sich nicht ohne Vorannahmen in den neuen Raum hinein bewegten. Man kann dieser Stelle
entnehmen, dass Uffenbach offenbar sehr genau über die entsprechenden Orte informiert war
und seine Vorannahmen stets mit der vorgefundenen Realität verglich und ggf. eine
zustimmende oder begründet-ablehnende Haltung einnahm. Die initiale Wahrnehmung des
Raumes bzw. der Orte ist hier also mit einem vorher bereits existenten mentalen Bild
verknüpft, das es mit der vorgefundenen Realität in Einklang zu bringen gilt.
111
Uffenbach, Zacharias, Konrad von, Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach Merkwürdige Reisen durch
Niedersachsen, Holland und Engelland. Zweiter Theil, Ulm 1753, S. 430.
112
Ebd.
113
Ebd. S. 434.
114
Maurer, O Britannien, S. 20.
115
Ebd. S. 16ff.
48
Solche Konstruktionen findet man auch, wenn Uffenbach London erreicht. Nachdem
er und seine Reisebegleitung London erreicht und bei Mistress Benoit Quartier bezogen
hatten,116 begab er sich am folgenden Tag auf einen Spaziergang durch den St James‘s Park.
Er schreibt dazu: "Den 8. Juni, welches der erste Pfingst-Feiertag war, gingen wir
Nachmittags in den St. James Park spazieren. Dieser fast in der ganzen Welt berühmte, und
höchst angenehme Spaziergang, der in Tom. IV: des Delices de la Grande Bretagne p.837.
einiger massen (sic!) in Kupfer vorgestellt, und p.838. kürzlich beschrieben wird [...]."117
Uffenbach erschloss sich den Raum der Stadt also zunächst auf den Fußspuren seiner
Vorgänger, indem er einen Spaziergang unternahm, der zu seiner Zeit wohl einige
Berühmtheit genossen haben muss.
Zumindest an dieser Stelle seiner Reise hat Uffenbach auch noch keinen Unterschied
zwischen der City of London und der City of Westminster gesehen, in deren Jurisdiktion und
unmittelbarer Nähe sich der St James‘s Park befand. Statt von einer Reise durch verschiedene
Städte bzw. Stadtteile sprach Uffenbach immer nur allgemein von London. Er verwendete
diesen Begriff also offensichtlich in einem weiten, großstädtischen Verständnis, statt in einem
auf die ursprüngliche City begrenzten. Zumindest lässt sich am Beginn seiner Beschreibung
kein Hinweis darauf finden, dass er sich der formellen Unterschiedlichkeit der einzelnen
Teilstädte bewusst gewesen wäre. Sollte dies der Fall gewesen sein, dann empfand er es
offensichtlich trotzdem aus einem bestimmten Grund für so unbedeutend, dass es keiner
gesonderten Notiz wert war. Vielmehr sprach er von Westminster nur auf der Ebene, auf der
er ansonsten Gebäude, Plätze oder andere Sehenswürdigkeiten berücksichtigte. Der Platz
Haymarket, bei welchem ein Theater liegt, das Uffenbach besuchte, bekam an dieser Stelle in
seiner Beschreibung mehr Zeilen zugesprochen als die Königsstadt.118 An anderer Stelle
kommt dem St James‘s Park eine ähnliche Stellung im Vergleich zu.119 Auch wurde in der
Überschrift der Seite, anders als zum Beispiel bei Chelsea oder Greenwich, die
Oberbeschriftung nicht von London zu Westminster bzw. Westmünster geändert, sondern
blieb bei London. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass er Westminster als Teil der
Großstadt, ungefähr auf der Ebene eines Stadtteils und nicht als eigenständige Stadt,
wahrnahm. Für diese Beobachtung spricht ferner, dass die Erwähnungen von Orten wie
116
Uffenbach, Merkwürdige Reisen, S. 435. Diese Mistress Benoit war Pfälzerin von Geburt und Uffenbach
offenbar direkt empfohlen worden (ebd.), was ein Schlaglicht auf die Netzwerke zwischen Exilanten und
Reisenden wirft, an dieser Stelle aber leider nicht weiter vertieft werden kann.
117
Ebd. S. 435f.
118
Ebd. S. 440.
119
Ebd. S. 464.
49
Westminster, Southwark etc. in derselben Sprache vorgenommen werden, wie sie anderen
Stadtteilen oder Sehenswürdigkeiten zukommt.120
Sehr wohl allerdings nimmt er Siedlungen wahr, die (noch) nicht im großstädtischen
Verband aufgegangen sind. Er schreibt beispielsweise zur Siedlung Chelsea: "Nachmittags
gingen wir durch den St. James-Park nach Chelsey, eine gute halbe Meile, vor der Stadt, um
in diesem Dorf [...]."121 Der spätere Stadtteil Chelsea ist zu dieser Zeit also noch nicht durch
den expandierenden städtischen Raum umschlossen und so in den Komplex London integriert
worden. Dementsprechend wirkt er in der Wahrnehmung des Reisenden auch nach wie vor
wie ein eigenständiges Gebilde. Westminster hingegen, das zu dieser Zeit bereits durch einen
breiten Streifen durchgehender Besiedlung mit dem Rest der Stadt verbunden war, wurde von
ihm, wie bereits gesagt, nicht gesondert aufgeführt. In der Wahrnehmung Uffenbachs machte
also das (mehr oder weniger) geschlossene Siedlungsgebiet den Kern von London als
Großstadt aus.
In Chelsea selbst bewegte sich Uffenbach erneut auf den Spuren seiner Vorgänger und
orientierte sich an den beschriebenen Sehenswürdigkeiten, wobei er stets seine eigenen
Erfahrungen mit denen seiner Vorgänger in Übereinklang zu bringen suchte. 122 Wo seine
Erfahrung bzw. sein Eindruck von den Beschreibungen seiner Vorgänger abwich, da notierte
Uffenbach seine Verwunderung durch Formulierungen wie "[...] daß ich es für einen kleinen
Irrtum halte, wenn daselbst gesagt wird [...]".123 Seine Beschreibungen des Dorfes Chelsea
sind durchzogen von Erläuterungen von Fußwegen, die durch bestimmte Landmarken
beziehungsweise herausragende Orte, z.B. bestimmte Viertel, Statuen oder Wirtshäuser,
strukturiert wurden.124
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Dorf Greenwich, das Uffenbach einige Tage
später besuchte. Er gelangte über eine Bootsfahrt auf der Themse in den Ort und war
offensichtlich hellauf begeistert von den Gebäuden, die er dort vorfand. Er schreibt von einem
Park: "Ich glaube nicht, daß ein angenehmerer Ort in der Welt sein kan, als dieser Park". 125
Von diesem Park bei dem weltberühmten astronomischen Observatorium hatte man eine
blendende Aussicht. Interessanterweise notierte Uffenbach dazu die Worte: "Wenn man
hinauf steiget, sieht man nicht allein die Tems sehr weit, sondern zur Zeiten gegen über
120
Exemplarisch: Ebd. S. 512.
Ebd. S. 436.
122
Ebd. S. 436ff.
123
Ebd. S. 436
124
Ebd. S. 436ff.
125
Ebd. S. 445.
121
50
Londen liegen, und auf der andere sehr weit in das Land."126 Greenwich und London wurden
hier eindeutig als separate Entitäten gesehen und auch als solche beschrieben. Die Nennung
von Greenwich in der Kopfzeile der entsprechenden Seite anstelle von London, die
Erwähnung der in einiger Entfernung zu sehenden Stadt und seine abschließende Bemerkung
"wir fuhren [...] wiederum nach Londen zu"127, deuten klar in die Richtung einer solchen
Wahrnehmung durch den Reisenden.
Generell schien der Spaziergang sein bevorzugtes Mittel der Fortbewegung im
städtischen Raum und die Kutsche das bevorzugte Transportmittel für längere Distanzen bzw.
zu bestimmten angepeilten Orten zu sein. Allerdings nur, solange es nicht möglich war, mit
den Fähren zu fahren. Er notierte zu seiner ersten Fährfahrt auf der Themse folgende Zeilen:
"Es ist eine unvergleichlich bequeme Sache, daß man, weil Londen meist nach der Länge
des Flusses gebaut ist, fasst überall zu Wasser kommen kann, das dann überaus lustig ist,
nicht allein, weil man an der Stadt herfähret, sondern auch, weil es gar geschwinde gehet.
[...] Es ist bequemer mit diesen Booten als mit den Hackney-Coaches, die grausam
stossen, zu fahren."128
Dabei korreliert seine Aufmerksamkeit bzw. der Raum, den die Fortbewegung in seinen
Beschreibungen einnimmt, mit der Intensität der Erfahrung. Die Kutschenfahrt überbrückte
große Distanzen, wurde aber in den Beschreibungen nur beiläufig erwähnt: "Den 10. Junii,
Dienstag Morgens fuhren wir nach der Börse, um unsere Kaufleute zu sprechen."129 So oder
ähnlich lauten die meisten Beschreibungen von Kutschfahrten durch die Großstadt,
wohingegen die Spaziergänge und die darauf gewonnenen Eindrücke deutlich mehr Platz
beanspruchten.
Zumeist folgen seine Einträge einem festen Muster bzw. Schema. Er beginnt den
Eintrag mit der Nennung des Ziels der Reise an diesem Tag, beispielsweise: "Den. 17. Junii,
Dienstag Morgens fuhren wir nach dem Tour [...]"130. Es folgt in der Regel dann eine längere
Beschreibung des Ortes und ein Abgleich mit vorher angeeignetem Wissen. Bei einem
Besuch eines Zollhauses in der Nähe des Towers notierte er beispielsweise: "Das Gebäude ist
nichts besonderes, und die Tapete, so oben in dem mittelmäßigen Saal hanget, davon im
Guide de Londres viel Rühems gemachet wird, ist schlecht und nur ein Lappen."131 Neben
diesen Reflexionen über Bücherwissen greift er aber auch auf Vergleiche zu Orten zurück, die
er aus eigener Anschauung kannte. Bei einem Spaziergang über die Themse schrieb er "Die
126
Ebd.
Ebd. S. 451.
128
Ebd. S. 439ff.
129
Ebd. S. 438.
130
Ebd. S. 466.
131
Ebd. S. 474.
127
51
Temse ist auch (..) bei Londen so schmal, daß sie gerne ein Drittel schmäler als der Main bei
Frankfurt ist, ob sie gleich tieffer, und wegen der Ebbe und Fluth reissender sein mag, auch
unterhalb Londen gar ansehnlich wird."132 Ausführlich berichtete Uffenbach auch von seinen
Treffen mit verschiedenen Händlern, Freunden oder Bekannten. Den Beschreibungen von
Gesellschaften bzw. Treffen mit Menschen hatte der Autor den meisten Platz zugemessen.
Aus den einrahmenden Beschreibungen seiner Wege innerhalb der Großstadt lässt sich jedoch
ein Muster für seine Bewegung im Raum destillieren.
Die Reflexion über die aktive Wahrnehmungskonstruktion bzw. der Prozess der
Synthese fand bei Uffenbach nicht auf den Reisen mit der Kutsche oder den Fähren, sondern
auf den Fußwegen statt. Die Reisen zwischen den einzelnen Tageszielen bzw. Etappen schien
größtenteils eine Nebensache zu sein, oder zumindest keiner großen Erwähnung wert. Auf
seinen ausgedehnten Spaziergängen in den Parks oder durch Häuser und Bauwerke hingegen
fand die eigentliche Arbeit des Verknüpfens und Konstruierens statt. Bei Uffenbach entstand
aus der Verbindung von persönlicher Erfahrung, direktem Erleben und Abgleich mit
angeeignetem Wissen das eigene Bild der Stadt. Aus den Seiten seines Reiseberichts spricht
der Prozess des mapping, den Uffenbach vornahm, während er durch die Großstadt und die
angrenzenden Dörfer reiste. Die von ihm ausführlich und detailliert beschriebenen Orte und
Erlebnisse bildeten die großen Knotenpunkte seines persönlichen Londons. Verbunden sind
diese Orte durch die Bewegung durch die Stadt, entweder schwach durch Kutschen- bzw.
Bootsfahrten oder stärker durch Spaziergänge.133 Diese Orte waren vor allem klassische
Sehenswürdigkeiten der Stadt, aber auch Privat- und Kaffeehäuser, Theater, Buchhandlungen,
Hahnenkampfarenen, das Parlament und Parks. Diese Orte waren für einen Reisenden aus
Uffenbachs Schicht für diese Zeit relativ typisch, was sich durch die zahlreichen
Querverweise im Text auf bereits existierende Literatur einfach belegen lässt.
Leider fasst Uffenbach selbst kein Fazit seiner Reise bzw. seiner Eindrücke, so dass
der Leser mit der Aufgabe, die geschilderten Eindrücke zu einem Ganzen zu sortieren, allein
gelassen wird. Für die hier diskutierte Fragestellung lassen sich folgende Punkte festhalten:
Erstens ist das geschlossene Siedlungsgebiet für Uffenbach eine einzige Großstadt, die er mit
dem Namen London betitelt. Was auf den ersten Blick trivial wirkt, ist insofern wichtig, als
dass diese Konzeption der Großstadt, wie bereits vorher gezeigt wurde, zu dieser Zeit nicht
alternativ- bzw. konkurrenzlos war. Zweitens vollzieht sich Uffenbachs Reise nicht als
132
Ebd., S. 490f.
Gerade das Spazierengehen ist eine interessante Art der Raumerschließung. Später im 18. Jahrhundert wird
der Spaziergang bzw. die Fortbewegung zu Fuß ganz bewusst benutzt um die Umkehr der sozialen Ordnung zu
demonstrieren und die eigene Erfahrung des Raumes bewusst auszudrücken. Vgl. dazu: Griep, Reiseliteratur, S.
752f.
133
52
spontanes Erleben oder völlig neue Erfahrung, sondern als Folge sorgfältiger Vorbereitung
und Auswahl. Geht man davon aus, dass folgende Generationen von Reisenden solche
Berichte ihrer Vorgänger zur eigenen Vorbereitung gelesen haben, dann kann man Aleida
Assmann zustimmen, die diese Art der räumlichen Aneignung in die Metapher des
Palimpsests ausgedrückt hat.134 Drittens und abschließend lässt sich festhalten, dass
Uffenbachs London vor allem das London der reichen Immigranten, der herausragenden
Gebäude und der kuriosen Vergnügungen ist.
In diesem Kontext lässt sich auch beobachten, dass Uffenbachs Reiseziele viele Orte
abdecken, die in den zuvor betrachteten Karten der Stadt ebenfalls hervorstechend behandelt
wurden, sei es nun durch eine piktografische Hervorhebung oder durch eine Annotation und
Beschreibung im Index. Das Parlament, der Tower, die London Bridge oder der St James‘s
Park sind Orte, die sich sowohl in der Beschreibung des Reisenden als auch in den
Abbildungen der Kartografen wiederfinden. Man kann also davon ausgehen, dass diese Orte
für die Darstellung der Stadt entscheidende Knotenpunkte der Identitätskonstruktion und der
Kommunikation dieser städtischen Identität nach außen darstellen. Diese offensichtlich
bedeutenden Orte bilden die Eck- bzw. Fixpunkte eines Spacing-Prozesses, in dem die
spezifische räumliche Gestalt der Stadt von ihren Einwohnern gleichzeitig konstruiert und
erfahren wird. In diesem Fall nimmt Uffenbach als Reisender die manifestierte Außenwirkung
des Spacing in Form von konsumierten Reiseberichten und vorher gelesenen Meinung zu
diesen Orten wahr und trägt selbst durch seine eigene Beschreibung in einem Prozess der
Synthese zur Aktualisierung bzw. Änderung dieses Prozesses bei. Die Akzentuierung der
einzelnen Orte in ihrer Bedeutung kann von Person zu Person anders sein, wie sich in diesem
Fall ja auch an Uffenbachs mitunter stark abweichender Bewertung gezeigt hat, allerdings
bleiben die herausragenden Orte zunächst einmal trotzdem zentrale Punkte in dem
aufeinander bezogenen sozialen Prozessgeflecht aus Spacing und Synthese, das zum
individuellen Erfahren bzw. Mapping der Stadt führt.
Uffenbach beschreibt insgesamt das London der Oberschicht und scheint zu keinem
Zeitpunkt mit den Schattenseiten der Großstadt in Kontakt gekommen zu sein bzw. diese zu
erwähnen. Wenn er doch an einer Stelle einmal damit konfrontiert wird, als ihn beispielsweise
im St James‘s Park eine vermeintliche Prostituierte über den Weg läuft, von denen es in
London "eine erschreckliche Menge überall"135 gab, dann geht er in seinem Bericht nicht
134
135
Assmann, Geschichte, S. 18.
Uffenbach, Merkwürdige Reise, S. 436.
53
weiter darauf ein, sondern belässt die Benennung im Status eines Kuriosums, das sich nur in
die Reihe weiterer Merkwürdigkeiten einreiht.
4.3.: Pöllnitz' Reisenachrichten
Ganz ähnlich verhält es sich mit anderen Reisenden aus der Oberschicht ihres Landes und
damit Uffenbach Gleichgestellen. Der schillernde Freiherr Karl Ludwig von Pöllnitz hatte
beispielsweise ein ähnliches Programm bei seiner Englandreise erlebt zu haben. Zwar lesen
sich seine Beschreibungen der Stadt durchaus anders als die des früher Reisenden, aber es
lassen sich doch einige verblüffende Ähnlichkeiten herausfiltern. Pöllnitz hat seine Erlebnisse
vermutlich auf den Erlebnissen einer Reise nach England im Jahre 1721 aufgebaut und somit
ein gutes Jahrzehnt nach Uffenbach. Diese vorsichtige Formulierung ist angemessen, da
Pöllnitz selbst seine Erlebnisse auf das Jahr 1733 datiert.136 Wenn man der Forschung
Glauben schenken kann, dann befand sich Pöllnitz um diese Zeit herum allerdings überhaupt
nicht in London, wohingegen ein Besuch in London um das Jahr 1721 als gesichert gilt.137
Pöllnitz‘ Bücher erfreuten sich in den frühen 30er Jahren des 18. Jahrhunderts großer
Beliebtheit und machten ihren Autor "berühmt und wurden zu einer Art Reiseführer zu den
Sehenswürdigkeiten der von ihm bereisten Länder und Städte und zu einem Führer durch
deren vornehme Gesellschaft."138 In der Alten Deutschen Biografie findet sich für die
zeitgenössische Wirkmächtigkeit der Memoiren der zusammenfassende Vermerk "[...] für die
Cavaliere jener Zeit, das was der Baedeker für die heutigen Touristen".139
Man kann also davon ausgehen, dass die Erinnerungen des langjährigen Reisenden
Pöllnitz zu ihrer Zeit mit großem Interesse gelesen und rezipiert worden sind, auch wenn sich
an dieser Quelle nahezu sämtliche klassische Kritikpunkte am Reisebericht als historische
Quelle durchspielen lassen. Ganz offensichtlich nahm es der Autor mit seiner Datierung nicht
allzu genau, die von ihm gewählte Briefform dürfte mehr eine stilistische, denn eine
praktische Entscheidung gewesen sein, auch wenn er sich damit durchaus im Rahmen des
damals üblichen bewegte.140 In diesem Lichte waren auch seine Schilderungen der angeblich
136
Pöllnitz, Karl Ludwig von, Nachrichten des Baron Carl Ludwig von Pöllnitz. Enthaltend Was derselbe Auf
seinen Reisen Besonderes angemercket, Nicht weniger die Eigenschafften dererjenigen Personen, woraus Die
Vornehmste Höfe Europas bestehen (...), Bd. 4, Frankfurt am Main 1735, S. 147.
137
Maurer, O Britannien, S. 512.
138
Hentig, Hans Wolfram von, Poellnitz Karl Ludwig Wilhelm Freiherr von, in: Neue Deutsche Biographie 20
(2001), S. 563 f.
139 Koser, Pöllnitz, Karl Ludwig Freiherr von, in: Allgemeine Deutsche Biographie (1888), S. 397-399, hier: S.
398.
140
Die Briefform war im 18. Jahrhundert eine sehr beliebte Form des Schreibens, die vor allem im Reisebericht
eine enorme Verbreitung hatte. Zu den Hintergründen vgl.: Grundy, Isobel, Restoration and Eighteenth Century
54
getroffenen Personen mit besonderer Vorsicht zu genießen. Das alles kann allerdings in
diesem Kontext mit einigem Recht zur Seite geschoben werden, da nicht zu vermuten ist, dass
der Autor seine Erinnerungen an die Stadt bzw. die von ihm besuchten Orte und seine
Bewegung zwischen ihnen einer großen retrospektiven Neuordnung unterzogen hat. Nicht
auszuschließen ist, dass er manche der beschriebenen Orte nicht selbst besucht hat. Dieser
Punkt ist insofern interessant, als dass man die Beschreibungen der Orte bzw. der dort
arbeitenden oder getroffenen Personen besonders kritisch betrachten sollte.
Gleich zu Beginn verdeutlichte Pöllnitz, dass er ein Bewunderer Londons ist. In
seinem 53. Brief schreibt er: "Diese Stadt, welche so wohl wegen ihrer Grösse und Menge an
Einwohnern, als ihres grossen Reichthums halben, sei nicht allein vor die Hauptstadt eines
mächtigen Königreichs, sondern auch von ganz Europa zu achten [...]."141 In der Folge lobt er
die Freiheit, die Wissenschaft, das Glück, die Tugend und noch einige weitere Merkmale der
Briten, die er in der Stadt London in besonderem Maße angetroffen haben will. Dieser
panegyrische Einstieg wird direkt im folgenden Satz gebrochen, als Pöllnitz seine
Verwunderung und Einschätzung ob der verschiedenen Gesichter Londons zum Ausdruck
bringt:
"Gleichwohl kan diese Stadt, aller sotaner herrlichen Eigenschaften ohnerachtet, ja mit
allen ihren prächtigen Kirchen und übrigen Gebäuden, nicht unter die schönsten Städte
mit gerechnet werden; allermassen die Gassen darinnen sehr unsauber und schlecht
gepflastert, die Häuser welche von gebackenen Steinen aufgeführet, sehr niedrig, und
ohne alle Zierrathen, ja durch den unerträglichen Steinkohlenrauch so schwarz gemacht
sind, daß die Stadt dadurch ziemlich dunkel und ihre sonstige Annehmlichkeit sehr
verringert wird."142
Pöllnitz zeigte seinem Leser hier einen kurzen Einblick in die Nebenstraßen Londons und die
alltäglichen Unannehmlichkeiten einer Großstadt, die bei Uffenbach niemals Erwähnung
gefunden hatten. Diese Art Berichterstattung findet sich allerdings in der Folge nicht wieder
und bleibt eine Ausnahme im Rahmen dieses Berichts. Die folgenden Seiten dieses Briefes
laufen, ähnlich wie Uffenbach, nach einem bestimmten Muster ab. Zunächst einmal erwähnt
Pöllnitz, wo er hinfuhr, es folgte eine kurze Beschreibung des Ortes bzw. der Gebäude und
eine Bewertung ggf. mit einem Vergleich. Auch die besuchten Orte wiesen ein Uffenbachs
Route vergleichbares Profil auf. Pöllnitz besuchte die Themse143, die London Bridge144, St
(1660 - 1780), in: The Oxford Illustrated History of English Literature, hrsg. v. Pat Rogers, Oxford / New York
2001, S. 214 - 273, hier: S. 250.
141
Pöllnitz, Nachrichten, S. 116.
142
Ebd. S. 116f.
143
Ebd.
144
Ebd, S. 118.
55
Paul‘s145, die Börse146, ein Mahnmal des Großen Brands von 1666147, den Tower148,
Whitehall149, Banquetting-House150, St James‘s Palace und St James‘s Park151, Buckingham
Palace152 und das Parlament153. Man sieht hier bereits so etwas wie einen Kanon von
Sehenswürdigkeiten für den reisenden Kavalier des 18. Jahrhunderts.
Liest man die Beschreibungen der besuchten Orte, so fällt auf, dass auch Pöllnitz sich
eine gewisse Vorbildung zu den entsprechenden Orten angelesen haben muss, auch wenn er
nicht so direkt wie Uffenbach darauf verwies und seine Erläuterungen zu den einzelnen Orten
meistens eher historisch-anekdotischen Charakter hatten.154 Wie er von einem Ort zum
nächsten kam, zeichnete Pöllnitz leider nur sporadisch auf. Auf jeden Fall unternahm er einige
Spaziergänge und für einen Ausflug nach Greenwich nahm er ein Schiff auf der Themse. Von
diesen Fahrten selbst berichtet er allerdings wenig bis gar nicht, so dass man davon ausgehen
kann, dass diese Fahrten auf ihn keinen Eindruck gemacht haben, der es wert gewesen wäre,
niedergeschrieben zu werden. Seine geschilderten Eindrücke waren entweder persönliche
Begegnungen oder aber Spaziergänge respektive Besichtigungen. Das bedeutet, dass auch bei
Pöllnitz jene Eindrücke, die nicht auf einer Fahrt gewonnen wurden, die einprägsamsten für
den Prozess des Mapping sind. Sein Gesamteindruck von London, den er an den Beginn
seines Briefes gestellt hat, vollzieht sich aus der Summe seiner Erlebnisse und diese
Erlebnisse sind das klassische Programm eines Kavaliers auf Reisen im 18. Jahrhundert. Auch
hier sieht man ein hohes Maß an Übereinstimmung mit dem Bericht von Uffenbach.
Durchsucht man den Bericht von Pöllnitz nach Spuren seiner Wahrnehmung von
London als städtischer Einheit oder Konglomerat von einzelnen selbstständigen Teilen, so
stößt man auf leicht widersprüchliche Befunde. Zum einen spricht er – wenig verwunderlich –
erst einmal unreflektiert von London, wenn er die Großstadt oder Orte in ihr beschreibt.
Zunächst einmal wirkt es also so, als finde sich hier dasselbe Bild der Stadt als gefühlte
Einheit, wie man es auch bei Uffenbach nachlesen konnte. Allerdings findet sich zu Beginn
seines ersten Briefes über London folgende kurze Aussage zur Lage der Stadt: "Die Stadt
London lieget linker Hand des Strohms in einer Gegend, worinnen sie die Gestalt eines halben
145
Ebd. S. 119
Ebdn S. 121f.
147
Ebd.
148
Ebd. S. 122.
149
Ebd. S. 123.
150
Ebd. S. 124.
151
Ebd. S. 124f.
152
Ebd. S. 127
153
Ebd. S. 134.
154
Die London Bridge beispielsweise beschreibt er als den Ort "worauf die Königin Elisabeth das Haupt des
Grafen von Essex (..) ordentlich aufstecken lassen hat [...] Ebd. S. 118f.
146
56
Monds ausmachet."155 Wenn man diese Beschreibung über eine Karte Londons legt, so fällt
auf, dass Pöllnitz offensichtlich eine Einheit der City of London und Westminster sowie der
dazwischen liegenden Gebiete vor Augen hatte. Southwark hingegen war in seiner
Wahrnehmung der Stadt, durch die Themse als natürliche Barriere vom Rest abgetrennt, nicht
Teil der Großstadt. Westminster, welches er in seinen Reisen an verschiedenen Tagen und zu
verschiedenen Anlässen besucht hat, war für ihn jedoch ohne Zweifel Bestandteil der
Großstadt. Nicht nur das Bild des Halbmondes, in welches Westminster einbezogen werden
muss, sondern auch der formale Seitenindex, welcher stets nur London und nicht Westminster
als Aufenthaltsort erwähnt, deuten in die Richtung einer solchen Wahrnehmung. Nun ist es
freilich absolut möglich, dass Pöllnitz im Rahmen seiner Reisen niemals Southwark besucht
hat, denn schließlich liegt bzw. lag keines seiner Ziele in diesem Bereich der Großstadt. Da
Southwark in einer solchen Deutung keinerlei Bedeutung für das London des Autors hatte, so
verwundert es auch aus einer bestimmten Perspektive nicht, dass er es zu Gunsten einer
wohlklingenden Metapher unter den Tisch fallen ließ.
An anderer Stelle findet sich ein weiterer Hinweis darauf, dass Westminster und die
anderen Bestandteile der Stadt für ihn nur auf einer untergeordneten Ebene bedeutend waren.
Er schreibt über einen Besuch in St James’s: "Das Quatier von S. James und überhaupt alle
Quatiere von London, so nicht in dem inneren Theil der Stadt liegen, sind sehr ordentlich
gebauet, und die Strassen gerade, breit und wohl abgetheilet [...]."156 Man erkennt in dieser
Aussage klar zwei unterschiedliche Ordnungsebenen für die Stadt. Auf der obersten Ebene
stand die Stadt als umfassendes Konstrukt, das organisatorisch den gesamten städtischen
Raum umschloß und definierte: In diesem Fall von ihm selbst als Halbmond links der Themse
beschrieben. Auf der Ebene darunter sah er die so genannten Quartiere, also Bestandteile der
Stadt, die nicht aus eigenem Recht, sondern nur in Bezug auf die Stadt zu definieren waren.
Diese Quartiere konnten zwar bestimmte distinkte Eigenschaften haben, wie zum Beispiel
bessere oder schlechtere Straßen, aber der Bezugs- und Vergleichsrahmen lag hier nicht auf
dem Vergleich zwischen Westminster und London als gleichberechtigte "Partner", sondern
auf einem Vergleich vom Teil zum Ganzen einer Einheit. Es kann also keine Rede davon sein,
dass es sich in Pöllnitz‘ Wahrnehmung bei der City of London und der City of Westminster
um separate Einheiten handelte. Vielmehr nahm er zwar Unterschiede zwischen bestimmten
Stadtteilen wahr, aber diese bleiben eben genau das: Teile einer Stadt.
155
156
Ebd. S. 118.
Ebd. S. 127.
57
Pöllnitz nahm London also als eine große Stadt wahr. Allerdings schien es auch für
ihn mitunter schwierig zu sein, seine Eindrücke ohne Referenzpunkte zu verdeutlichen.
Ähnlich wie auch Uffenbach griff er immer wieder zum Stilmittel des Vergleichs um die
Größe eines Viertels oder die Ausmaße bzw. Bedeutung eines Gebäudes angemessen zu
umschreiben. Beispielsweise verglich er St Paul‘s mit dem Petersdom in Rom, der ihm als
einzig angemessener Vergleichsmaßstab erscheint: "Die St. Pauli-Kirche als Hauptkirche der
Stadt Londen, ist ausser der St. Peters-Kirche zu Rom die größte und ansehnlichste in
Europa."157 Der St James‘s wird in einer Anekdote im Vergleich zu den Gärten von Versailles
geschmeichelt:
"Carl der II. welcher über die Massen viel auf Promenaden hielte, wolte diesen Parc
etwas zierlicher anlegen lassen, und beriff dahero den berühmten Neautre, welcher die
Thuillerie zu Paris und den Parc von Versailles angeleget hatte, nach Londen, allein
dieser geschickte Mann; nachdem er das Werk in Augenschein genommen, rieth dem
König, es so zu lassen, wie es war, mit Versicherung, dass er nichts besseres anzulegen
wüste."158
An anderen Stellen musste er zu etwas ausgefalleneren Vergleichen greifen, um die
Besonderheiten der Stadt London zu überblicken. Als er über das Wachstum der Stadt spricht,
schreibt er:
"Sonsten ist Londen, seit dem das Haus Braunschweig den königlichen Thron bekleidet,
um ein ansehnliches vermehret worden, und führet ein ganzes Quatier daselbst den
Rahmen von Hannover, doch, damit die Grösse dieser Stadt nicht ihr selbst dereinst zur
Last fallen möge, hat das Parlament derselben vor einigen Jahren durch eine aparte
Verordnung gewisse Grenzen vorgeschrieben; gleichwohl würde sie, wenn auch solches
vor zwanzig Jahren geschehen, nur noch allzugroß geblieben sein."159
Londons Wachstum übertraf in seinen Ausmaßen zu jener Zeit jede gängige Kategorie der
Beschreibung, es sei denn, es wäre üblich gewesen, das Wachstum einer Stadt in einem
Vielfachen von Hannover zu berechnen. Da davon allerdings nicht auszugehen ist,
verdeutlicht diese Passage einen zentralen Punkt der Wahrnehmung der Stadt. London wurde
als eine Stadt wahrgenommen und auch erfahren, die sich den meisten gängigen Kriterien der
damaligen Zeit entzog. Die Stadt wuchs so schnell und so unkontrolliert, dass es den
Zeitgenossen offensichtlich selbst an adäquaten Kategorien der Beschreibung mangelte.
Selbst die Versuche des Parlaments, der Lage vermittels Gesetzen Herr zu werden, waren
gescheitert bzw. wurden nicht gerade mit Vorschusslorbeeren überschüttet. Pöllnitz rühmte
die Verordnung des Parlaments als "apart", allerdings machte der Nachsatz umgehend seinen
157
Ebd. S. 119.
Ebd. S. 125.
159
Ebd. S. 130.
158
58
ironischen Unterton deutlich und zeigt, dass der Reisende keine hohe Meinung von den
Versuchen der Parlamentarier hatte, dem Wachstum der Stadt Herr zu werden. Er sah
allerdings auch nichts Besonderes darin, dass das britische Parlament, und keine
untergeordnete Stelle, sich des Problems annahm.
Dass er sich zumindest mit der Titulatur einiger städtischer Würdenträger der City of
London auskannte, wurde zu Beginn seines ersten Briefes deutlich, als er eine Anekdote aus
der Bürgerkriegszeit erzählt und dabei explizit den Lord Mayor und einen Alderman erwähnt:
"[...] ein gewisser Alderman König Carl dem II. gar artig zu verstehen, dann dieser
Monarch einstmahls über die Stadt Londen sehr erbittert war, und der Lord Maire sammt
den Aldermännern denselbigen wiederum zu besänfftigen suchte [...] Wolte damit so viel
zu verstehen geben, daß, so lange der König der Stadt Londen diesen Fluß [die Themse]
nicht nehmen könte, die Einwohner sich wenig darum bekümmerten, ob er seine
Residenz nach Oxford verlegte oder nicht."160
Aus dieser Passage spricht nun ein etwas anderes, kleineres Bild von London. Die
Protagonisten dieser Episode sind der König Karl II. und die städtische Führungsschicht der
City of London. Diesem Verständnis folgend, müsste man davon ausgehen, dass wirklich nur
die rechtliche Einheit der alten Stadt gemeint gewesen sein konnte, wenn Pöllnitz hier von
London sprach, da die Aldermen und der Lord Mayor im Rest der Großstadt nur begrenzten
bzw. informellen Einfluss ausüben konnten. Allerdings legt diese Passage ebenfalls nahe, dass
die königliche Residenz in der Stadt London lag. Legt man rechtliche Maßstäbe an, so
scheinen sich diese Aussagen zu widersprechen, jedoch kann man davon ausgehen, dass
Pöllnitz keine detaillierten Studien über die rechtliche Organisation der Stadt London
vorgenommen hatte. Zumindest findet sich in seinem Werk kein Hinweis auf solche Studien.
Wahrscheinlicher ist die Annahme seinerseits, dass die Organisation der Stadt ähnlich wie die
einer ihm bekannten Reichsstadt funktioniert haben muss. Lord Mayor und Alderman nahmen
in der Erzählung schlicht das Äquivalent einer Konstellation von Bürgermeister und Rat ein,
die sich hier dem König entgegenstellten. Sie dienten nicht dazu, einen Unterschied zwischen
der City of London und dem Rest der Großstadt aufzumachen. Vielmehr fungieren sie als
Stellvertreter bekannter Figuren, damit der Leser seines Berichts die Geschehnisse in England
problemlos in seinem eigenen Erlebnishorizont verankern konnte.
An keiner anderen Stelle seines Berichts erwähnt er eine Aufteilung oder
Untergliederung der Großstadt Londons oder andere Würdenträger der einzelnen Stadtteile.
Die formale Gestalt der Stadt hatte für ihn keine gesonderte Bedeutung, da sein Fokus eher
auf den Sehenswürdigkeiten und den ihm begegnenden Personen lag. In diesem Sinne ist aus
160
Ebd. S. 117 f.
59
dem 54. Brief für die Fragestellung dieser Arbeit wenig Verwertbares herauszufiltern. Pöllnitz
wandte sich hier vor allem seinen Beobachtungen der englischen Gesellschaft zu, ihren
Umgangsformen untereinander, ihren täglichen Geschäften161 und dem Vergleich der
englischen Lebensart mit anderen europäischen Nationen, vor allem der französischen zu.162
Das Bild Londons, das dem Leser aus Pöllnitz‘ Bericht entgegentritt, ist das Bild einer
ambivalenten Stadt. Einerseits lobte der deutsche Edelmann die Grandeur mancher Gebäude
und den Umgang der Menschen untereinander, andererseits kritisierte er den Schmutz und die
Unübersichtlichkeit der Stadt. Einerseits sprach er, wie erwähnt, die Würdenträger der City of
London direkt an, andererseits bespricht er die administrative Zersplitterung der Großstadt an
keiner weiteren Stelle und verfasste auch keine Zeile zu anderen Würdenträger. Er traf viele
Vertreter des Adels und der Oberschicht, von denen er manche Anekdote zu erzählen hatte,
aber mit keinem Wort wurden die ärmeren Teile der Stadtbevölkerung erwähnt.
Pöllnitz reiste viel innerhalb der Stadt und gab detaillierte Beschreibungen von Orten,
Gebäuden und Personen ab, aber die Stadtteile an sich, der Weg zwischen ihnen und die
Wirkung der Stadt als Gesamtwerk fand nur beiläufig Eingang in sein Werk. Auch hier findet
sich übrigens der bereits bei Uffenbach beobachtete Effekt wieder, dass sich ein gewisser
Kanon an bedeutenden Orten herausgebildet hatte, der die Reise des Edelmannes strukturierte.
Diese Orte finden sich nicht nur auf Karten besonders hervorgehoben, sondern beanspruchten
auch in den Reiseberichten von London einen gesonderten Platz. Karte und Bericht sind hier
Teile eines allgemeinen Diskurses über die Stadt, in dem sich bestimmte gesellschaftliche
Machtstrukturen niederschlugen, was vor allem an der Unterschlagung der weniger
privilegierten Stadt- bzw. Bevölkerungsteile deutlich wird. Pöllnitz selbst trug vermutlich zu
diesem Trend – der Festschreibung von Bedeutung auf bestimmte Orte und dem damit
vorstrukturiertem Erfahren der Stadt – durch seine enorme Popularität und zeitgenössische
Wirkmacht bei.
Wenn er von Eindrücken redete, dann nur von solchen, die er auf Spaziergängen
gewonnen hatte. Diese Art der Fortbewegung schien sein gängigstes Mittel zu sein, den Raum
der Stadt für sich selbst zu entdecken und ihn sich anzueignen, wie man dies auch schon bei
Uffenbach beobachten konnte. Für längere Strecken nutzte auch er entweder die Kutsche oder
die Themsenfähren. Von diesen Fahrten erfährt sein Leser allerdings nur sehr wenig. Es bleibt
also der Eindruck einer herausragenden, wenn auch nicht unbedingt schönen Stadt der
Oberschicht, die in ihren Ausmaßen, ihrer Dynamik und ihrem Wachstum weit über alles
161
Ebd. S. 171ff. Pöllnitz berichtet von Besuchen in Kaffee- bzw. Schokoladenhäusern, Parkspaziergängen als
sozialem Treffpunkt etc.
162
Ebd. S. 154. Pöllnitz vergleicht hier den englischen und französischen Höfling miteinander.
60
Vergleichbare hinausging und deswegen von ihm zu Beginn als "Hauptstadt Europas"
bezeichnet wurde.
4.4. Lichtenbergs Briefe und Tagebücher aus London
Als vorletztes Beispiel soll sich der Blick nun auf einen auch heute noch prominenten
Schreiber des späten 18. Jahrhunderts richten, nämlich auf den Mathematiker und
Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg. Lichtenberg reiste mehrfach nach England und
lebte mehrere Monate in London.163 Seine erste Reise führte ihn im Jahre 1770 als Tutor
englischer Studenten nach London. Dort traf er den englischen König Georg III., der den
jungen deutschen Gelehrten protegierte und ihm eine zweite Reise nach England im Jahre
1775 ermöglichte. Von dieser Reise sind zahlreiche Briefe erhalten, die Einblick in
Lichtenbergs Wahrnehmung der Großstadt gewähren. Die Briefe wurden alle zwischen
Oktober 1774 und November 1775 geschrieben und an verschiedene Empfänger gerichtet
worden. Einige davon wurden noch zu Lebzeiten Lichtenbergs verlegt,164 andere erst posthum
mit anderen Schriftstücken zusammen veröffentlicht.
Die veröffentlichten "Briefe aus England" bestehen aus drei Briefen, die allerdings, bis
auf wenige Ausnahmen, für die Fragestellung der Arbeit unerheblich sind. In den ersten zwei
Briefen behandelte Lichtenberg nahezu ausschließlich die Vorzüge und die Besonderheiten
des englischen Theaters im Allgemeinen und die des Schauspielers Garrick im Speziellen.
Aus diesem Grund wurde als Grundlage der Untersuchung eine Gesamtausgabe der Briefe
Lichtenbergs gewählt und dabei sämtliche Briefe ausgewählt und analysiert, die er im
Zeitraum seines zweiten London-Aufenthalts geschrieben und abgesendet hat.165
Ferner wurden sein Reisetagebuch und seine Reiseanmerkungen berücksichtigt, die
ebenfalls publiziert wurden und an einigen Stellen sinnvolle Ergänzungen der Briefe
darstellen.166 Diese hier genannten Briefe sind nicht originär für eine Publikation geschrieben
worden und dementsprechend auch nicht so aufgebaut, dass der Leser die Informationen zur
Stadt bzw. den Menschen dort in einer Form aufgearbeitet findet, wie man sie in einem
163
Angaben zur Lichtenbergs Biografie basieren auf: Proß, Wolfgang, Priesner, Claus, Lichtenberg, Georg
Christoph, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 449-464. Die Literatur zu Lichtenberg ist, im Vergleich
zu den vorherigen Reisenden, relativ umfangreich, was vor allem an seinen deutlich populäreren Sudelbüchern
liegt, in denen er sich allerdings nicht mit seiner Zeit in England beschäftigt hat.
164
Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe. Dritter Band. Aufsätze, Entwürfe, Gedichte, Erklärung
der Hogarthischen Kupferstiche, Frankfurt am Main 1994.
165
Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe. Vierter Band. Briefe, Frankfurt am Main 1983.
166
Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe. Zweiter Band. Sudelbücher II. Matrialhefte, Tagebücher,
Frankfurt am Main 1994.
61
Reisebericht erwarten würde. Vielmehr sind die gesuchten Informationen über den gesamten
Bestand der Briefe Lichtenbergs verteilt und müssen zusammengesetzt werden, wenn man ein
Bild von Lichtenbergs London, seiner Erfahrung und persönlichen Konstruktion der Stadt
erhalten möchte.
Lichtenberg stellte ferner im Vergleich zu den beiden zuvor betrachteten Reisenden
einen anderen Typus des Reisenden dar. Er war nicht als Kavalier auf einer großen Tour
durch die europäischen Städte und Höfe unterwegs und für einige Wochen in der englischen
Hauptstadt zu Besuch. Vielmehr verbrachte er als persönlicher, geladener Gast des englischen
Königs über ein Jahr in England und lebte sowohl im ländlichen Kew in der Nähe von
London als auch in der Großstadt London selbst.167 Er war selbst nicht von adliger Geburt,
sondern das Kind einer Pfarrersfamilie und als Gelehrter auf Reisen. Seine Reise lässt sich am
ehesten unter das Signum der Gelehrtenreise stellen, die neben der Kavalierstour die
wichtigste Art der Reise im 18. Jahrhundert darstellte. Die Umstände und die Beweggründe
seiner Reise sind also grundsätzlich anders einzuordnen als die der zuvor betrachteten
Berichte von Uffenbach und Pöllnitz, die einige Jahrzehnte zuvor ihre Reisen unternommen
hatten.
Außerdem sind die hier zugrunde gelegten Eindrücke auf Lichtenbergs zweiter Reise
entstanden, so dass man von einem "an Großstadtdimensionen und Großstadtgeschwindigkeit
gewöhnten und konditionierten Blick"168 ausgehen kann, denn tatsächlich sind seine
Beschreibungen der Stadt London in seinen ersten Briefen spärlich gesät und die
geschilderten Eindrücke eher untypisch. Noch in einem Brief an seinen Kollegen Ernst
Gottfried Baldinger von seiner ersten Reise im April des Jahres 1770 spricht die schiere
Überwältigung ob der neuen Erfahrung aus seinen Zeilen:
"Es ist unglaublich was die Menge an neuen Gegenständen, die ich nicht sogleich immer
in meinem Kopf unterzubringen wußte, für eine Wirkung auf mich gehabt hat. Ich vergaß
immer über das letzte das erste völlig und lebe noch jetzo würklich in einer solchen
Verwirrung, daß ich mich, da ich sonst mit kleinen Stadtneuigkeiten Bogen anfüllen
könnte so viel klar zu bekommen, als zu einem kleinen Brief nötig ist."169
Dies änderte sich auf seiner zweiten Reise. Die Überforderung war verschwunden. Aus
seinem ersten Brief aus London, den er an seinen Freund und Verleger Johann Christian
167
Dies gilt vor allem für seine zweite Reise. Die erste fällt noch eher in den Typus der Kavalierstour, da
Lichtenberg hier zu der Entourage zweier Kavaliere gehörte. Vgl. dazu auch: Siebers, Winfried, "Eines
akademischen Lehrer Reisen in fremde Länder."Reisen zur Zeit Lichtenbergs, in: Georg Christoph Lichtenberg
1742 - 1799. Wagnis der Aufklärung, hrsg. v. Ulrich Joost, München / Wien 1992, S. 141 - 147, hier: S. 141.
168
Radu, Robert, Nach London! Der Modernisierungsprozess Englands in der literarischen Inszenierung von
Georg Friedrich Lichtenberg, Heinrich Heine und Theodor Fontane, Frankfurt am Main 2010, S. 28.
169
Lichtenberg, Briefe, S. 11. Diese Interpretation wird von anderen Forschern ebenfalls geteilt. Vgl. dazu
exemplarisch: Maurer, Michael, Anglophilie und Aufklärung, Göttingen 1987, S. 258.
62
Dieterich richtete, stammen folgende, spärliche Zeilen: "Am vergangenen SonntagNachmittag um 3 Uhr habe ich England betreten und Dienstag darauf nachmittags um halb 5
meinen Einzug in London gehalten."170 In der Folge erzählte er deutlich ausführlicher von der
Schiffsüberfahrt nach England und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten wie Flauten
und Seekrankheit oder den Umständen die ihn auf seiner Anreise in Osnabrück festgehalten
hatten, statt Eindrücke des Landes in seinem Brief zu schildern.
Erst einige Tage später am achten Oktober des Jahres 1774, nachdem er London schon
in Richtung Buckinghamshire und später Kew verlassen hatte, schien die Großstadt auf ihn
eingewirkt zu haben, denn in seinem Brief an den Kollegen Ernst Gottfried Baldinger, dem er
bereits fünf Jahre zuvor seinen Eindrücke so bildhaft schilderte, klingt der "Kulturschock"
mit, dem sich der Gelehrte aus Göttingen ausgesetzt sah. Er eröffnet seinen Brief mit den
Zeilen: "Ich schreibe ihnen, sobald als der Schwindel verstatten wollte, der jedermann
befallen muß, den man einmal aus einem Göttingischen Hintergebäude in eine der ersten
Straßen der Hauptstadt der Welt versetzt [...]."171 Der Unterschied in der Wahrnehmung der
beiden Städte könnte augenfälliger nicht sein. London wurde hier, wie auch schon bei
Pöllnitz, in eine völlig entrückte Sphäre verschoben. Sprach Pöllnitz noch von der Hauptstadt
Europas, so war es hier bereits die Hauptstadt der Welt. In beiden Fällen zeigte sich das
Unvermögen der Schreiber, einen adäquaten Vergleichsmaßstab für die Großstadt London zu
finden- Sie weichen deshalb an den Stellen auf solche Hervorhebungen und Sonderstellungen
aus, an denen sich ihr sonstiger Bezugspunkt als wenig aussagekräftig erwiesen hatte.
Lichtenberg versuchte die Unmöglichkeit der Erfahrung der Stadt unter anderem in
Metaphern zu fassen. Er beschreibt seinen Eindruck des Ausblicks von der St Paul‘s
Cathedral in einem Brief vom Oktober 1774 an Joel Paul Kaltenhofer mit folgenden Worten:
"[...] eine unübersehbare Reihe von Schiffen, einige hundert Kirchen und wieviel Häuser,
Menschen und Kutschen? Ich habe gewiß sehr oft weniger Sandkörner in meiner Sandbüchse
gehabt."172 Der Maßstab Londons wurde in diesem Vergleich ohne viele Umwege in das
metaphorische Reich des Unfassbaren und Unbeschreiblichen verwiesen, das vom
menschlichen Vorstellungsvormögen nur noch unzureichend erfasst werden konnte.
Passagen wie diese bedeuten im Umkehrschluss allerdings nicht, dass Lichtenberg
nicht versucht hat, die Dimensionen in Vergleichen mit Bekanntem einzufangen. Neben dem
erwähnten Beispiel des "Göttingischen Hintergebäudes" nahm er auch an einigen anderen
Stellen direkten Bezug zu seiner Heimatstadt. Bei der Beschreibung der Fleet Street fasste er
170
Lichtenberg, Briefe, S. 144.
Ebd. S. 145.
172
Ebd. S. 149.
171
63
den Kontrast der Städte zueinander in besonders drastischen und pointierten Worten
zusammen. Er schreibt im Januar 1775 an Baldinger: "In Göttingen geht man hin und sieht
wenigstens von 40 Schritt her an, was es gibt; hier (hauptsächlich des Nachts [...]) ist man
froh, wenn man mit heiler Haut in einem Nebengäßchen den Sturm auswarten kann."173 An
anderer Stelle beschreibt er seinen Eindruck von den großen Straßen Londons:
"Dem ungewöhnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nötig,
alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen sie still, Bums! läuft ein Packträger wider
Sie an und ruft by Your leave wenn sie schon auf der Erde liegen. In der Mitte der Straße
rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen, Karren hinter Karren."174
Die Passage ging in diesem Stil weiter und listete ähnliche sensorische Eindrücke auf, die
beim Leser ein Gefühl der kaleidoskopischen Überforderung hinterließen und versuchten, das
Bild des schwindelnden Schreibers vor das geistige Auge zu projizieren. Lichtenberg fasste
hier in einer Momentaufnahme eines "Dezemberabend[s]"175 die Eindrücke eines Fremden in
der Großstadt zusammen und erlaubte einen Blick in die Wahrnehmung eines
außergewöhnlichen Raums in der Erfahrungswelt des 18. Jahrhunderts. In seiner
Beschreibung mischten sich Abscheu, Bewunderung und neutrale Beschreibung untrennbar
ineinander und zeigten damit die Uneindeutigkeit und Überwältigung der Erfahrung.
Was in dieser Passage über die Straße beispielsweise noch eher negativ klang,
akzentuierte er in einem späteren Bild etwas anders. Zwei Monate später schrieb er Christian
Gottlob Heyne die folgenden Zeilen: "Nie sind in meinem Leben meine Füße so aktiv
gewesen; in diesem Stück wird mir Göttingen gewiß zu klein vorkommen."176 Es ist also klar,
dass sowohl für Lichtenberg, als auch für die von ihm Angeschriebenen, die jeweilige
Heimatstadt der Vergleichs- und Bezugspunkt war und eine rein abstrakte Beschreibung der
Großstadt nicht ausreichte, um zu verdeutlichen, wie Lichtenberg das London seiner Zeit
erfahren hat. Die Großstadt mit all ihren Eindrücken, Impressionen und Bildern stellte eine
ungeheure Herausforderung für den Reisenden dar, dem die Dimensionen und die
Lebhaftigkeit Londons nicht als normal erschienen. Die Erfahrung der Großstadt musste
deswegen zwangsläufig heterogen erscheinen. Ein Fakt, den Lichtenberg mit dem Stilmittel
des Vergleichs zu bezwingen versuchte.
Neben dem Vergleich mit deutschen Städten, bediente er sich aber auch anderer
Stilmittel, um die überwältigenden Eindrücke und Dimensionen der Großstadt einzufangen.
Allen voran nutzte er die literarische Kollage dazu, seine Erfahrungen zu vermitteln. In der
173
Ebd. S. 155.
Ebd. S. 155.
175
Ebd.
176
Ebd. S. 178.
174
64
bereits erwähnten Beschreibung der Fleet Street offenbart Lichtenberg am Ende, dass es sich
bei den Ereignissen nicht um eine getreue Wiedergabe der Realität gehandelt habe, sondern er
vielmehr sorgsam kompiliere und Rücksicht auf die Gefühle seines Freundes in der
Beschreibung genommen habe: "Sie werden mich also entschuldigen, wenn es sich zuweilen
hart und schwer liest, es ist die Ordnung von Cheapside. Ich habe nichts übertrieben,
gegenteils vieles weggelassen, was das Gemälde gehoben haben würde."177 Es folgt eine
Aufzählung von vielen unangenehmen oder irritierenden Elementen des Großstadtlebens, die
Lichtenberg seinem Briefpartner wohl ersparen oder nur in gemilderter Schärfe präsentieren
wollte.178
An anderer Stelle schreibt er einen fiktiven Brief aus der Perspektive seiner
Briefpartnerin Christiane Dieterich und dreht satirisch den Blickwinkel um, wenn er die
literarische Figur der Christel zornig ausrufen lässt:
"Ihr Leute wisst doch gar nicht was das heißt in England sein, ihr würdet sonst nicht so
ungestüm sein und alle zwei Jahre einen Brief verlangen [...] Beim Mittagessen werdet
ihr doch nicht verlangen, daß man an euch denkt, pfui, wer wird denn bei Roastbeef und
englisch gelées und Torte an euch und eure Mettwürste denken [...] Über Jahr mehr
vielleicht."179
Diese Passage zeigt, neben der hier offensichtlichen Überforderung der fiktiven Christiane
mit
den
unterschiedlichen
Selbst-
und
Fremdansprüchen,
eine
tiefgehende
Fremdheitserfahrung. Hinter der Maske der Überspitzung und Ironie konnte Lichtenberg hier
thematisieren, was sich ansonsten offenbar nur schwer in Worte fassen ließ: die
grundsätzliche andere Art, das Leben in der Großstadt zu erfassen und angemessen zu
kommunizieren. Die Gegensätze zwischen dem Leben in Göttingen und London wurden hier
ebenso offensichtlich wie der eigene, offensichtlich als defizitär wahrgenommene Versuch der
Vermittlung dieser Erfahrung.
Womit sich die Frage stellt, wie diese Erfahrungen des großstädtischen Raumes
gewonnen werden konnten. Betrachtet man Lichtenbergs Art der Fortbewegung innerhalb der
Großstadt, so wird auch hier eine Parallele zu den vorangegangenen Reisenden auffällig. Er
benutzte die gesamte Bandbreite möglicher Transportmittel seiner Zeit. Wenn er in seinen
Briefen allerdings längere persönliche Eindrücke von besuchten Orten für seine Adressaten
schilderte, so handelte es sich stets um Eindrücke, die im persönlichen Gespräch, bei dem
Besuch eines Ortes oder bei einem Spaziergang gewonnen wurden.
177
Ebd. S. 156.
Um die genaue Gestalt dieser Besonderheiten des Lebens in London wird an späterer Stelle noch ausführlicher
eingegangen werden.
179
Ebd. S. 164.
178
65
Die Kutsche wurde von ihm oft und ausgiebig genutzt, allerdings war sie für ihn auch
nur Medium des Transportes und nicht Mittel der Aneignung bzw. der Erfahrung des Raumes.
Wenn überhaupt, so diente ihm die Kutsche zur Beherrschung des Raumes, indem sie ihn in
die Lage versetzte, von seinem Quartier in Kew, in welchem er einige Monate verbrachte,
jederzeit die Großstadt London zu besuchen, wenn ihm das Landleben zu langweilig wurde.
So zumindest müssen seine spärlichen Äußerungen gelesen werden, die er seinen Partnern
über seine Kutschfahrten hat zukommen lassen: "[...] Wenn das Wetter gut steht, so nehme
ich eine Kutsche und fliege für 18pence nach London; dieses habe ich während meines
hiesigen Aufenthaltes auf 14mal getan."180 Allerdings ist diese Stelle, trotz der von ihm
erwähnten 14 Male, eines der ersten Male, dass er eine Kutsche als persönlich genutztes
Transportmittel beschrieb und nicht als Bestandteil des geschilderten städtischen
Hintergrundes. Noch kürzer nur widmet er sich der Fähre, die keinen dauerhaften Eindruck
auf ihn gemacht zu haben scheint: "Den 17ten des Abends war ich in Vauxhall. Ich ging hin
zu Wasser und kehrte auch zu Wasser zurück."181
Wie bereits erwähnt wurden die meisten Eindrücke von ihm während Gesprächen oder
Spaziergängen gewonnen. Bei diesen Spaziergängen orientierte sich Lichtenberg an
herausragenden Gebäuden bzw. Landmarken, wie eine Notiz in seinen Reiseanmerkungen
nahe legt. Er schreibt:
"Den 15[ten] April [...] ging ich des Abends nach dem Tee, es mochte etwa 3/4 auf sieben
sein, in Hyde Park spazieren, der Mond war eben aufgegangen, voll und schien über
Westminsters Abtei her [...]. Ich schlenderte hierauf Piccadilly und den Heumarkt
hinunter nach Whitehall teils die Statüe Karls des Ersten wieder gegen den hellen
westlichen Himmel zu betrachten, und teils beim Mond-Licht mich meinen
Betrachtungen bei dem Banqueting-Haus zu überlassen [...]."182
Um sich in der Großstadt bewegen zu können, ist also eine profunde Kenntnis der städtischen
Geografie auch im 18. Jahrhundert unerlässlich. Die innere mental map des Reisenden wird
hier für einen Moment sichtbar und es ist zu erkennen, wie sich Lichtenberg in einem Raum
bewegte, der vor allem von herausragenden Orten und den Wegen zwischen ihnen hergestellt
wurde. Die Erfahrung der Stadt passierte hier nicht an diesen Orten selbst, sondern in dem
Raum der zwischen ihnen liegt und vom Reisenden selbst erfahren, internalisiert und in seiner
persönlichen Geografie verankert wurde. Hierbei bewegte sich Lichtenberg also in den
gleichen Erfahrungsbahnen wie Uffenbach und Pöllnitz Jahrzehnte zuvor. Die persönliche
180
Ebd. S. 154.
Lichtenberg, Sudelbücher, S. 674
182
Ebd. S. 641.
181
66
Raumaneignung funktionierte also hier nach dem gleichen Muster, das bereits zuvor
beobachtet und analysiert werden konnte.
An anderen Stellen ist die Wahrnehmung der Stadt durch Lichtenberg allerdings
anders akzentuiert als die seiner Vorgänger. Obwohl Lichtenberg "[a]ls Gast eines hohen
Hofbeamten [...] eher auf der Sonnenseite Londons"183 lebte, sind die dunkleren und
abseitigeren Seiten der Stadt in seinen Briefen deutlich präsenter als sie es in den Berichten
der adligen Reisenden waren. Er erwähnte diese Seite der Großstadt nicht nur nebenbei,
sondern in einigen Passagen nahmen die Schilderungen eine ganz zentrale Rolle ein. Bereits
in seinem ersten Brief an Baldinger vom Oktober 1774 erwähnt er einen Überfall extra in
einem Nachwort:
"Lord North ist neulich bei London von einem highwayman angegriffen und beraubt
worden. 20 Schritte davon wurde 2 Tage zuvor ein andrer Mann geplündert, bei beiden
wurde geschossen, ich kam über die Stelle, als ich hierher reiste, und sah noch das Loch,
welches die Kugel in einer Mauer gemacht hatte. Die englischen Straßenräuber haben
ihre ehemalige Großmut abgelegt."184
Vielleicht erklärt dieser frühe Kontakt mit dem Phänomen des Verbrechens in und um die
Großstadt herum im Ansatz, warum Lichtenberg solchen Vorkommnissen deutlich mehr Platz
in seinen Beschreibungen einräumte, denn auch in der Folge blieb dieses Beispiel nicht reines
Kuriosum, sondern bildete lediglich den Auftakt zu einer ganzen Reihe von Beschreibungen
illegaler Praktiken, die den Reisenden mitunter auch stark verstören konnten. Er beschrieb die
"liederlichen Mädchen" die "Fragen an mich tun [...], bei welchen ein junger Student durch
ein sohlendickes Fell rot geworden wäre."185 Er erwähnt "Betteljungen" und "Spitzbuben"186
genau so wie er Selbstmord187 und Unruhen und die damit einhergehenden Grausamkeiten
nennt: "Habe in Coventgarden in einem Anlauf von Patriotismus besoffenen Gesindels, in
einem alten Kleide gewandelt, wo der Pöbel der einen Partei Vivat schrie und die Hüte
schwung und die andere Hälfte statt des Pereats tote Katzen warf."188
Insgesamt zieht er in einem seiner Briefe an Dieterich aus dem Januar 1775 das Fazit:
183
Hoffmann, Julia, "Ich laufe und renne den gantzen Tag, mit allen Sinnen sperrweit offen."Lichtenbergs
Reisen nach England, in: Wagnis der Aufklärung, S. 211 - 227, hier: S. 213.
184
Lichtenberg, Briefe, S. 147.
185
Ebd. S. 156.
186
Ebd.
187
Ebd. S. 154.
188
Ebd. S. 151.
67
"Nach jedermanns Geständnis ist Üppigkeit, Bosheit und Liederlichkeit in London noch
nie so hoch gestiegen gewesen wie jetzt. Es vergeht kein Abend, daß ich will nicht sagen,
eine sondern 3, 4 oder 5 Straßenräubereien begangen werden, der nächtlichen Einbrüche
und andrer Diebereien nicht zu gedenken. Man henkt sie zu Dutzenden, schickt sie zu
halben Dutzenden nach Amerika, das alles achten sie nicht."189
Sein Bild der Großstadt war weniger das London der Oberschicht, obgleich er sich häufig in
erlesener Gesellschaft des Königspaars bewegte. Trotzdem richtete er den Blick auch auf
diese andere Seite der Großstadt und lieferte so einen deutlich realistischeren bzw.
weitwinkligeren Blick auf das Phänomen der Großstadt im 18. Jahrhundert.
Allerdings wird aus diesen Passagen allein noch nicht verständlich, was genau
Lichtenberg denn unter dem Terminus London verstand. An einer Stelle finden sich als
Ausgangspunkt genauere Angaben dazu, was Lichtenberg sich von der Ausdehnung her unter
dem Begriff London vorgestellt hat. Er schreibt in einem Brief kurz vor seiner Abreise aus
England an Baldinger: "Ich hatte unter 800.000 Seelen, die London enthält"190. Dieser kurze
Vermerk gibt dem Leser zumindest den Hinweis, dass es sich in Lichtenbergs Wahrnehmung
bei London nicht nur um die City of London handelte, sondern er den gesamten
großstädtischen Komplex unter diesem Signum zusammenfasste, denn anders lässt sich die
Zahl der Einwohner nur schwer erklären, da nur ein Bruchteil dieser Summe in den 1770ern
noch in der ursprünglichen City of London lebte.
An anderer Stelle diskutierte er die alten Vorrechte der Stadt London und bediente sich
dabei einer extra gewählten Konstruktion. Er schreibt: "Die Stadt London hat sehr große
Vorrechte. [...] Des Königs Truppen können nicht ohne des Lord Mayors Erlaubnis durch die
City marschieren. [...] Am ersten Lord Mayors-Tag nach der Krönung speist der König mit
dem Lord Mayor und dem Rat."191 Er schreibt an dieser Stelle nicht nur „London“, sondern
"die Stadt London" und "die City". Dies kann als Abgrenzung der City of London vom Rest
der Großstadt gelesen werden oder ggf. als Unkenntnis der rechtlichen Verhältnisse. Es ist
durchaus möglich, dass Lichtenberg hier die reichsstädtische Organisation, welche sein
typischer Erfahrungsrahmen gewesen ist, mehr oder weniger unreflektiert auf London
übertrug, indem er die am ehesten zutreffenden Äquivalente der typischen Honoratioren einer
Stadt im Reich – Bürgermeister und Ratsherren – hier durch den Lord Mayor und die
Aldermen ersetzte.192 In jedem Fall existierte bei ihm trotzdem ein Bewusstsein dafür, dass
189
Ebd. S. 168.
Lichtenberg, Schriften und Briefe III, S. 364.
191
Lichtenberg, Sudelbücher, S. 656.
192
Auch wenn diese Honoratioren von ihm nicht sonderlich geschätzt werden. An einer Stelle zieht er den
Vergleich zwischen dem König und seinem Parlament zu dem Lord Mayor und den Aldermen mit den Worten:
"Sie vergleichen sich mit dem König, Oberhaus, Unterhaus und Freemen, in der Tat ist eine Ähnlichkeit
190
68
"die Stadt London" und "die City" nicht deckungsgleich waren, woraus der Schluss gezogen
werden kann, dass die zuerst allgemein genannte Stadt London die obere Ordnungskategorie
darstellte und die später im speziellen erwähnte City auf einer unteren Gliederungsebene zu
suchen war oder aber das Lichtenberg die Begriffe eher wenig reflektiert benutzte. Es finden
sich nämlich wenige andere Belegstellen für eine Beschäftigung mit der juristischen
Gliederung der Stadt durch den Göttinger.
Auch ansonsten findet sich die Annahme von der unreflektierten Benutzung der
Begriffe in anderen Passagen bestätigt, denn ihm war auch die Anthropomorphisierung der
Großstadt kein unbekanntes Stilmittel. Vor allem wenn er von Schauspielen oder Opern
spricht, finden sich Äußerungen wie die folgenden zur Sängerin Dido Gabrielli. Nachdem die
Sängerin einige Vorstellungen wegen Krankheit hatte ausfallen lassen müssen, attestierte er
bei sich und den Einwohnern der Stadt ein Massenphänomen. Er schreibt in seinem letzten
Brief aus London: "Eine bis zur Raserei gestiegene Influenza Signora zu sehen hatte London
befallen."193 Etwas später wiederholt sich die rhetorische Figur, als er folgende Zeilen notiert:
"Dido Gabrielli, in Gold und weißer Seide, flog vor einer silbernen karthaginesischen Garde
unter dem Beifall Londons daher."194 Selbstverständlich sind diese sprachlichen Figuren heute
nicht unüblich und waren es wohl auch zu Lichtenbergs Zeiten nicht unbedingt, aber sie
zeigen eindeutig, dass unter dem Begriff London mehr verstanden wurde als die City an sich.
Ganz explizit wird dies in einem Brief an Baldinger vom Januar 1775, als er die City
of London explizit als "diesen Teil der Stadt, the City (..)"195 bezeichnete und damit
unzweifelhaft klar machte, dass in seiner Wahrnehmung die City nur ein Bestandteil der
Großstadt und nicht selbstständige Einheit war. Sie stand auf derselben Ordnungsebene wie
andere Stadtteile auch. Ein Effekt in der Wahrnehmung, den man bereits bei Uffenbach und
Pöllnitz beobachten konnte. Es scheint bei allen Reisenden bisher so zu sein, dass die
Wahrnehmung des städtischen Raums als großstädtisches Ensemble die Wahrnehmung von
Partikularstädten überlagerte. In der Perspektive der Reisenden war die Großstadt längst zu
einer Einheit zusammengewachsen, auch wenn dies rechtlich noch nicht der Fall gewesen
war.
Lichtenbergs London ist im Vergleich zu den beiden zuvor betrachteten Fällen eine
deutlich facettenreichere Stadt. Was bei Uffenbach noch fast ein wenig museal als
Aneinanderreihung von Sehenswürdigkeiten und bei Pöllnitz als exklusiver Treffpunkt der
zwischen beiden, so wie zwischen einem Regiment Preußen und der Götingischen Schützen-Compagnie."Ebd. S.
668.
193
Lichtenberg, Briefe, S. 363.
194
Ebd. S. 364.
195
Lichtenberg, Briefe, S. 155.
69
englischen Oberschicht erschien, bekam bei Lichtenberg deutlich mehr Schattierungen.
Obwohl auch Lichtenberg Teil der Oberschicht seines Landes war und auch in England in
dieser Schicht zu verorten wäre, hatte er viele Aspekte der Stadt im Blick. Über den gesamten
Zeitraum seines Aufenthalts besuchte er sowohl die großen Sehenswürdigkeiten wie St
Paul‘s, das Parlament, den Tower, London Bridge etc. als auch die umliegenden ländlichen
Gemeinden, in denen er zeitweise monatelang lebte. Er lieferte den Empfängern seiner Briefe
einerseits einen tiefen Einblick in seine Erfahrung der Großstadt, andererseits verfestigte er
durch sein Schreiben auch den Eindruck von London als ein außergewöhnliches und nur
schwer in angemessene Worte zu fassendes Phänomen. Im Vergleich zum kleinen Göttingen
ist dies auch sicherlich zutreffend, aber die Unfähigkeit bzw. der Unwillen, London als
Begriff zu fassen, wird auch hier augenscheinlich. Lichtenberg musste sich immer
ausgefallenerer Methoden bedienen, um seine Eindrücke zu transportieren, was den
eklatanten Mangel an etablierten Vergleichsmaßstäben deutlich macht. London bleibt auch
bei ihm ein Eindeutigkeit suggerierender, aber im Grunde diffuser Begriff, der auf vielfältige
Weise ausdefiniert werden konnte.
Eindeutig ist jedoch, dass London für Lichtenberg nicht nur die City of London war,
sondern eine einzelne Großstadt, auf der die Stadtteile lediglich den Stellenwert von
Gliederungseinheiten einnahmen. London wurde in den Briefen Lichtenbergs also als ein
einheitlicher – im Sinne eines nicht artifiziell untergliederten städtischen Verbunds – aber
gesellschaftlich heterogener Raum gleichsam von ihm selbst erfahren und in seinen Briefen
für deren Empfänger konstruiert. Die Doppelgestalt der persönlichen Internalisierung und der
darauf folgenden Externalisierung sowie die Prozesse der Synthese / Mapping und des
Spacing fallen hier besonders ins Auge. Gleichzeitig ist es vor allem die Unbeschreiblichkeit
der Stadt in all ihren Facetten, die dem Leser vorgeführt wurde. Es ist dem Schreiber kaum
möglich, die Dimensionen und Schichten Londons in die ihm zur Verfügung stehenden
Kategorien der Erfahrung und Beschreibung einzusortieren, so dass er immer wieder aufs
Neue gezwungen war, sich mit Wortneuschöpfungen und Metaphern zu behelfen. Die Art und
Weise wie über eine Großstadt wie London zum einen gedacht und zum anderen
kommuniziert werden konnte, befand sich zu diesem Zeitpunkt noch im Stadium der Genese.
Die Großstadt ist ein Erfahrungsraum, der im späten 18. Jahrhundert noch so
außergewöhnlich ist, dass der kommunikative Rahmen dafür lediglich improvisiert werden
konnte und sich hinter einem Städtenamen wie London ein unübersichtliches, schwer zu
beschreibendes Kaleidoskop menschlichen Zusammenlebens verbarg, das sich auf vielen
Ebenen den Deutungsansprüchen der Zeitgenossen entzog.
70
4.5. Moritz' Reisen eines Deutschen in England
Als letzter Fall eines Reisenden nach London, ist dieses Kapitel dem Reisebericht Karl
Philipp Moritz "Reisen eines Deutschen in England 1782" gewidmet. Karl Philipp Moritz
war, genau wie Lichtenberg, kein adliger Kavalier, der sich im Rahmen seiner Grand Tour
nach London begeben hätte, sondern ein Mann aus sehr bescheidenen Verhältnissen, der seine
Reise nach London als Teil eines Bildungsprogramms antrat. 196 Sein Reisebericht, den er ein
Jahr nach seiner Reise um Jahre 1783 veröffentlichte, verhalf ihm zu seinem ersten Ruhm als
Schriftsteller und sorgte mit dafür, dass er weitere Schriften und Romane veröffentlichte, die
sich allerdings nicht wieder mit dem Reisethema beschäftigt haben. 197 Trotzdem war sein
Werk so bekannt, dass es sogar in die englische Sprache übersetzt wurde und dort ebenfalls
eine gewisse Verbreitung fand. Eine Tatsache, die in dieser Form nur auf wenige
Reisezeugnisse zutrifft und Moritz' Bericht somit durchaus zu einem herausragenden und in
der Forschung vergleichsweise stark rezipiertem Beispiel seiner Art macht.198 Zu der Zeit
seiner Reise war er, nach einer gescheiterten Ausbildung als Hutmacher und einem Studium
der Theologie, als Lehrer an einem Berliner Gymnasium angestellt und lebte seit einigen
Jahren in der preußischen Hauptstadt. Die Stadt Berlin wurde in seinen Briefen
dementsprechend auch immer wieder als referenzieller Bezugspunkt genutzt.
Sein Reisebericht ist in Briefform an einen Herren Direktor Gedike abgefasst und
umfasst den Zeitraum vom 31.05.1782 bis zum 18.07.1782. Die Briefform war, wie bereits
erwähnt, keine ungewöhnliche äußere Form, um das Erlebte möglichst wirklichkeitsgetreu
und unmittelbar an den Leser weiterzugeben.199 Moritz bewegte sich hier also durchaus im
Rahmen der Reiseliteraturkonventionen seiner Zeit, zumal er seine Briefe noch weiter
strukturierte. Die einzelnen Briefe waren jeweils mit dem Ort überschrieben, von dem aus sie
geschrieben wurden, außerdem fügte er des Weiteren Zwischenüberschriften ein, wenn er von
einem besonders herausragenden Ort redete. Diese innere Strukturierung half dem Leser, sich
196
Biografische Hinweise zu Moritz: Meier, Albert, Moritz, Carl Philipp, in: Neue Deutsche Biographie 18
(1997), S. 149-152.
197
Moritz ist heute eher als Romanautor, denn als Reiseliterat bekannt. Sein Roman "Anton Reiser"ist sein meist
gelesenes Buch und wird auch in der Wissenschaft deutlich stärker rezipiert als es sein Reisebericht bisher
wurde. Vgl. dazu exemplarisch: Dobstadt, Michael, Existenzmagel und schwankendes Ich. Georg Christoph
Lichtenberg und Karl Philipp Moritz im Kontext einer Krisengeschichte neuzeitlicher Subjektivität, Würzburg
2009.
198
In ihrem einleitenden Kapitel gibt Ute Heidemann Vischer einen guten Einstieg in die Rezeptionsgeschichte
von Moritz‘ Text, sowohl im deutschsprachigen wie auch im englischen Raum. Vgl.: Heidemann Vischer, Ute,
Die eigene Art zu sehen. Zur Reisebeschreibung des späten achtzehnten Jahrhunderts am Beispiel von Karl
Philipp Moritz und anderen Englandreisenden, Bern 1993, besonders: S. 1 - 33.
199
Griep, Reiseliteratur, S. 754. Der Adressat war in diesem Fall eine tatsächlich existente Person und ein
Freund von Moritz, nicht wie in manchen Reiseberichten eine literarische Figur: Vgl. dazu: Heidemann Vischer,
Art zu sehen, S. 99f.
71
besser im Textfluss zu orientieren und hob natürlich auch bestimmte Fixpunkte der
Wahrnehmung des Autors formal hervor.
In der Zeit seiner Reise besuchte Moritz nicht nur London, sondern auch noch weitere
Städte wie Oxford, Kensington oder Windsor. Die Hauptstadt England nahm allerdings aus
verschiedenen Gründen eine besondere Stellung in diesem Bericht ein. Zum einen verbrachte
er dort mehr Zeit als in jeder anderen Stadt, was sich auch in dem Umfang niederschlug, in
dem er von London berichtete, denn das erste Drittel des Berichts drehte sich nahezu
ausschließlich um die Großstadt. Zum anderen kam er auch in seinen Berichten über die
anderen Orte in England immer wieder auf London als Hauptreferenzrahmen neben Berlin
zurück.
Wie viele Reisende zog es auch Moritz besonders nach England, das, wie auch in den
vorherigen Analysen bereits deutlich wurde, bereits fester Teil sowohl von großen
Kavalierstouren als auch von Bildungsreisen war. So schreibt auch Moritz in seinem ersten
Brief, den er noch mit der Ortsangabe "Themse" versah: "Endlich liebster G..., befinde ich
mich zwischen den glücklichen Ufern des Landes, das zu sehen Jahre lang mein sehnlichster
Wunsch war, und wohin ich mich so oft in Gedanken geträumt habe."200 Eindeutiger konnte
Moritz seinem Reiseziel keine Vorschusslorbeeren verleihen und den Leser von Beginn an
dem Reiseziel gegenüber positiv stimmen.
Sein erster Eindruck von London entsprach ebenfalls den Tendenzen, wie sie in den
anderen Berichten festgehalten werden konnten. Die Größe und Vielfalt der Großstadt wirkte
auf den ersten Blick offenbar einschüchternd auf den Reisenden. Er schreibt in dem
Unterkapitel "Die Aussicht von London" aus seinem ersten Brief aus London, der auf den
02.06.1782 datiert:
"Wie näherten uns mit großer Schnelligkeit, und die Gegenstände verdeutlichten sich alle
Augenblicke. Die Westminsterabtei, der Tower, ein Turm, eine Kirche nach der andern,
ragten hervor; Schon konnte man die hohen runden Schornsteine auf den Häusern
unterscheiden, die eine unzählige Masse kleiner Türmchen auszumachen schienen [...] In
den Straßen wodurch wir fuhren, behielt alles ein dunkles und schwätzliches, aber doch
dabei großes und majestätisches Aussehen. Ich konnte London seinem äußeren Anblick
nach, in meinen Gedanken mit keiner Stadt vergleichen, die ich sonst gesehen hatte."201
Es war also auch bei Moritz vor allem die Unbeschreiblichkeit der Erfahrung, die den ersten
Eindruck dominierte und die er an seine Leser weitergab. In Moritz‘ eigenem
Erfahrungshorizont gab es offensichtlich kein vergleichbares urbanes Erlebnis, das sich mit
London messen konnte. Trotzdem zog er an vielen Stellen die preußische Hauptstadt Berlin
200
201
Moritz, Karl Philipp, Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782, Berlin 1903, S.5.
Ebd. S. 8ff.
72
oder andere große Städte des Reichs als Vergleichspunkt heran, um dem Leser einen Maßstab
an die Hand zu geben, um die geschilderten Erlebnisse und beschriebenen Orte, sowie die
Distanzen zwischen ihnen in einen sinnvollen Kontext sortieren zu können. Unmittelbar im
Anschluss an den gerade zitierten ersten Eindruck schreibt er beispielsweise: "Sonderbar ist
es, daß mir ohngefähr vor fünf Jahren beim ersten Eintritt in Leipzig, gerade so wie hier zu
Mute war [...]."202 Nur um dann wenige Seiten später zugeben zu müssen "Beinahe sind die
Londner Plätze und Straßen weltbekannter, als die meisten unserer Städte."203 Die besondere
Stellung Londons im europäischen Städtekosmos wurde hier nicht nur erwähnt, sondern auch
noch stark überzeichnet, so dass die Vergleiche mit den deutschen Städten oder Orten direkt
relativiert wurden.
Betrachtet man die besuchten Orte, so fällt auch hier auf, dass sich ein gewisser Kanon
bei den essentiellen Orten der Stadt herausgebildet hatte. Moritz besuchte St Paul‘s204,
Westminster Abbey205, St James‘s Park206, den Tower207, die Börse208, das britische
Museum209, verschiedene Theater210, das Parlament211 etc. Das waren alles Fixpunkte, die
bereits von anderen Reisenden besucht und beschrieben worden waren und bis in die
Gegenwart als Wahrzeichen der Großstadt London gelten. Moritz‘ Erfahrung bewegte sich in
diesem Punkt also auch in den Bahnen, die seine Vorgänger gezogen hatten und denen leicht
zu folgen war. Dass eine explizite Vorbildung stattgefunden hatte, lässt sich ohne größere
Schwierigkeiten aus dem Bericht herauslesen. An einigen Stellen verwies Moritz direkt oder
indirekt auf die Lektüre, die er zur Vorbereitung genutzt hatte, zwar nicht so offensiv wie es
beispielsweise Uffenbach tat, aber trotzdem deutlich erkennbar. In seinem Brief vom
09.06.1782 notiert er beispielsweise:
"Heute habe ich in der deutschen Kirche in Ludgatehill für Herrn Pastor Wendeborn
gepredigt. Er ist der Verfasser der statistischen Beiträge zur näheren Kenntnis
Großbritanniens. Dieses schätzbare Buch hat mir schon außerordentliche Dienste
geleistet, und ich möchte einem jedem raten, der nach England reist, sich dieses Buch
anzuschaffen, das um desto brauchbarer wird, weil man es bequem in der Tasche tragen,
und sich allenthalben daraus Rats erholen kann."212
202
Ebd. S. 10.
Ebd. S. 12.
204
Ebd. S. 55ff.
205
Ebd. S. 58ff..
206
Ebd. S. 12ff.
207
Ebd. S. 148.
208
Ebd.
209
Ebd. S. 40f..
210
Ebd. S. 41f.
211
Ebd. S. 29ff.
212
Ebd. S. 19.
203
73
Die persönliche Vorbereitung auf die Reise durch das Studium einschlägiger Schriften stellte
also auch hier den ersten Schritt in der persönlichen Aneignung des Raumes durch den
Reisenden dar. Es ist davon auszugehen, dass bereits vor der Ankunft in der Großstadt eine
grobe mental map im Kopf des Neuankömmlings vorhanden war, die anhand bekannter
Vergleichsgrößen skaliert und durch das Urteil der vorangegangenen Reisenden wertend
eingefärbt war. Eine solche wertende Vorprägung trat dem Leser beispielsweise aus den
ersten Beschreibungen des St James‘s Park entgegen. Moritz schreibt: "Und doch macht man
sich eine so hohe Idee von dem St. James-Park und andern öffentlichen Plätzen in London:
das macht, weil sie mehr als die unsern in Romanen und Büchern figuriert haben."213 Ein
anderes Beispiel für dieses Phänomen ist die Beschreibung des Lustgartens Ranelagh im Brief
vom 13.06. Dort formuliert er:
"So oft ich von Ranelagh gehört hatte, machte ich mir doch keine deutliche Vorstellung
davon [...]. Ich schloß nun, dies könne unmöglich das prächtige, gepriesne Ranelagh sein
[...]. Aber welch ein Anblick, als ich auf einmal aus der Dunkelheit des Gartens in ein von
vielen hundert Lampen erleuchtetes rundes Gebäude trat, das an Pracht und Schönheit
alles übertraf, was ich noch dergleichen gesehen hatte!"214
Es ist nicht zu übersehen, dass Moritz über eine gewisse Vorbildung diese Orte betreffend
verfügt haben muss. Diese inneren Vorstellungen wurden bei dem tatsächlichen Besuch der
Orte mit der vorgefundenen Wirklichkeit verglichen und so ein spezifisches eigenes Bild
erzeugt, welches dem Leser schließlich entgegentrat. Man kann hier den Prozess der
Konstruktion des persönlichen Bildes in mehreren Stufen hervorragend verfolgen und
aufzeigen.
Neben diesen Abgleichen mit angelesenem oder auf anderen Wegen durch Dritte
erworbenem Wissen, bildete der Vergleich mit bekannten Größen einen Fixpunkt in Moritz‘
Schreiben. Wie bereits erwähnt, ist es hier vor allem die Stadt Berlin, in welcher Moritz zu
dieser Zeit lebte, die den Rahmen des Vergleichs darstellte. Vergleiche mit Berlin finden sich
an vielen Stellen des Buches und besitzen einen merkwürdigen Doppelcharakter in ihrer
Funktion. Zwar postulierte er zu Beginn seines Berichts: "Ich konnte London seinem äußeren
Anblick nach, in meinen Gedanken mit keiner Stadt vergleichen, die ich sonst gesehen
hatte."215 Trotzdem zog er Berlin einige Seiten später direkt als Vergleichspunkt heran. Besser
gesagt: Er nahm den Tiergarten als Vergleichspunkt zum St James‘s Park, wenn auch nur um
die Unbotmäßigkeit dieses Vergleichs zu betonen: "Wie wenig aber dieser so berühmte Park
213
Ebd. S. 12.
Ebd. S. 26f.
215
Ebd. S. 10.
214
74
mit unserm Berliner Tiergarten zu vergleichen sei, darf ich nicht erst sagen."216 Der Vergleich
war seiner Wahrnehmung nach notwendig, zeigt sich aber kein Stück zielführend.
Die Unbeschreiblichkeit der Erfahrung brauchte offenbar einen defizitären Vergleich
um ihre Einzigartigkeit verständlich machen zu können. Es wurde ein Rahmen beschworen,
der dem Leser wahrscheinlich vertrauter als die Erfahrung von London war, um gerade die
Unmöglichkeit der Kategorisierung der Großstadt zu verdeutlichen. An einer Stelle, die die
Aussicht von der Spitze von St Paul‘s beschreibt, findet sich dieses Stilmittel in besonders
pointierter Form. Moritz beschrieb zunächst die Ausmaße der Großstadt London, um diese
dann abschließend in einen defizitären Vergleichsrahmen zu stellen: "Wie groß kam mir
Berlin vor, als ich es zum erstenmal vom Marienturm und vom Tempelhoffschen Berge
übersah: wie verschwindet es jetzt in meiner Vorstellung gegen London."217 Der Vergleich
wird absolut linear aufgebaut – der Ausblick von einem erhöhten Punkt aus über die gesamte
Stadt – um die Unvergleichbarkeit des jeweiligen Ergebnisses miteinander festzustellen und
so London in eine Sphäre zu heben, die Berlin in dieser Form nicht erreichen konnte.
Diese Vorgehensweise findet sich in verschiedenen weiteren Passagen des Berichts
und ist nicht allein auf die Größe Londons beschränkt. Auch die einzelnen Orte, die ggf.
Äquivalente in Berlin hatten, wie der bereits oben genannte Tiergarten, wurden im Rahmen
des Berichts auf diese bezogen. So schreibt Moritz über die Gärten in Vauxhall: "Ich fand
beim Eintritt wirklich einige Ähnlichkeit mit unserm Berliner Vauxhall, in sofern man kleines
mit größerm vergleichen kann [...]".218
Auch an Stellen, an denen London Berlin aus der Sicht Moritz‘ unterlegen war, findet
sich ein anderer Aspekt, der den ersten sofort relativiert. Er schreibt beispielsweise: "So weit
ich diese paar Tage über London durchgestrichen bin, habe ich, im Ganzen genommen, nicht
so schöne Häuser und Straßen, aber allenthalben mehr und schönere Menschen, als in Berlin,
gesehen."219 Zwar sind die Gebäude Londons nicht herausragend, dafür aber die Menschen,
die in der Stadt leben oder sie besuchen umso mehr. Die scheinbare Überlegenheit Berlins
wird durch den zweiten Punkt unmittelbar aufgehoben und betont im Gegenteil eher die
Ausnahmestellung Londons denn die Vergleichbarkeit Berlins. Noch deutlicher wurde dies
allerdings in den Passagen, in denen es um die Weitläufigkeit der britischen Hauptstadt ging:
"Von meiner Wohnung in Adelphi bis an die Königliche Börse, ist wohl so weit, wie von
einem Ende Berlins zum andern, und bis an den Tower und St. Catharins [...] ist wohl noch
216
Ebd. S. 12.
Ebd. S. 57.
218
Ebd. S. 22.
219
Ebd. S. 16.
217
75
einmal so weit, und diesen Weg habe ich [...] schon zweimal zu Fuße gemacht."220 Der
Maßstab Londons muss hier also schon in einem Vielfachen Berlins ausgedrückt werden, um
die Erfahrung überhaupt angemessen transportieren zu können. Die Ausmaße der Großstadt
übertrafen jede Kategorie, die Berlin zum Vergleich anbieten konnte. Der Vergleich
ermöglichte also gleichzeitig die Einordnung in einen persönlichen Kontext und zeigte einem
durch das Aufzeigen der Begrenztheit dieses Kontexts den überbordenden und im Prinzip
vergleichslosen Maßstab Londons auf.
Was den Maßstab der Großstadt London an sich beziehungsweise ihre Grenzen betraf,
so zeigte sich Moritz ebenfalls reflektiert und scheint über die juristischen Grenzen profunder
informiert zu sein als dies bei Uffenbach, Pöllnitz oder Lichtenberg der Fall war. Zum einen
unterschied er zwischen der Großstadt London auf der einen und der City of London auf der
anderen Seite. Beide Begriffe waren ihm nicht nur geläufig, sondern sie wurden auch klar
abgrenzend voneinander benutzt, indem er einerseits allgemein von London, im Speziellen
dann allerdings von „der eigentlichen City“221 sprach, wenn er die City of London meint.
Deutlich wird seine Kenntnis der Materie auch daran, dass er den Begriff nicht einfach nur als
ein Synonym für die Innenstadt oder einen ansonsten gleichberechtigten Teil der Stadt
benutzt, sondern ihn klar als Bereich gesonderten Rechts darstellt. In einer Passage, in der er
die Meinungen des englischen Volkes über die Monarchen Preußens und England vergleicht,
schreibt er:
„[…] da sich in London, oder der eigentlichen City, nicht einmal ein Trupp Soldaten von
des Königs Garde darf blicken lassen. Vor einigen Tagen habe ich auch den Zug des
Lordmayors in London, in einem ungeheuer großen, vergoldeten Wagen gesehen,
welchem eine erstaunliche Menge von Kutschen folgten, in denen die übrigen
Magistratspersonen oder sogenannte Aldermänner von London sitzen.“222
Das Zusammenspiel der Differenzierung zwischen kleiner City und größerem London mit der
Wahrnehmung der Amtspersonen der City deutet auf eine tiefergehende Kenntnis der
administrativen Gegebenheiten der Großstadt hin. Der Begriff ‚London‘ wird von Moritz
zumeist dann benutzt, wenn er von der Gesamtheit der Großstadt spricht, auch wenn er dies
nicht immer einhält und den Terminus in manchen Kontexten eher frei verwendet. An einer
Stelle zu Beginn seines Berichts erwähnt er allerdings explizit den geografischen Rahmen,
den er der Stadt in seiner Wahrnehmung gibt. Er schreibt folgendes zu dem Thema:
220
Ebd. S. 19.
Ebd. S. 33.
222
Ebd. S. 39.
221
76
"Von hieraus hatte ich den schönsten Anblick, den man sich nur denken kann. Vor mir
lag die Themse in ihrer Krümmung mit den prächtigen Schwibbögen ihrer Brücken;
Westminster mit seiner ehrwürdigen Abtei zur rechten, und London mit seiner
Paulskirche zur linken Seite, bog sich mit den Ufern der Themse vorwärts und am
jenseitigen Ufer lag Southwark, das jetzt auch mit zu London gerechnet wird. Hier konnte
ich also beinahe die ganze Stadt, von der Seite von wo sie der Themse zugewandt ist, mit
einem Blick übersehen."223
Hier wurde der Name London von ihm zwar synonym für die City of London benutzt, aber
der abschließende Satz und die Kennzeichnung des Beschriebenen als "ganze Stadt" machte
deutlich, dass Westminster, Southwark, London und weitere Teile als ein großer städtischer
Verbund gesehen wurden, in welchem die einzelnen Teile nicht selbstständig, sondern nur als
untergeordnete Kategorien betrachtet wurden. Die erfahrene Praxis des freien Verkehrs
zwischen den einzelnen Teilstädten hatte dafür gesorgt, dass der gesamte großstädtische
Raum zwar als gegliedert, aber nicht separiert wahrgenommen wurde. London stand eben
nicht nur für die City of London, sondern auch pars pro toto für die gesamte Großstadt. Diese
Beobachtung wird an einer späteren Passage des Berichts noch deutlicher, als Moritz zu einer
anderen Gelegenheit noch einmal seine Eindrücke von einer Betrachtung der Stadt aus einer
erhöhten Position, dem Turm von St. Pauls, beschreibt:
"Ich wandte mich von einer Seite, von einer Weltgegend zur andern, und studierte recht
die Aussicht, um meiner Einbildungskraft ein immerwährendes Bild davon einzuprägen.
Unter mir lagen in der Tiefe, Türme, Häuser und Paläste, im dicksten Gedränge, und die
Squares, mit ihren grünen Plätzen in der Mitte, machten dazwischen ein angenehmes
Kolorit. An dem einen Ende der Themse ragte der Tower, wie eine Stadt, mit einem Wald
von Masten hinter ihm, und an dem andern die Westminsterabtei, mit ihren Türmen,
empor. Dort lächelten die grünen Hügel längst der Gegend von Paddington und Islington;
hier lag Southwark am jenseitigen Ufer der Themse. Die Stadt war beinahe unübersehbar,
denn wenn sie schon an sich aufhört, erstreckt sie sich doch fast immer noch in einzelnen
Häusern an den Seiten der Heerstraße bis zu den benachbarten Plätzen fort."224
In der Wahrnehmung Moritz‘ war die alltägliche Erfahrung der Stadt längst an einem Punkt
angelangt, an dem sie die administrative bzw. juristische Praxis überholt hatte, obwohl man
theoretisch noch darüber Kenntnisse besaß. Das ungeheure Wachstum der Stadt wurde hier in
einer Momentaufnahme festgehalten, wenn Moritz von den Häusern schrieb, die sich entlang
der Heerstraße weiterzogen. Allein der Anblick des großstädtischen Raums machte
offensichtlich klar, dass die Großstadt längst ein gewisses Eigenleben entwickelt hatte, das
sich weit über die Grenzen der Gesetzgebung hinwegbewegt hatte.
Im Alltag bewegte man sich dann auch längst, wie auch schon bei den zuvor
betrachteten Reisenden, über diese administrativen Grenzen hinweg und strukturierte den
223
224
Ebd. S. 13.
Ebd. S. 57.
77
großstädtischen Raum nicht durch seine Verwaltungsgliederung, sondern eher durch seine
markanten Orte, die dem wachsenden städtischen Raum so etwas wie eine geteilte Identität
verliehen. Die herausragenden Landmarken wie die St Paul‘s, Westminster Abbey, die
verschiedenen kleineren Kirchen oder die Themse selbst halfen dabei, die Stadt bzw. ihre
Teile deutlich zu kennzeichnen und eindeutig identifizierbar zu machen, weit mehr als andere
Gliederungsoptionen.
In der alltäglichen Erfahrung des Raumes waren es ohnehin mehr die großen
Kreuzungen und ihre Verbindungen untereinander, die die Bewegung durch den Raum
strukturierten und die Großstadt so erfahrbar gemacht hatten. Bei der Orientierung und
Bewegung durch den Raum spielten persönliche Kenntnis, Erfahrung und im Zweifelsfall das
Gespräch mit einem Einheimischen,225 weit vor der Orientierung an Stadtteilen, die
wichtigsten Rollen. Bei seinen Erkundungsgängen durch die Stadt schienen sich bei Moritz
gewisse Wege fest eingeprägt zu haben, denn er erwähnt sie explizit: "Noch eine weitere Tour
habe ich ziemlich oft gemacht, über Hannoversquare, und Kavendischsquare, noch
Bullstroatstreet, bei Paddington [...]."226
Überhaupt war Moritz ein passionierter Fußgänger und redete viel und ausgiebig über
diese Art der Fortbewegung. Nicht nur in der Stadt, sondern auch über Land, was ihm einigen
Ärger einbrachte, da er außerhalb Londons immer für einen Landstreicher gehalten und
schlecht behandelt wurde.227 In der Stadt "erspart man sich viel, wenn man zu Fuße geht"228,
nicht nur weil die Kutschen seiner Auffassung nach zu teuer waren, sondern weil die
gewonnenen Eindrücke einer Kutschenfahrt offensichtlich weit weniger einprägsam waren als
die eines Spazierganges zu Fuß. An den wenigen Stellen, an denen er Kutschen als
Fortbewegungsmittel nutzte und dies auch aufschrieb, finden sich nur kurze Verweise auf die
Fahrt, wie man es auch bei den Berichten der vorherigen Reisenden beobachten konnte. Nach
seinem Besuch im Garten Ranelagh notiert er beispielsweise lediglich: "Und ich dann auch
eine Kutsche nahm und nach Hause fuhr."229 Der Weg mit der Kutsche hinterließ also weder
bei Moritz noch bei Uffenbach, Pöllnitz oder Lichtenberg einen prägenden Eindruck.
Die Erschließung und persönliche Strukturierung des Raumes funktionierte entweder
auf bestimmten zuvor angelesenen Pfaden, oder auf Spaziergängen durch die Stadt bzw.
zwischen den großen Landmarken und um diese herum. Auf diese Art und Weise konstruierte
der jeweilige Reisende seine persönliche innere Karte der Stadt, die er dann in seinem Bericht
225
Ebd. S. 11, 30.
Ebd. S. 53f.
227
Ebd. S. 68, 77, 96.
228
Ebd. S. 19.
229
Ebd. S. 29.
226
78
niederschrieb und so seinen Leser vermittelte, die dieser dann erst einmal als Spiegel der Stadt
wahrnahm und ggf. für die Konstruktion seines eigenen Bildes der Großstadt benutzte. Die
Rezeption der Berichte durch nachfolgende Generationen von Reisenden fand sich
unmittelbar in deren Texten wieder und auch die Folgen waren, wie erwähnt, in den
Reflextionsprozessen des Vergleichs zwischen der angelesenen und der erlebten Realität
abzulesen.230
Insgesamt war das von Moritz beschriebene London das "typische" London des
Bildungsreisenden. Er beschrieb die zentralen Orte der Stadt, die ein jeder Reisender seiner
Meinung nach gesehen haben sollte, er besuchte Theater, das Parlament, Lustgärten und das
Land um die Großstadt herum. Er umriss den großstädtischen Raum als einen
zusammenhängenden Komplex einzelner Bestandteile, der sich noch immer im Wachstum
befand, obwohl er längst den Vergleichsrahmen verlassen hatte. London als Großstadt
sprengte jeden möglichen Vergleich mit Städten im Reich und Moritz gab sich alle Mühe
diese Außergewöhnlichkeit des Erlebten seinem Leser in all seinen Dimensionen deutlich zu
machen.
Er erwähnte auch an einigen Stellen die abgründigeren Seiten der Großstadt, allerdings
immer nur beiläufig, wie zur notwendigen, aber ungeliebten Vervollständigung eines Bildes
der Stadt. Er erwähnte die "Frechheit der hiesigen unzüchtigen Weibspersonen"231,
"Beutelschneiderei"232, sowie Raub und Mord, jedoch immer nur als Randnotiz seines
jeweiligen Kapitels. Bei einer Erwähnung eines Raubmordes in London schreibt er
exemplarisch: "[...] denn noch vergangene Woche ist auf eben diesem Wege ein Mensch
beraubt und erschlagen worden. Doch nun von etwas anderem."233 Erst auf seinen Reisen
durch das Umland widmet er sich den verschiedenen Arten von "Spitzbuben"234 in England
genauer bzw. bringt die Unterschiede dem Leser näher.235 In der Großstadt London selbst
hingegen blieb dieses Thema randständig und musste zu Gunsten der als wichtiger erachteten
Betrachtungen zurücktreten. Der Fokus des Berichts lag nun einmal nicht auf den erwähnten
Schattenseiten
des
großstädtischen
Lebens,
sondern
auf
den
Erlebnissen
und
Errungenschaften, die dem anvisierten Publikum eher gefallen würden. Die Art und Weise der
Aneignung und Konstruktion des großstädtischen Raumes funktionierte bei ihm allerdings auf
230
Am einprägsamsten wurde dies sicherlich bei Uffenbach, der seine Quellen explizit erwähnte. Generell zu
dem Phänomen: Maurer, Michael, Reiseberichte, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften. Band 4: Quellen,
hrsg. v. Michael Maurer, Stuttgart 2002, S. 328f.
231
Moritz, Reisen, S. 23.
232
Ebd. S. 24.
233
Ebd. S. 40.
234
Ebd. S. 62.
235
Ebd. S. 62f.
79
die gleiche Art und Weise wie bei seinen Vorgängern, auch wenn die Großstadt im Laufe des
betrachteten Zeitraums noch bedeutend gewachsen war.
80
5. Wahrnehmung der Stadt von innen: London im Spiegel seiner Bewohner
5.1. Defoe - A tour through the whole island of Great Britain
Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Eindrücke, Konstruktionen und Wahrnehmungen
Londons durch Reisende in die Stadt untersucht wurden, wendet sich der Blick der Arbeit in
diesem Kapitel den Einwohnern der Stadt selbst und deren Beschreibungen bzw.
Wahrnehmungen und Erfahrungen der Großstadt zu. Einer dieser Einwohner war Daniel
Defoe. Er wurde circa 1660 in London geboren, verbrachte den größten Teil seines Lebens in
der Großstadt und viele seiner Texte befassen sich mit der Großstadt und ihren spezifischen
Themen, auch wenn er seinen größten Ruhm durch den im Jahre 1719 erstmals verlegten
Roman Robinson Crusoe erlangte.236
Die Grundlage dieser Untersuchung stellt allerdings nicht die weltberühmte
Robinsonade, sondern sein zwischen 1724 und 1727 ursprünglich in drei Teilen erschienenes
Werk "A tour through the whole island of Great Britain" dar. In diesem Reisebericht führte
Defoe seinen Leser tatsächlich einmal durch sämtliche Gebiete Englands, Schottlands und
Wales' und erklärte die jeweiligen Besonderheiten, Sehenswürdigkeiten etc. der jeweiligen
Region. Überschrieben sind die Kapitel stets mit den Orten, von denen sie berichten und sie
sind, wie im Rahmen des Reiseberichts dieser Zeit nicht unüblich, in Briefform geschrieben.
Diese Briefe hatten allerdings keinen bestimmten Empfänger, denn Defoe wandte sich an kein
bestimmtes individuelles Gegenüber. Die Briefform ist in diesem Fall, anders als
beispielsweise bei Moritz, lediglich eine literarische Form und kein Hinweis auf einen
ursprünglichen Entstehungskontext. Im Gegensatz zu beispielsweise Uffenbach oder Pöllnitz
hatte Defoe zum Zeitpunkt der Abfassung des Buches bereits einigen literarischen Ruhm
erworben und es ist davon auszugehen, dass er den Bericht bereits mit der Absicht zur
Publikation geschrieben hat.237
Im Rahmen seines Berichts befasste sich Defoe unter anderem auch mit seiner
Heimatstadt London, deren Bewohnern, Eigenheiten, Gliederungsebenen etc. Er wird wegen
dieses Berichts und vieler seiner anderen Schriften als einer der großen zeitgenössischen
236
Zu Defoe ist im Laufe der Jahre eine unübersichtliche Vielzahl an Biografien geschrieben worden. Diese teilt
sich größtenteils in die Kategorien der politischen und der schriftstellerischen Biografie auf. Ein aktuelles
Beispiel für die erste Kategorie stellt beispielsweise Furbank, P.N., Owens, W.R., A Political Biography of
Daniel Defoe, London 2006. dar. Eine etwas andere Stoßrichtung wählte unlängst Clark, Katherine, Daniel
Defoe: The Whole Frame of Nature, Time and Providence, Basingstoke 2007. Zu den eher literarisch
orientierten Biographien zählt beispielweise: Richetti, John, The Life of Daniel Defoe, Oxford 2005; oder:
Riehle, Wolfgang, Daniel Defoe, Reinbeck 2002.
237
Aus seinen eigenen einleitenden Worten und seiner Begründung seiner Vorgehensweise lässt sich dies
zweifellos ablesen. Defoes Werk war immer zur Publikation und als Beitrag zur Beschreibung des Landes
gedacht. Vgl. zur Quellenkritik an Defoe auch: Dahlen, Peter von, Daniel Defoes Tour through the Whole Island
of Great Britain und ihre Vorläufer. Ein Beitrag zum Gesellschafts- und Geschichtsbewußtsein Defoes, Köln
1975, besonders: S. 110 - 122.
81
Biografen seiner Stadt angesehen. Jack Lindsay beschreibt ihn in seiner Studie zu London mit
folgender Aussage: "No writer more fully chronicled and discussed his City and his Time."238
Defoe hat in seinem Leben mehr als 500 verschiedene Pamphlete, Gedichte, Romane und
andere Schritten veröffentlicht und kann damit nicht nur als ein einflussreicher, sondern auch
als ein enorm produktiver Schreiber angesehen werden. Der hier zu Grunde liegende
Reisebericht wurde erst in der Spätphase seiner schriftstellerischen Tätigkeit angefertigt und
war das letzte große, mehrbändige Projekt, dass Defoe veröffentlichte. In den Bericht flossen
die Erfahrungen aus verschiedenen Reisen des Autors in ein zusammenhängendes Werk
ein.239 Die tatsächliche Orts- und Fachkenntnis des Autors, die Defoe auf seinen Reisen durch
England, Frankreich und Italien gesammelt hatte, machten, neben dem sprachlichliterarischen Anspruch, die Popularität des Buches aus.
Das Werk gilt als eines seiner bedeutendsten und hat zeitgenössisch und in der
Bewertung durch Historiker viel Lob erhalten. Der Defoe-Biograf John Richetti beschreibt es
beispielsweise als Defoes "best work, the book that most clearly represents him and does full
justice to his talents".240 Wolfgang Riehle nennt es, trotz einiger Kritik an seiner mangelnden
Originalität, ein "hochrangiges und bahnbrechendes Werk [...] geschrieben von einem
journalistisch höchst begabten [...] sein Metier bestens beherrschenden Schriftsteller."241 Die
Tour wurde und wird einhellig als wichtige Quelle für das Leben in Großbritannien im frühen
18. Jahrhundert gesehen und hat auch einiges zu London zu berichten.
In seinem Bericht widmete Defoe ein gesamtes Kapitel bzw. einen ganzen Brief der
Stadt London. Dieser fünfte von insgesamt dreizehn Briefen ist überschrieben mit dem Titel
"Letter V Containing a Description of the City of London, as Taking in the City of
Westminster, Borough of Southwark, and the Buildings Circumjacent". 242 Allein aus dem
Titel lässt sich bereits die Sonderstellung der Stadt London herauslesen, wenn man sie mit den
anderen Überschriften der Briefe des Bandes vergleicht. Der vorangegangene Brief ist
beispielsweise mit "Letter IV. Containing a Description of the North Shore of the Counties of
Cornwall, and Devon, and some Parts of Sommersetshire, Wiltshire, Dorsetshire,
Gloucestershire, Buckinghamshire, and Berkshire"243 überschrieben, der folgende "Letter VI.
Containing a Description of Part of the Counties of Middlesex, Hertford, Bucks, Oxford,
238
Lindsay, Jack, The Monster City. Defoe's London, 1688 - 1730, London / Toronto / Sydney / New York
1978, VII. Ebenfalls dort findet sich ein kurzer Abriss von Defoes publikatorischen Tätigkeiten.
239
Vgl. dazu: Heidmann Vischer, Art zu sehen, S. 63.
240
Richetti, Daniel Defoe, S. 324.
241
Riehle, Defoe, S. 124.
242
Defoe, Daniel, A Tour Through the Whole Island of Great Britain. Volume I, New York 1962, S. 314.
243
Ebd. S. 254.
82
Wilts, Somerset, Gloucester, Warwick, Worcester, Hereford, Monmouth, and the Several
Counties of South and North-Wales". Wie man auf den ersten Blick feststellen kann, wurde
weder in diesen Kapiteln noch in einem anderen einer einzelnen Stadt ein kompletter Brief
gewidmet. London erschien somit bereits in der formalen Aufteilung des Buches als ein
besonderer und aus dem Kontext gehobener Ort, dem man besondere Aufmerksamkeit
widmen musste, um ihm gerecht werden zu können. Ferner liefert die Überschrift direkt einen
Hinweis darauf, was Defoe alles unter den Begriff London fasste. Bereits in der Betitelung
wird deutlich, dass Defoe London als Begriff für die gesamte Großstadt benutzte und nicht
nur die City of London darunter fasste. Er erwähnte hier mit der City, Westminster und
Southwark die klassischen drei Pole der Großstadt, um die herum sich die expandierende
Großstadt formierte. Auch das unkontrollierte Wachstum und der nur schwer zu fassende
Umriss der Stadt wurden in dem Begriff "Buildings Circumjacent" bereits angedeutet.
Im eigentlichen Text wird diese Beobachtung an vielen Stellen gestützt. Zunächst
einmal ist da das sicherlich bekannteste Zitat aus diesem Werk, in welchem Defoe bei dem
Versuch, die Grenzen der Großstadt zu beschreiben angesichts des stetig expandierenden
Londons zunächst feststellt, dass "all these put together, are still to be called London"244 und
direkt im Anschluss die verzweifelt klingende Frage an seine Leserschaft stellt: "Whiter will
this monstrous city then extend?"245 Es folgte eine enorm detaillierte Aufführung einer
gedanklichen Linie, die die Begrenzung der Großstadt als Einheit beschreiben sollte. Defoe
nennt das Vorhaben "A Line of Measurement, drawn about all the continued Buildings of the
City of London, and Parts adjacent, including Westminster and Southwark, etc."246 In der
Folge breitet er auf sechs Seiten eine genaue geografische Beschreibung der Begrenzung der
Großstadt aus, um dann zu schließen: "Thus the extent or circumference of the continued
buildings of the cities of London and Westminster, and borough of Southwark, all which, in
the common acceptation, is called London [...]."247 Er nahm also für sich in Anspruch, einen
gesellschaftlich geteilten Konsens zu beschreiben, wobei er sich nicht auf rechtliche bzw.
schriftliche Quellen, sondern lediglich auf "common acceptation" stützen konnte.
Diese Bemühungen, der Stadt eine Begrenzung zu geben, speisten sich aus Defoes
Unwohlsein in Hinblick auf den unkontrolliert und rasant wachsenden Körper der Großstadt.
Wenig später im Text musst Defoe sich auch selbst schon eingestehen, dass sein Aufwand
doch nur eine Momentaufnahme darstellte. Noch einige Jahre vor seinem Bericht gab es eine
244
Ebd. S. 314f.
Ebd. S. 315.
246
Ebd. S. 316.
247
Ebd. S. 321.
245
83
unabhängige Ortschaft namens Deptford, welche aber während seiner Lebzeiten so sehr mit
der Großstadt verwachsen war, dass er feststellt "Deptford is no more a separated town, but is
become a part of the great mass."248 Bezug nehmend auf diese bereits in der Großstadt
aufgegangenen Städte wie Islington und Deptford wagt er auch den Blick in die Zukunft und
prognostiziert: "The town of Greenwich, which may, indeed be said to be contiguous to
Deptford, might be also called a part of this measurement; but I omit it, as I have the towns of
Chelsea and Knights Bridge on the other side, tho' both may be said to joyn the town, and in a
very few years will certainly do so."249
Einen vergleichbaren Effekt beschreibt er auch für den Bereich südlich der Themse:
"A very little time will shew us Newington, Lambeth, and the Burrough, all making but one
Southwark".250 London war zu diesem Zeitpunkt in seiner Wahrnehmung also ein stetig
wachsender Moloch, der sich ehemals eigenständige Städte einverleibte und sie zu seinem
"mighty, I cannot say uniform, body"251 hinzufügte, dabei neue Einheiten schuf und sein
Gesicht beständig veränderte. Die Großstadt und ihr Wachstum wurden hier eindeutig als
angsteinflößend, überwältigend und atemberaubend konnotiert. Das Ausgreifen der Stadt auf
die umliegenden Dörfer verursachte also auch bei seinen Bewohnern und nicht nur bei
Reisenden ungläubiges Staunen. Die Dynamik des großstädtischen Wachstums hatte sich
bereits zu diesem Zeitpunkt verselbstständigt und der Umfang bzw. die Ausdehnung des
städtischen Gebiets konnte nur noch in kurzen Momentaufnahmen skizziert werden.
Im Gegensatz zu diesen enorm dynamischen Prozessen stand die juristische bzw.
administrative Ordnung der einzelnen Teilstädte Londons, die sich nicht so schnell weiter
entwickelt hatten, wie es die schiere räumliche Ausdehnung tat. Im Gegensatz zu den
Reisenden aus Deutschland, mit der Ausnahme von Moritz, war sich der in London lebende
Defoe der administrativen Feinheiten seiner Heimat durchaus bewusst und ließ sie auch im
Rahmen seines Berichts nicht unerwähnt. Er differenzierte nicht nur direkt zu Beginn seines
Briefes zu London zwischen der Großstadt und der ursprünglichen City252, sowie zwischen
der City of London, der City of Westminster und dem Burough of Southwark, sondern ging
einen großen Schritt weiter, in dem er – immer noch zusammenfassend und bewusst
komplexitätsreduzierend – zehn unterschiedliche Teile identifizierte:
248
Ebd. S. 315.
Ebd. S. 321.
250
Ebd. S. 315.
251
Ebd. S. 316.
252
Ebd. S. 314ff.
249
84
"By this may be plainly understood, that I mean not the city only, for then I must
discourse of it in several parts, and under several denominations and descriptions, as, 1.
Of the city and liberties of London. 2. Of the city and liberties of Westminster. 3. Of the
Tower and its hamlets. 4. Of the suburbs or buildings annex'd to these, and called
Middlesex. 5. Of the borough of Southwark. 6. Of the Bishop of Winchester's reserv'd
privileged part in Southwark, called the Park and Marshalsea. 7. Of Lambeth. 8. Of
Deptford, and the king's and merchants yards for building. 9. Of the Bridge-house and its
reserved limits, belonging to the city. 10. Of the buildings on Southwark side, not
belonging to any of these."253
Das Nebeneinander der unterschiedlichen administrativen Gliederungen und der räumlichen
Untrennbarkeit kennzeichnete die Großstadt London und wurde von Defoe auch als ein
solches zentrales Merkmal erkannt. Er erwähnte die Sonderrechte der City und Westminsters
gegenüber
der
Krone
und
dem
Rest
der
Großstadt,254
machte
aber
trotzdem
unmissverständlich klar, wo die Grenzen dieser Sonderrechtszone waren. Was auf den Leser
zunächst wie eine große Unordnung wirken musste, wurde von Defoe selbst allerdings
positiv, in einem pragmatischen Sinne, gesehen. Zusammenfassend schreibt er: "The
government of this great mass of building, and such a vast collected body of people, though it
consists of various parts, is, perhaps, the most regular and well-ordered government, that any
city, of above half its magnitude, can boast of."255 Die Stadt hatte also nach seiner Auffassung
die beste Regierung, die bei einer solchen Größe überhaupt noch möglich sei, obwohl er an
anderer Stelle selbst eine Reform der städtischen Organisation forderte.
Am Ende seines ersten Überblickskapitels zur Großstadt regte er drei Punkte an, die
die von ihm als Problem erkannten Phänomene beheben oder zumindest eingrenzen sollten.
Neben einer weiteren Brücke über die Themse waren dies zum einen die Forderung nach
einer grundlegenden Verwaltungsneugliederung durch das Parlament: "abrogating the names
as well as the jurisdictions of all the petty privileged places, and joyning or uniting the whole
body, Southwark and all, into one city, and calling it by one name, London."256 Zum anderen
forderte er eine Regulierung der Bautätigkeiten "where they too much run it out of shape, and
letting the more indented parts swell out on the north and south side a little, to balance the
length, and bring the form of the whole more near to a circle"257. Etwas resigniert musste er
dann allerdings eingestehen, dass dies alles nur Forderungen und Wünsche seien und die
Ausführung "must be left to the wisdom of future ages".258 Trotzdem verdeutlichte Defoe hier
eine eindeutige Diskrepanz zwischen dem täglichen Erleben der Großstadt und ihrer formalen
253
Ebd. S. 323.
Ebd. S. 322f.
255
Ebd. S. 322.
256
Ebd. S. 330.
257
Ebd. S. 330.
258
Ebd. S. 330.
254
85
Gliederung. Was er hier forderte, ist im Prinzip nichts anderes als eine Anpassung der
politischen Gegebenheiten an zeitgenössische Praktiken bzw., im Falle der Bauregulierung,
eine Einhegung des als einschüchternd empfundenen stetigen Wachstums.
Die konkreten Probleme, die sich aus der Kombination dieser administrativen
Zersplitterung, dem Fehlen eines klaren Verwaltungszentrums und der ungehemmten
Expansion der Großstadt ergaben, wie beispielsweise die hohe Kriminalitätsrate bei
gleichzeitig ineffektiver Verfolgung von Delinquenten, blieben bei Defoe allerdings
unerwähnt. Die Schattenseiten der Großstadt werden in diesem Bericht zu Gunsten einer
abstrakteren Analyse- und Beschreibungsposition nahezu vollkommen ausgeklammert. Weder
Prostitution noch Raub, Einbruch oder Mord finden sich in dem gesamten Brief über London,
so dass man hier einen eklatanten Unterschied zu den zuvor betrachteten Reiseberichten der
deutschen Reisenden feststellen muss.259
Trotz dieser beständigen Fluktuation und des Ausgreifens auf das Umland, sah Defoe
eine gewisse Ordnung innerhalb des großstädtischen Verbunds, die sich zwar nur bedingt
rechtlich-geografisch, dafür aber funktionell beschreiben ließ. In seiner Wahrnehmung
funktionierte die Großstadt durch die Spannung ihrer drei Pole. Diese drei Pole waren
allerdings nicht die geografischen Pole London, Westminster und Southwark, obgleich man
manche Überschneidungen durchaus sehen konnte, sondern waren drei funktionale Pole. In
seiner Beschreibung bildeten "The City", "The Court" und "The Out-Parts"260 die definierende
Trias der Großstadt, die jeweils eine bestimmte Rolle übernahmen.
Die geografischen Entsprechungen der drei Funktionsbereiche lassen sich relativ klar
verorten, allerdings war die Konzeption Defoes an diesem Punkt nicht an den konkreten
physischen Raum gebunden, sondern operierte in einem durch konkrete Handlung okkasionell
hergestellten Funktions- und Bedeutungsraum, der an den zu erwartenden Orten stattfinden
konnte, aber es nicht zwangsläufig musste. Die City in ihrer Funktion als "center of its (Der
Großstadt: Anm. d. Autors) commerce and wealth"261 konnte sich an dem Ort der Börse, der
großen Kompanien oder der vielen Einkaufsmöglichkeiten manifestieren, war aber nicht an
die Stadtmauern der ursprünglichen City gebunden, sondern konnte beispielsweise auch in
den verschiedenen Wochenmärkten bei Gelegenheit hergestellt und somit sozial wirkmächtig
werden.
259
Auf diese Auslassung verweist auch Wolfgang Riehle, der sich davon irritiert zeigt. Vgl.: Riehle, Defoe, S.
122.
260
Defoe, Tour, S. 335.
261
Ebd.
86
Ähnliches galt für den Hof. "The Court" stand für "its gallantry and splendor"262.
Dieser konnte sich in den königlichen Residenzen oder Schlössern entfalten, was sicherlich
auch der Normalzustand gewesen sein dürfte. Die ausufernde Beschreibung eines möglichen
Neubaus von Whitehall und die daraus entstehenden repräsentativen Möglichkeiten über die
Defoe spricht, standen hier nur exemplarisch für die Bindung von bestimmten Funktionen an
spezielle Orte.263 Der "Scheme for a royal Palace in the Place of White-Hall" nimmt mehrere
Seiten in Anspruch und zeigte die Bedeutung von konkreten Orten zur Herstellung der von
Defoe angesprochenen Qualitäten auf. Der mögliche Palast von Whitehall wurde bei Defoe
damit zu einem enorm wichtigen Ort, gerade dadurch, dass er nicht existent war. Der fiktive
Ort des neuen Whitehall deutet auf eine empfundene Lücke in der räumlichen Repräsentation
royaler Prachtentfaltung hin. Das Netz von Orten zwischen denen sich diese Funktion der
Großstadt entfalten konnte, wurde von Defoe offensichtlich als verbesserungswürdig
wahrgenommen und bedurfte der Verstärkung. Diese besagten Qualitäten mussten sich also
auch an anderen sozialen Orten, wie dem Theater, großen Parks etc. entfalten, an denen sich
die höfisch-kulturelle Elite zusammenfand und somit kurzfristig einen Ort erschaffen konnte,
der diese Qualitäten besaß bzw. herstellte und entsprechend kommunizierte. Der Raum
sozialer Repräsentation konnte also sowohl konkret örtlich gebunden sein, wie beispielsweise
an den königlichen Residenzen, oder aber okkasionell im großstädtischen Raum hergestellt
werden, wobei viele dieser Orte damit nicht eindeutig einem Pol zugeordnet, sondern jeweils
von den Bewohnern entsprechend besetzt werden mussten. Defoes Konzept der Pole der Stadt
zeigte sich hier weniger als statisches Modell der räumlichen Verortung von Funktion,
sondern bewies fluide Qualitäten.
Der dritte Pol war im Vergleich zu seinen Vorgängern etwas anders gestaltet. Er hatte
als Beisteurer von "its numbers and mechanicks"264 nahezu schon transzendente
Eigenschaften und schien am wenigsten an einen konkreten Ort gebunden zu sein. Stattdessen
verlieh er dem Raum der Großstadt erst seine spezifische Gestalt, auf der die anderen beiden
Pole aufbauen konnten und mussten, um ihre volle Wirkmacht entfalten zu können. Der dritte
Pol bildete somit den Hintergrund der Großstadt und war für ihren Charakter im hohen Maße
prägend, auch wenn seine gegenüber den beiden anderen Polen deutlich marginalere und
uneindeutigere Rolle dies auf den ersten Blick nicht vermuten ließ. Der Zustrom von
Einwanderern in die Großstadt machte sie erst zu der von Defoe beschriebenen "overgrown
262
Ebd.
Ebd. S. 385ff.
264
Ebd.
263
87
city"265, die "crouded with people"266 sei. Diese Masse an Einwohnern und der stetige
Zustrom von Einwanderern, machte London zu der pulsierenden, wachsenden Großstadt,
deren positive Auswirkungen Defoe an so vielen Stellen beschrieb. Wirtschaftliche
Prosperität und royale Prachtentfaltung geschahen hier also vor dem Hintergrund der
wachsenden Großstadt und gaben London somit sein spezifisches Gesicht.
Es schien insgesamt selbst für Defoe als Bewohner der Großstadt ein Problem zu sein,
die passenden Termini zur Beschreibung zu finden, um dem Leser London nahe zu bringen.
Ebenso schwer tat er sich mit der Suche nach vergleichbaren Städten, die zur Illustration und
als Maßstab dienen konnten. Alle schienen aus dem einen oder anderen Grund nicht passend
genug zu sein, selbst wenn es nur um kleine Bestandteile der Großstadt ging. Bei der
Beschreibung der Werften auf der Themse beispielsweise brachte Defoe zunächst Amsterdam
ins Spiel, dessen Werften sogar größer waren als die Londons: "[...] there may be more
vessels built at Schedam, and the parts adjacent, than in the River Thames [...]"267. Allerdings
wurde dieser Vergleich in vier Punkten direkt wieder eingeschränkt. Erstens würden die
Holländer nicht nur für sich, sondern für die ganze Welt produzieren; Zweitens würden alle
holländischen Schiffe würden dort gebaut, während die englische Flotte lediglich zu einem
Fünftel in London produziert würde; Drittens würde man in Schedam zwar ständig mehr
Schiffe auf weniger Raum sehen, davon sei aber ein Teil der normalen Binnen- und
Küstenschiffahrt zugehörig und dürfte demnach nicht mitgerechnet werden. Viertens und
abschließend hatte man außerdem vielleicht auch nur das Gefühl, in Schedam mehr Schiffe zu
sehen.268
Amsterdam fiel als Vergleichspunkt also unmittelbar wieder heraus. Nur eine Stadt
schien angemessen, neben London gestellt zu werden, und das war das antike Rom zu Trajans
Zeiten.269 Die Hauptstadt des römischen Imperiums sei der einzige Fixpunkt gewesen, an dem
London sich orientieren könne. Diese Behauptung fällt schon auf der ersten Seite des Briefes
über London: "New Squares, and new streets rising up every day to such a prodigy of
buildings, that nothing in the world does, or ever did, equal it, exept old Rome in Trajan's
Time, when the walls were fifty miles in compass, and the number of inhabitants six million
eight hundred thousend souls."270
265
Ebd. S. 337.
Ebd. S. 336.
267
Ebd.S. 347.
268
Ebd. S. 347f.
269
Der Vergleich zu Rom war übrigens durchaus üblich im 18. Jahrhundert vgl. dazu: Schwarz, London, 642f.
270
Defoe, Tour, S. 314.
266
88
Die Ausmaße der antiken Stadt gingen zwar weit über das Maß hinaus, das London zu
dieser Zeit anbieten konnte, aber der Vergleich dient auch wohl eher der Illustration der
Einzigartigkeit Londons in seiner Zeit, als dem konkreten Erkenntnisgewinn durch einen
Vergleich. Trajans Rom diente hier eher als Indikator der Größe und Bedeutung der Großstadt
London, die durch den Vergleich der Hauptstadt des Imperium Romanum mit der Hauptstadt
des britischen Weltreichs indirekt hergestellt werden sollte. Rom war deswegen hier eher als
irrealer Idealbezug zu sehen, vor dem es sich auch London erlauben konnte, in einigen
Punkten abzusinken, denn in seiner Form reichte London nicht an das symmetrische Ideal
heran:
"It is the disaster of London, as to the beauty of its figure, that it is thus stretched out [...]
and (it) has spread the face of it in a most straggling, confus'd manner, out of all shape,
uncompact, and unequal; neither long or broad, round or square; whereas the city of
Rome, though a monster for its greatness, yet was, in a manner, round, with very few
irregularities in its shape."271
Zeitgenössisch gab es in Defoes Sicht keine Stadt, die London ebenbürtig war. Man musste
schon in die ferne antike Vergangenheit zurückgehen, um eine Stadt zu finden, die sich auf
Augenhöhe mit London befand.
Dieser Vergleich dominiert nicht allein die Einleitung, sondern es finden sich auch im
weiteren Verlauf des Textes immer wieder Parallelen zur ewigen Stadt. Um nur zwei
Beispiele zu nennen: In einer Passage, in der es um den Wiederaufbau der vom Großen Brand
1666 verwüsteten Stadtteile geht, wird beispielsweise explizit auf die Ähnlichkeiten des
Konstruktionsplans von Christopher Wren mit Rom rekurriert "[...] after the model of that at
Rome, but much more magnificent [...]".272 An anderer Stelle beschreibt er St Paul’s mit den
Worten: "The church is a most regular building, beautiful, magnificent, and beyond all the
modern works of its kind in Europe, St. Peter's at Rome, as above, only excepted."273 Die
Kathedrale in Rom stand natürlich noch nicht zu Trajans Zeiten, aber als bedeutsamste Kirche
des Katholizismus‘ war sie der einzig zulässige Vergleichsrahmen für das anglikanische
Zentrum St‘ Paul‘s. Anglikanismus und Katholizismus wurden hier symbolisch auf eine
Ebene gestellt, die sich in der herausragenden Gestalt ihrer beiden wichtigsten Orte
manifestierte. Der Rest der Stadt Rom in seiner Zeit wurde jedoch nicht weiter erwähnt.
Es waren also London und das antike Rom, die in seiner Gedankenwelt als auf
einander beziehbare Entitäten eine große Rolle spielten, auch wenn er den Vergleich mit
antiken Großstädten selbst an anderer Stelle als nur bedingt sinnvoll charakterisiert hatte. An
271
Ebd.
Ebd. S. 334.
273
Ebd. S. 335.
272
89
einer deutlich früheren Stelle seines Werkes nahm er Stellung zur Bedeutung der antiken
Großstädte insgesamt für seine Gedankenwelt. Er schreibt: "The ruins of Carthage, or the
great city of Jerusalem, or of ancient Rome, are not at all wonderful to me [...] because being
the capitals of great and flourishing kingdoms, where those kingdoms were overthrown, the
capital cities necessarily fell with them."274 Konkret hatten diese Städte also keine Bedeutung
mehr. Ihre Bedeutung generierte sich also nur noch als historische Vergleichsfolie, die im
Zweifelsfall herangezogen werden konnte, wenn es ansonsten nichts Vergleichbares gab.
Rom diente in diesem Sinne nur als die Erinnerung an eine Stadt aus der Vergangenheit, die
es zu ihrer Blütezeit mit London seiner Gegenwart hätte aufnehmen können, deren
Bedeutsamkeit aber durch den Fall des mit ihr assoziierten Reiches bedeutend gemindert
wurde, da das britische Weltreich zum Zeitpunkt der Abfassung des Berichts noch in voller
Blüte stand. Weitergedacht bedeutet das also auch, dass es in Defoes Gegenwart keine Stadt
gab, die mit London vergleichbar gewesen wäre. Somit diente der Vergleich letztlich doch nur
der Herausstellung der Einzigartigkeit.
Neben diesen großen, abstrakten Betrachtungen der Stadt, schrieb Defoe natürlich
auch über das Innenleben Londons. Seine Beschreibungen der Straßen, Squares und Viertel
der Großstadt waren, wie der Rest seines Berichts, auf einem sehr hohen Abstraktionslevel
angesiedelt, so dass sie wenig direkte Schlüsse auf die konkrete Erfahrung der Großstadt
zulassen. Es gab einige Erwähnungen des Gedränges und der Fülle von Menschen in den
Straßen. Diese bleiben jedoch immer kurze Erwähnungen wie beispielsweise im Rahmen
einer Beschreibung eines Stadtviertels: "From this part of the town, we come into the publick
streets, where nothing is more remarkable than the hurries of the people[...]".275 Eine
tiefergehende persönliche Auseinandersetzung bzw. Beschreibung von Ereignissen, wie sie
sich bei den Reisenden fand, spiegelt sich in diesem Band nicht wieder, war aber sicherlich
auch nie Ziel bzw. Anspruch des Werkes.
Aus den Beschreibungen der einzelnen Teile der Stadt lässt sich nichtsdestotrotz
einiges herauslesen. Zunächst einmal lag der Fokus der Beschreibungen eindeutig auf der City
und Westminster. Die beiden Teilstädte wurden jeweils in einem eigenen Kapitel besprochen,
wohingegen der Rest der Stadt nur vereinzelt oder in ganz bestimmten Kontexten als
Ergänzung Erwähnung fand. Folgt man Defoes eigener Logik, so ist dies auch wenig
verwunderlich. In seinen Augen waren die "Out-Parts" ja auch nur dafür da, die Zahlen und
274
275
Ebd. S. 54.
Ebd. S. 365.
90
Handwerker in die Gleichung der Großstadt hineinzubringen, um die rein numerische Größe
und die notwendige Instandhaltungs- und Expansionskapazitäten beizusteuern.
Für die City und Westminster ließ sich hingegen eine klare Tendenz erkennen, die die
Aneignung des großstädtischen Raumes und die Bewegung in ihm betrifft. Defoe beschrieb
den innerstädtischen Raum als ein Bezugssystem zwischen herausragenden Orten, wie
beispielsweise Squares, Regierungsgebäuden, Krankenhäusern, Statuen etc. Diese Orte
wurden untereinander in seinen Beschreibungen durch lanes, streets oder durch die Angabe
einer Himmelsrichtung verbunden.276 Jene Art der Beschreibung ist eine, die auf den ersten
Blick einleuchtend wirket, die mit den zuvor betrachteten Arten große Gemeinsamkeiten
aufwieß, im Detail allerdings unterschiedlich gewichtet wurde. Wo die Reisenden sich vor
allem an den herausragenden Landmarken und ihren wenigen individuellen Bezugsorten, wie
an den gemieteten Räumlichkeiten o.ä. orientierten und ihre Wege als Wege zwischen diesen
beschrieben, so gab Defoe ein deutlich detaillierteres Bild der Großstadt ab. Zwar tauchten
auch in seiner Beschreibung die zentralen Orte wie St Paul‘s, Westminster Abbey oder die
Themsenbrücken auf, allerdings weniger prominent und gleichberechtigt mit anderen Orten,
die bei den Reisenden nur nebensächliche oder gar keine Erwähnung gefunden haben. Sein
Blick auf die Stadt war deutlich feiner und höher aufgelöst, allerdings scheinen einige
Erfahrungen, wie beispielsweise das Gedränge auf den Straßen und die generelle,
überbordende Fülle der Stadt, von ihm ganz analog zu den Reisenden gemacht und erfahren
worden zu sein.
Insgesamt blieb Defoes London abstrakter, als das London der zuvor betrachteten
Berichte. Der Bewohner der Stadt lieferte eine detaillierte Analyse und Beschreibung seiner
Heimatstadt, die dem Leser auch die Feinheiten der administrativen Aufteilung oder der
(momentanen) Grenzziehung zwischen der Großstadt und dem Umland nahebrachte, während
er mehr als deutlich machte, dass die Großstadt in der Praxis längst eine Funktionseinheit
geworden war. Wie nicht anders zu erwarten, brachte er einen etwas anders gewichteten Blick
auf die Stadt mit, die er in langen Jahren als Bewohner und nicht in einigen Wochen oder
Monaten als Tourist erfahren hatte, allerdings sind auch die Parallelen in der Wahrnehmung
nicht zu übersehen. Genau wie für die Reisenden blieb die Größe und das ungeheure
Wachstum der Großstadt auch für Defoe ein schwer zu fassendes bzw. zu beschreibendes
Faktum. In diesem Fall versuchte er erst gar nicht, zeitgenössische Städte als Vergleich
heranzuziehen, sondern wich direkt in die antike Vergangenheit aus, um eine Stadt zu finden
die in ihrer Gesamtheit mit ‚seinem‘ London zu vergleichen wäre. Zwar gab es immer wieder
276
Die beiden Kapitel "The City"und "The Court and Westminster"funktionieren nach diesem Prinzip.
91
einzelne Aspekte anderer Städte, wie die Werften von Amsterdam oder der Palast von
Versailles277, die mit London vergleichbar schienen, aber in seinen gesamten Ausmaßen
konnte offensichtlich nach Defoes Meinung keine Stadt mit London auf Augenhöhe
verglichen werden.
London blieb auch bei ihm ein einschüchterndes Erlebnis. Sein Wachstum erschien
maßlos und nicht zu stoppen, die Form der Stadt war nicht mehr genau zu fassen und
entsprach längst keinen ideal-ästhetischen Maßstäben mehr, die Stadt quoll über vor
Menschen und die Administration der Großstadt war längst von den Ereignissen abgehängt
worden. Durch diese Brille betrachtet war London kein besonders reizvoller Ort. Trotzdem
lobte Defoe die Großstadt auch an verschiedenen Punkten und gewann den Eigenheiten der
Stadt immer wieder positive Aspekte ab. Die Regierung der Großstadt sei im Vergleich das
Beste, was es für eine Stadt dieser Größe gebe, seine Kirchen, Häfen etc. seien mit kaum
etwas in der Welt vergleichbar und die innere Aufteilung der Stadt in die von ihm
beschriebenen Funktionsteile funktionierte blendend und machte London zu einer
wunderbaren Stadt, deren Anblick von der Ferne "the most glorious sight without exeption,
that the whole world at present can show, or perhaps ever cou'd show since the sacking of
Rome [...]"278 sei. Die Größe und Ausdehnung Londons und das Fehlen eines angemessenen
Vergleichsmaßstabs machten London in seiner Sicht nicht allein zu einer erschreckenden
Monstrosität, sondern zu einer Ehrfurcht gebietenden Erscheinung.
5.2. James Boswells London Journal
James Boswell war ein schottischer Advokat, Reisender, Schriftsteller und Journalist, der
1740 in Edinburgh geboren wurde. Nach einem Studium in seiner Heimatstadt zog Boswell
1762 nach London, um dort in die Armee einzutreten. Da er allerdings weder über
ausreichende Beziehungen noch über einen großzügigen Patron verfügte, welcher seinen Plan
vorantreiben konnte, gelang es ihm lange Zeit nicht, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Im
Laufe seines Lebens verbrachte er viele Jahre in London und machte sich als Schriftsteller
einen Namen, vor allem mit seinem bekanntesten Werk "The Life of Samuel Johnson", das
bis heute den Grundstein seines Ruhmes bildet.279 Während seiner ersten Reise bzw. seines
ersten Aufenthalts in London führte er außerdem ein Tagebuch, in dem er seine Eindrücke
von der Stadt und seinen Bewohnern niederschrieb. Dieses Tagebuch war offensichtlich
277
Ebd. S. 364
Ebd. S. 168.
279
Die Enzyklopaedia Britannica listet ihn beispielsweise bis heute vornehmlich als Biografen. Vgl. dazu:
http://www.britannica.com/EBchecked/topic/74986/James-Boswell
278
92
privater Natur, da es, auch nachdem er zu Lebzeiten einigen Ruhm erlangen konnte, nicht von
ihm publiziert worden ist. Im Gegensatz zu "The Life of Johnson", das ebenfalls als Tagebuch
abgefasst, aber von Anfang an zur Publikation vorgesehen war, blieb das "London Journal"
bis ins 20. Jahrhundert hinein unentdeckt. Erst in den 1920er Jahre wurde es in den Schriften
seines Nachlasses entdeckt. Es dauerte dann noch bis 1950, ehe es ediert und veröffentlicht
werden konnte.280 Das Tagebuch umfasst den Zeitraum vom November 1762 bis zum August
1763 und gestattet einen tiefen Einblick in die Erlebnisse, Pläne und Vorhaben des jungen
James Boswell. Unter anderem schrieb Boswell auch immer wieder über die Stadt, in der er
sich niedergelassen hatte.
Zu Beginn seiner ersten Reise herrschte auch bei Boswell zunächst ein Gefühl der
Überwältigung angesichts des Ausmaßes der Stadt vor. Am 19. November, dem Tag seiner
Ankunft in der Stadt, notiert er in seinem Tagebuch: "The noise, the crowd, the glare of shops
and signs agreeably confused me. I was rather wildly struck [...]"281 Das initiale Erleben der
Stadt als übervoll und unglaublich aktiv stellte sich bei Boswell also genau so ein, wie es das
auch schon bei den Reisenden aus Deutschland oder bei Defoe tat. Jedoch stand dieses
Empfinden in der Folge bei Boswell nicht besonders im Zentrum. Es finden sich nur spärliche
Erwähnungen der Stadt und ihrer Atmosphäre. Der Fokus seiner Betrachtungen lag eindeutig
mehr auf seinem sozialen Umfeld als auf der räumlichen Umgebung. In diesem Punkt ähnelt
sein Tagebuch dem Bericht von Pöllnitz, dessen Darstellung ihren Fokus ebenfalls auf der
Beschreibung sozialer Interaktion hatte. Trotzdem lassen sich die Grundlinien seiner
Erfahrung der Großstadt und seiner inneren Konstruktion der Stadt problemlos
nachvollziehen.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Großstadt für ihn vor allem aus einem Netz
von Orten bestand, an denen er seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgehen konnte.
Er berichtete ausführlich von Treffen in Privatwohnungen, Kaffeehäusern, Parks etc. Die
typischen Landmarken oder Sehenswürdigkeiten der Stadt stehen beispielsweise, im
Unterschied zu den zuvor betrachteten Reisenden, recht weit unten auf seiner Prioritätenliste.
Zwar erwähnte er diese Orte, aber zumeist nur nebenbei und eine eigene Motivation, diese
Orte um ihrer selbst willen zu besuchen, ist nicht zu erkennen. Zum Parlament beispielsweise
wurde er von seinem Mietsherren eingeladen und fasst die Rede des Königs vor den beiden
versammelten Häusern mit dem lapidaren Kommentar "It was a very noble thing"282
280
Vergleiche dazu und zur Editionsgeschichte: Pottle, Frederick, Introduction, in: Boswell, James, London
Journal 1762 - 1763, London 1950, S. 1 - 39.
281
Boswell, James, London Journal 1762 - 1763, London 1950, S. 44.
282
Ebd. S. 49
93
zusammen. Der Ort an sich oder seine Wirkung fanden sich mit keinem Wort erwähnt.
Ähnlich erging es St Paul’s in seinem Tagebuch. Die größte Kirche und das bekannteste
Wahrzeichen der City of London war in seinem Bericht nur eine kurze Erwähnung als Ort der
Trennung von einem Konversationspartner wert. Im Wortlaut schreibt er: "He parted from me
at St. Paul's, and I went to Child's".283 Selbst Orte, die er aus eigenem Antrieb aktiv besucht
hat, wie beispielsweise eine Menagerie, werden nur extrem kurz beschrieben: "I went and saw
a collection of wild beasts. I felt myself bold, easy, and happy."284 Weitere Erwähnung schien
ihm dieser Anblick nicht würdig zu sein. Selbst der Ausblick von St Paul‘s aus schien bei ihm
deutlich weniger Eindruck gemacht zu haben, als dies bei den anderen Schreibern der Fall
gewesen war. Boswell berichtet in seinem Tagebucheintrag vom 18. Juli 1763 von seinem
Besuch in St Paul‘s und der Aussicht von den Türmen:
"Here I had the immense prospect of London and its environs. London gave me no great
idea. I just saw a prodigious group of tiled roofs and narrow lanes opening here and there,
for the streets and beauty of the buildings cannot be observed on account of the distance
[...] I did not feel the same enthusiasm that I have felt some time ago at viewing these rich
prospects."285
Zwar erwähnt er den Enthusiasmus früherer Anblicke, aber davon schien zu diesem
Zeitpunkt nicht mehr viel vorhanden gewesen zu sein. Boswell beschreibt hier sehr nüchtern,
fast gelangweilt, die Aussicht von den Türmen der Kirche, aber in dieser Beschreibung fand
sich trotzdem noch ein sehr positives Bild von der Stadt. Im gesamten Tagebuch lassen sich
Spuren davon finden, dass Boswell der Stadt insgesamt eher positiv gegenüber stand und sie
vor allem als Möglichkeit begriffen hat, sich einflussreiche Freunde und gesellschaftliche
Verbündete zu suchen. Die Stadt selbst wurde von ihm in ihrer spezifisch materiellen
Dimension nur sehr randständig wahrgenommen, wie die obigen Zitate gezeigt haben. In ihrer
Erscheinungsform als räumliche Rahmung und somit als einer der bestimmenden Faktoren
ihrer erweiterten sozialen Umwelt hingegen wurde die Stadt sehr wohl von ihm
wahrgenommen und rezipiert. Seine Wahrnehmung der Stadt und ihrer spezifischen Gestalt,
versuchte er am 05. Dezember 1762 in seinem Tagebuch festzuhalten. In seiner gesamten Zeit
blieb dieser Eintrag der längste zusammenhängende Versuch, die Stadt zu beschreiben:
283
Ebd. S. 67.
Ebd.S. 45. Vermutlich handelte es sich bei dem Ort, den er hier so kurz beschrieb um die royal menagerie im
Tower
285
Ebd. S. 310.
284
94
"In reality, a person of small fortune who has only common views of life and would just
be as well as anybody else, cannot like London. But a person of imagination and feeling
[...] can have the most lively enjoyment from the sight of external objects without regard
to property at all. London is undoubtly a place where men and manners may be seen to
the greatest advantage [...] Then the immense crowd and hurry and bustle of business and
diversion, the great number of public places of entertainment, the noble churches and the
superb buildings of different kinds, agitate, amuse and elevate the mind. Besides, the
satisfaction of pursuing whatever plan is most agreeable, without being known or looked
at, is very great. Here a young man of curiosity and observation may have a sufficient
fund of present entertainment, and may lay up ideas to employ his mind in age."286
In diesem kurzem Abschnitt beschreibt Boswell viele verschiedene Charakteristika der
Großstadt, die ihre spezifische Gestalt prägten. Zunächst einmal wurde hier der Eindruck
verstärkt, dass die Stadt für ihn vornehmlich ein soziales Konstrukt war, in dem ein
bestimmter Typus Mensch großen Erfolg erringen und alle denkbaren Ablenkungen zur Hand
haben konnte. Die Stadt war gekennzeichnet durch ihre Fülle an Menschen, Potenzialen und
Ablenkungen. In dieser großen Ansammlung von Menschen war es offensichtlich eine
vorteilhafte Möglichkeit, sich vollständig unbemerkt in der anonymen Masse zu bewegen und
die eigenen Pläne und Vorhaben voranzutreiben.
Dass Boswell vor allem an sich selbst gedacht haben mag, als er von der
hypothetischen "person of feeling" oder dem "young man of curiosity" gesprochen hat, liegt
als Vermutung nahe. Pointiert gesagt, erschien ihm die Stadt erst einmal als ein Raum voller
Potenziale, die es entsprechend den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben zu nutzen galt. Somit
fungierte die Großstadt auch als Identifikations- und Imaginationsfolie, auf deren Hintergrund
sich Selbstbild und Zukunftsvorstellung Boswells projizieren ließen. Die städtische
Umgebung war aber nicht nur statische Bühne bzw. Leinwand, sondern prägte auch die
Menschen in ihr. Boswell selbst schreibt eines Tages, dass er in "good London humour and
comfortable enough"287 gewesen sei. Ferner weiß er von einem Bekannten zu berichten " [he]
had not passed a single happy day before since he came to London"288. Die Stadt wurde von
ihren Bewohnern geprägt und übte im Umkehrschluss aber auch einen Einfluss auf ihre
Bewohner aus. Sie wurde von ihm also als aktiver, prägender Part seiner Umgebung
wahrgenommen und kommuniziert.
Dieses London, von dem Boswell in seinem Tagebuch schreibt, ist in seiner
Wahrnehmung die gesamte Großstadt mit all ihren unterschiedlichen Stadtteilen und
Gesichtern. Er notiert dies eindeutig am 19. Januar 1763, als er von einem Spaziergang im
Hyde Park schrieb: "As the spectator observes, one end of London is like a different country
286
Ebd. S. 68f.
Ebd. S. 222.
288
Ebd. S. 93.
287
95
from the other in look and in manners"289. Ähnlich wie bei den anderen Reisenden, war
London bei ihm der Terminus für die gesamte Großstadt. Alle anderen Unterteilungen sind
diesem Überbegriff untergeordnet. Er nahm The City290, Soho291, Cheapside292 oder
Holborn293 auf der Ebene von untergeordneten Gliederungen der Großstadt wahr und nicht als
eigenständige Entitäten. Er benutzte den Begriff London stets, wenn er unspezifisch von der
Großstadt spricht, und die einzelnen Gliederungen nur dann, wenn es ihm wichtig erschien,
einen spezifischen Ort zu benennen.
Dass der Terminus allerdings alles andere als kanonisch, sondern weiterhin notorisch
unscharf blieb, belegt ein von ihm wiedergegebener Dialog im Child's. In diesem Dialog ging
es um den damals noch laufenden Siebenjährigen Krieg. Auf die Frage, wer denn die Kosten
eines fortgeführten militärischen Engagements in Nordamerika tragen solle, antwortet einer
der Gesprächspartner "The City of London"294. Der andere Partner entgegnet darauf:
"Consider how the country has been drained. Ay, ay, it is easy for a merchant in London to sit
by his fire and talk of our army abroad."295 Hier wurden die beiden Begriffe City of London
und London offensichtlich synonym benutzt. Auch wenn der Zusatz "City of" in der Regel
von Boswell nur benutzt wurde, um den geografischen Raum der alten Stadt zu bezeichnen,
so wird in diesem Dialog deutlich, dass diese Trennschärfe nicht immer und überall
eingehalten wurde bzw. das alternative kommunikative Muster weiterhin genutzt wurde, auch
wenn für Boswell selbst eindeutig schien, dass "London" nur der gesamte großstädtische
Raum sein konnte.
Unterhalb dieses Terminus fallen dann die einzelnen Stadtteile, denen er eine jeweils
eigenständige Identität zusprach, allerdings nur als Bestandteil der Großstadt und nicht als
selbstständige Entitäten erster Ordnung. Zumeist beschäftigte er sich auch nicht unbedingt mit
dem jeweiligen Stadtteil als Orientierung im geografischen Raum, sondern nutzte das System
von Squares, Streets oder ganz konkreten Anschriften, um niederzuschreiben, wo in der
Großstadt er sich befunden oder wie er sich durch sie bewegt hatte.296
Seiner konkreten Bewegung durch den Raum widmet er, genau wie den einzelnen
Orten, an denen er sich befand oder zu denen er sich bewegte, wenig Aufmerksamkeit. Die
meisten seiner Wege legte er zu Fuß zurück. Lediglich für sehr lange Wege, in Gesellschaft
289
Ebd. S. 153.
Ebd. S. 47
291
Ebd. S. 46
292
Ebd. S. 228
293
Ebd. S. 226.
294
Ebd. S. 75.
295
Ebd.
296
Exemplarisch: Ebd. S.64, 86, 118.
290
96
oder wenn er von einer Krankheit befallen war, nutzte er die Vielzahl an alternativen
Fortbewegungsinstrumenten, die London zu bieten hatte. Die Erfahrungen, die er bei einer
Bewegung durch die Großstadt in einer Sänfte, einem Hackney-Coach oder auf einer
Themsen-Fähre macht, schienen aber keinen weiteren Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Er
erwähnt sie stets nur mit kurzen Sätzen wie beispielsweise "I went to Vauxhall by water"297
oder "I got into a snug chair and was carried to Drury Lane"298. Der tatsächliche Prozess des
Reisens wird hier vollkommen ausgeklammert und war für ihn in keiner Weise dauerhaft
relevant.
Ähnlich uninteressant waren die Schattenseiten der Großstadt für ihn. Das Erstaunen
bzw. die Ungläubigkeit, die sich vor allem bei den deutschen Reisenden zeigte, ist in seinem
Bericht kaum zu finden. Es gibt in seinen Berichten keinerlei Erwähnungen von Überfällen,
von Mord oder Diebstahl. An diesem Punkt bewegte sich Boswell also in den gleichen
Beschreibungsmustern, wie dies auch bei Defoe der Fall gewesen ist. Lediglich Prostitution
wird an verschiedenen Stellen erwähnt, da Boswell damit selbst in regelmäßigen Abständen
Kontakt hatte bzw. der Besuch von Prostituierten für ihn offensichtlich eine normale Tätigkeit
war. Am 13. Dezember notiert er in seinem Tagebuch:
"It is very curious to think that I have been in London several weeks without ever
enjoying the delightful sex, although I am surrounded with numbers of free-hearted ladies
of all kinds: from the splendid Madam at fifty guineas a night, down to the civil nymph
with white-thread stockings who tramps along the Strand and will resign her engaging
person to your honour for a pint of wine and a shilling."299
Etwas verwundert über sich selbst, reflektierte er hier über seine eher zufällige
Enthaltsamkeit. Ob diese Enthaltsamkeit etwas mit seinen geringen finanziellen Mitteln oder
seiner damals beginnenden Beziehung zur Schauspielerin Louisa Lewis zu tun hatte, erfährt
man freilich aus diesen Zeilen nicht.
Die einzige andere Episode, in der sich Boswell den weniger feinen Seiten der
Großstadt widmete, findet sich relativ am Ende seiner Aufzeichnungen. Im Juni 1763
beschreibt er einen Zwischenfall in Vauxhall: "There was a quarrel between a gentleman and
a waiter. A great crowd gathered round and roared out, ‘A ring - a ring,’ which is the signal
for making room for the parties to box it out. My spirits rose, and I was exerting myself with
much vehemence."300 Selbst dieser Ausbruch von Gewalt kam allerdings in einer
gesellschaftlich akzeptierten Form daher und wurde von den Umstehenden umgehend in quasi
297
Ebd. S. 286.
Ebd. S. 176.
299
Ebd. S. 83f.; Andere Beispiele finden sich bei Ebd. S. 48; S. 327.
300
Ebd. S. 278.
298
97
normierte Formen und Bahnen gelenkt. Diese Szene bleibt in seinem Bericht aber auch eine
reine Episode. Gewalttätige Auseinandersetzungen wurden sonst an keiner Stelle beschrieben
und fanden in Boswells Alltag entweder nicht statt oder zumindest keinen Niederschlag in
seinem Tagebuch.
Insgesamt erschien London bei Boswell, ähnlich wie beim deutschen Reisenden
Pöllnitz, vor allem als eine Großstadt der gesellschaftlich aktiven Oberschicht. Seine Tage
waren angefüllt mit Verabredungen zum Tee, zum Kaffee, zum Theater oder
Restaurantbesuch. Er nutzte die Stadt als Reservoir an potenziellen Kontakten und
Verbündeten, die ihm dabei helfen konnten, seine persönlichen Ziele zu erreichen.
Reflexionen über die genauere Gliederung, Abgrenzung oder administrative Verwaltung der
Großstadt waren für Boswell nicht notwendig. In seiner Wahrnehmung war der gesamte
urbane Raum eine einzige Entität mit vielen verschiedenen Gesichtern, die er London nannte.
Er konstruierte sich seine eigene Stadt zwischen den etablierten sozialen Treffpunkten und
den verschiedenen Orten, an denen er sich mit seinen Bekannten treffen konnte, wobei sein
Verhalten auch von der ihn umgebenden Stadt mit beeinflusst wurde.
98
6. Fazit: Wovon redet man, wenn man von London redet?
Nach den Untersuchungen dieser Arbeit lässt sich die Ausgangfrage "Was ist London?"
zumindest für das 18. Jahrhundert in Teilen beantworten. Diese Einschränkung ist notwendig,
denn wie gezeigt wurde, kann von einem einheitlichen Diskurs zu keinem Zeitpunkt
gesprochen werden. Vielmehr hat man es mit heterogenen Bedeutungszuschreibungen zu tun,
die variieren, je nachdem, wessen Bericht man liest oder wessen Karte man betrachtet. Nun
liegt eine solche Vermutung bei einer Stadt von der Größe Londons auch nahe, aber trotz
dieser zu erwartenden Diversität der Bilder und Wahrnehmungen, ließen sich doch einige
grundlegende Gemeinsamkeiten, universelle Zuschreibungen und grundlegende Linien der
allgemeinen Wahrnehmung aus dem Material herausarbeiten.
Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das gesamte großstädtische Gebiet in nahezu
allen untersuchten Medien als ein einheitliches Gebiet konstruiert und wahrgenommen
worden ist. Die Grenzen dieser Einheit variierten natürlich im Laufe des 18. Jahrhunderts
stark, was vor allem an dem anhaltenden explosiven Bevölkerungswachstum gelegen hat.
Trotzdem benutzten alle Reisenden aus Deutschland den Begriff "London" nur dann, wenn sie
vom gesamten großstädtischen Raum sprachen. Alle Reisenden benutzen den Begriff
vergleichsweise unreflektiert, um damit die Großstadt insgesamt zu beschreiben. Dies gilt
auch für Moritz, der von den analysierten Reiseberichtschreibern noch am genauesten über
die administrativen Gliederungen der Großstadt informiert war. Derselbe Befund kann auch
für Defoe und Boswell erhoben werden. Zwar ist bei Defoe ein deutlich höherer Grad der
Differenzierung und kritischen Reflexion seines Vokabulars zu vermerken, aber seinen
grundsätzlichen Gebrauch der Begrifflichkeiten beeinflusste diese Reflexion nicht. Auch hier
steht London für eine übergeordnete Beschreibungskategorie.
Auf den kartografischen Erzeugnissen stellt sich ein leicht anderes Bild dar. Zwar war
auch hier der gesamte Raum der Großstadt als zusammenhängendes urbanes Gebilde zu
erkennen, aber die Kartografen hielten sich in ihrer Beschreibung und in der Wahl ihrer
bildlichen Mittel enger an die offiziell-administrative Gliederung der Stadt. Sie differenzieren
in den Überschriften deutlich zwischen den einzelnen Partikularstädten und vermitteln so die
Spannung zwischen dem erfahrbaren Zusammenhang der Stadt, wie er auch von den
Reisebericht- und Tagebuchschreibern niedergelegt wurde, und der offiziell noch immer
vorhandenen Separation des großstädtischen Gebildes in diverse Untergliederungen. Diese
erwähnte Spannung wird auch daran deutlich, dass verschiedene Karten ihre Emphasen
jeweils völlig unterschiedlich legten, entweder auf die Verkehrswege und damit auf die
Einheit oder auf die Hervorhebung der London Wall und damit auf die Sonderstellung der
99
City of London im großstädtischen Kontext. Ähnlich lag der Fall auch bei den Linearkarten
der Stadt, die den Begriff London enger akzentuierten als dies in den anderen Quellen der Fall
ist. Bei ihnen war damit in erster Linie die City of London gemeint, die durch verschiedene
Arten der Hervorhebung ins Zentrum der Betrachtung gerückt wurde. Die Perspektive der
Karten war zumeist klar auf die City ausgelegt, die spezielle Benennung von Gebäuden im
Index bzw. der Begleittext der Karte waren stark in Richtung der City gewichtet, während die
rahmenden Teile des Bildes, wie beispielsweise Gruppen von Menschen und Tieren, eher
illustrativen Charakter aufwiesen. Gleichzeitig waren die nördlich der City gelegenen Teile
der Großstadt und Westminster zumeist nur angedeutet, oder gar nicht im Bildausschnitt
präsent.
Bei aller Mehrdeutigkeit des Begriffs kann also trotzdem eine Tendenz festgestellt
werden, dass sich hinter dem homogenisierend wirkenden Begriff "London" deutlich
komplexere Vorstellungswelten verbergen konnten. Alle untersuchten Quellen haben den
großstädtischen Raum für sich selbst weiter untergliedert. Die Kartografen nutzen
Hervorhebungen, Perspektivierungen und andere optische Mittel, um ihre jeweils
bedeutenden Orte hervorzuheben. Die Reisenden und die Bewohner Londons hingegen nutzen
mehr oder weniger elaborierte Erklärungen ihrer jeweils erfahrenen Realität der Stadt, um das
Erlebnis für sich zu strukturieren und kommunizierbar zu machen, wobei natürlich der Fokus
des jeweiligen Individuums die Erfahrung maßgeblich beeinflusste. Konnte man bei
Uffenbach einen nahezu musealen Charakter der Stadt diagnostizieren, die bei ihm vor allem
aus einer Ansammlung von Sehenswürdigkeiten im urbanen Raum zu bestehen schien, so ist
sie für Pöllnitz und Boswell vor allem ein Ort der Netzwerke; sie bündelte, bot neue Kontakte
und hatet damit das Potenzial, neue Netzwerke anzulegen. Für Lichtenberg war London allem
voran ein Ort, der ihm die Möglichkeit zu besonderen Erlebnissen bot und allein durch seine
Größe und seine Überfülle an Menschen schon ein Erlebnis für sich war.
Je nach Blickwinkel der Person hatte man es also mit einem eher statisch geprägten
oder einem enorm dynamischen Ort zu tun, aber jeder Schreiber hat die nur schwer
vermittelbare Erfahrung des großstädtischen Raums in kleinere Einheiten herunter gebrochen,
die jeweils für sich leichter zu beschreiben und zu verarbeiten waren. Auf dem einfachsten
Level handelte es sich dabei um die Unterteilung in Stadtviertel, wie man sie bei allen
Schreibern beobachten konnte. Defoe, der sich auf dem höchsten Abstraktionsniveau
bewegte, machte sogar so etwas wie Funktionspole innerhalb der Stadt aus, die seiner
Meinung nach durch das Zusammenspiel von City, Court und Numbers geprägt gewesen sei.
Dies ist das Konzept, das sich am weitesten von dem unmittelbar erfahrbaren Raum abhob
100
und Erfahrung auf einer Metaebene strukturierte, auf der sich ansonsten keine der betrachteten
Quellen explizit bewegte. Das Konzept von den verschiedenen Funktionen, die sich räumlich
lose an bestimmte Stadtteile gebunden finden und so den Charakter der Stadt ausmachen, ist
also nicht nur eine nachträgliche Rationalisierung der Historiker, sondern offensichtlich auch
zeitgenössische Erfahrung gewesen.
Diese Art der Erfahrung ist allen Quellen anzumerken. Nicht nur Defoe, der explizit
eine Metakonstrukt erstellte, sondern auch Boswell, die Kartografen und die Reisenden aus
Deutschland haben in ihren Beschreibungen, ob nun bewusst oder unbewusst, eine inhärente
spatiale Gewichtung vorgenommen. Am augenfälligsten war dies natürlich bei den
kartografischen Quellen. Die Zeichner haben durch ihre jeweiligen Mittel entsprechende
Gebäude, Plätze, Stadtteile, ganz allgemein gesprochen: Orte hervorgehoben und den Blick
des Betrachters auf diese gelenkt und seine Wahrnehmung der Stadt so beeinflusst. Bei den
Hervorhebungen in allen betrachteten Karten ist auffällig, dass der Fokus der Darstellung
zumeist auf der City of London liegt. Hier fanden sich die meisten piktografischen
Hervorhebungen von Gebäuden, der Stadtmauer etc. Kurz dahinter fanden sich die anderen
drei Nuklei der Großstadt London des 18. Jahrhunderts: Southwark und die City of
Westminster.
Auch bei den schriftlichen Zeugnissen fand sich eine entsprechende funktionalspatiale Präferenz. Reisende wie Uffenbach, Lichtenberg oder Moritz, die zu einem großen
Teil aus Interesse an der Stadt nach England reisten, sei es nun im Rahmen einer
Bildungsreise oder einer Grand Tour, hatten einen deutlich ausgeprägten Drang, die von ihnen
besuchten Orte genau zu beschreiben, ihre Eindrücke wiederzugeben bzw. mit ihren vorher
geprägten Vorannahmen zu vergleichen und dem Leser insgesamt die Erfahrung der
Großstadt näher zu bringen. Ferner bewegten sie sich häufig auf Bahnen, die bereits von
Reisenden vor ihnen gelegt worden waren und die sie nun ebenfalls bereisen konnten.
Innerhalb der Großstadt führte sie das selten in Gebiete abseits der oben genannten drei
Stadtteile bzw. den großen Verbindungsstraßen zwischen diesen und sorgte dafür, dass
bestimmte räumliche Zuschreibungen bzw. Erfahrungen von jeder Generation erneut gemacht
und kommuniziert wurden, wodurch sich langsam ein kontinuierlicher Kanon an
Raumerfahrungen durchsetze, der wiederum auf folgende Generationen Einfluss ausübte.
Auf der anderen Seite waren Reisende wie Pöllnitz oder Bewohner der Stadt wie
Boswell, denen die Großstadt vor allem ein Ort der sozialen Kontakte und der Möglichkeiten
zum gesellschaftlichen Aufstieg oder Statuserhalt war, wenig bedacht darauf, in ihren
Schriften über die klassischen Sehenswürdigkeiten der Stadt, ihre Eindrücke von bestimmten
101
Orten oder ähnliches zu reflektieren, wie es die Reisenden getan haben. Ihre Ausführungen
beschäftigten sich eher mit sozialer Interaktion an den Treffpunkten der Oberschicht oder im
privaten Rahmen. Dementsprechend anders haben sie auch die Stadt beschrieben. Für sie
bedeutete London folglich etwas völlig anderes als für die Verfasser der restlichen
untersuchten Quellen.
Jeder Reisende und jeder Einwohner Londons hatte demnach ein spezifisches
Arrangement im Kopf, wenn er an die Großstadt dachte.301 Je nach Interesse und
Erfahrungshorizont besuchte jeder andere Orte in der Stadt und wurde so zum räumlichen
Akteur, der multiple Funktionen innerhalb des großstädtischen Raums wahrnahm. Zum einen
wurden sie durch ihre Anwesenheit und ihre Aktion bzw. Interaktion im großstädtischen
Raum selbst zum Teil dieses Raums und damit zu aktiven Teilnehmern des SpacingProzesses. Gleichzeitig konstruierte jeder von ihnen durch eine individuelle Synthese des
erfahrenen Raumes seine persönliche interne Karte der Großstadt. Diese innere Karte wurde
dann schließlich in Form von Berichten, Briefen oder Tagebüchern objektiviert und durch
Veröffentlichung externalisiert. Durch diese Prozesse traten schließlich verschiedene
Arrangements hervor, die sich jedoch nicht gegenseitig ausschlossen, sondern nach Schlögl
ko-präsent waren.302 Konkret bedeutet das, dass London sowohl eine Ansammlung
herausragender Gebäude, Zoos, Parks etc. als auch ein Treffpunkt der Oberschicht und
sozialer Netzwerkknoten sein konnte. Es kam immer darauf an, wie die Großstadt von dem
jeweiligen Menschen erfahren wurde.
Die Formen der Erfahrung waren dabei durchaus vielfältiger Natur und lassen einen
Blick in den Prozess des internen mapping der Schreiber zu. Wie gezeigt wurde, haben sich
die meisten Reisenden und Bewohner innerhalb der Stadt zu Fuß bewegt und dabei die
meisten dauerhaften Eindrücke gesammelt. Dabei bewegten sie sich vor allem zwischen für
sie signifikanten Orten. Die Wege zwischen diesen Orten bildeten langsam bestimmte Bahnen
heraus, die von ihnen jeweils benutzt wurden. Die Herausbildung eines solchen
Präferenzrasters, in Verbindung mit den signifikanten Orten, führte dazu, dass die Reisenden
sich einen eigenen großstädtischen Raum konstruierten. Diese Konstruktionsleistung
konvergiert zum Teil mit den gängigen Zuschreibungen, die den besuchten Orten anheften,
oder aber sie konterpunktiert diese. Die untersuchten Quellen legen somit Zeugnis darüber ab,
wie die jeweiligen Menschen "ihre" Stadt wahrgenommen haben und wie sie ihr
wahrgenommenes Konstrukt kommunizierten. Die Fortbewegung und Erschließung des
301
302
Zum Arrangementbegriff vgl. Löw, Relation, S. 39f.
Schlögl, Karten, S. 274.
102
Raumes zu Fuß war dabei nur die gängigste, aber nicht die einzige Methode. Die
Beherrschung
langer
Distanzen
wurde
durch
Kutschen,
Fähren
oder
ähnliche
Fortbewegungsmittel möglich und versetzte die Menschen in die Lage, sich selbst einen
vergleichsweise großen Raum zu eigen bzw. theoretisch verfügbar zu machen.
London ist insgesamt ein auf den ersten Blick einfach klingender Begriff, hinter dem
sich im Detail vielschichtige Wahrnehmungs- und Bedeutungskomplexe verbargen.
Allerdings ließ sich klar zeigen, dass sich hinter dem Begriff an erster Stelle der gesamte
großstädtische Raum verbirgt. Der Begriff ‚London‘ wurde in der Regel zur Bezeichnung des
gesamten, zusammenhängenden besiedelten Gebiets um die alten Zentren City of London,
Westminster und Southwark herum benutzt. Dabei ist allerdings festzustellen, dass diese alten
Städte auch im 18. Jahrhundert in der Wahrnehmung und Konstruktion der untersuchten
Quellen nach wie vor eine Sonderrolle einnehmen. Diese herausstechende Qualität in der
Erfahrung des großstädtischen Raums deckt sich im Falle Londons und mit Abstrichen
Westminsters, mit rechtlichen Privilegierungen der entsprechenden Gebiete. Somit lässt sich
feststellen, dass die gefühlte Einheit des großstädtischen Raums mit einer rechtlichen
Binnendifferenzierung im Grade der Privilegierung und der Wahrnehmung einhergeht.
London konnte damit einerseits sowohl die verbindenden Elemente der Großstadt betonen als
auch andererseits auf die bestehenden Unterschiede verweisen.
Trotz aller Verbindungen und der in manchen Quellen durchscheinenden gefühlten
Einheit der Großstadt war London im 18. Jahrhundert also alles andere als eine Stadt.
Vielmehr ist nach den Ergebnissen dieser Arbeit davon auszugehen, dass der Begriff London
lediglich eine bewusst komplexitätsreduzierendes Chiffre war, für eine Art von Stadt, für die
das zeitgenössische Vokabular noch keine treffenden analytischen Begriffe bereitstellen
konnte. Ein großstädtischer Raum diesen Ausmaßes überforderte die Zeitgenossen offenbar,
so dass sie auf defizitäre Vergleiche oder Metaphern zurückgreifen mussten, um die
Erfahrung angemessen kommunizieren zu können. London war somit eine Großstadt, die sich
den gängigen Konventionen ihrer Zeit entzogen hat und die Unfähigkeit der eindeutigen
Kategorisierung der Großstadt wird in jeder der untersuchten Quellen deutlich, entweder
durch schlichte Abwesenheit des Versuchs oder durch die von ihnen selbst als unzureichend
gekennzeichneten Methoden derjenigen, die sich an die Be- bzw. Umschreibung herangewagt
haben.
Die hier untersuchten Texte und Karten bieten natürlich nur einen kleinen Ausschnitt
aus dem Spektrum der verfügbaren Quellen. Das hier entstandene Bild ließe sich sicherlich
noch verfeinern bzw. gewinnbringend von anderen Seiten beleuchten, wenn man die
103
Perspektive der Schreibenden wechseln würde. Zeugnisse von Bewohnern der Stadt aus den
unteren Bevölkerungsschichten, reisender Arbeiter oder Schriften von Autoren aus anderen
Ländern wären eine Möglichkeit, das Thema in der Forschung weiter zu vertiefen. Außerdem
bietet das weite Feld des zeitgenössischen Romans bzw. generell der fiktionalen Literatur
sicherlich ebenfalls mehr als genug Material, um das hier destillierte Bild des großstädtischen
Raums kritisch auf die Probe zu stellen und ggf. zu bestätigen, oder neu zu akzentuieren.
Die bisherige Forschung zur Stadtgeschichte Londons kann durch einen solchen
akteurs- und wahrnehmungsfixierten Blickwinkel um eine bislang nur sehr randständig
vorhandene Perspektive ergänzt werden. Erkenntnisse, die auf diese Art und Weise gewonnen
werden, können aber auch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Phänomens
frühneuzeitliche Großstadt insgesamt bieten und dabei helfen, das Verständnis moderner
Forscher für die Besonderheit und Eigenheit der Großstadt des 18. Jahrhunderts zu schärfen,
um ihre Position als Bindeglied zwischen der mittelalterlichen Stadt und der modernen Global
City besser verstehen und damit analysieren zu können. Letztlich bedeutet ein solches
Vorgehen den Versuch, einen Begriff nicht diffus alltagssprachlich zu benutzen, sondern den
Blick auf seine jeweilige historisch-spezifische Bedeutung zu lenken. Die Entwicklung der
Stadt ist für die europäische Geschichte von gar nicht zu unterschätzender Bedeutung und
London war eben nicht schon immer London. Vielmehr hatte jede Epoche ihr eigenes
London, dessen Gestalt und Wahrnehmung es zu ergründen gilt, wenn man das Verständnis
für diese Epoche weiterentwickeln möchte.
104
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9. Anhang
Abbildung 1:
116
Abbildung 2:
117
Abbildung3:
118
Abbildung 4:
119
Abbildung 5:
120
Plagiatserklärung der / des Studierenden
Hiermit versichere ich, dass die vorliegende Arbeit über ____________________________
________________________ selbstständig verfasst worden ist, dass keine anderen
Quellen und Hilfsmittel als die angegebenen benutzt worden sind und dass die Stellen
der Arbeit, die anderen Werken – auch elektronischen Medien – dem Wortlaut oder Sinn
nach entnommen wurden, auf jeden Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung
kenntlich gemacht worden sind.
____________________________________
(Datum, Unterschrift)
Ich erkläre mich mit einem Abgleich der Arbeit mit anderen Texten zwecks Auffindung
von Übereinstimmungen sowie mit einer zu diesem Zweck vorzunehmenden Speicherung
der Arbeit in einer Datenbank einverstanden.
____________________________________
(Datum, Unterschrift)
121