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Westfälische Wilhelms-Universität Historisches Seminar Prüfungsmodul Prüfer: Prof. André Krischer und Prof. Matthias Pohlig Was ist London? Konstruktion und Erfahrung eines großstädtischen Raumes im 18. Jahrhundert. Marcus Rosenfeld Hansaring 7 48155 Münster Matrikelnummer: 35041 Telefon: 01752071780 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Theoretische Vorüberlegungen 2.1. Definitionen von Stadt 6 2.2. London im 18. Jahrhundert 12 2.3. Erfahrung von Raum 17 3. (Ab)Bilder der Stadt - Konstruktionen von London in Karten 3.1. Quellenwert von und Umgang mit Karten 21 3.2. Plankarten der Stadt 26 3.3. Linearkarten der Stadt 34 4. Wahrnehmung der Stadt von außen: London in Reiseberichten 4.1. Der Reisebericht als historische Quelle 42 4.2. Uffenbachs merkwürdige Reisen 47 4.3. Pöllnitz' Reisenachrichten 54 4.4. Lichtenbergs Briefe und Tagebücher aus London 61 4.5. Moritz' Reisen eines Deutschen in England 71 5. Wahrnehmung der Stadt von innen: London im Spiegel seiner Bewohner 5.1. Defoe - A tour through the whole island of Great Britain 81 5.2 James Boswells London Journal 92 6. Fazit: Wovon redet man, wenn man von London redet? 99 7. Quellen 105 8. Literatur 107 9. Anhang 116 1. Einleitung Kaum eine Stadt ist in der Frühen Neuzeit so stetig und so rasant gewachsen wie London. Noch Anfang des 16. Jahrhunderts lebten circa 125.000 Menschen in dem Gebiet, das damals wie heute als London bezeichnet wurde, der größte Teil davon in der City of London. Hundert Jahre später hatte sich die Bevölkerung auf über 200.000 erhöht. Noch einmal hundert Jahre später, um das Jahr 1700 herum, überschritt die Einwohnerzahl bereits eine halbe Million.1 Von diesen lebte allerdings nur noch ein Bruchteil in der ursprünglichen City of London. Der Rest hatte sich außerhalb der alten Stadtgrenzen der City angesiedelt. Diese "Londoner" lebten in der City of Westminster, in Southwark und Lambeth am Südufer der Themse oder in den nördlichen Trabantensiedlungen Bloomsbury oder Holburn. Trotz dieser Vielzahl an verschiedenen Siedlungen bzw. kommunalen Gliederungen wurde in der Regel trotzdem von London als einer Stadt gesprochen. Der Sammelbegriff London überbrückte hier die begriffliche Disparität und integrierte, zumindest auf dem Papier, die Bewohner der verschiedenen Citys, Countys und Parishes in ein einziges städtisches Konglomerat. Dieses Konglomerat war nicht nur begrifflich miteinander verschränkt. Auch räumlich waren die städtischen Verwaltungseinheiten zu einem nicht zu separierenden Ganzen verschmolzen, weswegen die gemeinsame Bezeichnung auch hier durchaus ihre Berechtigung hatte. Das bedeutet allerdings nicht, dass die einzelnen Gliederungen ihre Bedeutung verloren hätten, oder dass das gesamte städtische Gebiet unter einer zentralen Verwaltung bzw. Autorität stand. Das genaue Gegenteil trifft den Sachverhalt besser. Es dauerte bis zum Jahr 1889, bis mit dem London County Council eine Instanz geschaffen wurde, die für die Verwaltung des gesamten Ballungsgebiets verantwortlich war. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden also Realitäten anerkannt, die sich bereits sehr viel früher als Problem erwiesen hatten. London war nämlich schon vorher nicht nur die größte Stadt der britischen Inseln, sondern lange Zeit auch die größte Stadt Europas gewesen. Hier zeigten sich wie unter einem Vergrößerungsglas die sozialen, politischen und gesellschaftlichen Spannungen und Widersprüche der Frühen Neuzeit in England: Der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Theorie der Great Chain of Being und der tatsächlichen sozialen Realität, das Ringen um die Macht in England zwischen der Krone und dem Parlament oder die Diskrepanz zwischen modernen urbanen Problematiken, wie z.B. wachsender Kriminalität, Versorgungsproblemen oder Fragen der politischen Partizipation, um nur einige zu nennen. Im Kontrast zu diesen neuen Fragen standen die mitunter jahrhundertealten 1 Zu den Zahlen und der Bedeutung des Wachstums Londons' vgl.: Boulton, Jeremy, London 1540 - 1700, in: The Cambridge Urban History of Britain. Volume II, hrsg. v. Peter Clark, Cambridge 2000, S. 315 - 346. 1 Lösungsversuche und Herangehensweisen, die von offizieller Seite benutzt bzw. angewandt wurden. Im 18. Jahrhundert verfügte London weder über eine einheitliche Verwaltung noch eine Polizei.2 Die Probleme wurden nach wie vor auf dem Level des Parish bzw. Countys geregelt. Das führte zu einem kaum zu überblickenden Nebeneinander von Personen, Institutionen und Organisationsformen, die mit ihrer kaleidoskopischen Vielgestalt sicherlich nicht erst heutige Historiker vor ein komplexes Problem stellt.3 Angesichts dieses Einstiegsbefundes stellt sich die Frage: Was ist eigentlich London im 18 Jahrhundert? Oder genauer gesagt: Wovon redet man, wenn man von London redet? Dabei liegt eine Perspektive zu Grunde, wie sie Robert Darnton schon 1989 formulierte: "In jeder einzelnen Formulierung drückt sich ein fremdes Bewusstsein aus, das eine Welt zu ordnen versucht, die nicht mehr existiert. Um in dieses Bewusstsein einzudringen, müssen wir unser Augenmerk eher auf die Art und Weise der Beschreibung richten als auf die Gegenstände, die beschrieben werden. Hat unser Autor von hergebrachten Mustern zur Strukturierung städtischer Topographie Gebrauch gemacht? Wo zog er seine Linien, um ein Phänomen vom anderen zu trennen? [...] Unsere Aufgabe besteht nicht darin. herauszufinden, wie Montpellier 1768 tatsächlich ausgesehen hat, sondern zu verstehen, wie unser Betrachter es betrachtet hat."4 Diese Frage steht im Zentrum des ersten Teils dieser Arbeit. Begibt man sich auf die Suche nach dem Bild der Stadt London in der zeitgenössischen Literatur zu machen, stößt man auf widersprüchliche Aussagen. Dem einen galt London als: "the most spacious, populous, rich, beautiful, renowned and noble city in the country, the seat of the British empire, the Exchange of Great Britain and Ireland; the Compendium of the Kingdom, the Vitals of the Commonwealth.”5 Dem anderen schauderte es schon beim Gedanken an London: "No nation can reproach us for want of expence in our public buildings, but all nations may want for our want of elegance and discernment in the execution."6 London war alles andere als das einheitliche Konstrukt, das sein Name so selbstverständlich suggeriert. London schien sich schon durch seine schiere Größe den gängigen Ordnungskategorien zu entziehen und beanspruchte eine Sonderrolle, blieb dabei aber in seinen Grenzen und seiner genauen Definition erstaunlich kontur- und kontrastarm. 2 Auch wenn die Zeitgenossen selbst London als wohlgeordnet empfunden haben. Vgl. dazu: Shoemaker, Robert B., Prosecution and Punishment. Petty Crime and the Law in London and Rural Middlesex, c. 1660–1725, Cambridge 1991, S. 9f. 3 Zu den genauen Angaben vgl.: Schwarz, Leonard, London 1700 - 1840, in: The Cambridge Urban History of Britain. Volume II, hrsg. v. Peter Clark, Cambridge 2000, S. 641 - 672, hier: S.659ff. 4 Darnton, Robert, Das große Katzenmassaker. Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, München 1989, S. 127. 5 Hatton, Edward, A New View of London, London, 1708, S. 1. 6 Anonymous, A Critical Review of the Puplic Buildings , Statues and Ornaments in and about London and Westminster, London 1734, XXX. Um die Identität des Schreibers des Textes gibt es eine Kontroverse. Die British Librar vermutet den Architekten James Ralph hinter den Text, die National Biography jedoch widerspricht dem. Zur Kontroverse auch: Baron, Xavier, London 1066 - 1914. Literary Sources & Documents. Volume I Medival, Tudor, Stuart and Georgian London 1066 - 1800, Mountfield 1997, S. 631. 2 Beginnt man mit der Recherche zu London, steht man scheinbar erst einmal einer definitorischen Hydra gegenüber. In dieser Arbeit geht es deshalb vor allem um zwei Fragen: Welche Bilder/Imaginationen der Großstadt London existierten in der Frühen Neuzeit? Wie lassen sich die verschiedenen Wahrnehmungen der Stadt mit dem Sprachgebrauch, das urbane Ganze als ‚London‘ zu bezeichnen, vereinbaren? Dazu werden verschiedene Arten von Quellen untersucht. Im ersten Teil der Arbeit stehen kartografische Quellen aus dem 18. Jahrhundert im Mittelpunkt. Stadtpläne bzw. Stadtkarten sind bis heute eines der gängigsten Mittel zur Visualisierung des Raumes und sind aus diesem Grund eine sehr gut geeignete Quelle zur Analyse des Londonbegriffs der Zeitgenossen. An keiner anderen Stelle findet sich die Vorstellung des großstädtischen Raumes in so verdichteter und unmittelbar zugänglicher Art und Weise. Dabei werden zwei verschiedene Arten von Karten berücksichtigt, die den städtischen Raum in jeweils unterschiedlicher Weise medial transformieren. Zum einen die so genannten Plankarten der Stadt, deren Darstellungskonventionen den modernen Stadtplänen sehr ähnlich sind. Sie sind aus einer fiktiven Vogelperspektive gezeichnet und sollen dem Leser im wörtlichen und übertragenden Sinne einen Überblick über den gesamten großstädtischen Raum gewähren. Zum anderen werden auch Karten aus der Linearperspektive mit einbezogen. Bei dieser Art der Karte handelt es sich um eine Sicht auf die Stadt von einem tatsächlichen oder fiktiven Beobachtungspunkt aus. Diese Art der Karte war eher dazu gedacht dem Betrachter einen Eindruck vom Anblick der Stadt zu gewähren, als ihn den gesamten Raum überblicken zu lassen. Der Fokus dieser Karten lag also eher auf einem veranschaulichenden Aspekt. Das bedeutet, dass der Ausschnitt des dargestellten Raums deutlich kleiner war und dass die zum Einsatz kommenden Techniken der Darstellung sich grundsätzlich von den Plankarten unterschieden. Da es sich bei dieser Arbeit um das Bild von der Großstadt insgesamt drehen soll, wurde auf Abbildungen von einzelnen Gebäuden, Straßenzügen, Sehenswürdigkeiten oder Alltagsszenen verzichtet. Stattdessen werden diese beiden am weitesten verbreiteten Arten der Stadtkarte als Quellen berücksichtigt. Um einen besseren Eindruck zu bekommen, werden zudem schriftliche Quellen berücksichtigt. Das 18. Jahrhundert bietet eine nahezu unübersehbare Fülle an schriftlichen Zeugnissen, die sich in der einen oder anderen Form mit der Großstadt London beschäftigen. Nahezu in jedem literarischen Genre finden sich Texte, die das Thema streifen oder sogar als Hauptaspekt beinhalten. Für diese Arbeit wurde vor allem auf die Gattung des Reiseberichts zurückgegriffen, da dieser Quellentyp für das Erkenntnisinteresse besonders geeignet erscheint. Reisende nehmen den großstädtischen Raum aus der Perspektive eines Außenstehenden wahr und können so dem Leser einen Blick auf die "realisierte 3 Außenwirkung"7 des großstädtischen Raums vermitteln, die von den Reisenden wahrgenommen, kommentiert und kommuniziert wird. Vor allem werden hierfür Reiseberichte von Reisenden aus dem Alten Reich berücksichtigt, da ihre Erfahrung der Großstadt als besonders eindrücklich gesehen werden darf, da es im Reich keine Stadt gab, die von ihrer Größe her auch nur annähernd an London heranreichte. Wien, Hamburg und später Berlin8 sind weder von ihren Einwohnerzahlen, noch von ihrem Wachstum oder ihrer räumlichen Ausdehnung her mit der Hauptstadt Großbritanniens zu vergleichen, weswegen die Reisenden die Erfahrung des großstädtischen Raums Londons als eine Besonderheit empfunden haben dürften. Durch die Einbeziehung von Reiseberichten aus verschiedenen Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts soll ferner der Blick für Veränderungen und Kontinuitäten in der Wahrnehmung der Großstadt geschärft werden. Abgerundet wird das Bild durch die Einbeziehung von schriftlichen Zeugnissen, welche von den Bewohnern der Stadt selbst geschrieben worden sind. Es ist zu erwarten, dass deren Art der Beschreibung von denen der Reisenden abweicht und der Fokus dieser Texte auf anderen Begebenheiten liegt. Nachdem also anhand der Karten und der Reiseberichte ein Grundstein der Wahrnehmungsanalyse gelegt wurde, sollen die Schriften der Einwohner diesen unterstützend akzentuieren und die Besonderheiten in der Wahrnehmung der Stadt London weiter herausstellen. Neben der Wahrnehmung der Stadt durch die Reisenden und ihre Einwohner soll allerdings ebenfalls im Blick behalten werden, wie diese das Bild der Großstadt für sich selbst konstruieren und dieses Konstrukt dann kommunizieren. Um diese Frage sinnvoll zu beantworten, soll in einem ersten Schritt versucht werden, den Begriff der Stadt von zwei historischen Seiten einzufassen. Zum einen wird in aller Kürze das Stadtbild des Mittelalters herausgearbeitet, um zu zeigen, von welchem Ausgangszustand auch bei London auszugehen ist. Im Kontrast dazu wird das Bild der modernen Groß- oder Weltstadt skizziert. Eingerahmt durch diese zwei temporalen Pole soll die spezifische Eigenheit der Großstadt des 18. Jahrhunderts sichtbar werden, ohne sie zu archaisieren oder als reine Transition zur modernen Großstadt misszuverstehen. Die Besonderheit der frühneuzeitlichen Stadt als eigenständiges Untersuchungsgebiet wird demzufolge erst am Ende des Kapitels vorgenommen werden. Ferner werden zur Analyse der Raumwahrnehmung und Raumkonstruktion in einem eigenen Kapitel die Grundlagen der modernen Raumforschung rezipiert, um die später benutzten analytischen Werkzeuge und Begriffe 7 Löw, Martina, Von der Substanz zur Relation. Soziologische Reflexionen zu Raum, in: Der Raum der Stadt. Raumtheorien zwischen Architektur, Soziologie, Kunst und Philosophie in Japan und im Westen, hrsg. v. Jürgen Krusche, Marburg 2008, S.39. 8 Zur Größe der deutschen bzw. europäischen Städte im Vergleich: Schilling, Heinz, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, München 2004, S. 5; Speziell für das Alte Reich: Ebd. S. 11. 4 aufzuzeigen und zu definieren, welches Verständnis der Begriffe und welche Analysemethoden Verwendung finden werden. Diese Herstellung von Methodenkompetenz ist wichtig, um den Grundstein für eine valide Quellenkritik und Quellenanalyse vornehmen zu können. Abschließend werden die gewonnenen Ergebnisse aus den verschiedenen Teiluntersuchungen in einem Fazit zusammengeführt, um ein sich hieraus ergebendes Bild zu beschreiben, dass dann in einen größeren Kontext eingeordnet werden soll. 5 2. Was ist London? Wahrnehmung, Gliederung und Vorstellungen des städtischen Raums 2.1. Definitionen von Stadt In diesem Kapitel wird das begriffliche Instrumentarium behandelt, das im weiteren Verlauf der Arbeit die Grundlage für die Analyse bilden wird. Bevor aber die frühneuzeitliche Terminologie Gegenstand der Untersuchung sein kann, muss zunächst einmal darüber reflektiert werden, was der Begriff "Stadt" im Mittelalter bedeutete. Erst wenn man diesen Ausgangspunkt klar ausgelegt hat, kann man sich den divergierenden Definitionen der Gegenwart und des 18. Jahrhunderts annähern und die Unterschiede im zeitlichen Kontrast herausarbeiten, denn der Begriff der Stadt hat im Laufe der Zeit in unterschiedlichen Kontexten mannigfaltige Bedeutungen inne gehabt. Der Rekurs auf mittelalterliche und moderne Definitionen ist darum ein essentielles Mittel, die zeitliche Verschiebung und den damit einhergehenden Bedeutungswandel aus moderner Perspektive nachvollziehen zu können. Ein Blick in die Forschungsliteratur zur mittelalterlichen Stadt macht auf den ersten Blick vor allem eines deutlich, nämlich, dass keine Eindeutigkeit darin besteht, was unter dem Begriff Stadt genau zu fassen bzw. zu verstehen ist. Je nach Blickwinkel und Fragestellung werden unterschiedliche Begriffe verwandt, da die zeitgenössische Auffassung – ‚Stadt ist, wer Stadtrecht besitzt‘– für den modernen Historiker an vielen Stellen unzureichend und nicht zielgerichtet genug ist. Die heute gebräuchlichste Definition stammt von Franz Irsigler. Er definiert Stadt als "eine vom Dorf und nichtagrarischen Einzwecksiedlungen unterschiedene Siedlung relativer Größe mit verdichteter, gegliederter Bebauung, beruflich spezialisierter und sozial geschichteter Bevölkerung und zentralen Funktionen (politisch-herrschaftlichmilitärisch, wirtschaftlich, kultisch-kulturell) für eine bestimmte Region oder regionale Bevölkerung."9 Diese Definition ist so zutreffend wie allgemein und weitläufig gehalten. Ohne weiteres könnte man damit auch die Stadt der Frühen Neuzeit oder des 19. Jahrhunderts beschreiben. Es ist also kein Wunder, dass in der Forschung immer wieder zwischen verschiedenen Typen der Stadt unterschieden wird. Man spricht von Reichsstädten, freien Städten, Landstädten etc.. Gleichzeitig wurde manche Ortschaft, die nach heutigen Maßstäben höchstens als Dorf einzustufen wäre, auch als Stadt bezeichnet. Trotz der vielen konkurrierenden speziellen und der sehr weitgefassten allgemeinen Definitionen gibt es ein geteiltes Set an Merkmalen, die die mittelalterliche Stadt als solche auszeichnen. Es gab 9 Ursprünglich findet sich die Definition bei Irsigler, Franz, Die Stadt des Mittelalters: Entstehung, Struktur, Leistung, in: Meyers Illustrierte Weltgeschichte, Bd. 11: Der Aufstieg der Städte (11.-12. Jh.), Mannheim/Wien/Zürich 1980, S. 152-157. Zuletzt aufgegriffen von ihm selbst wurde sie hier: Irsigler, Franz, Was machte eine mittelalterliche Siedlung zur Stadt?, in: Universitätsreden des Saarlandes 51 (2003), S. 17 - 44. 6 sicherlich nur wenige Städte, die alle der folgenden Kriterien zu jeder Zeit voll erfüllten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Mischungen, Abstufungen und Teilerfüllungen der Kriterien bei einer wortgetreuen Auslegung in der Analyse den Regelfall darstellen. Die folgenden Punkte sind also nach Max Weber als Idealtyp zu verstehen, in dem "bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge"10 aneinandergefügt werden. Der Idealtypus soll ermöglichen, eine bewusste Idealisierung und Überzeichnung einer mittelalterlichen Stadt zu beschreiben, die so in der Realität nicht existiert hat, aber in ihren scharfen, klaren Konturen hilft, die spezifische Gestalt des untersuchten Gegenstands zu erfassen. Gleichzeitig versteht sich die Aufzählung von zentralen, idealtypischen Merkmalen der Stadt auch als eine Art Kriterienkatalog. Diese Methode fand zum ersten Mal in den 80er Jahren größere Verbreitung in der Forschung, wird aber heute nach wie vor benutzt, wie Hirschmann gezeigt hat.11 Als besondere Kennzeichen einer europäischen Stadt des Mittelalters können mehrere Punkte festgehalten werden. Eines dieser Merkmale sind ein besonderes Recht bzw. spezielle Vorrechte, die die Stadt gegenüber ländlichen Ansiedlungen genießt. Innerhalb eines klar definierten Bereichs galt in vielen Teilen Europas im Mittelalter ein gesondertes Recht. Räumlich sichtbares Zeichen dieser Trennung war häufig die städtische Ummauerung. Die Stadtmauer als weithin sichtbares Zeichen städtischer Souveränität war zwar bei weitem nicht das typische Zeichen zu dem es häufig gemacht wird.1213 Intern konnte dieser Rechtsraum des Weiteren durchaus noch weiter differenziert sein, wie das Beispiel der kirchlichen bzw. bischöflichen Sonderrechte in vielen Reichsstädten zeigt.14 Was weiterhin die interne Gliederung der Stadt dieser Zeit betrifft, so spielten die spezifischen städtischen Kooperationen eine tragende Rolle. Städtischer Rat, Gilden, Zünfte etc. waren für die städtische Gesellschaft von hoher Bedeutung und prägten das Leben in der mittelalterlichen Stadt.15 Als letzten Punkt können die multiplen Funktionen erwähnt werden, die die Stadt in ihrer jeweiligen Region erfüllt hat. Städte waren häufig ein Ort, an dem sich wirtschaftliche Macht konzentrierte. Am auffälligsten zeigte sich dies an dem Markt, dem räumlich10 Weber, Max, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in: Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübiungen 1968, S. 190f. 11 Hirschmann, Frank G., Die Stadt im Mittelalter, München 2009, S. 68f. 12 Die städtische Befestigung ist trotzdem weiterhin die räumliche Grundlage bzw. der Startpunkt einer Erkundung der Einheit einer Stadt. Vgl.: Jöchner, Cornelia, Einführung, in: Räume der Stadt. Von der Antike bis heute, hrsg. v. Cornelia Jöchner, Berlin 2008, S. 9 - 23, hier S. 14. Generell zur städtischen Befestigung: Mintzker, Yair, The Defortification of the German City, 1689-1866, Cambridge 2012. 13 Vgl. dazu: Isenmann, Eberhard, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter: 1250 - 1500; Stadtgesellschaft, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Stuttgart 1988, S. 20f. 14 Vgl dazu exemplarisch: Schmieder, Felicitas, Die mittelalterliche Stadt, Darmstadt 2012, S. 73 - 80. 15 Ebd. S. 101ff. 7 regionalen Zentrum des Handels und Gewerbes sowie eine der zentralen Institutionen der städtischen Gesellschaft. Der Markt bzw. das physische Vorhandensein eines Marktes ist für viele Forscher so wichtig, dass es zum Teil der Definition von Stadt geworden ist. Max Weber beispielsweise führt den Markt als zweiten von fünf Eckpunkten der idealtypischen okzidentalen Stadt an.16 Neben dem ökonomischen war eine Stadt aber auch häufig das rechtspflegerische, administrative sowie demographische Zentrum einer Region. An den Begriff der Stadt ist immer auch eine gewisse Größe geknüpft, die die Stadt rein zahlenmäßig von dem Dorf oder ähnlichen Figurationen scheidet. In der Moderne sieht das Bild etwas anders aus. Das Stadtbild hat sich im Vergleich zum Mittelalter geändert, auch wenn die Grundzüge noch immer gleich klingen. Der Duden definiert beispielsweise eine Stadt schlicht als "größere, dicht geschlossene Siedlung, die mit bestimmten Rechten ausgestattet ist und den verwaltungsmäßigen, wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt eines Gebietes darstellt" oder alternativ als eine "große Ansammlung von Häusern [und öffentlichen Gebäuden], in der viele Menschen in einer Verwaltungseinheit leben".17 In Abgrenzung dazu wird ein Dorf als "ländliche Ortschaft, kleinere Siedlung mit oft bäuerlichem Charakter" definiert.18 Diese Definitionen bilden also dem Duden nach den gängigen Konsens darüber ab, was eine Stadt heute ausmacht. Naturgemäß sind diese Definitionen recht kurz und so allgemein wie nur eben möglich gehalten. Die Stadt wird hier einfach als geografische Siedlungseinheit mit bestimmten Charakteristika gedacht und ist gegenüber dem Dorf in Größe, Rechten und Charakter unterschieden. Es ist vor allem in dem letzten Attribut bereits angelegt, dass eine Stadt auch durch die menschliche Wahrnehmung zu ihrem Status gelangen kann, denn wenn das Dorf vor allem durch einen bäuerlichen Charakter definiert ist und die Stadt das kulturelle Zentrum einer Region darstellt, dann bedeutet das gleichzeitig, dass die Stadt ebenfalls einen bestimmten Charakter haben muss, um nicht nur ein großes Dorf zu sein. Bis zu diesem Punkt gehen diese Alltagsdefinition der Gegenwart und die Definition von Irsigler noch nicht weit auseinander. In der oben zitierten Duden-Definition spielt auch die Größe des geschlossenen Siedlungsgebiets eine entscheidende Rolle. Ob man es nun mit einer Stadt, einer Großstadt oder einem Dorf zu tun hat, hängt auch davon ab, wie viele Menschen dort leben. Dieser Punkt lässt sich für die Gegenwart relativ leicht lösen. Eine Stadt in der Gegenwart ist nicht nur eine gefühlte, 16 Weber hat seinen einflussreichen Stadtbegriff nicht mehr zu Lebzeiten veröffentlichen können. Er erschien erst posthum. Die anderen Punkte seiner Stadtdefinition umfassen die Befestigung, eigenes Recht, Verbandscharakter und eigenes Gericht bzw. teilweise eigenes Recht. Vgl. dazu: Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 2. Halbband ,Tübingen 1976, S. 35 ff 17 Vgl.: http://www.duden.de/rechtschreibung/Stadt#Bedeutung1a (Letzter Aufruf 26.08.2013) 18 Vgl.: http://www.duden.de/rechtschreibung/Dorf#Bedeutung1 (Letzter Aufruf 26.08.2013) 8 sondern auch eine verwaltungstechnische und rechtliche Größe. Es gibt genaue Grenzen, innerhalb derer sich die Stadt als juristisches Gebilde abspielt, und wer innerhalb dieser Grenzen lebt, der zählt zu den Einwohnern der Stadt. Im weiteren Umkreis der Stadt befinden sich dann selbstverständlich noch dependente Siedlungen bzw. Vororte, die mit der Stadt in engem Zusammenhang stehen, aber definitorisch eigenständige Gebilde des kommunalen Rechts sind. Sollte eine Stadt zu schnell wachsen, so dass sie ihre Grenzen überschreitet, dann ist es in der Gegenwart auch möglich, eine Eingemeindung vorzunehmen und eine überflüssige Rechtsgröße fallen zu lassen. Eine Stadt bleibt somit eine leicht zu definierende, eindeutige juristische Größe. Sie lässt sich schnell und klar erfassen, zumindest was ihren rechtlichen Stand angeht. Die Abgrenzung des modernen zum mittelalterlichen Bild ist an dieser Stelle aus mehreren Gründen nicht zielführend. Der offensichtlichste Grund dafür ist, dass man bei einem solchen Vorgehen die Entwicklungen der Frühen Neuzeit künstlich aus dem Auge lassen würde und damit auch sämtliche Wandlungen, die die städtischen Institutionen in dieser Zeit unterlaufen haben. Friedrich Lenger fasst die Grenzen des Vergleichs gut zusammen, wenn er schreibt: "[...] kann man sich doch über die Stadt im Mittelalter sehr viel leichter und umfassender informieren als über die Stadt im 20. Jahrhundert. Der Anteil der in Städten lebenden Bevölkerung und die Intensität ihrer Erforschung scheinen sich umgekehrt proportional zueinander zu verhalten. Der Hauptgrund für diese paradoxe Situation dürfte darin bestehen, dass die Stadt in der Vormoderne baulich, rechtlich, sozial und politisch sehr viel deutlicher vom Land unterschieden war, als das für das 19. oder das 20. Jahrhundert der Fall ist. Der Bedeutungsgewinn der Stadt ging offenbar mit dem Verblassen klarer Konturen einher."19 Diesem Befund kann man für den allgemeinen Begriff Stadt durchaus zustimmen. Allerdings muss man den Blick nicht synchron auf die gleichen Begriffe, sondern asynchron auf urbane Gebilde mit ähnlicher Bedeutung lenken. Geht man also definitorisch eine Stufe höher, so wird das Besondere des modernen Stadtbegriffs deutlich, der vor allem mit Blick auf die Großstädte und Metropolen der Gegenwart entwickelt wurde. Als Beispiel soll hier die Definition des Begriffes "Weltstadt" dienen, da hier der besondere Zuschnitt deutlich wird. Diese ist eine "Großstadt, besonders Millionenstadt, mit internationalem Flair"20 Der extrem unscharfe Begriff "Flair" wird hier benutzt, da eine rein technische Unterscheidung zwischen Millionenstädten wie Berlin, Wien, New York, Kopenhagen oder Tokyo ab einem bestimmten Punkt nur noch schwer zu leisten 19 Lenger, Friedrich, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 11. 20 http://www.duden.de/rechtschreibung/Weltstadt (Letzter Aufruf 26.08.2013) 9 ist. Infrastrukturell, regional und vielleicht sogar national nehmen die Städte vergleichbare Positionen und Funktionen wahr, aber trotzdem gibt es eine gewisse Scheu davor, Städte wie London und Marseille auf eine Stufe zu stellen. Auf einer hohen abstrakten Ebene kommt man an diesem Punkt allerdings nicht weiter. Der vage Begriff des "Flair" hilft hier nur bedingt und ist definitorisch zu unscharf, um als analytisches Instrument benutzt werden zu können. Der alltägliche Sprachgebrauch reicht nicht mehr aus, um die Feinheiten der Unterscheidung in der menschlichen Wahrnehmung klar beschreiben zu können. Die wissenschaftliche Stadtforschung kann an diesem Punkt weiterhelfen, in dem sie ein Instrumentarium zur Beschreibung und Analyse der (modernen) Stadt liefert. Die Soziologin Martina Löw hat versucht, den Begriff der Atmosphäre einer Stadt damit zu umschreiben, dass Atmosphäre die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung von Menschen und sozialen Gütern in ihrer räumlichen (An-)Ordnung sei.21 Die Atmosphäre einer Stadt wäre also in dieser Deutung die menschliche Wahrnehmung von komplexen Arrangements im städtischen Raum. Das eine Arrangement würde demnach eher als ländlich, das andere als groß- oder weltstädtisch wahrgenommen. Sie spielt eine wichtige Rolle in der Ausgestaltung der spezifischen Identität einer Stadt in Abgrenzung zu anderen Städten. Das Selbstbild einer Stadt ist in hohem Maße ein Mittel der Identitätsstiftung nach innen durch eine Abgrenzung nach außen. Martina Löw spricht hier vom "Image" der Stadt.22 Viele Forscher sind auch bereit einzugestehen, dass es neben dem definitorischen Dreischritt DorfStadt-Großstadt noch eine weitere Kategorie gibt, eine Art Ausnahmekategorie in der sich viele Städte wiederfinden, die in ihrem jeweiligen Kontext herausstechen und Ihresgleichen wohl eher international als national zu suchen haben. Diese Annahme geht davon aus, dass die Atmosphäre einer Stadt wie London eher mit Paris, New York oder Tokyo zu vergleichen ist, als mit Birmingham, York oder Manchester. Diese Modelle nennen sich beispielsweise "Global City" und richten sich explizit an die wenigen Metropolen von Weltrang. 23 Dabei wendet sich das in der Folge skizierte Modell der Global City explizit gegen das ältere Modell der "Weltstadt", dem es einen weniger modernen Zuschnitt als vielmehr einen allgemeinen Charakter zuspricht.24 Es wird hier davon ausgegangen, dass diese modernen Metropolen vergleichbare räumliche und mentale Strukturen bzw. Arrangements herausbilden, die dazu berechtigen, diese Städte in einen engeren Kontext zueinander als zu ihren nationalen 21 Vgl. Löw, Martina, Relation, S.39. Löw, Martina, Soziologie der Städte, Frankfurt am Main 2008, S. 14ff. 23 Eine erste Einführung in die Konzepte findet sich bei: Löw, Martina, Steets, Silke, Stoetzer, Sergej, Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Köln / Weimar / Wien 2008., S. 112ff. 24 Vgl. dazu: Sassen, Saskia, Global City. Einführung in ein Konzept und seine Geschichte, in: Peripherie 81/82 (2001), S. 10 - 31, hier: S. 11. 22 10 Bezugsstädten setzen. Eine Global City ist durch verschiedene Eigenschaften gekennzeichnet, die allerdings erneut nach Weber als Idealtypus verstanden werden sollten, um das analytische Erkenntnispotenzial nicht durch Einzelfallabweichungen unter-zu-bewerten.25 Grob definiert sind Global Citys in einer globalisierten Welt Verdichtungs- und Knotenpunkte eines transnational-urbanen Netzwerkes. Sie fungieren als Sitz von internationalen Konzernen, Regierungen und als Zentren für Finanz- und Handelswesen. Sie sind in ihrem jeweiligen nationalen Kontext herausragend und Orte für Innovation, Kreativität und generelle gesellschaftliche Entwicklung. Die moderne Global City ist ferner Ort eines bestimmten Urbanitätsgefühls, etwas, das im Duden als Flair und von Stadtsoziologen wie Löw als Atmosphäre beschrieben wird.26 Auch die Größe der Stadt spielt natürlich eine Rolle. Global Citys sind Städte von "unerhört großer Bevölkerung"27, aber im Zeitalter des stetigen Bevölkerungswachstums der Erde und der fortlaufenden Tendenz zur Urbanisierung ist die Einwohnerzahl alleine kein ausreichendes Kriterium mehr. Der alte Forschungsbegriff der "Millionenstädte"28 wurde genau aus diesem Grund abgelegt. Der spezifische Stadtbegriff der Moderne zielt also vor allem auf die Multifunktionalität der Städte ab, die in einem weltweiten Netzwerk verbunden sind und in verschiedenen Teilen der Erde ähnliche Funktionen übernehmen. Für die Frühe Neuzeit hingegen gelten die zuvor herausgearbeiteten Maßgaben nicht zwingend. Forscher wie Isenmann gehen zwar davon aus, dass es im Großen und Ganzen einen alteuropäischen Stadttypus gibt, der sich im hohen Mittelalter ausdefinierte und erst mit den Umwälzungen der Industrialisierung abgelöst wurde.29 Jedoch muss auch Isenmann eingestehen, dass die Stadt in der Frühen Neuzeit eine Vielzahl von Änderungen im Vergleich zum Mittelalter durchlaufen hat. Er selbst zählt sie auf, wenn er schreibt: "[...] Ergänzungen durch weitere Spezies von Städten (Residenz-, Festungs-, Exulantenstädte), Stagnations-, Niedergangs- oder aber Übergangserscheinungen, Autonomieverluste[] oder Verflechtungen 25 Das Feld der modernen Großstadtforschung ist ein enorm produktives Feld, in dem verschiedene inhaltliche Ausrichtungen und Begriffbildungen miteinander konkurrieren. Für den hier angepeilten Zweck einer Arbeitsdefiniton der modernen Großstadt als Kontrast zu ihrem frühneuzeitlichen Pendant wurde auf eine breite Rezeption des Forschungsgebiets verzichtet. Stattdessen fußen die folgenden Ausführungen auf den anerkannten Grundlagenwerken von Sassen, Global City; Sassen, Saskia, The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton / London 2001; und Überblickswerken wie: Reif, Heinz, Metropolen. Geschichte, Begriffe, Methoden, in: CMS Working Paper Series 1 (2006), S. -21. Zur konkurierenden Begriffsbildungen und den Abgrenzungen der Begriffe voneinander vgl.: Smith, Richard G., Critical Urbanism Now, in: http://www.medellin.unal.edu.co/~esplanurb/images/eventos/Richard_Smith.pdf (Letzter Aufruf: 15.02.2014). 26 Zum Gefühl der Urbanität: Clark, David, Urban World / Global City, London / New York 1996, besonders: S. 100 - 136. 27 Reif, Metropolen, S. 4. 28 Sassen, Global City, S. 11ff. 29 Vgl. dazu: Isenmann, Stadt im Spätmittelalter, S. 12. 11 in die Territorialwirtschaft [...]".30 Die Stadt in der Frühen Neuzeit zeichnet sich also vor allem durch eine funktionale Differenzierung aus. Auch Heinz Schilling stellt diese Tendenz als grundlegenden Unterschied der frühneuzeitlichen zur mittelalterlichen Stadt dar. In seiner Wahrnehmung sind es vor allem die "Differenzierung und Funktionalisierung"31, die zu den "tiefgreifende[n] strukturelle[n] Veränderungen innerhalb des Städtesystems"32 geführt haben. Zwar sind die Kontinuitäten zur mittelalterlichen Stadt klar ersichtlich, aber die Spezifika der Stadt in der Frühen Neuzeit dürfen dabei nicht übersehen werden. Schon Jan de Vries schrieb 1984 zum Unterschied der frühneuzeitlichen Stadt zu ihren Vorläufern und Nachfolgern: "The post-medieval, pre-industrial city was clearly no longer a 'non-feudal island in a feudal sea'. Nor was it the center of technological change, social modernization and proletarization that the nineteenth-century city is taken to be."33 Wollte man in der Frühen Neuzeit eine Stadt ausmachen, so boten nach wie vor die Fortifikation zum einen und das Recht zum anderen einen guten Anhaltspunkt. Das Eine begrenzte den städtischen Raum ganz offensichtlich nach außen und bildete den weithin sichtbaren Rahmen der städtischen Einheit, das Andere bildete die Grundlage der ggf. vorhandenen Sonderstellung der Stadt im Rechtssystem und damit auch ihre Unterscheidbarkeit von "Dörfern" oder anderen menschlichen Siedlungsformen. Wenn man die modernen Definitionen von Stadt und Weltstadt als Arbeitsgrundlage nimmt, dann muss die offensichtliche und sicherlich eine der bedeutendsten Anpassungen das Verständnis von Verwaltung betreffen. Wenn der moderne Leser mit dem Begriff ‚Stadt‘ in Kontakt kommt, so hat er sicherlich das unausgesprochene Bild einer kommunal organisierten, modernen Stadt mit all ihren Organisationen und Institutionen im Blick. An diesem Punkt unterscheidet sich die Stadt der Frühneuzeit allerdings fundamental von ihren modernen Gegenparts. Eine tiefgreifende, nationalstaatliche Verwaltung, wie sie dem westlichen Europäer heute so natürlich vorkommt, war in dem angesprochenen Zeitraum nur in Ansätzen vorhanden. Je nach Stadt und Region konnten die Rechte und die Organisation der städtischen Gebilde massiv voneinander abweichen. 2.2. London im 18. Jahrhundert Spricht man von London im 18. Jahrhundert, so muss man festhalten, dass die im letzten Kapitel präsentierten Überlegungen zu kurz greifen. Mit diesen Herangehensweisen 30 Ebd. Schilling, Stadt, S. 20. 32 Ebd. 33 Vries, Jan de, European Urbanization 1500 - 1800, London 1984, S. 8.; Der Gedanke findet sich in jüngster Zeit auch bei: Blondé, Bruno, Damme, Ilja van, Early Modern Europe. 1500 - 1800, in: The Oxford Handbook of Cities in World History, hrsg. v. Peter Clark, Oxford 2013, S. 240 - 257, hier: S. 241. 31 12 kann man sich der historischen City of London nähern, die in sich eine administrative und räumliche Einheit darstellt, wie sie gerade beschrieben wurde. Das Phänomen London lässt sich damit allerdings nicht hinreichend beschreiben, da "London" aus mehr als der City of London bestand. Die Großstadt London, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit im Fokus stehen wird, entzieht sich den gängigen definitorischen Zugriffen. Um der Besonderheit Londons gerecht zu werden, muss bei der Bezeichnung Londons als Großstadt stets der Widerspruch zwischen der administrativen Zersplitterung und der räumlichen Verzahnung der Großstadt London mitgedacht werden.34 Diese besteht aus einem historisch gewachsenen Geflecht sich überlappender juristischer und administrativer Gliederungen, die sich mit dem Begriff der Stadt nur unzureichend abbilden lassen. London an sich ist nicht die Bezeichnung einer einzelnen Stadt, sondern eher ein Sammelbegriff unter dem man - je nach Betrachtungsgegenstand - eine ganze Menge verschiedener Dinge fassen kann. Am simpelsten drückt sich dieser Gegensatz sicherlich in der Dichotomie zwischen City und Rest der Region aus. 35 Bei dieser einfachen Unterscheidung legt man besonderen Wert auf die historische Besonderheit der City mit ihren Vorrechten und ihrem historisch gewachsenen Kern im Gegensatz zu den weniger privilegierten und jüngeren Teilen der Großstadt. In dieser Ansicht nimmt die Kontinuität der City of London in ihren räumlichen und juristischen Grenzen einen Sonderraum ein, der sicherlich bis zu einem bestimmten Punkt gerechtfertigt ist. Immerhin stellt die City tatsächlich den Nukleus des Londoner Stadtgebiets dar. Jahrhundertelang beherbergte die City auch das Gros der Einwohner der Stadt. Noch um 1300 waren es knapp 80 - 90%. Dieser Wert sank jedoch bis 1700 auf 33 % und verlor noch einmal mehr als die Hälfte bis zum Ende des Jahrhunderts.36 Die Bedeutung der City als Siedlungszentrum schrumpfte im Laufe der Frühen Neuzeit also zusammen. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der politischen Bedeutung der City of London. Noch im Mittelalter war die Unterstützung der City für nahezu alle Könige oder Prätendenten von 34 Eine Uneinigkeit der administrativen, räumlichen, politischen und juristischen Kategorien in der Definition oder Wahrnehmung der Stadt hat in der Stadtsoziologie durchaus einen Niederschlag gefunden. Vgl. exemplarisch: Löw, Martina, Von der Substanz zur Relation, S. 35. 35 Vgl. dazu exemplarisch: Wareing - The Jaggers Approach to Early Modern London, in: Journal of Urban History 29 (2003), S. 736 - 749, hier: S. 737) 36 Zu den Einwohnerzahlen und dem Verhältnis zwischen der City und dem Rest der Region vgl.: Keene, Derek, Growth, Modernisation and Control: The Transformation of London's Landscape, c1500 - c1750, in: Two Capitals. London and Dublin 100 - 1840, hrsg. v. Peter Clark & Raymond Gillespie, Oxford 2001, S. 7 - 38, hier S. 8. 13 essentieller Bedeutung.37 Die Zustimmung oder Ablehnung der City war oft das Zünglein an der Waage und entschied über das Gelingen oder das Scheitern eines Aufstandes oder sogar über die Krönung eines Monarchen. Selbst in elisabethanischer Zeit und im englischen Bürgerkrieg spielte die City of London bzw. ihre Amts- und Würdenträger eine entscheidende Rolle.38 Man kann nur mutmaßen, ob die Geschichte eine andere Wendung genommen hätte, wenn der damalige Sheriff von London Lord Essex 1601 nicht hätte festnehmen lassen oder wenn sich die Stadt im Bürgerkrieg auf die Seite von Karl I. geschlagen hätte. Allerdings schwand diese Bedeutung. 1630 schon hatte die City das Angebot der Krone, die administrative Oberhoheit über die Region zu übernehmen, abgelehnt, und eher auf seinen informellen Einfluss in den Vororten gesetzt.39 Mit dem Aufstieg der Vororte im Laufe des 18. Jahrhunderts und der Stabilisierung der monarchischen Regierung nach dem Ende des Bürgerkriegs verlor die City weiter an Bedeutung. Es ist also unter Umständen etwas zu kurz gegriffen, die City einseitig so hervorzuheben. Forscher wie Derek Keene gehen beispielsweise von einer Aufteilung in drei große Pole der Stadt aus. Neben der City of London als kommerzielles und historisches Zentrum wird der City of Westminster ein ebenso starkes Gewicht ab dem 18. Jahrhundert zugemessen.40 Westminster kann als Sitz der monarchischen Regierung und der High Society mit einiger Berechtigung ein solcher Status zugesprochen werden. Neben diesen beiden Polen wird der Rest der Stadt naturgemäß relativ klein in seiner Bedeutung und nur summarisch erfasst. Diese Aufteilung Londons in Pole und Peripherie deutet auf das Kernproblem der Historiografie Londons hin. Nimmt man zum Beispiel die Bedeutung vom Königshof in Westminster für die Stadtgeschichte Londons, so kommt man schnell zu einem Grundproblem der Stadtgeschichtsschreibung Londons. Es ist notorisch unklar, wo die Geschichte der Stadt aufhört und die Geschichte Englands beginnt.41 Der besonderen Rolle Londons innerhalb Englands ist es zu verdanken, dass nahezu jedes größere nationale Ereignis sich ebenfalls in 37 Zu Londons Rolle in diversen Konflikten im Mittelalter und besonders seiner Rolle im Rosenkrieg vgl.: Buchholz, Robert O., Ward, Joseph P., London. A Social and Cultural History, 1550 - 1750, Cambridge 2012, S. 18 - 21. 38 Vgl. ebd. S. 284f.; Boulton, London, 341. 39 Vgl. zur Ablehnung der Administration auch: Clark, Peter, The Multi-Centred Metropolis: The Spatial and Cultural Landscapes of London, 1660 - 1840, in: Two Capitals. London and Dublin 100 - 1840, hrsg. v. Peter Clark & Raymond Gillespie, Oxford 2001, S. 239 - 263, hier: S. 252. Zum informellen Einfluss der Krone: Archer, Ian W., Government in early modern London. The Challenge of the Suburbs, in: Gillespie, Two Capitals, S. 133 - 147. 40 Beispielsweise: Keene, Growth, S. 8. 41 Vgl zu diesem Problem auch: Krischer, André, Politische Kommunikation und Öffentlichkeit in London. Zur Entwicklung einer Großstadt im 17. Jahrhundert aus mediengeschichtlicher Perspektive, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Reden, Schreiben und Schauen in Großstädten des Mittelalters und der Neuzeit, hrsg. v. Irmgard Ch. Becker (Stadt in der Geschichte 36), Ostfildern 2011, S. 55-87, hier: S. 62ff. 14 London niederschlug. Umgekehrt galt dies auch. Der Königshof verdeutlicht dieses Dilemma sicherlich am passendsten. Von ihrer Natur her sind Ereignisse bei Hofe sicherlich eher Teil der nationalen Geschichte. Allerdings ist der Hof so nahe an London und später mitten im Stadtgebiet von London gelegen, dass es nur wenige Entscheidungen des Hofes gab, die sich nicht unmittelbar auf London niedergeschlagen haben, sieht man einmal von der Bürgerkriegszeit und dem Exil des Hofes in Oxford ab. Umgekehrt haben wichtige Ereignisse im (restlichen) Stadtgebiet Londons unmittelbar die Aufmerksamkeit des Hofes erlangt und nicht selten sein Eingreifen verlangt. Auch beim Blick in die Historiografie Londons stolpert man immer wieder über dieses Problem. Sobald die politische Geschichte Londons behandelt wird, lässt es sich nicht vermeiden, sich mit der politischen Geschichte Gesamtenglands zu befassen. Dies mag in bestimmter Hinsicht für die Geschichte jeder Hauptstadt gelten, aber im Falle Londons ist diese Tendenz besonders stark ausgeprägt. Man wird also von Anfang an konstatieren müssen, dass eine klassische Stadtgeschichtsschreibung – wie man sie für die Städte im Reich verfasst hat – für London nicht zu verwirklichen sein wird und man würde durch eine perspektivische Engführung auch der Stadt und ihrer Bedeutung wohl kaum gerecht werden können. Das bedeutet auch, dass London ein absolutes Ausnahmeprodukt für seine Zeit ist und sich damit schwer in die gängigen Definitionen einer frühneuzeitlichen Stadt einfügen lässt. Als definitorische Stütze kann man versuchen, sich über den bereits zuvor erwähnten Begriff der World oder Global City anzunähern. "Der Begriff Global City geht in qualitativfunktionaler Hinsicht über die Begriffe Weltstadt, Metropole und Megastadt hinaus und beschreibt v.a. die Funktion der Kontrolle über Produktion und Märkte innerhalb eines Netzes von Städten und hierarchisch strukturierten Produktionsprozessen."42 Diese Definition, die natürlich in ihrem Kern auf moderne Metropolen der globalisierten Welt abzielt, kann mit einiger Berechtigung auch für das frühmoderne London angewandt werden. Immerhin war London der Knotenpunkt des im Entstehen begriffenen britischen Weltreichs schlechthin. Genau wie die britischen Überseebesitzungen, so wuchs auch London im 18 Jahrhundert massiv und nahm genau die oben beschriebene Funktion ein, also die die zentrale Handelsund Marktstadt eines großen, weltweiten Wirtschaftsverbunds. Ferner liefert diese Betrachtungsweise auch eine Erklärung für die symbiotische Beziehung zwischen städtischer und nationaler Geschichte. In Großbritannien konzentrierten sich Informationen und Entscheidungsgewalt zu einem guten Teil in der kommerziellen Zentrale London und Informationsflüsse sind selten an die administrativen Grenzen eines Burroughs oder einer City 42 http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/9176/global-city-v7.html 15 gebunden. In dem Maße, in dem sich die ehemals separaten Siedlungsgebiete zu einem städtischen Komplex verbanden, so bewegten sich auch Menschen und Informationen in diesem neu geschaffenen Raum über formale Grenzen hinweg.43 Betrachtet man ferner die weiteren definitorischen Grundlagen einer Global City, so fallen schnell weitere Ähnlichkeiten auf.44 Global Citys sind nicht nur Knotenpunkte, sondern auch Orte extremer sozialer Ungleichheit, Zentren der Finanz- und Kommunikationskultur sowie Machtzentren. All dies trifft auch auf London zwischen 1700 und 1800 zu. Es gab einen großen Zustrom von armer Landbevölkerung und einen ohnehin hohen Anteil an vergleichsweise armen Menschen in London, die versuchten sich ein Leben aufzubauen bzw. und zu überleben. Andererseits wohnten in Westminster oder der City einige der reichsten Menschen des gesamten Königreichs und auch der Adel baute große repräsentative Villen in dem urbanen Komplex.45 Die Gegensätze zwischen Arm und Reich sind hier sofort offensichtlich und – bedenkt man Londons Größe – auch im größeren Maße als auf dem Land vorhanden. Allem voran, weil sich Arm und Reich jederzeit begegnen konnten. Wie Derek Keene herausgearbeitet hat, gab es eine ungewöhnliche geringe Separierung von Arm und Reich in London. Zwar wurden natürlich auch in London mit dem Wachstum der Einwohnerzahl auch räumliche Separierungstendenzen sichtbar, aber in der Stadt lagen beispielsweise die großen Handelszentren – The Strand und die City – in unmittelbarer Nähe zu den am dichtesten bevölkerten Stadtteilen, in welchen sich in aller Regel die armen Bewohner der Stadt konzentrierten.46 Es darf also davon ausgegangen werden, dass sich Arm und Reich in London nahezu täglich begegneten. Ferner war London als Handels- und Finanzstadt mit Abstand die bedeutendste ihrer Art im Königreich und die wirtschaftlichen Eliten sammelten sich in London. Die Bank of England oder die Londoner Börse sind Monumente der Bedeutung der Stadt in diesem Sektor und prägten ihren Standort über ihre reine Präsenz hinaus. Schlussendlich sind die beiden Häuser des Parlaments und der Königshof unzweifelhaft die größte Akkumulation politischer Macht an einem Ort in Großbritannien. Nicht nur die Institutionen, sondern auch die Menschen als deren Verkörperung befanden sich selbstverständlich räumlich verdichtet an einem Ort. Die entstehenden Wechselwirkungen haben dazu beigetragen, dass sich London als eine der ersten Städte Europas in der Frühen Neuzeit zu einer Metropole entwickelt hat. 43 Zumal es zu diesen administrativen Grenzen keine bzw. nur sehr marginale räumliche Entsprechungen gab, wie in Kapitel 3 gezeigt werden wird. 44 Die folgenden Punkte nehmen Bezug auf Löw, Einführung, S. 112ff. 45 Vgl.: Schwarz, London, S. 663ff. 46 Vgl.: Keene, Growth, S. 17 - 20. 16 Zugespitzt formuliert handelte es sich bei London um die erste Global City der Frühen Neuzeit.47 2.3. Erfahrung von Raum Beginnt man den Raum als Kategorie historischer Forschung zu untersuchen, so muss am Beginn eine Definition des Begriffs stehen. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde der Raum selbst, sprich die Stadt, das Dorf oder auch das Innere eines Hauses, hauptsächlich als eine natürliche, suprahumane Kategorie definiert. Diese Vorstellung vom Raum wird von Forschern wie Löw heute absolutistisch genannt. Der Raum wurde als Container des menschlichen Lebens und menschlicher Gesellschaft gesehen; ein Raum, in dem sich menschliche Prozesse abspielten und der die Bühne bot für Handeln, das innerhalb seiner Grenzen passierte.48 Ihm wurde damit eine von menschlichem Handeln und Zuschreibungen unabhängige Realität zugesprochen.49 Diese Containervorstellung ist heute größtenteils überwunden und man kann den Raum in anderen Kategorien beschreiben. Da wäre zum einen die grundlegend andere Vorstellung, dass der Raum selbst Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses ist. Folgt man der Soziologin Martina Löw, dann ist nicht das Objekt Raum, sondern der Raum spannt sich zwischen Objekten auf.50 Dieser Raum wird durch menschliche Handlungen also erst hergestellt und bekommt seine spezifisch-fluide Gestalt. In diesem Konstruktionsprozess muss man die zwei grundlegenden Zwillingsprozesse des "Spacing" und der "Synthese" beachten, wenn man den Prozess durchdringen möchte. Der erste Begriff beschreibt den Prozess des Einrichtens und Positionierens von Gütern im Raum. Hierbei ist der Begriff "Güter" in einem sehr weiten Sinne zu verstehen. Es können sowohl materielle Dinge wie auch immaterielle Institutionen oder abstrakte Symbolisierungen gemeint sein. Dieses Positionieren von Gütern ist des Weiteren immer nur relational zu anderen Gütern zu verstehen. Kein Gut im Raum steht für sich und verfügt über einen eigenen Sinn abseits seines Zusammenhangs. Das Herstellen eines solchen 47 Theo Barker geht sogar so weit London als erste Megalopolis Europas zu titulieren: Barker, Theo, London. A unique Megalopolis, in: Megalopolis. The giant City in History, hrsg. v. Theo Barker und Anthony Sutcliffe, Macmillan 1993, S. 43 - 60. Ähnliche Gedanken äußerte auch schon de Vries, der in seinem Gedankengebäude auch bereits den Aspekt des vernetzten Systems von Städten mitgedacht hatte: Vries, Urbanization, S. 9f.; 95 120. 48 Das Bild des Raums als Container ist eine gängige Metapher, die allerdings heute kaum noch Verwendung findet. Vgl. dazu exemplarisch: Krusche, Jürgen, Der Raum der Stadt - Einführung, in: Der Raum der Stadt S. 9 - 18, hier: S. 10. 49 Vgl.: Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 63. 50 Vgl.: Löw, S. 51; Löw, Raumsoziologie, S. 160. Die folgenden Aussagen zu Spacing und Synthese beziehen sich, so nicht anders angegeben, ebenfalls auf den hier zitierten Text. 17 Zusammenhangs nennt man Synthese. In diesem Prozess werden die einzelnen Güter zusammengeführt und durch menschliche Vorstellungs- bzw. Abstraktionskraft zu einem bestimmten Ort verschmolzen. Dieser neu entstandene Ort wird mit einer Vielzahl von Bedeutungen und Inhalten aufgeladen und bekommt so seine individuelle, spezifische Gestalt. Martina Löw zieht daraus den definitorischen Schluss: "Raum ist eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen an Orten".51 Durch die kollektive Syntheseleistung vieler Menschen konstruiert sich somit der Raum als soziale Kategorie und entfaltet seine Wirkung im Kontext menschlicher Nutzung. Durch diese soziale Konstruktion des Raums entsteht auch die spezifische Atmosphäre des Raums, die dann in der Folge unterschiedlich wahrgenommen werden kann, etwa als provinziell, städtisch oder sogar weltstädtisch. Somit ist die Atmosphäre einer Stadt immer auch auf die Bewohner einer Stadt zurückzuführen, da sie der Grundstein der kollektiven Synthese sind. Durch den kombinierten Effekt der Konstruktion und der Wahrnehmung räumlicher Arrangements und der gezielten Beeinflussung dieser beiden Prozesse entsteht ein spezifisches Bild bzw. Image der Stadt, das sowohl nach außen wie auch nach innen transportiert wird. Es wird sozusagen gleichzeitig persönlich individualisiert, wie auch überpersönlich externalisiert und objektiviert. Dieses Arrangement wird dann in seiner Erscheinungsform als verstetigte Objektivierung eines kollektiv geformten Images wirkmächtig und beeinflusst seinerseits die vorgelagerten Prozesse, so dass der Prozess der Imagebildung stets als in Bewegung und nicht als statisch-abgeschlossen betrachtet werden muss.52 Die Stadt ist somit nie eine objektiv vorhandene Tatsache bzw. ein überindividuelles, statisches Objekt, sondern selbst Teil des fortlaufenden Prozesses der Identitätszuschreibung und Identitätskonstruktion. Jede Generation konstruiert sich ihre eigene (städtische) Identität, allerdings fängt sie dabei niemals ganz neu an. Die externalisierte und objektivierte Gestalt der Stadt tritt mit den Konstruktionsbemühungen ihrer Bewohner in einen Austauschprozess und sorgt somit dafür, dass eine symbiotische Beeinflussungsbeziehung zwischen der Stadt und ihren Bewohnern entsteht. Löw spricht hier von der Dualität von Handeln und Struktur und meint, dass der Raum gleichzeitig durch Handeln strukturiert wird und Räume das Handeln strukturieren.53 Dadurch wird der doppelt verschränkte Prozess betont und das Faktum hervorgehoben, dass Räume ebenso Gegenstände der sozialen Konstruktion sind wie andere mit sozialer Bedeutung aufgeladenen Dinge und genau wie diese auf ihre 51 Ebd. S. 224. Dieser Denkansatz bezieht sich auf die inzwischen klassische Theorie der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit von Berger und Luckmann. Vgl.: Berger, Peter L., Luckmann, Thomas, Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 2007. 53 Löw, Raumsoziologie, S. 63. 52 18 menschlichen Gegenstücke zurückwirken. Ray Porter hat diese überpersonelle Beziehung zwischen Stadt und Einwohner in seinem Buch wie folgt auf den Punkt gebracht: "People make their own cities but never under conditions of their own chosing."54 Eine Stadt ist aber mehr als nur eine Ansammlung von Raum bzw. Räumen, die eine bestimmte Atmosphäre erzeugen. Die Perspektive auf den Raum lässt den Wissenschaftler mit einer grundsätzlich anderen Herangehensweise an seine Fragestellungen treten als das bei einer Betonung anderer Kategorien, wie beispielsweise Zeit bzw. zeitliche Abfolge, der Fall wäre. Die Annäherung an historische Fragestellungen über die Perspektive des Raums sorgt dafür, dass der Blickwinkel sich grundlegend verändert. Während der traditionelle Blick des Historikers von der Zeit her kommt und auf lange Linien der Entwicklung und Veränderung blickt, funktioniert der Blick vom Raum her nach einem anderen Prinzip. "Statt weiter auf die großen Linien von Entwicklung und Wandel zu fokussieren, schärft die Kategorie des Raumes die Perspektive für die Machtverhältnisse im Machen und Erleiden von Geschichte (..)" hat es Aleida Assmann formuliert.55 Die Raumperspektive lenkt den Blick also auf soziale Konstruktionsprozesse und hilft dabei den Umgang von Menschen mit mehrdeutigen, unterschiedlich konnotierten Räumen in den Blick zu nehmen.56 Pointiert ausgedrückt hat es Karl Schlögel: "Vom Raum zu sprechen heißt von der Gleichzeitigkeit all dessen zu sprechen, was in einem bestimmten Augenblick, in einer bestimmten Epoche präsent, kopräsent, koexistent ist."57 Der räumliche Blick ist also keine grundsätzliche Revolution der historischen Forschung, sondern in dieser Wahrnehmung eher eine Akzentverschiebung bzw. eine Refokussierung des Blicks auf bestimmte räumliche Phänomene.58 Folgerichtig zieht Schlögel daraus den Schluss: "Der Temporalität muss die Spatialität zur Seite gestellt werden".59 54 Porter, Roy, London. A Social History, London 1994, S. XV. Assmann, Aleida, Geschichte findet Stadt, in: Kommunikation - Gedächtnis - Raum. Kulturwissenschaften nach dem "Spatial Turn", hrsg. v. Moritz Csaky und Christoph Leitgeb, Bielefeld 2009, S. 13 - 27, hier: S. 17. 56 Die Wende in der Wahrnehmung des Raumes ist seit den 1980er Jahren auch als so genannter "spatial turn"bezeichnet worden. 57 Schlögel, Karl, Kartenlesen, Augenarbeit. Über die Fälligkeit des spatial turn in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, in: Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, hrsg. v. Heinz Dieter Kittsteiner, München 2004, S. 261 - 284, S. 274. 58 Ebd. S. 265. 59 Ebd. S. 275. Schlögel ist insgesamt einer der wichtigsten Ideengeber der deutschen Variante des spatial turns gewesen. Allen voran sein Buch: Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München / Wien 2003. ist eine der zentralen Impulsgeber gewesen. Selbstverständlich ist Schlögels Konzeption nicht unwidersprochen geblieben. An dieser Stelle soll es aber nicht um eine Nachzeichnung einer wissenschaftlichen Debatte, sondern um die Nutzbarmachung der Ergebnisse für eine bestimmte Fragestellung gehen. Zur Diskussion um den spatial turn im allgemeinen und Schlögels Beitrag im speziellen sei deshalb auf folgenden Beitrag verwiesen: Döring, Jörg, Thielmann, Tristan, Einleitung. Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hrsg. v. Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld 2008, S. 7 - 48, besonders ab S. 22. 55 19 Um Missverständnissen vorzubeugen, muss man ferner zwischen Raum und Ort differenzieren. Ort bezeichnet eine eher statische Kategorie, die darauf abzielt, einem fixen Punkt – wie zum Beispiel einem Gebäude, einer Straße, einem Denkmal oder Ähnlichem – eine bestimmte Geschichte zuzu- und damit festzuschreiben. Orte sind demnach dadurch bestimmt, dass sie bereits mit einer bestimmten Geschichte bzw. Bedeutung aufgeladen sind. Dem gegenüber bezeichnet "Raum" eher den dynamischen Prozess der Konstruktion bzw. (An)Ordnung von Dingen. Raum weist auf den prozessualen, modifizierbaren Charakter hin. In dem hier untersuchten Beispiel der Stadt London im 18. Jahrhundert lenkt die Raumperspektive den Blick des Betrachters also nicht primär auf die Bedeutung prominenter Orte im Stadtgebiet, sondern auf die Bewegung der Menschen zwischen diesen Orten und die Art und Weise wie Orte im Raum miteinander vernetzt, erfahren, erschlossen und ggf. beherrscht werden. Orte sind im Raum bestimmte Knoten- oder Fixpunkte, die die Erfahrung des Raums strukturieren. Sie übernehmen Symbolisierungs- und Repräsentationsfunktionen. Dieses Zusammenspiel von Orten und Räumen in der sozialen Konstruktion von wahrgenommenen räumlichen Ensembles wird auch als "mapping" bezeichnet.60 Dieser Prozess verweist "auf die Schnittstelle zwischen Raum und Zeit, aufgrund ihrer [der Raumperspektive. Anm. des Autors] Überlagerung der physisch-räumlichen Strukturen durch (subjektive) Erinnerungsakte."61 Die Aufgabe des Historikers ist es also diesen Erinnerungsakten nachzuspüren und ihre Spuren zu deuten. Natürlich ist es heute nicht möglich individuelle Denkprozesse zu untersuchen, also den jeweiligen Zeitgenossen in den Kopf zu sehen, aber es ist möglich den Ausdrücken dieser Denkprozesse nachzugehen. Bestimmte Quellenarten bieten sich an, diesen Prozessen nachzugehen und ihren Widerhall sichtbar zu machen. 60 Vgl.: Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006, S. 299. 61 Ebd. S. 300. 20 3. (Ab)Bilder der Stadt - Konstruktionen von London in Karten 3.1. Quellenwert von und Umgang mit Karten Wenn man an Bilder der Stadt denkt, dann sind Karten sicherlich eine der ersten Assoziationen, die sich aufdrängen. Karten sind von jeher der Versuch der Menschen gewesen, die konkrete, wahrgenommene Wirklichkeit zu abstrahieren und somit schneller zugänglich zu machen. Die nicht abbildbare holistische Komplexität der Erfahrung musste dazu also auf ein leichter erfahrbares Level und damit Medium gehoben werden. Dabei muss man sich klar machen, dass der heutige Standard der Kartografie in der Frühen Neuzeit nicht galt. Die moderne Kartographie gibt maßstabsgetreue Abbildungen heraus, die die Wirklichkeit unter bestimmten Bedingungen so realistisch wie möglich widergeben. Stadtpläne, Wanderkarten oder topographische Karten haben dabei natürlich unterschiedliche Ziele und Zielgruppen, die bedient werden wollen. Das heißt aber nicht, dass diese Arten von Karten nicht nach ähnlichen Prinzipien funktionieren würden. Im Grunde versuchen all diese Karten den Beobachter in eine Vogelperspektive über die abstrahierten Gegenden zu versetzen, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Besonderheiten zu lenken und ihm ermöglichen, sich ein Bild vom Raum zu machen oder sich in diesem Raum zu bewegen ohne eigene Erfahrung von jenem zu haben. All das setzt zweierlei voraus: Zum einen das Vorhandensein exakter Vermessungsund Verarbeitungstechniken, zum anderen ein tieferes Verständnis vom Umgang mit Karten. Karten sind aus dem modernen Alltag nicht mehr wegzudenken. Es gibt sie in allen Formen und Größen sowie für die unterschiedlichsten Zwecke: Stadtkarten, Landkarten, Wanderkarten, usw. Viele Karten werden gar nicht mehr gedruckt, sondern existieren nur noch digital, wobei sie dem Benutzer vielfältige Interaktionsmöglichkeiten bieten. Die meisten Menschen bewegen sich wie selbstverständlich mithilfe von Karten in bekannten oder unbekannten Räumen Karten sind also in der Gegenwart vergleichsweise günstige, diversifizierte Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs. In der Frühen Neuzeit hingegen kann man solche Techniken nicht einfach als gegeben voraussetzen. Es versteht sich von selbst, dass den Kartographen des 18. Jahrhunderts weder Luft- geschweige denn Satellitenbilder zur Verfügung standen, die sie als Grundlage ihrer Karten benutzen konnten. Sie bedienten sich vor allem der Landvermessung vermittels des mathematischen Verfahrens der Triangulation. Die so erworbenen Daten über Abstände und Größenverhältnisse konnten anschließend mit verschiedenen Werkzeugen 62 auf Papier 62 Zu dem Arbeitsgerät der Kartographen vgl.: Lindgren, Uta, Land Surveys, Instruments, and Practitioners in the Renaissance, in: The History of Renaissance Cartography, S. 477 - 508. 21 übertragen werden, um so eine annähernd objektiv korrekte Darstellung der Größenverhältnisse zu erzielen. Diese Art der Kartenerstellung war in der gesamten europäischen Frühen Neuzeit – spätestens seit der so genannten Scientific Revolution im 16. Jahrhundert63 – die dominierende und akzeptierte Art und Weise, Karten anzufertigen. Dabei war allerdings objektive wissenschaftliche Exaktheit nicht so ausschlaggebend wie der vermittelte Eindruck, glaubhaft zu sein.64 Allerdings war die benutzte Technik nicht der einzige Unterschied zur modernen Karte. Es muss festgehalten werden, dass auch der Umgang mit Karten kulturell anders geprägt war. Karten waren keine Alltagsprodukte. Vielmehr waren sie seltene und nur von einer kleinen Bevölkerungsschicht genutzte Gegenstände. Trotzdem erlauben sie dem Beobachter einen Einblick in die Vorstellungswelt der Zeitgenossen. Karten im Allgemeinen und Stadtpläne im Besonderen sind immer auch ein Abbild der gesellschaftlichen Vorstellungen vom Raum, den sie beschreiben. Karten sind in diesem Sinne verstetigte "mental images" eines Raums, der durch menschliche Interaktion gebildet wird, diese Interaktion aber auch durch seine spezifische Gestalt beeinflusst und damit auf seine eigene Konstruktion zurückwirkt. Ein Stadtplan kann zum Zweck der Analyse dieser Vorstellungen allerdings nicht einfach als Illustration oder objektive Abbildung der Wirklichkeit betrachtet werden. Die heutige Vorstellung von einer quasi objektivierbaren Wirklichkeit, die sich maßstabgetreu in der Karte wiederfindet, verleitet zu leicht dazu, Karten nicht eingehend genug zu betrachten. Eine Karte bedarf allerdings derselben quellenkritischen Herangehensweise, die auch bei schriftlichen Quellen Verwendung finden würden. Man muss ihr sozusagen Textstatus zugestehen und sie auch dementsprechend behandeln. In diesem Sinne arbeitet dieses Kapitel mit der Herangehensweise von Hartmut Stöckl, der zum Quellenwert von Bildern geschrieben hat: "Ich verwende den Textbegriff in Bezug auf Bilder aber nicht nur, um ihre Komplexität und Gegliedertheit zu betonen. Wenn Bildern Textstatus zuerkannt wird, geht es [...] auch darum, visuelle Zeichenphänomene systematisch auf kommunikative Situationen zu beziehen."65 In diesem Sinne geht es also unter anderem darum, die Bilder des städtischen Raums London in den Prozess der Identitätskonstruktion durch Kommunikation einzubeziehen. Diese Selbstversicherung und Identitätskonstruktion 63 Wintle, Michael, Renaissance maps and the construction of the idea of Europe, in: Journal of Historical Geography 25 / 2 (1999), S. 137 - 165, hier: S. 140. 64 Harley, Brian J., Power and Legitimation in the English Geographical Atlases of the Eighteenth Century, in: John A. Wolter & Ronald E. Grim (Hrsg.), Images of the World. The Atlas through History, Washington D.C. 1997, S. 161 - 206, hier: S.192. 65 Stöckl, Hartmut, Die Sprache im Bild - das Bild in der Sprache: zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text, Berlin 2004, S. 96. 22 durch Karten ist eine grundlegende Funktion dieses Mediums und darf dementsprechend nicht ignoriert werden, auch wenn diese Schlussfolgerung nicht unbedingt auf der Hand liegt. Um sich dem Sachverhalt anzunähern, lohnt sich ein vergleichender Blick zurück. Noch im Mittelalter waren Karten in einem weitaus höheren Maße idealisiert. Zum einen sicherlich, weil die Technik zur perspektivisch korrekten Darstellung noch nicht bzw. nicht mehr bekannt war, zum anderen aber auch, weil eine andere Aussage über den dargestellten Raum getroffen werden sollte. Zugespitzt formuliert ging es mittelalterlichen Karten um die symbolische Abbildung der göttlichen Ordnung auf Erden.66 Man findet auf christlichen Weltkarten oftmals Jerusalem im Zentrum der Welt, ein Platz, der ihr als heilige Stadt des Christentums zukam.67 Auch in mittelalterlichen Stadtplänen dominierte das symbolische Element der Darstellung eines Ideals über die mathematisch korrekte Abbildung von Verhältnissen.68 Von solchen ideellen Aussagen über den dargestellten Raum wandte sich die Kartographie der Frühen Neuzeit ab. Allerdings sollte man nicht den Fehler machen, der Karte des 18. Jahrhunderts – oder auch denen aller folgenden Jahrhunderte – Ideologiefreiheit zu attestieren. John Brian Harley hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei Karten genau wie bei jeder anderen Quelle auch um einen Teil eines weitaus größeren Diskurses handelt und sich in einer Karte, obwohl sie einen objektivierenden Anspruch stellt, immer um ein diskursives Element handelt, welches sich in bestimmter Art und Weise artikuliert und seine Bedeutung abbildet.69 Selbst die nüchternste Karte ist nicht objektivierte Darstellung der Wirklichkeit, sondern ein Teil des wissenschaftlichen Diskurses und somit Träger von Bedeutung. Karten erschufen und erschaffen einen geteilten Wissensraum innerhalb dessen Grenzen gedacht, interpretiert und gearbeitet werden konnte.70 Als Voraussetzung dafür ist noch einmal die scientific revolution anzusprechen, in der sich der Fokus der Kartenproduktion von einer religiös-ideologisch idealisierten Symbolik in der Abstraktion zu einer "objektiven" schematisch-abstrakten Abbildung des dargestellten Raumes gewandelt hat. Die Referenzierbarkeit des abgebildeten Raumes im erfahrenen Raum, beispielsweise durch Beschriftungen oder Legenden, ermöglichte einen indexikalischen Bezug zwischen der abstrakten Karte und dem tatsächlich erlebten Raum. Durch diese Möglichkeit der mittelbaren 66 Vergleiche dazu: Baumgärtner, Ingrid, Die Wahrnehmung Jerusalems auf mittelalterlichen Weltkarten, in: https://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2006053112651/3/jerusalem-o.pdf. 67 Vgl. zu diesem Punkt: Burke, Peter, Culture: Representations, in: The Oxford Handbook of Cities in World History, hrsg. v. Peter Clark, Oxford 2013, S. 438 - 463, besonders: S. 443ff. 68 Genauer dazu: Wintle, Renaissance, S. 140. 69 Harley, John Brian, Deconstructing the Map, in: Cartohraphica 26/ 2 (1989), S. 1-20. 70 Zu diesem Konzept der Karte als Wissensraum: Turnbull, David, Cartography and Science in Early Modern Europe: Mapping the Construction of Knowledge, in: Imago Mundi 48 (1996), S. 5 - 24, besonders: S. 6. 23 Beziehung wurde die Konstruktion eines solchen Wissensraums erst möglich. 71 Dabei versteht es sich von selbst, dass dieser konstruierte Raum nicht losgelöst von seinem Entstehungsumfeld existierte, sondern Teil dessen war. Harley hat dafür den treffenden Ausdruck "Science itself becomes the metaphor"72 gewählt, um zu verdeutlichen, dass auch ein Bild als Text und seine Aussagen dementsprechend als Metaphern gelesen werden können und müssen. In dem hier vorgestellten Sinne ist Rhetorik also ein universeller Bestandteil der Kartografie. Die Selektion, Abstraktion, Klassifikation, gewählte Symbole etc. sind allesamt als rhetorische Mittel des Zeichners in einem geteilten symbolischen System zu betrachten. Damit ist die Karte auch Transporteur von Machtverhältnissen im Sinne Foucaults. Durch Anordnungen, Symbolisierungen, Gewichtungen, Auslassungen oder anderer Veränderungen ist eine Karte immer auch Abbild eines bestimmten Machtverhältnisses.73 Jede Karte reproduzierte eine gewisse diskursive Aussage, die sich in ihr verstetigte und visuell widerspiegelte. Eine Karte strukturierte die Geografie folgend einem Set von Glaubenssätzen darüber, wie die Welt sein sollte und präsentierte das Ergebnis in objektivitätssuggerierender Weise als Wahrheit.74 Die so getroffenen Aussagen wurden zwar im zeitgenössischen Diskurs schlicht als wahr bezeichnet und die den Karten innewohnende ‚Wahrheit‘ als selbstevident angesehen,75 aber aus wissenschaftlicher Sicht gesprochen, bedeutet der angesprochene Mechanismus, dass eine Karte als produzierter Ausdruck des Machtdiskurses immer Rückschlüsse und Aussagen über ihren Entstehungskontext zulässt, der niemals frei von unterschwelligen Aussagen ist. Ein bekanntes Phänomen dieser Art des unterschwelligen Bedeutungstransports stellt zum Beispiel das Faktum dar, dass sich in nahezu allen Karten das vom Zeichner als zentral empfundene Objekt – sei es nun ein Stadtteil, Gebäude, Kontinent o.Ä. – im Zentrum der Abbildung wiederfand. Dieser Effekt ist in der Kartografie auch als "omphalos syndrom" bekannt und findet sich auch in Karten des 18. Jahrhunderts wieder. Es gibt eine große Menge verschiedener Darstellungen Londons im 18. Jahrhundert. Diese unterscheiden sich nicht nur in formalen Kriterien wie Größe, Herstellungsart, Verbreitung oder Kolorierung voneinander, sondern auch in ihren Herangehensweisen an den 71 Vgl.: Dünne, Jörg, Die Karte als Operations-und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums, in: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, hrsg. v. Jörg Döring und Tristan Thielmann, Bielefeld 2008, S. 49 - 69, besonders S. 49 - 57. 72 Harley, Deconstructing, S. 10. 73 Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 300.; Harley, Deconstructing. 74 Zum Zusammenhang von Karte und Macht: Harley, J. Brian, Maps, knowledge, and power, in: Geographic Thought. A praxis perspective hrsg. v. George Henderson & Marvin Waterstone, London & New York 2009, S 129 - 148, besonders: S. 136. 75 Zu dieser Wahrnehmung vgl.: Mayhew, Robert J., Elightenment Geography. The Political Languages of British Geography, 1650 - 1850, New York 2000, S. 30f. 24 thematischen Komplex ‚Stadt‘. Dies schließt nur Abbildungen ein, die einen Anspruch formulieren "London" abzubilden. Ansichten einzelner Gebäude oder Stadtteile fallen hiermit aus dem definitorischen Rahmen. Betrachtet werden sollen in der Folge also nur jene bildlichen Quellen, die man als Herangehensweisen an die Darstellung der Stadt kategorisieren kann. Als grobe Vorstrukturierung kann man diese Darstellungen in zwei Kategorien einteilen. Zum einen gibt es die Abbildungen, die am ehesten der modernen Vorstellung eines Stadtplans entsprechen. Dabei handelt es sich um schematisch abstrahierende Darstellungen aus der Vogelperspektive, die den gesamten großstädtischen Komplex abbilden. Die Vogelperspektive wurde von den Künstlern der italienischen Renaissance zum ersten Mal in der Neuzeit zur Darstellung städtischer Räume benutzt. Die Techniken, die dabei zum Einsatz kamen, waren nach modernen Maßstäben nicht akkurat, aber nichtsdestotrotz stellen sie eine realistische Annäherung an die tatsächlichen räumlichen Gegebenheiten dar, auch wenn sie gezwungenermaßen an einigen Stellen Ungenauigkeiten beinhalten.76 Diese Art von Karten geben sich in der Regel relativ nüchtern und arbeiten wenig mit Illustrationen oder Vignetten. Die einzige regelmäßige Ausnahme stellen solche Karten dar, die mit einzelnen Plandarstellungen wichtiger Gebäude oder Orte arbeiten. Insgesamt wurde diese Art von Karte zumeist nur von einer relativ schmalen, lokalen Elite benutzt.77 Harley geht so weit, die Kartografie als eine "science of princes" zu bezeichnen.78 Zum anderen gibt es Abbildungen aus der Zentralperspektive, die die Stadt aus der Sicht eines virtuellen Betrachters darstellen. Zumeist ist dieser Platz eine erhöhte Position vor der Stadt, von der aus sich die einzelnen Landmarken auch problemlos abbilden lassen ohne in der Perspektive allzu große Zugeständnisse, sprich Anpassungen bzw. Abänderungen, eingehen zu müssen. Diese Art von Karten arbeitet deutlich stärker als die erste Art mit Illustrationen, Kartenvignetten oder räumlichen Emphasen.79 Ferner beschränken sich diese Karten in der Regel auf einen bestimmten Bereich, den sie abbilden, da die Perspektive an sich kaum dazu geeignet ist, die gesamte räumliche Ausdehnung einer Stadt abzubilden, vor allem nicht die einer Großstadt wie London. Ballon und Friedmann beschreiben die Schwäche der Linearperspektive pointiert: 76 Zu den Techniken der Darstellung und den Methoden der Datenerhebung frühneuzeitlicher Kartografen vgl.: Lindgren, Land Surveys; Ballon, H., Friedman, D., Portraying the City in Early Modern Europe: Measurement, Representation, and Planning, in: The History of Cartography III, hrsg. v. David Woodward, Chicago 2007, S. 680-704. 77 Vgl.: Ballon, Portraying the city, S. 696. 78 Harley, Maps, S. 131. 79 Vgl.: Ballon, Portraying, S. 687. 25 "While linear perspective worked magically to create the illusion of a restricted space, such as a piazza, its constraints – its rules of representation – rendered it of little use in making city views. Linear perspective was inadequate to reveal the physical expanse of a city, to convey the spatial relations among a profusion of individual structures, and to permit an infinite number of focal points."80 Nichtsdestotrotz wurde diese Art der Darstellung auch im 18. Jahrhundert noch verwandt. Dabei sprach die Linearkarte ein grundlegend anderes Publikum an und arbeitete dementsprechend auch mit anderen Methoden, um letztlich ein anderes Ziel zu erreichen. Dies soll in der Folge zunächst an jeweils anhand eines Vertreters der jeweiligen Gattung genau betrachtet und analysiert werden. Von diesen Archetypen ausgehend werden weitere Beispiele akzentuierend oder kontrastierend analysiert werden, um ein möglichst vollständiges Bild zu synthetisieren. 3. 2. Plankarten der Stadt Als erstes soll eine Karte aus dem Jahre 1758 betrachtet werden. Sie ist betitelt mit "A Map of London, Westminster and Southwark. With ye New Buildings to ye Year 1758", wurde von Mary Cooper erstellt und in London gedruckt.81 Abb. 1: Mary Cooper, A Map of London, London 1758 . 80 Ebd. S.688. Abb.1: Cooper, Mary, A Map of London, Westminster and Southwark. With ye New Buildings to ye Year 1758, London 1758. http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?assetId=903584&objec tId=3308475&partId=1 Ausführlichere Angaben finden sich bei: Howego, James, Printed Maps of London circa 1553 - 1850, Kent 1964, S. 105. Alle Karten finden sich auch in höherer Auflösung im Abbildungsverzeichnis. 81 26 Im Original ist die Karte 255mm hoch und 466mm breit. Damit hat sie nicht die Ausmaße einer Wand- oder Schmuckkarte, sondern dürfte vielmehr ein Gebrauchsgegenstand gewesen sein. Wie bereits oben erwähnt, handelt es sich um eine Darstellung des Stadtgebiets aus der Vogelperspektive. Der Plan ist nicht koloriert und verfügt weder über Illustrationen noch über Vignetten. Laut der Beschreibung im linken oberen Teil der Karte handelt es sich um eine Karte von London, Westminster und Southwark mit den neuen Gebäuden bis ins Jahr 1758. Man kann erkennen, dass diese drei Entitäten zu jenem Zeitpunkt bereits zu einem städtischen Komplex verschmolzen waren. Lediglich die alte Stadtmauer der City of London, die in dieser Karte noch eingezeichnet ist, deutet auf die räumliche und juristische Separation der City of London vom Rest der Großstadt hin. Dieses Zeichen wurde dafür allerdings umso stärker gesetzt. Die City of London steht eindeutig im Zentrum der Karte und ist nicht nur durch diese Platzierung herausgehoben. Auf den ersten Blick ist auch die London Wall eines der auffälligsten räumlichen Zeichen, auch wenn die Mauer zum Enstehungszeitpunkt der Karte komplett von der rasant wachsenden Großstadt eingeschlossen worden war. Die früheren Freiflächen zwischen den städtischen Zentren waren zu dieser Zeit bereits komplett urban erschlossen und besiedelt. Zwischen der City of London und Southwark liegt die Themse als natürliche Grenze. Es ist aber sofort ersichtlich, dass diese Grenze zu diesem Zeitpunkt bereits auf verschiedene Weisen von den Bewohnern überwunden wurde. Als deutliche Landmarken treten die London Bridge zwischen der City of London und Southwark im Zentrum der Karte und die Westminster Bridge zwischen Westminster und Lambeth im Osten der Karten ins Blickfeld. Westlich zwischen London Bridge und östlich von Westminster Bridge sind ferner in dichter Abfolge Fährübergänge eingezeichnet, die einen weniger stetigen, aber dennoch möglichen Passageweg über die Themse darstellen. Östlich der London Bridge werden diese Fährpunkte weniger und die Abstände größer. Das östliche Ende der Karte ist aber auch aus anderen Gründen interessant, denn man erkennt hier, dass die Abbildung der Region im Osten einfach abbricht. Im Südosten der Darstellungen endet die Darstellung der besiedelten Fläche übergangslos. Gleiches gilt für das Südende von Southwark. Hier muss allerdings einschränkend ergänzt werden, dass am südlichen Ende Southwarks bereits landwirtschaftliche Nutzflächen eingezeichnet sind und die Besiedlung südlich der Themse im Vergleich zum nördlichen Ufer deutlich weniger stark und ausgeprägt ist. Für den südöstlichen Teil nördlich der Themse gelten diese Einschränkungen allerdings nicht. Die Art und Weise der Darstellung deutet darauf hin, dass hier tatsächlich schlicht die Darstellung beendet wurde, denn an den anderen Endpunkten der Karte ist eindeutig eine andere Vorgehensweise gewählt worden. Am südlichen und 27 westlichen Ende von Westminster ist zu erkennen, dass sich dort unbesiedeltes Gebiet befindet. Nördlich und nordöstlich der City of London ist dieselbe Darstellungsform zu beobachten. Zwar führen Straßen virtuell über den Kartenrand hinaus, aber es ist eindeutig festzustellen, dass die Besiedlung hier endete. Im Südosten deutet die Darstellung von relativ dichter und geschlossener Besiedlung, sowie eine Häufung von Fährpunkten in der Nähe von Greenwich darauf hin, dass hier zwar die Darstellung, nicht aber die Besiedlung endete. Die Besiedlung in diesem nicht mehr abgebildeten Bereich wurde anscheinend von der Kartografin entweder als nicht mehr zwingend abbildungsbedürftig, oder als nicht mehr zur Großstadt gehörig definiert. Der Darstellungsstil ist insgesamt sehr schematisch und nüchtern gehalten und vermittelt den Eindruck von Objektivität. Dieser Stil wird nur an wenigen Stellen zu Gunsten von Darstellungen wichtiger Gebäude im Planstil unterbrochen. Diese Darstellungen heben die entsprechenden Gebäude wie Piktogramme aus ihrer Umgebung hervor und weisen auf ihre Bedeutung hin. Neben den bereits erwähnten Brücken über die Themse haben der Tower of London und St Paul‘s Cathedral beispielsweise eine solche Sonderbehandlung erhalten und stechen dem Betrachter der Karte sofort ins Auge. Wenn man etwas genauer hinschaut, so fallen einem aber auch eine ganze Reihe weiterer Gebäude auf. Im gesamten Metropolgebiet sind Kirchen hervorgehoben, wenn auch von diesen nur Westminster Abbey eine ähnlich herausragende Stellung wie St Paul‘s auf der Karte einnahm. Ohne jedes einzelne hervorgehobene Gebäude einzeln besprechen zu wollen, fällt an ihrer räumlichen Verteilung allerdings etwas auf: Mit Abstand am häufigsten finden sich Hervorhebungen im Bereich der City of London. Danach kann man einem imaginären Band über die Fleet Street, The Strand, New Exchange und Kingsstreet bis Westminster Abbey folgen. Um dieses Band herum konzentrieren sich die restlichen Abbildungen. Außerhalb von Westminster, der City und ihrer Hauptverbindungsstraße, wirkt die Stadt relativ arm an piktografischen Hervorhebungen. Diese Art der Darstellung lässt einige Rückschlüsse auf die Vorstellung des städtischen Raums durch die Kartenmacherin zu. Dabei muss man bedenken, dass die Kartografin in einer Karte nicht nur ihre eigene Vorstellung des Raums niederlegte, sondern die Erwartungen eines bestimmten Publikums im Blick hatte. Es ist also davon auszugehen, dass sie sich in der Darstellung an einen gewissen überindividuellen Standard gehalten haben wird und man aus diesem Grund die Beobachtungen, welche anhand dieser Karte getroffen werden, auch Autorität jenseits der Person der Kartografin zuweisen können wird. Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf zeigt die Karte einige Besonderheiten der Großstadt. Die ursprüngliche City of London nahm in der Wahrnehmung eine deutliche 28 Sonderstellung ein.82 Die eingezeichneten Stadtmauern und die Fülle an besonderen Gebäuden sorgten dafür, dass die City auf den ersten Blick als spezielle Entität wahrgenommen werden kann. Die Stadtmauern hatten zu diesem Zeitpunkt ihre ursprüngliche Funktion als Begrenzung des städtischen Rechtsgebiets und der Verteidigung gegen Feinde von außen längst verloren. Eine militärische Notwendigkeit für die Stadtmauer, wie sie von der römischen Zeit bis ins Mittelalter angenommen werden kann, war hier nicht mehr zu erkennen. Vielmehr hatte die Mauer eine Transformation ihrer Bedeutung erlebt, weg von einem Bollwerk und hin zu einem räumlichen Distinktionsmerkmal.83 Die tatsächlichen juristischen Grenzen der City gehen an einigen Stellen über die Mauer hinaus,84 aber das Kerngebiet des mittelalterlichen Londons wurde nach wie vor davon umschlossen. Man kann also davon ausgehen, dass die Stadtmauer hier zumindest in der Wahrnehmung und Identitätskonstruktion nach wie vor eine ähnliche Funktion eingenommen hat, wie sie es auch in den Städten Kontinentaleuropas getan hat. Die städtische Mauer stellte hier den abstraktsymbolischen und konkret-räumlichen Übergang zwischen der städtischen Gemeinschaft und dem umgebenden Land dar. Im Falle von London kann angenommen werden, dass diese Distinktion weniger scharf gewesen sein dürfte, aber vollkommen bedeutungslos war sie ebenfalls noch nicht, denn in diesem Fall gäbe es kaum Grund die Mauer nach wie vor in Karten abzubilden und so neben der physischen auch auf der ideellen Ebene zu bewahren. Die eingezeichnete Stadtmauer Londons ist ein Hinweis darauf, dass in der Vorstellung der Zeitgenossen die City of London nach wie vor einen Sonderstatus einnimmt, der sich auch in Landmarken räumlich ausdrückt. Im Unterschied dazu war Westminster nicht von den es umgebenden Stadtteilen auf den ersten Blick so deutlich zu unterscheiden wie die Ciyt of London. Was allerdings nicht bedeutet, dass es keine eindeutigen Landmarken gab, die Westminster für den Zeitgenossen eindeutig gekennzeichnet haben. Schon die ikonische Form des St James‘s Park bei Westminster dürfte eine ähnlich markante Landmarke dargestellt haben wie die London Wall oder der Tower als östliche Begrenzung der City. Ein weiterer Hinweis auf die These von der Wahrnehmung der Großstadt als Zusammensetzung aus verschiedenen Teilen ist die Tatsache, dass in der Betitelung der Karte noch zwischen Westminster, London und Southwark differenziert wurde. Die Großstadt wurde zwar hier räumlich als eine große Konglomeration dargestellt, im Titel wurde aber noch immer auf die formale Dissonanz verwiesen. Die juristischen Unterschiede zwischen 82 Vgl. dazu auch die Ausführungen zum omphalos syndrom auf S. 17. Ferner fällt der endgültige Abriss der verbliebenen Stadttore ungefähr in die Entstehungszeit der Karte. David Lloyd gibt an, dass die alten Tore zwischen 1750 und 1760 endgültig abgerissen wurden. Vgl. dazu: Lloyd, David W., The Making of English Towns. 2000 Years of Evolution, London 1992, S. 124f. 84 Vgl. Ebd. S. 123ff. 83 29 den einzelnen Städten innerhalb der Großstadt waren den Zeitgenossen also zumindest so wichtig, dass sie es noch in der Beschriftung der Karte abgebildet haben. Die Spannung zwischen der Aussage des Bildes und des beschreibenden Textes dürfte auch den Zeitgenossen deutlich gewesen sein, aber offensichtlich war es wichtig zu verdeutlichen, dass man es trotz des räumlichen Anscheins nicht mit einer großen, sondern einem Zusammenschluss von verschiedenen Städten zu tun hatte. Dies deutet einerseits darauf hin, dass es der City gelungen war, ihre historische Sonderstellung nicht nur rechtlich, sondern auch symbolisch stark im Diskurs zu verankern und somit ihren Sonderstatus auf mehreren Ebenen gefestigt hatte. Betrachtet man zum Vergleich eine Karte, die circa dreißig Jahre zuvor gedruckt wurde, so sieht man auf den ersten Blick große Übereinstimmungen, die allerdings den Blick für die ebenso bedeutenden kleinen Unterschiede nicht verstellen sollten. Die Karte war ursprünglich als Illustration in dem Atlas "A new general atlas containing a geographical and historical account of the world" im Jahre 1720 erschienen und wurde von ihrem Zeichner Parker mit "Map of London; stretching to the New River Head, Whitechapel, Lambeth, and Buckingham House" betitelt. In ihrem ursprünglichen Format wurde sie im Verhältnis 506 zu 588 Millimeter gedruckt. Außerdem erfuhr sie mindestens eine Neuauflage.85 Abb.2: Parker, S., Map of London; stretching to the New River Head, Whitechapel, Lambeth, and Buckingham House 85 Abb. 2.Parker, S., Map of London; stretching to the New River Head, Whitechapel, Lambeth, and Buckingham House, in: A new general atlas containing a geographical and historical account of the world, hrsg. v. Daniel Browne, Lonson 1721. Genauere Angaben auch bei: Howgego, Printed Maps, S. 81. Sämtliche abgebildeten Karten finden sich zum genaueren Vergleich in höherer Auflösung im Anhang. 30 Auf den ersten Blick fällt auf, dass zu dieser Zeit das Wachstum der Stadt noch nicht so weit fortgeschritten war, vor allem der Teil der Großstadt südlich der Themse ist deutlich bescheidener besiedelt als im Vergleichsbild. Die Westminster Bridge ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht gebaut und der Fährverkehr etwas weniger dicht. Allerdings ist auch auf dieser Karte die Stadtmauer der City ein sofortiger Blickfang.. Einige weitere Dinge sind an der Karte interessant. Zum einen wurde sie von ihrem Zeichner mit zwei verschiedenen Titeln ausgestattet. Neben dem bereits genannten, der sich in der links oben abgebildeten Vignette findet, gibt es einen Überschrifttitel, der lautet "A Plan of the Citys of London, Westminster and Borough of Southwark; With the new Additional Building Anno 1720". Hier herrschte offensichtlich eine gewisse Unklarheit bezüglich der abgebildeten Großstadt. Auch hier wurde formal auf die Uneinigkeit der Partikularstädte verwiesen, allerdings eine davon an exponierter Stelle auf mehrere Arten hervorgehoben. Die im oberen linken Rand der Karte angebrachte Vignette sticht allein durch ihre kunstvollen Zeichnungen heraus und zieht den Blick des Betrachters eher an, als die nüchterne Überschrift. In dieser Vignette befindet sich allerdings nur der Name London. Die anderen Bestandteile der Großstadt werden nicht explizit genannt. Ferner finden sich dort prominent die Symbole der City of London wieder. Die beiden Drachen als Wappentiere der City bilden den Rahmen, das Wappen der Stadt – das rote Kreuz auf weißen Grund mit rotem Schwert im linken oberen Viertel – nimmt das obere Ende ein. Im unteren Zentrum sieht man ein gekröntes Haupt über gekreuztem Richtschwert und Zepter. Den Vordergrund bilden Symbole des besonderen Rechtsstatus und der Prosperität der City of London. Diese besondere Betonung der City of London in der Vignette könnte auch erklären, wieso die City ansonsten – im Vergleich zu der vorher betrachteten Karte – deutlich an den Rand gerückt ist. Sie nimmt nicht mehr das unmittelbare Zentrum ein, sondern liegt hier eindeutig in der rechten Bildhälfte. Dies ist allerdings nur auf den ersten Blick eine Reduktion der Rolle der City im städtischen Verbund. Im Zusammenspiel zwischen der Vignette mit den Symbolen der City und der starken optischen Hervorhebung der Stadtmauern, entsteht ein symbolischer Doppelpol, der die Spannung der Karte ausmacht und dominiert. Zum anderen nimmt eine Legende mit Ortserklärungen das untere Viertel des Bildes ein. Bei diesen Erklärungen bzw. Erläuterungen werden die eingezeichneten Kirchen der Städte genannt, von denen die City of London mit 62 Westminster (7) und Southwark (8) bei weitem überragt. Bei den öffentlichen Gebäuden ist allerdings Westminster mit 8 vor der City (6) und Southwark (0) führend. Dafür wird sehr viel Platz darauf verwandt, die einzelnen Parishes und Bouroughs, sowie deren jeweiligen rechtlichen Stand aufzulisten, in diesem Fall 31 also ob sie sich innerhalb, teilweise innerhalb oder außerhalb der Mauern befinden. Die Erläuterung zur City nehmen mindestens 2/3 des unteren Bildrandes ein und zeigen so auf eine ganz eigene Art die Bedeutung der City innerhalb des großstädtischen Kontexts sowie die juristische Komplexität der Citykooperation. Auch diese Karte deutet also auf die besondere Bedeutung der City für die Wahrnehmung der Großstadt hin. Ferner wird deutlich, dass auch die Verbindungsstraße zwischen der City of London und Westminster für die Bewohner wichtig war, da die Anzahl der eingezeichneten Piktogramme hier stark erhöht ist. Man sollte die Bedeutung dieser Einzeichnungen in den passenden Kontext setzen. Zunächst einmal bedeutet die Einzeichnung, dass diese Gebäude vom Hersteller der Karte für wichtig gehalten worden sind. Es bedeutet nicht, dass sie für jeden Londoner die gleiche oder auch nur eine ähnliche Bedeutung hatten. Wie bereits erwähnt, können die individuellen Konstruktionen von Raum von den intendierten Meinungen einer Karte oder der ggf. in ihr artikulierten Mehrheitsmeinung abweichen. Nichtsdestotrotz scheint es angemessen, zu konstatieren, dass diese genannten Bereiche bzw. Gebäude für die nach außen kommunizierte bzw. wahrgenommene Identität der Stadt eine besondere Bedeutung spielen. Dies musste sich allerdings nicht zwangsläufig in jeder Karte niederschlagen. In der Karte "A new and correct plan of London, Westminster and Southwark, with several additional improvements, not in any former survey" die von James Dodsley 1761 als Vorsatz des sechsten Bandes seines Werkes "London and its Environs Described" erschienen ist, kann man im Vergleich einige bedeutende Unterschiede feststellen. Abb. 3 Dodsley, James, A new and correct plan of London, Westminster and Southwark, with several additional improvements, not in any former survey, in: London and its Environs Described Volume VI, hrsg. v. ebd., London 1761. 86 86 http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?assetId=1161935&ob jectId=3416992&partId=1 Zu genaueren quellenkritischen Angaben vgl.: Howgego, Printed Maps, S. 109. 32 Zuerst zum offensichtlichen, aber trotzdem bedeutenden Unterschied zu den beiden zuvor besprochenen Karten. Diese hier ist koloriert und damit in der Lage auf eine gänzlich andere Art und Weise Hervorhebungen bzw. Emphasen umzusetzen als ihre Vorgänger. Die räumliche Ausdehnung der Metropolregion ist noch annähernd gleich geblieben, auch wenn man das Wachstum im Nordwesten und Nordosten der Stadt hier deutlich feststellen kann. Der Zeichner hatte in diesem Plan die Akzente der Stadt allerdings deutlich anders gewichtet. In dieser Karte wurden die Hauptverkehrsstraßen gelb hervorgehoben, wichtige Landmarken in rosa bzw. rot und öffentliche Plätze / Gebäude ebenfalls gelb hervorgehoben. Auffallend dabei ist vor allem, dass die Stadtmauer in diesem Plan nicht mehr eingezeichnet ist. Auch die in den anderen Karten piktografisch hervorgehobenen Stadttore sind nicht mehr eingezeichnet. Optisch erscheint die Region in diesem Fall also deutlich geschlossener und einheitlicher als in allen zuvor betrachteten Karten. Trotzdem wird in der Bezeichnung des Plans noch immer auf London, Westminster und Southwark verwiesen, auch wenn die Unterscheidbarkeit der drei Teilstädte innerhalb der Großstadt in dieser Karte in keiner Weise mehr auszumachen ist. Alle Distinktionsmerkmale, wie beispielsweise Parishverzeichnisse, Vignetten, Piktogramme o.ä., die auf einen solchen Unterschied hindeuten könnten, finden in dieser Darstellung keinen Platz. Stattdessen zeigt diese Karte die Straßennetze der Großstadt, wobei die Hauptstraßen wie erwähnt hervorgehoben wurden. Diese Hauptstraßen bildeten die Hauptverkehrswege und damit die am stärksten frequentierten Straßen der Großstadt. Eine Karte die diese Wege besonders betonte, konnte demnach auch als eine Abbildung der Verkehrs- und damit Menschenströme durch den urbanen Raum gedeutet werden. Es wird deutlich, dass die administrativen Grenzen der Teilgebiete, sei es nun die City of London oder Westminster, keine Grenze für den Weg durch die Großstadt darstellten. Es sind keine Grenzen oder unerwarteten Brüche eingezeichnet. Vielmehr wurde anscheinend bewusst auf Grenzmarkierungen im Raum, wie die London Wall oder die Stadttore, verzichtet. An die Stelle der Distinktion zwischen der City und dem Rest der Großstadt trat in dieser Karte der Hinweis auf die tatsächliche großstädtische Verbundenheit. Die großen Straßen Londons, hier besonders farblich hervorgehoben, lenkten den Blick des Betrachters auch auf das Gemeinsame. Sie zeigten auf, dass die einzelnen Bestandteile der Großstadt in Wirklichkeit längst miteinander verwoben waren.87 87 Bilder wie diese könnten unter anderem der Grund dafür sein, dass viele populärwissenschaftliche Beschreibungen von London sich biologistischer Vergleiche von London als Organismus und seinen Straßen als Venen und Arterien bedienen. Vgl exemplarisch: Ackroyd, Peter, London: A Biography, New York 2003. Zur Kritik an diesem Vorgehen: Gray - Tales of the City: Writing London's Histories, in: Journal of Urban History 35 (2009), S. 913 - 917. 33 Trotzdem kann man erkennen, dass die City of London eine herausragende Rolle in der Großstadt einnahm. Sie war der einzige Ort in der Stadt, in dem sich diese Verkehrsadern an multiplen Stellen geschnitten haben und somit auch in dieser Hinsicht ein Unikum in der Region.88 Ferner ist auch auf dieser Karte die absolute Anzahl an piktografisch hervorgehobenen Gebäuden in der City deutlich höher als im Rest der Stadt. In dieser Hinsicht bestätigt diese Karte also den Eindruck, den man aus den Vorgängern gewinnen konnte. Die City of London spielte in der Großstadt eine herausragende Rolle als historischer Kern, am dichtesten besiedelter Teil und Verkehrs- bzw. Kommunikationszentrum. Ihr nachgeordnet waren die City of Westminster und Southwark, welche im Vergleich zu den historisch jüngeren Teilen der Stadt aber noch immer herausragen. So bleibt auch hier der Eindruck, dass die Wahrnehmung der Stadt ganz von der Perspektive abhängt. Die ursprünglichen drei Pole der Großstadt wurden augenscheinlich noch als voneinander unterscheidbar wahrgenommen, wenn auch der theoretische Fluss von Menschen zwischen diesen Partikularentitäten davon wenig beeinträchtigt gewesen sein dürfte. Zumindest wachsen im Laufe der betrachteten Zeit die ursprünglich räumlich deutlich voneinander getrennten Bereiche immer weiter zu einer großen Region zusammen. Für die Orientierung in diesem neuen städtischen Raum scheinen Landmarken von höherer Bedeutung zu sein als Straßennamen, denn die herausragenden bzw. wichtigen Gebäude sind vermittels einer speziellen Technik in den Karten hervorgehoben, die meisten Straßen hingegen sind nicht einmal beschriftet. Außerdem scheinen die administrativen Gliederungen auch nicht völlig bedeutungslos gewesen zu sein, wenn man sich in der Stadt bewegte. Zumindest ihre Aufzählung auf einer der betrachteten Karten deutet in diese Richtung. 3.3. Linearkarten der Stadt Betrachtet man Karten die mit Linearperspektive arbeiten, so bietet sich ein anderer Eindruck von der Großstadt. Diese Darstellungsform findet sich vor allem zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Beispiele aus der Zeit nach 1740 sind nur noch vereinzelt anzutreffen. Der Plan aus der Vogelperspektive hatte sich zu dieser Zeit als vorherrschende Darstellungsform der Großstadt etabliert. Betrachtet man die Beispiele aus dem 18. Jahrhundert, so fällt auf, dass sich hier nicht nur die Darstellungsform, sondern auch die Aussage über die Stadt eine andere ist. In dem ungefähr 1700 im Format 402 zu 516 mm in Amsterdam veröffentlichten Plan von Frederick de Wit "A view of London showing the buildings on either side of the river Thames 88 Diese Aussage muss insofern eingeschränkt werden, als das sich auch in Southwark, genauer gesagt bei St George‘s Fields, mehrere Hauptstraßen an verschiedenen Stellen treffen, allerdings war diese Gegend zum fraglichen Zeitpunkt nicht besiedelt. 34 including Wren's St. Paul's ; on hill in foreground group of men with dogs"89 bot sich ein anderes Bild von London. Abb. 4 Wit, Fredeirk de, A view of London showing the buildings on either side of the river Thames including Wren's St. Paul's ; on hill in foreground group of men with dogs. Diese Abbildung ist nur mit London überschrieben. Im rechten oberen Bildabschnitt findet sich dementsprechend das Wappen der City of London. Im linken oberen Bildrand findet sich das Wappen des Vereinigten Königreichs. Darunter befindet sich der Betrachter des Bildes in der Position eines fiktiven Beobachters, der von einem Hügel im Süden auf Southwark und in der Verlängerung über die London Bridge auf die City of London blickt. Westminster findet sich in diesem Bild überhaupt nicht wieder. Die Art der Zeichnung deutet dem Betrachter zwar an, dass sich die Großstadt auch über die Bildränder hinaus erstreckt, aber explizit gemacht wurde es hier nicht. Mit London ist in dieser Darstellung primär die City of London und Southwark gemeint, nicht die gesamte Region. In der Stadt selbst sind erneut die wichtigsten Landmarken mit Zahlen und dazugehörigen Erklärungen versehen worden. Eine Darstellung von Straßennetzen wäre in dieser Art der Darstellung auch gar nicht möglich gewesen. Vielmehr wurden dem Betrachter andere Eindrücke über die Stadt vermittelt als es 89 Wit, Fredeirk de, A view of London showing the buildings on either side of the river Thames including Wren's St. Paul's ; on hill in foreground group of men with dogs, Amsterdam 1700. 35 Vogelperspektivkarten getan haben. Da wäre an erster Stelle die Arbeit mit Illustrationen in der Darstellung selbst. Planperspektivkarten konnten mit deutlich weniger abstrahierten Darstellungen arbeiten. Der Betrachter konnte sich so eine genauere Vorstellung der Architektur der Stadt machen als es einzelne Einschübe in den Vergleichskarten ermöglicht hätten. Die Darstellung der Schiffe auf der Themse verriet dem Betrachter auch etwas über die Konventionen des Schiffsverkehrs in der Stadt. Links der London Bridge wurden hauptsächlich kleine Handels- und Fährenschiffe - inklusive der Fähranlegestellen dargestellt, während rechts von der Brücke große, mehrmastige Hochsee- und Kriegsschiffe abgebildet wurden. Zum einen verdeutlicht dies die Vielfalt und die Bedeutsamkeit des Schiffsverkehrs auf der Themse, zum anderen zeigt es den Sitz des Hochseehafens bzw. der Admiralität in Greenwich rechts der London Bridge und damit an der Meeresseite Londons. Am äußersten Rand der Karte bewegt sich auch eine kleine Flotte ostwärts. Ferner bekam man durch die Darstellung von Mensch und Tier in der ländlichen Umgebung im Vordergrund der Karte einen Eindruck von der Kleidung bzw. Mode und Freizeitgestaltung bestimmter Menschen im urbanen Bereich. Der Zeichner konnte so dem unbekannten Publikum einen Einblick in die Lebensweise in anderen Städten bzw. Ländern geben und gleichzeitig dem versierten Publikum seine Kenntnis des Gebietes bestätigen und somit auch Autorität für den Rest des Dargestellten beanspruchen. 90 Dargestellt wurden Menschen verschiedener gesellschaftlicher Schichten und Besitzverhältnisse, allerdings in dieser Karte keine Frauen. Neben der Auflistung der wichtigsten Gebäude in der City of London ist diese Karte auch mit einem kurzen einleitenden Text zu London in Latein, Niederländisch und Englisch versehen, der einen Einblick in die Wahrnehmung der Stadt durch den Zeichner bzw. die allgemeine Wahrnehmung der Stadt in der Zeit um 1700 erlaubt. Wörtlich lautet der Text: "London. Formerly called Londonia a City of great Trafick the chiefest in great brittain the throne of the Kingdom is situated on the River thames and Founded of Brutus Constantinius the great compossed it with walls beautified ith with 120 churches St. Paul the Cathedrall and a Stately Exchange Tower and other stately buildings being by the last great fire almost consumed together with the most part of the City but now through the great wealth of the Citizens buildt again91" Der kurze Text versucht sich an einem generellen Abriss der Stadtgeschichte von der römischen Zeit bis zum Großen Brand von 1666 und dem Wiederaufbau der City nach der Katastrophe. Bereits in der Zeit um 1700 kann man einige Attribute feststellen, die offensichtlich prägend für das Bild von London waren. Da wären zum Beispiel St Paul‘s und 90 91 Vgl.: Ballon, Portraying, S. 690. Wit, A View of London 36 der Tower als offensichtlich prägende Gebäude der Stadt, die für die Bewegung in der Stadt, ihren Wiedererkennungswert und ihr Gesicht von unverzichtbarer Bedeutung waren. Sie fanden sich in nahezu jeder Karte und Reisebeschreibung wieder und waren sowohl Wahrzeichen, wie auch, allein durch ihre Größe schon, Orientierungspunkt im Raum. Interessanter als diese Bestätigung allerdings sind die Adjektive, die London in dieser Beschreibung zugeschrieben wurden. In dieser Beschreibung war London die "chiefest (town)" in Großbritannien, "the throne of the kingdom" und ein Ort "of great Trafick". Damit wurde der City of London nicht nur im Rahmen der Großstadt, sondern überall auf den britischen Inseln ein expliziter Sonderstatus zugesprochen. Die tatsächliche Königsstadt – Westminster – wird in diesem Text nicht einmal erwähnt. Es bestätigt sich also die Annahme, dass die City of London einen nicht unerheblichen Sonderstatus einnimmt, aber ihre Rolle in der Großstadt bleibt auch hier unklar. Die Auflistung wichtiger Gebäude deutet erneut darauf hin, dass eine Orientierung innerhalb der Stadt vor allem anhand prominenter Landmarken stattfand und diese nicht nur für die Bewohner der Stadt, sondern auch für Menschen außerhalb der Stadt zu wichtigen Wahrzeichen geworden waren, die als symbolische Stellvertreter der Stadt zählen konnten und die Wahrnehmung des Raumes durch ihre imposante Gestalt nachhaltig beeinflusst haben. Ähnliche Erkenntnisse lassen sich auch aus anderen Karten dieser Zeit und in diesem Stil ziehen. Die ebenfalls 1700 in Nürnberg erschienene Karte "A view of London, in the middle ground the river Thames and Southwark, in the foreground group on a hill" des deutschen Zeichners Johann Peter Wolff war zwar im Verhältnis deutlich kleiner ( 270 zu 325 mm) als ihr zuvor besprochenes Pendant, allerdings beruht sie auch auf einer in Holland populären Vorlage.92 Der Stil der Karte ist unverkennbar der von de Wit ähnlich und auch die Aussagen der Karte über die Stadt wirken ähnlich zu sein. 92 Vgl. Angaben des British Museum auf: http://www.britishmuseum.org/research/collection_online/collection_object_details.aspx?assetId=903542&objec tId=3308165&partId=1 37 Abb. 5: Wolff, Johann Peter, A view of London, in the middle ground the river Thames and Southwark, in the foreground group on a hill, Nürnberg 1700.93 Auch in diesem Bild steht der virtuelle Betrachter auf einem Hügel südlich von Southwark und blickt von dort aus über Southwark auf die City of London. Die dargestellten Figuren sind etwas anders. So ist im unmittelbaren Vordergrund dieses Mal nicht eine Gruppe von Männern mit Hunden, die sich unterhalten und dabei die Stadt betrachten, sondern eine eindeutig adlige Gesellschaft mit Personal zu sehen, die der Zeichner als Ausweis seiner Kenntnis von Land, Leuten und Moden gewählt hat. Außerdem zeigte der Zeichner dem Betrachter durch die Darstellung von Karren und Kutschen auf den Straßen und Flößen auf der Themse etwas mehr von den Möglichkeiten der Fortbewegung im städtischen Kontext. Ansonsten allerdings bleibt der Stil der Karte im Großen und Ganzen unverändert. Die Aufteilung zwischen Fluss- und Hochseeschifffahrt links und rechts der London Bridge ist gleich geblieben und auch die Bezeichnung der wichtigen Gebäude der Stadt hat sich nicht 93 Vgl. Ebd. 38 verändert. Der Betrachter ist also immer noch in der Lage, sich durch das reine Betrachten des Bildes einen Überblick über die verschiedenen Landmarken der City of London und Southwark zu verschaffen und bekommt einen Eindruck von der Architektur, der Kleidung etc. der abgebildeten Stadt. Die Anordnung der bezeichneten Gebäude deutet auf einen Vorrang der City in der Abbildung hin. Die Zählung beginnt mit Gebäuden auf der Nordseite der Themse bzw. Fährpunkten. Gebäude in Southwark, wie beispielsweise das Globe Theatre, werden erst am Ende der Auflistung erwähnt und sind auch zahlenmäßig deutlich in der Unterzahl. Bedenkt man die Überschrift der Karte, so verwundert dies nicht. Der Ausschnitt, der für die Karte gewählt wurde, macht deutlich, dass die City of London inzwischen nicht mehr eine in sich geschlossene Siedlung, sondern Teil einer Großstadt geworden war. Von der städtischen Mauer, oder anderen räumlichen Seperationszeichen, war hier nichts mehr zu sehen. Zwar wurden am östlichen und westlichen Rand der Karte die Gebäude perspektivisch immer kleiner, aber es ist deutlich, dass die Bebauung über den dargestellten Abschnitt hinausging. Was lässt sich also abschließend über Karten von London als (Ab-)Bilder der Stadt sagen? Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass die betrachteten Karten allesamt Aussagen über die Art von Weise von Raumkonstruktion in der frühneuzeitlichen Stadt machen, die sich in wesentlichen Punkten überschneiden. Für London bedeutet dies, dass die ehemaligen Partikularstädte nach wie vor als solche wahrgenommen wurden. Die rechtliche Eigenständigkeit der jeweiligen Entitäten wurde auf unterschiedliche Arten und Weisen betont. Sei es durch die optische Betonung der London Wall oder subtiler durch die Häufigkeit von Ortsbezeichnungen oder Verwendung von Symbolen in Vignetten. Trotz dieser Emphase auf den konstruierten Charakter der Region bleibt der Eindruck, dass die ehemalig eigenständigen Städte im Laufe der Zeit zu einer Großstadt zusammengewachsen sind, die sich aus der Vogelperspektive als Einheit darstellt. Dieser Widerspruch zwischen der Wahrnehmung der Teile und ihrer Summe macht die Spannung der Karten aus. Ihre schiere Größe scheint die Stadt für gängige Ordnungskriterien inkompatibel zu machen. Die Symbole der klassischen Stadt – Stadtmauer, Wappen, Sinnspruch etc. – sind zwar für die einzelnen Teilstädte vorhanden, aber es hat sich noch keine gemeinsame bzw. geteilte Symbolik durchgesetzt. Die Versuche der Kartenmacher, mit ihren Mitteln die Region zu beschreiben, wirken auf der Ebene der Kommunikation über klassische Symbole der Macht und Autorität uneinig und spiegeln sicherlich auch den unaufgelösten Widerspruch in der Wahrnehmung der Stadt als einig und doch disparat wider. In der betrachteten Zeit scheint sich der Name London allerdings zumindest für die Großstadt insgesamt langsam durchzusetzen. 39 Abgesehen von diesen Widersprüchen lassen sich allerdings noch andere Aussagen über die Stadt aus den Karten herauslesen. Die Orientierung im Raum erfolgte anscheinend am ehesten über das Wiedererkennen von Landmarken und das virtuelle Erstellen von Abständen und Wegen durch die Stadt in einer Matrix von herausragenden Orten bzw. Gebäuden. Einige dieser Gebäude scheinen auch für die Konstruktion einer spezifisch städtischen Identität nicht unbedeutend gewesen zu sein. Die optische und schriftliche Hervorhebung von St Paul‘s, dem Tower, Westminster Abbey, dem Globe Theatre etc. deuten daraufhin, dass städtische Identität sich äußerlich an bestimmte klar wiederzuerkennende Signifikanten knüpfte. Der Verlauf der London Wall und der Themse, das markant-wuchtige Aussehen von St Paul‘s oder die typische Form von St James‘s Park konstruieren im 18. Jahrhundert ein spezifisches Bild von der Stadt, vielleicht vergleichbar mit der Skyline moderner Großstädte. Karten bilden in diesem Kontext natürlich nur eine gewisse dominante Strömung innerhalb des Ringens um Bedeutungszuschreibung ab, allerdings bekommt man über Karten einen Zugang zu eben diesen dominanten Diskursen. Die Großstadt London wurde als bedeutende und besondere Stadt im Königreich England gesehen und war für dieses Königreich von herausragender Bedeutung. Innerhalb dieses Komplexes hatte die City of London einen besonderen Status inne. Sie war der historische Nukleus der gesamten Region, ihr wichtigster Handels- und Verkehrsknotenpunkt, der Sitz vieler identitätsstiftender Landmarken und nicht zuletzt der Namensgeber der Region. London war auch eine Großstadt in der die oberen und die untersten Gesellschaftsschichten dicht beieinander gelebt haben, auch wenn sich durch das enorme Wachstum im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Tendenz zur räumlichen Segregation herausgebildet hat. Man kann dies aus den in der City, an der Fleet Street und The Strand entstehenden neuen Häusern der Oberschicht – welche sich auch in den Karten verzeichnet fanden – ablesen. Im Kontrast zu dieser Entwicklung wirken die riesigen neuen Wohnflächen im Norden, Nordosten und Nordwesten der Stadt seltsam inhaltsleer, wenn man lediglich die Karten betrachtet. Die Anzahl herausgehobener Gebäude, piktografisch gekennzeichneter Orte oder anderer Zeichen von besonderer Bedeutung, waren hier so gut wie nicht verzeichnet. Dies zeigt zum einen, dass diese neuen Stadtteile für das (Selbst-)bild der Großstadt nicht so bedeutend waren – was anhand ihrer relativen Neuheit nicht verwundert –, zum anderen aber auch, dass diese Stadtteile im Diskurs eindeutig weniger stark waren als ihre älteren Pendants. Diese Aussage lässt sich ebenfalls dadurch stützen, dass die Dichte an wichtigen Verkehrswegen in diesen neuen Stadtteilen deutlich weniger ausgeprägt war als sie es in den 40 drei Polen der Großstadt – London, Westminster und Southwark – gewesen ist. Um allerdings an weitere Aussagen zur Wahrnehmung der Großstadt durch ihre Bewohner selbst zu gelangen, muss man sich anderen Quellen annähern. Karten geben, wie ausgeführt wurde, immer einen bestimmten Hauptstrang des Diskurses wieder und ihre Textualität liegt eher unter als auf der Oberfläche. Um ein besseres Bild von der direkten Wahrnehmung der Stadt bzw. ihrer Darstellung in anderen Medien zu kommen, verlagert sich der Fokus des folgenden Kapitels auf schriftliche Zeugnisse von der Großstadt London. 41 4.Wahrnehmung der Stadt von außen: London in Reiseberichten 4.1. Der Reisebericht als historische Quelle In diesem Kapitel wird die Perspektive von den bildlichen auf die schriftlichen Quellen verlagert. Vorrangig sollen dabei Reiseberichte bzw. Reisebeschreibungen im Vordergrund stehen. Reiseberichte haben als literarische Gattung einige Besonderheiten, die sie für die Fragestellung dieser Arbeit besonders interessant machen. Dies sind ironischerweise genau jene Eigenschaften, die dazu geführt haben, dass Reiseberichte lange Zeit als Quelle nicht ernst genommen worden sind. In der Literaturwissenschaft wurden sie lange Zeit als eine Gattung wahrgenommen, die eine "eigentümliche Zwischenstellung an der Grenze von Fiktion und Faktographie"94 einnahm. Michael Habsmeier hat die gängige Kritik an dem Quellenwert der Reiseberichte wie folgt zusammengefasst: "Alle Reisebeschreibungen von Herodot bis heute werden misstrauisch betrachtet, da sie ganz offensichtlich subjektive Übertreibungen und vielfach sogar Lügen enthalten. Sie entziehen sich daher auch den strengen Kriterien historischer und ethnographischer Quellenforschung."95 Man muss zugestehen, dass die Kritik von Habsmeier Anfang der 1980er Jahre formuliert worden ist und in der Forschung der Wert von Reisebeschreibungen als Quellen inzwischen durchaus anerkannt ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Kritik der älteren Forschung an Reiseberichten grundsätzlich falsch oder gegenstandslos ist. Manche Vorbehalte gegen Reiseberichte als Quellen treffen in dem ein oder anderen Ausmaß zu. Reiseberichte können wie jede andere Quelle auch hochgradig subjektiv, wenig objektiv und reflektiert sein. Sie können Übertreibungen, falsche Wahrnehmungen oder bewusst falsche Darstellungen von Orten, Räumen, Verhältnissen oder ähnlichem abbilden. Allerdings ist es gerade diese unreflektierte Subjektivität, die die Reiseberichte zu einer hervorragenden Quelle machen, wenn man versucht die zeitgenössische Wahrnehmung zu rekonstruieren. Hans Jürgen Teuteberg bringt den Vorteil der Quellengattung für bestimmte Fragestellungen pointiert zum Ausdruck, wenn er schreibt: "Sie [Anm. des Autors: die Quellengattung] ist aus der unmittelbaren Anschauung entstanden und nicht durch distanzierte Reflexion verzerrt."96 94 Possin, Hans-Joachim, Reisen und Literatur. Das Thema des Reisens in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1972, S. 9. 95 Harbsmeier, Michael, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, hrsg. v. Antoni Maczak und Hans Jürgen Teuteberg, Wolfenbüttel 1982, S. 1 - 32, hier: S. 1. 96 Teuteberg, Hans Jürgen, Der Beitrag der Reiseliteratur zur Entstehung des deutschen Englandbildes zwischen Reformation und Aufklärung, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, hrsg. v. Antoni Maczak und Hans Jürgen Teuteberg, Wolfenbüttel 1982, S. 73 - 113, hier S. 95. 42 Der Reisebericht stellt das Erleben einer Reise in den Mittelpunkt seiner Erzählung und versucht dem Adressaten, so der Autor denn einen bestimmten im Kopf hatte und nicht nur ein Reisetagebuch geführt hat, das beschriebene Land bzw. die beschriebenen Räume und Orte näherzubringen. Der Reisende, der sich von Ort zu Ort bewegt und dabei für sich selbst einen Raum konstruiert bzw. als Außenstehender auf die Räume blickt, die sich aufspannen, ist in diesem Fall ein sehr geeigneter Zeitzeuge, um einem Prozess nachzuspüren, der sich für die meisten Zeitgenossen nicht aktiv, sondern als ständiger Hintergrundprozess abspielte und der somit selten zum Objekt der bewussten Reflexion wurde.97 Die Reise hingegen ist eine Möglichkeit, die Realität einer unbekannten Stadt bzw. eines Landes komplett neu zu erfahren, und ist somit eine andere Art der Wirklichkeitserfahrung und vor allem in der Aufklärung Teil eines neuen Bewusstseins.98 Waren es im 16. und 17. Jahrhundert vor allem die so genannten Kavalierstouren und gelehrten Reisen, also die Reisen adliger junger Männer an bedeutende europäische Höfe, und eher antiquarisch motivierte Reisen von Gelehrten, die die Masse der Reisenden ausgemacht haben, von denen Berichte überliefert sind, so ändert sich dies im 18. Jahrhundert langsam.99 Immer mehr bürgerliche Reisende hinterließen Zeugnisse ihrer Reisen in andere europäische Länder und Städte und legen damit nicht nur Zeugnis eines neuen aufgeklärt-bürgerlichen Selbstverständnisses, sondern auch von den erfahrenen Räumen ab, durch die sie ihre Reisen geführt haben. Das bedeutet nicht, dass die Kavalierstour zu existieren aufhörte, vielmehr wandelte sich das Reiseverhalten. So begann auch der reisende Adlige im 18. Jahrhundert, Städte in sein Repertoire aufzunehmen, die zuvor nicht zwingend notwendig gewesen wären bzw. mancher Adliger der sich selbst als Aufklärer verstand und seine Konzeption der Reise der "neuen bürgerlichen Reise" deutlich ähnlicher war als sie es einer "klassischen" Kavalierstour des 16. oder 17. Jahrhunderts gewesen wäre. Neben diesen Veränderungen des Charakters der Reise durch die Aufklärung, ist aber auch noch ein anderer Einfluss zu beachten. Das 18. Jahrhundert als ein Zeitalter europäischer Expansion in bisher noch nicht bekanntem Ausmaß, weckt generell das Interesse an anderen Ländern und Formen des Exotischen. Als eine von vielen parallelen Entwicklungen steht hier das verstärkte Reisen als eine manifeste Ausdrucksform des gesellschaftlichen 97 Von dieser Regel abweichende Beispiele werden zu späterem Zeitpunkt in dieser Arbeit besprochen. Bödecker, Hans-Erich, Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Erich Bödecker et. al., Göttingen 1986, S. 276 - 298, hier: S. 277. 99 Zur Kavalierstour vor dem 18. Jahrhundert vgl.: Ridder-Symoens, Hilde de, Die Kavalierstour im 16. und 17. Jahrhundert, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hrsg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt am Main 1989, S. 197 - 223. 98 43 Zusammenhangs zwischen der Erforschung des geografischen Raums, dem wissenschaftlichen Fortschritt und der ökonomischen Entwicklung.100 All diese miteinander verschränkten Prozesse sorgen – neben diversen anderen Folgeentwicklungen – auch dafür, dass das Reisen in den gehobenen Schichten Europas, sowohl bürgerlichen wie adligen, ein verstärktes Interesse erfährt. Dieses Interesse kann sich natürlich in verschiedenen Formen und Zielen ausdrücken. Die Reise in unbekannt und fremd wirkende Teile des eigenen Sprachraums, kann genauso Ziel einer aufklärerischen Reise sein wie das europäische Ausland oder die neue Welt. Der Fokus der Reise kann auf historischen, naturwissenschaftlichen, oder anderen Begebenheiten etc. liegen. Der Grund bzw. die Motivation zu reisen, ist von Fall zu Fall so unterschiedlich wie es die Reisenden selbst sind.101 Festzuhalten sind lediglich zwei Dinge; zum einen dass das Reisen als Phänomen an sich einen Wandel und eine Verstärkung durchläuft, zum anderen, dass es im Laufe des 18. Jahrhunderts eine generelle Tendenz zur Verlagerung der thematischen Schwerpunkte gibt: "vom Religiösen zum Politischen, von der Topographie zur Soziologie."102 Durch das verstärkte Reisen bürgerlicher Schichten, vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts, erlebte die literarische Gattung des Reiseberichts ein goldenes Zeitalter. Zwischen 1750 und 1840 gelangt das Genre zu seiner weitesten Verbreitung und es entstand ein Vielfaches an Werken im Vergleich zu den vorherigen oder folgenden Jahrzehnten.103 In diesem Kontext ist natürlich nicht ausschließlich nicht-fiktionale Literatur entstanden. Neben fiktiven Reiseberichten, die zumindest dem Stil und den äußeren Erscheinungsformen nach dem Reisebericht ähneln, entstehen auch artverwandte Genres wie die Robinsonade oder der Reiseroman.104 Das Interesse an (der Dokumentation) der Reise kann also nicht geleugnet werden. In diese Blütezeit fallen des Weiteren einige bedeutende Wandlungen des Genres. Zum einen verändert sich die Perspektive der Autoren in der Tendenz dazu, dass der Anspruch einer geschlossenen Erzählung zu Gunsten der Darstellung individueller 100 Vgl. dazu: Griep, Wolfgang - Reiseliteratur im späten 18.Jahrhundert, in: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution, hrsg. v. Rolf Grimminger, München 1980, S: 739 - 764, hier: S. 741. 101 Vgl. dazu: Jäger, Hans-Wolf, Reisefactetten der Aufklärung, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hrsg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt am Main 1989, S. 261 - 283. 102 Maurer, Michael, Topographie und Wandel, in: O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, München 1992, S. 28. 103 Vgl. zur Geschichte des Genres und seiner Blütezeit auch: Ebd. ; Bönisch-Brednich, Brigitte, Reiseberichte. Zum Arbeiten mit publizierten historischen Quellen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, hrsg. v. Silke Göttsch und Albrecht Lehmann, Berlin 2007, S. 125 - 140. 104 Zur Geschichte des Genres und zu seiner Abgrenzung von benachbarten Gebieten vgl.: Brenner, Einleitung, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hrsg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt am Main 1989, S. 7 - 13. 44 Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozesse aufgegeben wird,105 zum anderen rückt "die Stadt" und der Weg zu ihr als Fokus der Beschreibung an die Stelle "des Hofs" und bietet somit einen neuen Einblick in das Alltagsleben der frühneuzeitlichen Stadt,106 welcher für die Analyse von Raumkonstruktion zu Rate gezogen werden kann.107 In Reiseberichten kommt immer dem Besonderen und Anderem der bereisten Gegend spezielle Aufmerksamkeit zu. Das Andere kontrastiert immer das Eigene, von dem aus der Reisende gestartet ist. Aus diesem Grund werden in der Folge sowohl Reiseberichte von Fremden, in diesem Fall von deutschen Englandreisenden nach London, wie auch Berichte von Briten die nach London reisen bzw. fiktive Reiseberichte von Londonern ausgewertet werden, um so einen möglichst aussagekräftigen Querschnitt der vorhandenen Quellen abzubilden. Um ein wenig Ordnung in das auf den ersten Blick im Übermaß vorhandene Quellenmaterial zu bringen, wird dabei in zwei Schritten vorgegangen. Zunächst werden Zeugnisse bzw. Aussagen von Reisenden nach London berücksichtigt. Diese Autoren kommen in der Regel als Fremde in die Stadt und beziehen ihr Wissen darüber aus Büchern oder Erzählungen. Ihre Schilderungen lassen einen Blick darauf zu, wie sich die Großstadt nach außen wahrnehmbar präsentiert. Der von den Bewohnern geschaffene urbane Raum wirkt sozusagen auf den Reisenden ein und wird von diesem wahrgenommen, rezipiert und schließlich in ihren Berichten beschrieben. In einem zweiten Schritt werden Zeugnisse von Briten bzw. Londonern selbst untersucht. Dabei soll die aktivere Seite der Raumkonstruktion betrachtet werden. Mitglieder der untersuchten Gesellschaft gehen mit einem anderen Blick an ihre eigene Stadt heran, als dies Reisenden von außerhalb möglich wäre bzw. war. Der Blick verlagert sich in diesem Teil also auf die Art und Weise, wie die Bewohner selbst ihre Stadt wahrnehmen bzw. je nach Perspektive ihren urbanen Raum konstruieren. Es sei vorangestellt, dass die folgende Auswahl keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, dafür ist der Quellenbestand an Reiseberichten aus dem 18. Jahrhundert einfach zu groß. Vielmehr wird eine Auswahl von bekannten bzw. "typischen" Reiseberichten getroffen, die als Exempel besprochen und denen Verweise auf bzw. Zitate aus anderen Quellen zur Seite gestellt werden. Ziel dieser Auswahl ist es, die Hauptlinien der Wahrnehmung bzw. die dominanten Varianten der Raumdeutung herauszuarbeiten. Es 105 Bödecker, Reisebeschreibungen, S. 293. Ebd. S. 285. 107 Bei der Analyse von Reiseberichten muss man in Rechnung stellen, dass sie nicht als wissenschaftliche Reflexionen geschrieben wurden. Trotzdem kann man sie als "Kulturdokument"in diesem Sinne gegen den Strich lesen und so belastbare Aussagen treffen. Vgl. dazu auch: Bitterli, Urs, Der Reisebericht als Kulturdokument, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 9 (1973), S. 555 - 564. 106 45 versteht sich, dass dabei Minderheitenmeinungen bzw. abweichende Konstruktionen nicht ausreichend gewürdigt werden können. Solche Meinungen bzw. Konstruktionen sind bei einer Stadt von der Größe Londons zu erwarten. Ein homogener Diskurs über die Natur der Stadt ist, wie sich bereits im vorangegangenen Kapitel gezeigt hat, eine absolute Fiktion. Es kann deshalb nur das Ziel der Darstellung sein, die gängigste bzw. die am weitesten verbreitete Darstellung aus den Quellen herauszudestillieren, ohne dabei die Engführung der eigenen Perspektive aus den Augen zu verlieren. 46 4.2. Uffenbachs merkwürdige Reisen Den Anfang in der Analyse macht der Bericht des deutschen Reisenden Zacharias Konrad von Uffenbach108 von einer Reise über Niedersachen, Holland und England aus den Jahren 1709 bis 1711. Dieser Bericht wurde erst nach dem Tod des Frankfurter Patriziers im Jahre 1753 von seinem Freund Johann Georg Schelhorn ediert, gedruckt und veröffentlicht.109 Einige Jahre vor dem Zeitpunkt seiner Reise war Uffenbach in Halle zum Juristen promoviert worden und war danach nach Frankfurt gegangen, wo er begann, eine umfangreiche Bibliothek aufzubauen und seine eigene Sammlung zu katalogisieren. Diese besagte Reise war seine zweite und die erste, die ihn ins europäische Ausland führte. Uffenbach ist also ein typischer Vertreter einer hochgebildeten, wohlhabenden Schicht von adligen Reisenden, die Aufzeichnungen von ihrer Grand Tour hinterlassen haben.110 Von ihm selbst waren seine Aufzeichnungen nicht für eine Publikation vorgesehen gewesen, denn bei seinem Tod vermachte er dem späteren Editor und Verleger lediglich Handschriften, die dieser erst sortieren musste, ehe sie in Druck gehen konnten. Nun ist es spekulativ, ob Uffenbach mit einer postmortalen Publikation durch Schelhorn gerechnet hat oder nicht, aber es kann berechtigterweise davon ausgegangen werden, dass Uffenbachs Beschreibungen nicht im Hinblick auf ein bestimmtes Publikum oder mit einem deutlichen moralischen Missionsauftrag formuliert worden sind. Diese Annahme macht Uffenbachs Aufzeichnungen, wie alle dieses Typus‘, zu einer wichtigen Quelle, was das persönliche Erleben des Raumes, die Bewegung durch und die Konstruktion von Raum angeht. Die ersten Seiten seines Berichts über die Reise nach England, der erst im letzten Drittel des zweiten Bandes beginnt, sind der Überfahrt von Holland nach England gewidmet und beschreiben die Fahrt mit den Schiff und die Zustände an Bord, die Uffenbach durchaus schockiert haben. Die Zustände unter Deck bei einem Sturm waren dem Edelmann ein Graus. Er schreibt: "[...]will ich [...] mir ausgebeten haben, daß man mir nicht übelnehme, wenn ich eine hässliche Sache nicht schön noch appetitlich beschreibe, sondern so, wie sie an sich selbst leider! gewesen. / In dem Schiffe nun, wo das gemeine Volk beieinander war, sahe es 108 Alle Anmerkungen zu Uffenbachs Werdegang bzw. Vita beziehen sich auf die Angaben der Allgemeinen Deutschen Biografie, da aktuellere Biografien oder Werke zur Person von Uffenbach nicht gefunden werden konnten. Vgl.: Jung, Rudolf, „Uffenbach, Zacharias Konrad von“, in: Allgemeine Deutsche Biographie (1895), S. 135 - 137. 109 Zur Person Schelhorns: Bauer, Bernhard, „Schelhorn, Johann Georg“, in: Allgemeine Deutsche Biographie (1890), S. 756 - 759. 110 Zum Begriff der Grand Tour vgl. exemplarisch: Stumpf, Nikola, Home Tour statt Grand Tour. Reiseliteratur im Long Eighteenth Century und ihre Beiträge zu einem neuen Schottlandbild, Marburg 2012, S. 47 - 62. 47 ärger aus als in einem Schweinestalle."111 Hier wird deutlich, dass nicht allein Edelleute die Überfahrt nach England auf sich nahmen, sondern der größte Teil der Reisenden aus dem gemeinen Volk gestammt haben dürfte. Diese beiden Gruppen wurden auf dem Schiff, wenn nicht gerade ein Sturm herrschte, auch räumlich voneinander getrennt. An sich handelt es sich nur um eine kleine Randnotiz, aber sie zeigt schon deutlich, dass Uffenbachs Reise unter einem völlig anderen Stern stand, als die Reisen gemeiner Leute nach England und wohl auch anders als die anderer Edelleute: "[…] [J]ene aber wollten die Guinee sparen. Sie mussten also in das Schiff selbst unter die gemeinen Leute."112 Nachdem er in England gelandet war, musste sich Uffenbach erst einmal durch verschiedene Dörfer bewegen, denen er allesamt nur wenige Worte gewidmet hat. Die Stadt Colchester beispielsweise wird mit folgenden Worten beschrieben: "Es stehet diese Stadt in der Landschaft sehr ansehnlich, wird auch in den Delices d'Angleterre schön genennet, ist aber nichts besonderes, ob es gleich ein sehr grosser Ort ist."113 Uffenbach hatte sich offensichtlich, wie viele Reisende seines Standes und seiner Zeit, eine gewisse Vorbildung über die Gegend seiner Reise angeeignet. Die Erwähnung der "Delices d'Angleterre", einer Beschreibung von Sehenswürdigkeiten in England, legt diese Vermutung zumindest nahe und deutet auf ein Spezifikum der Aneignung des Raumes durch den Reisenden des 18. Jahrhunderts und der Entstehung der Reiseberichte hin. Die meisten Reisenden hatten sich zum einen bereits zuvor in die bestehende Literatur eingelesen, 114 zum anderen folgten sie zumeist einem bestimmten standardisierten Vorgehen bei der Erstellung des Berichts. 115 In den meisten Fällen handelte es sich, vereinfacht gesagt, um einem Dreischritt aus Vorschrift, Übertragung und Reinschrift, wobei zwischen Schritt eins und zwei der Theorie nach nicht viel Zeit, zwischen Schritt zwei und drei aber sehr wohl einige Zeit liegen konnte. Die Konsequenz aus diesem Vorgehen ist, dass die Reisenden, die diese Techniken anwandten, sich nicht ohne Vorannahmen in den neuen Raum hinein bewegten. Man kann dieser Stelle entnehmen, dass Uffenbach offenbar sehr genau über die entsprechenden Orte informiert war und seine Vorannahmen stets mit der vorgefundenen Realität verglich und ggf. eine zustimmende oder begründet-ablehnende Haltung einnahm. Die initiale Wahrnehmung des Raumes bzw. der Orte ist hier also mit einem vorher bereits existenten mentalen Bild verknüpft, das es mit der vorgefundenen Realität in Einklang zu bringen gilt. 111 Uffenbach, Zacharias, Konrad von, Herrn Zacharias Conrad von Uffenbach Merkwürdige Reisen durch Niedersachsen, Holland und Engelland. Zweiter Theil, Ulm 1753, S. 430. 112 Ebd. 113 Ebd. S. 434. 114 Maurer, O Britannien, S. 20. 115 Ebd. S. 16ff. 48 Solche Konstruktionen findet man auch, wenn Uffenbach London erreicht. Nachdem er und seine Reisebegleitung London erreicht und bei Mistress Benoit Quartier bezogen hatten,116 begab er sich am folgenden Tag auf einen Spaziergang durch den St James‘s Park. Er schreibt dazu: "Den 8. Juni, welches der erste Pfingst-Feiertag war, gingen wir Nachmittags in den St. James Park spazieren. Dieser fast in der ganzen Welt berühmte, und höchst angenehme Spaziergang, der in Tom. IV: des Delices de la Grande Bretagne p.837. einiger massen (sic!) in Kupfer vorgestellt, und p.838. kürzlich beschrieben wird [...]."117 Uffenbach erschloss sich den Raum der Stadt also zunächst auf den Fußspuren seiner Vorgänger, indem er einen Spaziergang unternahm, der zu seiner Zeit wohl einige Berühmtheit genossen haben muss. Zumindest an dieser Stelle seiner Reise hat Uffenbach auch noch keinen Unterschied zwischen der City of London und der City of Westminster gesehen, in deren Jurisdiktion und unmittelbarer Nähe sich der St James‘s Park befand. Statt von einer Reise durch verschiedene Städte bzw. Stadtteile sprach Uffenbach immer nur allgemein von London. Er verwendete diesen Begriff also offensichtlich in einem weiten, großstädtischen Verständnis, statt in einem auf die ursprüngliche City begrenzten. Zumindest lässt sich am Beginn seiner Beschreibung kein Hinweis darauf finden, dass er sich der formellen Unterschiedlichkeit der einzelnen Teilstädte bewusst gewesen wäre. Sollte dies der Fall gewesen sein, dann empfand er es offensichtlich trotzdem aus einem bestimmten Grund für so unbedeutend, dass es keiner gesonderten Notiz wert war. Vielmehr sprach er von Westminster nur auf der Ebene, auf der er ansonsten Gebäude, Plätze oder andere Sehenswürdigkeiten berücksichtigte. Der Platz Haymarket, bei welchem ein Theater liegt, das Uffenbach besuchte, bekam an dieser Stelle in seiner Beschreibung mehr Zeilen zugesprochen als die Königsstadt.118 An anderer Stelle kommt dem St James‘s Park eine ähnliche Stellung im Vergleich zu.119 Auch wurde in der Überschrift der Seite, anders als zum Beispiel bei Chelsea oder Greenwich, die Oberbeschriftung nicht von London zu Westminster bzw. Westmünster geändert, sondern blieb bei London. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass er Westminster als Teil der Großstadt, ungefähr auf der Ebene eines Stadtteils und nicht als eigenständige Stadt, wahrnahm. Für diese Beobachtung spricht ferner, dass die Erwähnungen von Orten wie 116 Uffenbach, Merkwürdige Reisen, S. 435. Diese Mistress Benoit war Pfälzerin von Geburt und Uffenbach offenbar direkt empfohlen worden (ebd.), was ein Schlaglicht auf die Netzwerke zwischen Exilanten und Reisenden wirft, an dieser Stelle aber leider nicht weiter vertieft werden kann. 117 Ebd. S. 435f. 118 Ebd. S. 440. 119 Ebd. S. 464. 49 Westminster, Southwark etc. in derselben Sprache vorgenommen werden, wie sie anderen Stadtteilen oder Sehenswürdigkeiten zukommt.120 Sehr wohl allerdings nimmt er Siedlungen wahr, die (noch) nicht im großstädtischen Verband aufgegangen sind. Er schreibt beispielsweise zur Siedlung Chelsea: "Nachmittags gingen wir durch den St. James-Park nach Chelsey, eine gute halbe Meile, vor der Stadt, um in diesem Dorf [...]."121 Der spätere Stadtteil Chelsea ist zu dieser Zeit also noch nicht durch den expandierenden städtischen Raum umschlossen und so in den Komplex London integriert worden. Dementsprechend wirkt er in der Wahrnehmung des Reisenden auch nach wie vor wie ein eigenständiges Gebilde. Westminster hingegen, das zu dieser Zeit bereits durch einen breiten Streifen durchgehender Besiedlung mit dem Rest der Stadt verbunden war, wurde von ihm, wie bereits gesagt, nicht gesondert aufgeführt. In der Wahrnehmung Uffenbachs machte also das (mehr oder weniger) geschlossene Siedlungsgebiet den Kern von London als Großstadt aus. In Chelsea selbst bewegte sich Uffenbach erneut auf den Spuren seiner Vorgänger und orientierte sich an den beschriebenen Sehenswürdigkeiten, wobei er stets seine eigenen Erfahrungen mit denen seiner Vorgänger in Übereinklang zu bringen suchte. 122 Wo seine Erfahrung bzw. sein Eindruck von den Beschreibungen seiner Vorgänger abwich, da notierte Uffenbach seine Verwunderung durch Formulierungen wie "[...] daß ich es für einen kleinen Irrtum halte, wenn daselbst gesagt wird [...]".123 Seine Beschreibungen des Dorfes Chelsea sind durchzogen von Erläuterungen von Fußwegen, die durch bestimmte Landmarken beziehungsweise herausragende Orte, z.B. bestimmte Viertel, Statuen oder Wirtshäuser, strukturiert wurden.124 Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Dorf Greenwich, das Uffenbach einige Tage später besuchte. Er gelangte über eine Bootsfahrt auf der Themse in den Ort und war offensichtlich hellauf begeistert von den Gebäuden, die er dort vorfand. Er schreibt von einem Park: "Ich glaube nicht, daß ein angenehmerer Ort in der Welt sein kan, als dieser Park". 125 Von diesem Park bei dem weltberühmten astronomischen Observatorium hatte man eine blendende Aussicht. Interessanterweise notierte Uffenbach dazu die Worte: "Wenn man hinauf steiget, sieht man nicht allein die Tems sehr weit, sondern zur Zeiten gegen über 120 Exemplarisch: Ebd. S. 512. Ebd. S. 436. 122 Ebd. S. 436ff. 123 Ebd. S. 436 124 Ebd. S. 436ff. 125 Ebd. S. 445. 121 50 Londen liegen, und auf der andere sehr weit in das Land."126 Greenwich und London wurden hier eindeutig als separate Entitäten gesehen und auch als solche beschrieben. Die Nennung von Greenwich in der Kopfzeile der entsprechenden Seite anstelle von London, die Erwähnung der in einiger Entfernung zu sehenden Stadt und seine abschließende Bemerkung "wir fuhren [...] wiederum nach Londen zu"127, deuten klar in die Richtung einer solchen Wahrnehmung durch den Reisenden. Generell schien der Spaziergang sein bevorzugtes Mittel der Fortbewegung im städtischen Raum und die Kutsche das bevorzugte Transportmittel für längere Distanzen bzw. zu bestimmten angepeilten Orten zu sein. Allerdings nur, solange es nicht möglich war, mit den Fähren zu fahren. Er notierte zu seiner ersten Fährfahrt auf der Themse folgende Zeilen: "Es ist eine unvergleichlich bequeme Sache, daß man, weil Londen meist nach der Länge des Flusses gebaut ist, fasst überall zu Wasser kommen kann, das dann überaus lustig ist, nicht allein, weil man an der Stadt herfähret, sondern auch, weil es gar geschwinde gehet. [...] Es ist bequemer mit diesen Booten als mit den Hackney-Coaches, die grausam stossen, zu fahren."128 Dabei korreliert seine Aufmerksamkeit bzw. der Raum, den die Fortbewegung in seinen Beschreibungen einnimmt, mit der Intensität der Erfahrung. Die Kutschenfahrt überbrückte große Distanzen, wurde aber in den Beschreibungen nur beiläufig erwähnt: "Den 10. Junii, Dienstag Morgens fuhren wir nach der Börse, um unsere Kaufleute zu sprechen."129 So oder ähnlich lauten die meisten Beschreibungen von Kutschfahrten durch die Großstadt, wohingegen die Spaziergänge und die darauf gewonnenen Eindrücke deutlich mehr Platz beanspruchten. Zumeist folgen seine Einträge einem festen Muster bzw. Schema. Er beginnt den Eintrag mit der Nennung des Ziels der Reise an diesem Tag, beispielsweise: "Den. 17. Junii, Dienstag Morgens fuhren wir nach dem Tour [...]"130. Es folgt in der Regel dann eine längere Beschreibung des Ortes und ein Abgleich mit vorher angeeignetem Wissen. Bei einem Besuch eines Zollhauses in der Nähe des Towers notierte er beispielsweise: "Das Gebäude ist nichts besonderes, und die Tapete, so oben in dem mittelmäßigen Saal hanget, davon im Guide de Londres viel Rühems gemachet wird, ist schlecht und nur ein Lappen."131 Neben diesen Reflexionen über Bücherwissen greift er aber auch auf Vergleiche zu Orten zurück, die er aus eigener Anschauung kannte. Bei einem Spaziergang über die Themse schrieb er "Die 126 Ebd. Ebd. S. 451. 128 Ebd. S. 439ff. 129 Ebd. S. 438. 130 Ebd. S. 466. 131 Ebd. S. 474. 127 51 Temse ist auch (..) bei Londen so schmal, daß sie gerne ein Drittel schmäler als der Main bei Frankfurt ist, ob sie gleich tieffer, und wegen der Ebbe und Fluth reissender sein mag, auch unterhalb Londen gar ansehnlich wird."132 Ausführlich berichtete Uffenbach auch von seinen Treffen mit verschiedenen Händlern, Freunden oder Bekannten. Den Beschreibungen von Gesellschaften bzw. Treffen mit Menschen hatte der Autor den meisten Platz zugemessen. Aus den einrahmenden Beschreibungen seiner Wege innerhalb der Großstadt lässt sich jedoch ein Muster für seine Bewegung im Raum destillieren. Die Reflexion über die aktive Wahrnehmungskonstruktion bzw. der Prozess der Synthese fand bei Uffenbach nicht auf den Reisen mit der Kutsche oder den Fähren, sondern auf den Fußwegen statt. Die Reisen zwischen den einzelnen Tageszielen bzw. Etappen schien größtenteils eine Nebensache zu sein, oder zumindest keiner großen Erwähnung wert. Auf seinen ausgedehnten Spaziergängen in den Parks oder durch Häuser und Bauwerke hingegen fand die eigentliche Arbeit des Verknüpfens und Konstruierens statt. Bei Uffenbach entstand aus der Verbindung von persönlicher Erfahrung, direktem Erleben und Abgleich mit angeeignetem Wissen das eigene Bild der Stadt. Aus den Seiten seines Reiseberichts spricht der Prozess des mapping, den Uffenbach vornahm, während er durch die Großstadt und die angrenzenden Dörfer reiste. Die von ihm ausführlich und detailliert beschriebenen Orte und Erlebnisse bildeten die großen Knotenpunkte seines persönlichen Londons. Verbunden sind diese Orte durch die Bewegung durch die Stadt, entweder schwach durch Kutschen- bzw. Bootsfahrten oder stärker durch Spaziergänge.133 Diese Orte waren vor allem klassische Sehenswürdigkeiten der Stadt, aber auch Privat- und Kaffeehäuser, Theater, Buchhandlungen, Hahnenkampfarenen, das Parlament und Parks. Diese Orte waren für einen Reisenden aus Uffenbachs Schicht für diese Zeit relativ typisch, was sich durch die zahlreichen Querverweise im Text auf bereits existierende Literatur einfach belegen lässt. Leider fasst Uffenbach selbst kein Fazit seiner Reise bzw. seiner Eindrücke, so dass der Leser mit der Aufgabe, die geschilderten Eindrücke zu einem Ganzen zu sortieren, allein gelassen wird. Für die hier diskutierte Fragestellung lassen sich folgende Punkte festhalten: Erstens ist das geschlossene Siedlungsgebiet für Uffenbach eine einzige Großstadt, die er mit dem Namen London betitelt. Was auf den ersten Blick trivial wirkt, ist insofern wichtig, als dass diese Konzeption der Großstadt, wie bereits vorher gezeigt wurde, zu dieser Zeit nicht alternativ- bzw. konkurrenzlos war. Zweitens vollzieht sich Uffenbachs Reise nicht als 132 Ebd., S. 490f. Gerade das Spazierengehen ist eine interessante Art der Raumerschließung. Später im 18. Jahrhundert wird der Spaziergang bzw. die Fortbewegung zu Fuß ganz bewusst benutzt um die Umkehr der sozialen Ordnung zu demonstrieren und die eigene Erfahrung des Raumes bewusst auszudrücken. Vgl. dazu: Griep, Reiseliteratur, S. 752f. 133 52 spontanes Erleben oder völlig neue Erfahrung, sondern als Folge sorgfältiger Vorbereitung und Auswahl. Geht man davon aus, dass folgende Generationen von Reisenden solche Berichte ihrer Vorgänger zur eigenen Vorbereitung gelesen haben, dann kann man Aleida Assmann zustimmen, die diese Art der räumlichen Aneignung in die Metapher des Palimpsests ausgedrückt hat.134 Drittens und abschließend lässt sich festhalten, dass Uffenbachs London vor allem das London der reichen Immigranten, der herausragenden Gebäude und der kuriosen Vergnügungen ist. In diesem Kontext lässt sich auch beobachten, dass Uffenbachs Reiseziele viele Orte abdecken, die in den zuvor betrachteten Karten der Stadt ebenfalls hervorstechend behandelt wurden, sei es nun durch eine piktografische Hervorhebung oder durch eine Annotation und Beschreibung im Index. Das Parlament, der Tower, die London Bridge oder der St James‘s Park sind Orte, die sich sowohl in der Beschreibung des Reisenden als auch in den Abbildungen der Kartografen wiederfinden. Man kann also davon ausgehen, dass diese Orte für die Darstellung der Stadt entscheidende Knotenpunkte der Identitätskonstruktion und der Kommunikation dieser städtischen Identität nach außen darstellen. Diese offensichtlich bedeutenden Orte bilden die Eck- bzw. Fixpunkte eines Spacing-Prozesses, in dem die spezifische räumliche Gestalt der Stadt von ihren Einwohnern gleichzeitig konstruiert und erfahren wird. In diesem Fall nimmt Uffenbach als Reisender die manifestierte Außenwirkung des Spacing in Form von konsumierten Reiseberichten und vorher gelesenen Meinung zu diesen Orten wahr und trägt selbst durch seine eigene Beschreibung in einem Prozess der Synthese zur Aktualisierung bzw. Änderung dieses Prozesses bei. Die Akzentuierung der einzelnen Orte in ihrer Bedeutung kann von Person zu Person anders sein, wie sich in diesem Fall ja auch an Uffenbachs mitunter stark abweichender Bewertung gezeigt hat, allerdings bleiben die herausragenden Orte zunächst einmal trotzdem zentrale Punkte in dem aufeinander bezogenen sozialen Prozessgeflecht aus Spacing und Synthese, das zum individuellen Erfahren bzw. Mapping der Stadt führt. Uffenbach beschreibt insgesamt das London der Oberschicht und scheint zu keinem Zeitpunkt mit den Schattenseiten der Großstadt in Kontakt gekommen zu sein bzw. diese zu erwähnen. Wenn er doch an einer Stelle einmal damit konfrontiert wird, als ihn beispielsweise im St James‘s Park eine vermeintliche Prostituierte über den Weg läuft, von denen es in London "eine erschreckliche Menge überall"135 gab, dann geht er in seinem Bericht nicht 134 135 Assmann, Geschichte, S. 18. Uffenbach, Merkwürdige Reise, S. 436. 53 weiter darauf ein, sondern belässt die Benennung im Status eines Kuriosums, das sich nur in die Reihe weiterer Merkwürdigkeiten einreiht. 4.3.: Pöllnitz' Reisenachrichten Ganz ähnlich verhält es sich mit anderen Reisenden aus der Oberschicht ihres Landes und damit Uffenbach Gleichgestellen. Der schillernde Freiherr Karl Ludwig von Pöllnitz hatte beispielsweise ein ähnliches Programm bei seiner Englandreise erlebt zu haben. Zwar lesen sich seine Beschreibungen der Stadt durchaus anders als die des früher Reisenden, aber es lassen sich doch einige verblüffende Ähnlichkeiten herausfiltern. Pöllnitz hat seine Erlebnisse vermutlich auf den Erlebnissen einer Reise nach England im Jahre 1721 aufgebaut und somit ein gutes Jahrzehnt nach Uffenbach. Diese vorsichtige Formulierung ist angemessen, da Pöllnitz selbst seine Erlebnisse auf das Jahr 1733 datiert.136 Wenn man der Forschung Glauben schenken kann, dann befand sich Pöllnitz um diese Zeit herum allerdings überhaupt nicht in London, wohingegen ein Besuch in London um das Jahr 1721 als gesichert gilt.137 Pöllnitz‘ Bücher erfreuten sich in den frühen 30er Jahren des 18. Jahrhunderts großer Beliebtheit und machten ihren Autor "berühmt und wurden zu einer Art Reiseführer zu den Sehenswürdigkeiten der von ihm bereisten Länder und Städte und zu einem Führer durch deren vornehme Gesellschaft."138 In der Alten Deutschen Biografie findet sich für die zeitgenössische Wirkmächtigkeit der Memoiren der zusammenfassende Vermerk "[...] für die Cavaliere jener Zeit, das was der Baedeker für die heutigen Touristen".139 Man kann also davon ausgehen, dass die Erinnerungen des langjährigen Reisenden Pöllnitz zu ihrer Zeit mit großem Interesse gelesen und rezipiert worden sind, auch wenn sich an dieser Quelle nahezu sämtliche klassische Kritikpunkte am Reisebericht als historische Quelle durchspielen lassen. Ganz offensichtlich nahm es der Autor mit seiner Datierung nicht allzu genau, die von ihm gewählte Briefform dürfte mehr eine stilistische, denn eine praktische Entscheidung gewesen sein, auch wenn er sich damit durchaus im Rahmen des damals üblichen bewegte.140 In diesem Lichte waren auch seine Schilderungen der angeblich 136 Pöllnitz, Karl Ludwig von, Nachrichten des Baron Carl Ludwig von Pöllnitz. Enthaltend Was derselbe Auf seinen Reisen Besonderes angemercket, Nicht weniger die Eigenschafften dererjenigen Personen, woraus Die Vornehmste Höfe Europas bestehen (...), Bd. 4, Frankfurt am Main 1735, S. 147. 137 Maurer, O Britannien, S. 512. 138 Hentig, Hans Wolfram von, Poellnitz Karl Ludwig Wilhelm Freiherr von, in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 563 f. 139 Koser, Pöllnitz, Karl Ludwig Freiherr von, in: Allgemeine Deutsche Biographie (1888), S. 397-399, hier: S. 398. 140 Die Briefform war im 18. Jahrhundert eine sehr beliebte Form des Schreibens, die vor allem im Reisebericht eine enorme Verbreitung hatte. Zu den Hintergründen vgl.: Grundy, Isobel, Restoration and Eighteenth Century 54 getroffenen Personen mit besonderer Vorsicht zu genießen. Das alles kann allerdings in diesem Kontext mit einigem Recht zur Seite geschoben werden, da nicht zu vermuten ist, dass der Autor seine Erinnerungen an die Stadt bzw. die von ihm besuchten Orte und seine Bewegung zwischen ihnen einer großen retrospektiven Neuordnung unterzogen hat. Nicht auszuschließen ist, dass er manche der beschriebenen Orte nicht selbst besucht hat. Dieser Punkt ist insofern interessant, als dass man die Beschreibungen der Orte bzw. der dort arbeitenden oder getroffenen Personen besonders kritisch betrachten sollte. Gleich zu Beginn verdeutlichte Pöllnitz, dass er ein Bewunderer Londons ist. In seinem 53. Brief schreibt er: "Diese Stadt, welche so wohl wegen ihrer Grösse und Menge an Einwohnern, als ihres grossen Reichthums halben, sei nicht allein vor die Hauptstadt eines mächtigen Königreichs, sondern auch von ganz Europa zu achten [...]."141 In der Folge lobt er die Freiheit, die Wissenschaft, das Glück, die Tugend und noch einige weitere Merkmale der Briten, die er in der Stadt London in besonderem Maße angetroffen haben will. Dieser panegyrische Einstieg wird direkt im folgenden Satz gebrochen, als Pöllnitz seine Verwunderung und Einschätzung ob der verschiedenen Gesichter Londons zum Ausdruck bringt: "Gleichwohl kan diese Stadt, aller sotaner herrlichen Eigenschaften ohnerachtet, ja mit allen ihren prächtigen Kirchen und übrigen Gebäuden, nicht unter die schönsten Städte mit gerechnet werden; allermassen die Gassen darinnen sehr unsauber und schlecht gepflastert, die Häuser welche von gebackenen Steinen aufgeführet, sehr niedrig, und ohne alle Zierrathen, ja durch den unerträglichen Steinkohlenrauch so schwarz gemacht sind, daß die Stadt dadurch ziemlich dunkel und ihre sonstige Annehmlichkeit sehr verringert wird."142 Pöllnitz zeigte seinem Leser hier einen kurzen Einblick in die Nebenstraßen Londons und die alltäglichen Unannehmlichkeiten einer Großstadt, die bei Uffenbach niemals Erwähnung gefunden hatten. Diese Art Berichterstattung findet sich allerdings in der Folge nicht wieder und bleibt eine Ausnahme im Rahmen dieses Berichts. Die folgenden Seiten dieses Briefes laufen, ähnlich wie Uffenbach, nach einem bestimmten Muster ab. Zunächst einmal erwähnt Pöllnitz, wo er hinfuhr, es folgte eine kurze Beschreibung des Ortes bzw. der Gebäude und eine Bewertung ggf. mit einem Vergleich. Auch die besuchten Orte wiesen ein Uffenbachs Route vergleichbares Profil auf. Pöllnitz besuchte die Themse143, die London Bridge144, St (1660 - 1780), in: The Oxford Illustrated History of English Literature, hrsg. v. Pat Rogers, Oxford / New York 2001, S. 214 - 273, hier: S. 250. 141 Pöllnitz, Nachrichten, S. 116. 142 Ebd. S. 116f. 143 Ebd. 144 Ebd, S. 118. 55 Paul‘s145, die Börse146, ein Mahnmal des Großen Brands von 1666147, den Tower148, Whitehall149, Banquetting-House150, St James‘s Palace und St James‘s Park151, Buckingham Palace152 und das Parlament153. Man sieht hier bereits so etwas wie einen Kanon von Sehenswürdigkeiten für den reisenden Kavalier des 18. Jahrhunderts. Liest man die Beschreibungen der besuchten Orte, so fällt auf, dass auch Pöllnitz sich eine gewisse Vorbildung zu den entsprechenden Orten angelesen haben muss, auch wenn er nicht so direkt wie Uffenbach darauf verwies und seine Erläuterungen zu den einzelnen Orten meistens eher historisch-anekdotischen Charakter hatten.154 Wie er von einem Ort zum nächsten kam, zeichnete Pöllnitz leider nur sporadisch auf. Auf jeden Fall unternahm er einige Spaziergänge und für einen Ausflug nach Greenwich nahm er ein Schiff auf der Themse. Von diesen Fahrten selbst berichtet er allerdings wenig bis gar nicht, so dass man davon ausgehen kann, dass diese Fahrten auf ihn keinen Eindruck gemacht haben, der es wert gewesen wäre, niedergeschrieben zu werden. Seine geschilderten Eindrücke waren entweder persönliche Begegnungen oder aber Spaziergänge respektive Besichtigungen. Das bedeutet, dass auch bei Pöllnitz jene Eindrücke, die nicht auf einer Fahrt gewonnen wurden, die einprägsamsten für den Prozess des Mapping sind. Sein Gesamteindruck von London, den er an den Beginn seines Briefes gestellt hat, vollzieht sich aus der Summe seiner Erlebnisse und diese Erlebnisse sind das klassische Programm eines Kavaliers auf Reisen im 18. Jahrhundert. Auch hier sieht man ein hohes Maß an Übereinstimmung mit dem Bericht von Uffenbach. Durchsucht man den Bericht von Pöllnitz nach Spuren seiner Wahrnehmung von London als städtischer Einheit oder Konglomerat von einzelnen selbstständigen Teilen, so stößt man auf leicht widersprüchliche Befunde. Zum einen spricht er – wenig verwunderlich – erst einmal unreflektiert von London, wenn er die Großstadt oder Orte in ihr beschreibt. Zunächst einmal wirkt es also so, als finde sich hier dasselbe Bild der Stadt als gefühlte Einheit, wie man es auch bei Uffenbach nachlesen konnte. Allerdings findet sich zu Beginn seines ersten Briefes über London folgende kurze Aussage zur Lage der Stadt: "Die Stadt London lieget linker Hand des Strohms in einer Gegend, worinnen sie die Gestalt eines halben 145 Ebd. S. 119 Ebdn S. 121f. 147 Ebd. 148 Ebd. S. 122. 149 Ebd. S. 123. 150 Ebd. S. 124. 151 Ebd. S. 124f. 152 Ebd. S. 127 153 Ebd. S. 134. 154 Die London Bridge beispielsweise beschreibt er als den Ort "worauf die Königin Elisabeth das Haupt des Grafen von Essex (..) ordentlich aufstecken lassen hat [...] Ebd. S. 118f. 146 56 Monds ausmachet."155 Wenn man diese Beschreibung über eine Karte Londons legt, so fällt auf, dass Pöllnitz offensichtlich eine Einheit der City of London und Westminster sowie der dazwischen liegenden Gebiete vor Augen hatte. Southwark hingegen war in seiner Wahrnehmung der Stadt, durch die Themse als natürliche Barriere vom Rest abgetrennt, nicht Teil der Großstadt. Westminster, welches er in seinen Reisen an verschiedenen Tagen und zu verschiedenen Anlässen besucht hat, war für ihn jedoch ohne Zweifel Bestandteil der Großstadt. Nicht nur das Bild des Halbmondes, in welches Westminster einbezogen werden muss, sondern auch der formale Seitenindex, welcher stets nur London und nicht Westminster als Aufenthaltsort erwähnt, deuten in die Richtung einer solchen Wahrnehmung. Nun ist es freilich absolut möglich, dass Pöllnitz im Rahmen seiner Reisen niemals Southwark besucht hat, denn schließlich liegt bzw. lag keines seiner Ziele in diesem Bereich der Großstadt. Da Southwark in einer solchen Deutung keinerlei Bedeutung für das London des Autors hatte, so verwundert es auch aus einer bestimmten Perspektive nicht, dass er es zu Gunsten einer wohlklingenden Metapher unter den Tisch fallen ließ. An anderer Stelle findet sich ein weiterer Hinweis darauf, dass Westminster und die anderen Bestandteile der Stadt für ihn nur auf einer untergeordneten Ebene bedeutend waren. Er schreibt über einen Besuch in St James’s: "Das Quatier von S. James und überhaupt alle Quatiere von London, so nicht in dem inneren Theil der Stadt liegen, sind sehr ordentlich gebauet, und die Strassen gerade, breit und wohl abgetheilet [...]."156 Man erkennt in dieser Aussage klar zwei unterschiedliche Ordnungsebenen für die Stadt. Auf der obersten Ebene stand die Stadt als umfassendes Konstrukt, das organisatorisch den gesamten städtischen Raum umschloß und definierte: In diesem Fall von ihm selbst als Halbmond links der Themse beschrieben. Auf der Ebene darunter sah er die so genannten Quartiere, also Bestandteile der Stadt, die nicht aus eigenem Recht, sondern nur in Bezug auf die Stadt zu definieren waren. Diese Quartiere konnten zwar bestimmte distinkte Eigenschaften haben, wie zum Beispiel bessere oder schlechtere Straßen, aber der Bezugs- und Vergleichsrahmen lag hier nicht auf dem Vergleich zwischen Westminster und London als gleichberechtigte "Partner", sondern auf einem Vergleich vom Teil zum Ganzen einer Einheit. Es kann also keine Rede davon sein, dass es sich in Pöllnitz‘ Wahrnehmung bei der City of London und der City of Westminster um separate Einheiten handelte. Vielmehr nahm er zwar Unterschiede zwischen bestimmten Stadtteilen wahr, aber diese bleiben eben genau das: Teile einer Stadt. 155 156 Ebd. S. 118. Ebd. S. 127. 57 Pöllnitz nahm London also als eine große Stadt wahr. Allerdings schien es auch für ihn mitunter schwierig zu sein, seine Eindrücke ohne Referenzpunkte zu verdeutlichen. Ähnlich wie auch Uffenbach griff er immer wieder zum Stilmittel des Vergleichs um die Größe eines Viertels oder die Ausmaße bzw. Bedeutung eines Gebäudes angemessen zu umschreiben. Beispielsweise verglich er St Paul‘s mit dem Petersdom in Rom, der ihm als einzig angemessener Vergleichsmaßstab erscheint: "Die St. Pauli-Kirche als Hauptkirche der Stadt Londen, ist ausser der St. Peters-Kirche zu Rom die größte und ansehnlichste in Europa."157 Der St James‘s wird in einer Anekdote im Vergleich zu den Gärten von Versailles geschmeichelt: "Carl der II. welcher über die Massen viel auf Promenaden hielte, wolte diesen Parc etwas zierlicher anlegen lassen, und beriff dahero den berühmten Neautre, welcher die Thuillerie zu Paris und den Parc von Versailles angeleget hatte, nach Londen, allein dieser geschickte Mann; nachdem er das Werk in Augenschein genommen, rieth dem König, es so zu lassen, wie es war, mit Versicherung, dass er nichts besseres anzulegen wüste."158 An anderen Stellen musste er zu etwas ausgefalleneren Vergleichen greifen, um die Besonderheiten der Stadt London zu überblicken. Als er über das Wachstum der Stadt spricht, schreibt er: "Sonsten ist Londen, seit dem das Haus Braunschweig den königlichen Thron bekleidet, um ein ansehnliches vermehret worden, und führet ein ganzes Quatier daselbst den Rahmen von Hannover, doch, damit die Grösse dieser Stadt nicht ihr selbst dereinst zur Last fallen möge, hat das Parlament derselben vor einigen Jahren durch eine aparte Verordnung gewisse Grenzen vorgeschrieben; gleichwohl würde sie, wenn auch solches vor zwanzig Jahren geschehen, nur noch allzugroß geblieben sein."159 Londons Wachstum übertraf in seinen Ausmaßen zu jener Zeit jede gängige Kategorie der Beschreibung, es sei denn, es wäre üblich gewesen, das Wachstum einer Stadt in einem Vielfachen von Hannover zu berechnen. Da davon allerdings nicht auszugehen ist, verdeutlicht diese Passage einen zentralen Punkt der Wahrnehmung der Stadt. London wurde als eine Stadt wahrgenommen und auch erfahren, die sich den meisten gängigen Kriterien der damaligen Zeit entzog. Die Stadt wuchs so schnell und so unkontrolliert, dass es den Zeitgenossen offensichtlich selbst an adäquaten Kategorien der Beschreibung mangelte. Selbst die Versuche des Parlaments, der Lage vermittels Gesetzen Herr zu werden, waren gescheitert bzw. wurden nicht gerade mit Vorschusslorbeeren überschüttet. Pöllnitz rühmte die Verordnung des Parlaments als "apart", allerdings machte der Nachsatz umgehend seinen 157 Ebd. S. 119. Ebd. S. 125. 159 Ebd. S. 130. 158 58 ironischen Unterton deutlich und zeigt, dass der Reisende keine hohe Meinung von den Versuchen der Parlamentarier hatte, dem Wachstum der Stadt Herr zu werden. Er sah allerdings auch nichts Besonderes darin, dass das britische Parlament, und keine untergeordnete Stelle, sich des Problems annahm. Dass er sich zumindest mit der Titulatur einiger städtischer Würdenträger der City of London auskannte, wurde zu Beginn seines ersten Briefes deutlich, als er eine Anekdote aus der Bürgerkriegszeit erzählt und dabei explizit den Lord Mayor und einen Alderman erwähnt: "[...] ein gewisser Alderman König Carl dem II. gar artig zu verstehen, dann dieser Monarch einstmahls über die Stadt Londen sehr erbittert war, und der Lord Maire sammt den Aldermännern denselbigen wiederum zu besänfftigen suchte [...] Wolte damit so viel zu verstehen geben, daß, so lange der König der Stadt Londen diesen Fluß [die Themse] nicht nehmen könte, die Einwohner sich wenig darum bekümmerten, ob er seine Residenz nach Oxford verlegte oder nicht."160 Aus dieser Passage spricht nun ein etwas anderes, kleineres Bild von London. Die Protagonisten dieser Episode sind der König Karl II. und die städtische Führungsschicht der City of London. Diesem Verständnis folgend, müsste man davon ausgehen, dass wirklich nur die rechtliche Einheit der alten Stadt gemeint gewesen sein konnte, wenn Pöllnitz hier von London sprach, da die Aldermen und der Lord Mayor im Rest der Großstadt nur begrenzten bzw. informellen Einfluss ausüben konnten. Allerdings legt diese Passage ebenfalls nahe, dass die königliche Residenz in der Stadt London lag. Legt man rechtliche Maßstäbe an, so scheinen sich diese Aussagen zu widersprechen, jedoch kann man davon ausgehen, dass Pöllnitz keine detaillierten Studien über die rechtliche Organisation der Stadt London vorgenommen hatte. Zumindest findet sich in seinem Werk kein Hinweis auf solche Studien. Wahrscheinlicher ist die Annahme seinerseits, dass die Organisation der Stadt ähnlich wie die einer ihm bekannten Reichsstadt funktioniert haben muss. Lord Mayor und Alderman nahmen in der Erzählung schlicht das Äquivalent einer Konstellation von Bürgermeister und Rat ein, die sich hier dem König entgegenstellten. Sie dienten nicht dazu, einen Unterschied zwischen der City of London und dem Rest der Großstadt aufzumachen. Vielmehr fungieren sie als Stellvertreter bekannter Figuren, damit der Leser seines Berichts die Geschehnisse in England problemlos in seinem eigenen Erlebnishorizont verankern konnte. An keiner anderen Stelle seines Berichts erwähnt er eine Aufteilung oder Untergliederung der Großstadt Londons oder andere Würdenträger der einzelnen Stadtteile. Die formale Gestalt der Stadt hatte für ihn keine gesonderte Bedeutung, da sein Fokus eher auf den Sehenswürdigkeiten und den ihm begegnenden Personen lag. In diesem Sinne ist aus 160 Ebd. S. 117 f. 59 dem 54. Brief für die Fragestellung dieser Arbeit wenig Verwertbares herauszufiltern. Pöllnitz wandte sich hier vor allem seinen Beobachtungen der englischen Gesellschaft zu, ihren Umgangsformen untereinander, ihren täglichen Geschäften161 und dem Vergleich der englischen Lebensart mit anderen europäischen Nationen, vor allem der französischen zu.162 Das Bild Londons, das dem Leser aus Pöllnitz‘ Bericht entgegentritt, ist das Bild einer ambivalenten Stadt. Einerseits lobte der deutsche Edelmann die Grandeur mancher Gebäude und den Umgang der Menschen untereinander, andererseits kritisierte er den Schmutz und die Unübersichtlichkeit der Stadt. Einerseits sprach er, wie erwähnt, die Würdenträger der City of London direkt an, andererseits bespricht er die administrative Zersplitterung der Großstadt an keiner weiteren Stelle und verfasste auch keine Zeile zu anderen Würdenträger. Er traf viele Vertreter des Adels und der Oberschicht, von denen er manche Anekdote zu erzählen hatte, aber mit keinem Wort wurden die ärmeren Teile der Stadtbevölkerung erwähnt. Pöllnitz reiste viel innerhalb der Stadt und gab detaillierte Beschreibungen von Orten, Gebäuden und Personen ab, aber die Stadtteile an sich, der Weg zwischen ihnen und die Wirkung der Stadt als Gesamtwerk fand nur beiläufig Eingang in sein Werk. Auch hier findet sich übrigens der bereits bei Uffenbach beobachtete Effekt wieder, dass sich ein gewisser Kanon an bedeutenden Orten herausgebildet hatte, der die Reise des Edelmannes strukturierte. Diese Orte finden sich nicht nur auf Karten besonders hervorgehoben, sondern beanspruchten auch in den Reiseberichten von London einen gesonderten Platz. Karte und Bericht sind hier Teile eines allgemeinen Diskurses über die Stadt, in dem sich bestimmte gesellschaftliche Machtstrukturen niederschlugen, was vor allem an der Unterschlagung der weniger privilegierten Stadt- bzw. Bevölkerungsteile deutlich wird. Pöllnitz selbst trug vermutlich zu diesem Trend – der Festschreibung von Bedeutung auf bestimmte Orte und dem damit vorstrukturiertem Erfahren der Stadt – durch seine enorme Popularität und zeitgenössische Wirkmacht bei. Wenn er von Eindrücken redete, dann nur von solchen, die er auf Spaziergängen gewonnen hatte. Diese Art der Fortbewegung schien sein gängigstes Mittel zu sein, den Raum der Stadt für sich selbst zu entdecken und ihn sich anzueignen, wie man dies auch schon bei Uffenbach beobachten konnte. Für längere Strecken nutzte auch er entweder die Kutsche oder die Themsenfähren. Von diesen Fahrten erfährt sein Leser allerdings nur sehr wenig. Es bleibt also der Eindruck einer herausragenden, wenn auch nicht unbedingt schönen Stadt der Oberschicht, die in ihren Ausmaßen, ihrer Dynamik und ihrem Wachstum weit über alles 161 Ebd. S. 171ff. Pöllnitz berichtet von Besuchen in Kaffee- bzw. Schokoladenhäusern, Parkspaziergängen als sozialem Treffpunkt etc. 162 Ebd. S. 154. Pöllnitz vergleicht hier den englischen und französischen Höfling miteinander. 60 Vergleichbare hinausging und deswegen von ihm zu Beginn als "Hauptstadt Europas" bezeichnet wurde. 4.4. Lichtenbergs Briefe und Tagebücher aus London Als vorletztes Beispiel soll sich der Blick nun auf einen auch heute noch prominenten Schreiber des späten 18. Jahrhunderts richten, nämlich auf den Mathematiker und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg. Lichtenberg reiste mehrfach nach England und lebte mehrere Monate in London.163 Seine erste Reise führte ihn im Jahre 1770 als Tutor englischer Studenten nach London. Dort traf er den englischen König Georg III., der den jungen deutschen Gelehrten protegierte und ihm eine zweite Reise nach England im Jahre 1775 ermöglichte. Von dieser Reise sind zahlreiche Briefe erhalten, die Einblick in Lichtenbergs Wahrnehmung der Großstadt gewähren. Die Briefe wurden alle zwischen Oktober 1774 und November 1775 geschrieben und an verschiedene Empfänger gerichtet worden. Einige davon wurden noch zu Lebzeiten Lichtenbergs verlegt,164 andere erst posthum mit anderen Schriftstücken zusammen veröffentlicht. Die veröffentlichten "Briefe aus England" bestehen aus drei Briefen, die allerdings, bis auf wenige Ausnahmen, für die Fragestellung der Arbeit unerheblich sind. In den ersten zwei Briefen behandelte Lichtenberg nahezu ausschließlich die Vorzüge und die Besonderheiten des englischen Theaters im Allgemeinen und die des Schauspielers Garrick im Speziellen. Aus diesem Grund wurde als Grundlage der Untersuchung eine Gesamtausgabe der Briefe Lichtenbergs gewählt und dabei sämtliche Briefe ausgewählt und analysiert, die er im Zeitraum seines zweiten London-Aufenthalts geschrieben und abgesendet hat.165 Ferner wurden sein Reisetagebuch und seine Reiseanmerkungen berücksichtigt, die ebenfalls publiziert wurden und an einigen Stellen sinnvolle Ergänzungen der Briefe darstellen.166 Diese hier genannten Briefe sind nicht originär für eine Publikation geschrieben worden und dementsprechend auch nicht so aufgebaut, dass der Leser die Informationen zur Stadt bzw. den Menschen dort in einer Form aufgearbeitet findet, wie man sie in einem 163 Angaben zur Lichtenbergs Biografie basieren auf: Proß, Wolfgang, Priesner, Claus, Lichtenberg, Georg Christoph, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 449-464. Die Literatur zu Lichtenberg ist, im Vergleich zu den vorherigen Reisenden, relativ umfangreich, was vor allem an seinen deutlich populäreren Sudelbüchern liegt, in denen er sich allerdings nicht mit seiner Zeit in England beschäftigt hat. 164 Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe. Dritter Band. Aufsätze, Entwürfe, Gedichte, Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche, Frankfurt am Main 1994. 165 Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe. Vierter Band. Briefe, Frankfurt am Main 1983. 166 Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe. Zweiter Band. Sudelbücher II. Matrialhefte, Tagebücher, Frankfurt am Main 1994. 61 Reisebericht erwarten würde. Vielmehr sind die gesuchten Informationen über den gesamten Bestand der Briefe Lichtenbergs verteilt und müssen zusammengesetzt werden, wenn man ein Bild von Lichtenbergs London, seiner Erfahrung und persönlichen Konstruktion der Stadt erhalten möchte. Lichtenberg stellte ferner im Vergleich zu den beiden zuvor betrachteten Reisenden einen anderen Typus des Reisenden dar. Er war nicht als Kavalier auf einer großen Tour durch die europäischen Städte und Höfe unterwegs und für einige Wochen in der englischen Hauptstadt zu Besuch. Vielmehr verbrachte er als persönlicher, geladener Gast des englischen Königs über ein Jahr in England und lebte sowohl im ländlichen Kew in der Nähe von London als auch in der Großstadt London selbst.167 Er war selbst nicht von adliger Geburt, sondern das Kind einer Pfarrersfamilie und als Gelehrter auf Reisen. Seine Reise lässt sich am ehesten unter das Signum der Gelehrtenreise stellen, die neben der Kavalierstour die wichtigste Art der Reise im 18. Jahrhundert darstellte. Die Umstände und die Beweggründe seiner Reise sind also grundsätzlich anders einzuordnen als die der zuvor betrachteten Berichte von Uffenbach und Pöllnitz, die einige Jahrzehnte zuvor ihre Reisen unternommen hatten. Außerdem sind die hier zugrunde gelegten Eindrücke auf Lichtenbergs zweiter Reise entstanden, so dass man von einem "an Großstadtdimensionen und Großstadtgeschwindigkeit gewöhnten und konditionierten Blick"168 ausgehen kann, denn tatsächlich sind seine Beschreibungen der Stadt London in seinen ersten Briefen spärlich gesät und die geschilderten Eindrücke eher untypisch. Noch in einem Brief an seinen Kollegen Ernst Gottfried Baldinger von seiner ersten Reise im April des Jahres 1770 spricht die schiere Überwältigung ob der neuen Erfahrung aus seinen Zeilen: "Es ist unglaublich was die Menge an neuen Gegenständen, die ich nicht sogleich immer in meinem Kopf unterzubringen wußte, für eine Wirkung auf mich gehabt hat. Ich vergaß immer über das letzte das erste völlig und lebe noch jetzo würklich in einer solchen Verwirrung, daß ich mich, da ich sonst mit kleinen Stadtneuigkeiten Bogen anfüllen könnte so viel klar zu bekommen, als zu einem kleinen Brief nötig ist."169 Dies änderte sich auf seiner zweiten Reise. Die Überforderung war verschwunden. Aus seinem ersten Brief aus London, den er an seinen Freund und Verleger Johann Christian 167 Dies gilt vor allem für seine zweite Reise. Die erste fällt noch eher in den Typus der Kavalierstour, da Lichtenberg hier zu der Entourage zweier Kavaliere gehörte. Vgl. dazu auch: Siebers, Winfried, "Eines akademischen Lehrer Reisen in fremde Länder."Reisen zur Zeit Lichtenbergs, in: Georg Christoph Lichtenberg 1742 - 1799. Wagnis der Aufklärung, hrsg. v. Ulrich Joost, München / Wien 1992, S. 141 - 147, hier: S. 141. 168 Radu, Robert, Nach London! Der Modernisierungsprozess Englands in der literarischen Inszenierung von Georg Friedrich Lichtenberg, Heinrich Heine und Theodor Fontane, Frankfurt am Main 2010, S. 28. 169 Lichtenberg, Briefe, S. 11. Diese Interpretation wird von anderen Forschern ebenfalls geteilt. Vgl. dazu exemplarisch: Maurer, Michael, Anglophilie und Aufklärung, Göttingen 1987, S. 258. 62 Dieterich richtete, stammen folgende, spärliche Zeilen: "Am vergangenen SonntagNachmittag um 3 Uhr habe ich England betreten und Dienstag darauf nachmittags um halb 5 meinen Einzug in London gehalten."170 In der Folge erzählte er deutlich ausführlicher von der Schiffsüberfahrt nach England und den damit verbundenen Unannehmlichkeiten wie Flauten und Seekrankheit oder den Umständen die ihn auf seiner Anreise in Osnabrück festgehalten hatten, statt Eindrücke des Landes in seinem Brief zu schildern. Erst einige Tage später am achten Oktober des Jahres 1774, nachdem er London schon in Richtung Buckinghamshire und später Kew verlassen hatte, schien die Großstadt auf ihn eingewirkt zu haben, denn in seinem Brief an den Kollegen Ernst Gottfried Baldinger, dem er bereits fünf Jahre zuvor seinen Eindrücke so bildhaft schilderte, klingt der "Kulturschock" mit, dem sich der Gelehrte aus Göttingen ausgesetzt sah. Er eröffnet seinen Brief mit den Zeilen: "Ich schreibe ihnen, sobald als der Schwindel verstatten wollte, der jedermann befallen muß, den man einmal aus einem Göttingischen Hintergebäude in eine der ersten Straßen der Hauptstadt der Welt versetzt [...]."171 Der Unterschied in der Wahrnehmung der beiden Städte könnte augenfälliger nicht sein. London wurde hier, wie auch schon bei Pöllnitz, in eine völlig entrückte Sphäre verschoben. Sprach Pöllnitz noch von der Hauptstadt Europas, so war es hier bereits die Hauptstadt der Welt. In beiden Fällen zeigte sich das Unvermögen der Schreiber, einen adäquaten Vergleichsmaßstab für die Großstadt London zu finden- Sie weichen deshalb an den Stellen auf solche Hervorhebungen und Sonderstellungen aus, an denen sich ihr sonstiger Bezugspunkt als wenig aussagekräftig erwiesen hatte. Lichtenberg versuchte die Unmöglichkeit der Erfahrung der Stadt unter anderem in Metaphern zu fassen. Er beschreibt seinen Eindruck des Ausblicks von der St Paul‘s Cathedral in einem Brief vom Oktober 1774 an Joel Paul Kaltenhofer mit folgenden Worten: "[...] eine unübersehbare Reihe von Schiffen, einige hundert Kirchen und wieviel Häuser, Menschen und Kutschen? Ich habe gewiß sehr oft weniger Sandkörner in meiner Sandbüchse gehabt."172 Der Maßstab Londons wurde in diesem Vergleich ohne viele Umwege in das metaphorische Reich des Unfassbaren und Unbeschreiblichen verwiesen, das vom menschlichen Vorstellungsvormögen nur noch unzureichend erfasst werden konnte. Passagen wie diese bedeuten im Umkehrschluss allerdings nicht, dass Lichtenberg nicht versucht hat, die Dimensionen in Vergleichen mit Bekanntem einzufangen. Neben dem erwähnten Beispiel des "Göttingischen Hintergebäudes" nahm er auch an einigen anderen Stellen direkten Bezug zu seiner Heimatstadt. Bei der Beschreibung der Fleet Street fasste er 170 Lichtenberg, Briefe, S. 144. Ebd. S. 145. 172 Ebd. S. 149. 171 63 den Kontrast der Städte zueinander in besonders drastischen und pointierten Worten zusammen. Er schreibt im Januar 1775 an Baldinger: "In Göttingen geht man hin und sieht wenigstens von 40 Schritt her an, was es gibt; hier (hauptsächlich des Nachts [...]) ist man froh, wenn man mit heiler Haut in einem Nebengäßchen den Sturm auswarten kann."173 An anderer Stelle beschreibt er seinen Eindruck von den großen Straßen Londons: "Dem ungewöhnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nötig, alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen sie still, Bums! läuft ein Packträger wider Sie an und ruft by Your leave wenn sie schon auf der Erde liegen. In der Mitte der Straße rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen, Karren hinter Karren."174 Die Passage ging in diesem Stil weiter und listete ähnliche sensorische Eindrücke auf, die beim Leser ein Gefühl der kaleidoskopischen Überforderung hinterließen und versuchten, das Bild des schwindelnden Schreibers vor das geistige Auge zu projizieren. Lichtenberg fasste hier in einer Momentaufnahme eines "Dezemberabend[s]"175 die Eindrücke eines Fremden in der Großstadt zusammen und erlaubte einen Blick in die Wahrnehmung eines außergewöhnlichen Raums in der Erfahrungswelt des 18. Jahrhunderts. In seiner Beschreibung mischten sich Abscheu, Bewunderung und neutrale Beschreibung untrennbar ineinander und zeigten damit die Uneindeutigkeit und Überwältigung der Erfahrung. Was in dieser Passage über die Straße beispielsweise noch eher negativ klang, akzentuierte er in einem späteren Bild etwas anders. Zwei Monate später schrieb er Christian Gottlob Heyne die folgenden Zeilen: "Nie sind in meinem Leben meine Füße so aktiv gewesen; in diesem Stück wird mir Göttingen gewiß zu klein vorkommen."176 Es ist also klar, dass sowohl für Lichtenberg, als auch für die von ihm Angeschriebenen, die jeweilige Heimatstadt der Vergleichs- und Bezugspunkt war und eine rein abstrakte Beschreibung der Großstadt nicht ausreichte, um zu verdeutlichen, wie Lichtenberg das London seiner Zeit erfahren hat. Die Großstadt mit all ihren Eindrücken, Impressionen und Bildern stellte eine ungeheure Herausforderung für den Reisenden dar, dem die Dimensionen und die Lebhaftigkeit Londons nicht als normal erschienen. Die Erfahrung der Großstadt musste deswegen zwangsläufig heterogen erscheinen. Ein Fakt, den Lichtenberg mit dem Stilmittel des Vergleichs zu bezwingen versuchte. Neben dem Vergleich mit deutschen Städten, bediente er sich aber auch anderer Stilmittel, um die überwältigenden Eindrücke und Dimensionen der Großstadt einzufangen. Allen voran nutzte er die literarische Kollage dazu, seine Erfahrungen zu vermitteln. In der 173 Ebd. S. 155. Ebd. S. 155. 175 Ebd. 176 Ebd. S. 178. 174 64 bereits erwähnten Beschreibung der Fleet Street offenbart Lichtenberg am Ende, dass es sich bei den Ereignissen nicht um eine getreue Wiedergabe der Realität gehandelt habe, sondern er vielmehr sorgsam kompiliere und Rücksicht auf die Gefühle seines Freundes in der Beschreibung genommen habe: "Sie werden mich also entschuldigen, wenn es sich zuweilen hart und schwer liest, es ist die Ordnung von Cheapside. Ich habe nichts übertrieben, gegenteils vieles weggelassen, was das Gemälde gehoben haben würde."177 Es folgt eine Aufzählung von vielen unangenehmen oder irritierenden Elementen des Großstadtlebens, die Lichtenberg seinem Briefpartner wohl ersparen oder nur in gemilderter Schärfe präsentieren wollte.178 An anderer Stelle schreibt er einen fiktiven Brief aus der Perspektive seiner Briefpartnerin Christiane Dieterich und dreht satirisch den Blickwinkel um, wenn er die literarische Figur der Christel zornig ausrufen lässt: "Ihr Leute wisst doch gar nicht was das heißt in England sein, ihr würdet sonst nicht so ungestüm sein und alle zwei Jahre einen Brief verlangen [...] Beim Mittagessen werdet ihr doch nicht verlangen, daß man an euch denkt, pfui, wer wird denn bei Roastbeef und englisch gelées und Torte an euch und eure Mettwürste denken [...] Über Jahr mehr vielleicht."179 Diese Passage zeigt, neben der hier offensichtlichen Überforderung der fiktiven Christiane mit den unterschiedlichen Selbst- und Fremdansprüchen, eine tiefgehende Fremdheitserfahrung. Hinter der Maske der Überspitzung und Ironie konnte Lichtenberg hier thematisieren, was sich ansonsten offenbar nur schwer in Worte fassen ließ: die grundsätzliche andere Art, das Leben in der Großstadt zu erfassen und angemessen zu kommunizieren. Die Gegensätze zwischen dem Leben in Göttingen und London wurden hier ebenso offensichtlich wie der eigene, offensichtlich als defizitär wahrgenommene Versuch der Vermittlung dieser Erfahrung. Womit sich die Frage stellt, wie diese Erfahrungen des großstädtischen Raumes gewonnen werden konnten. Betrachtet man Lichtenbergs Art der Fortbewegung innerhalb der Großstadt, so wird auch hier eine Parallele zu den vorangegangenen Reisenden auffällig. Er benutzte die gesamte Bandbreite möglicher Transportmittel seiner Zeit. Wenn er in seinen Briefen allerdings längere persönliche Eindrücke von besuchten Orten für seine Adressaten schilderte, so handelte es sich stets um Eindrücke, die im persönlichen Gespräch, bei dem Besuch eines Ortes oder bei einem Spaziergang gewonnen wurden. 177 Ebd. S. 156. Um die genaue Gestalt dieser Besonderheiten des Lebens in London wird an späterer Stelle noch ausführlicher eingegangen werden. 179 Ebd. S. 164. 178 65 Die Kutsche wurde von ihm oft und ausgiebig genutzt, allerdings war sie für ihn auch nur Medium des Transportes und nicht Mittel der Aneignung bzw. der Erfahrung des Raumes. Wenn überhaupt, so diente ihm die Kutsche zur Beherrschung des Raumes, indem sie ihn in die Lage versetzte, von seinem Quartier in Kew, in welchem er einige Monate verbrachte, jederzeit die Großstadt London zu besuchen, wenn ihm das Landleben zu langweilig wurde. So zumindest müssen seine spärlichen Äußerungen gelesen werden, die er seinen Partnern über seine Kutschfahrten hat zukommen lassen: "[...] Wenn das Wetter gut steht, so nehme ich eine Kutsche und fliege für 18pence nach London; dieses habe ich während meines hiesigen Aufenthaltes auf 14mal getan."180 Allerdings ist diese Stelle, trotz der von ihm erwähnten 14 Male, eines der ersten Male, dass er eine Kutsche als persönlich genutztes Transportmittel beschrieb und nicht als Bestandteil des geschilderten städtischen Hintergrundes. Noch kürzer nur widmet er sich der Fähre, die keinen dauerhaften Eindruck auf ihn gemacht zu haben scheint: "Den 17ten des Abends war ich in Vauxhall. Ich ging hin zu Wasser und kehrte auch zu Wasser zurück."181 Wie bereits erwähnt wurden die meisten Eindrücke von ihm während Gesprächen oder Spaziergängen gewonnen. Bei diesen Spaziergängen orientierte sich Lichtenberg an herausragenden Gebäuden bzw. Landmarken, wie eine Notiz in seinen Reiseanmerkungen nahe legt. Er schreibt: "Den 15[ten] April [...] ging ich des Abends nach dem Tee, es mochte etwa 3/4 auf sieben sein, in Hyde Park spazieren, der Mond war eben aufgegangen, voll und schien über Westminsters Abtei her [...]. Ich schlenderte hierauf Piccadilly und den Heumarkt hinunter nach Whitehall teils die Statüe Karls des Ersten wieder gegen den hellen westlichen Himmel zu betrachten, und teils beim Mond-Licht mich meinen Betrachtungen bei dem Banqueting-Haus zu überlassen [...]."182 Um sich in der Großstadt bewegen zu können, ist also eine profunde Kenntnis der städtischen Geografie auch im 18. Jahrhundert unerlässlich. Die innere mental map des Reisenden wird hier für einen Moment sichtbar und es ist zu erkennen, wie sich Lichtenberg in einem Raum bewegte, der vor allem von herausragenden Orten und den Wegen zwischen ihnen hergestellt wurde. Die Erfahrung der Stadt passierte hier nicht an diesen Orten selbst, sondern in dem Raum der zwischen ihnen liegt und vom Reisenden selbst erfahren, internalisiert und in seiner persönlichen Geografie verankert wurde. Hierbei bewegte sich Lichtenberg also in den gleichen Erfahrungsbahnen wie Uffenbach und Pöllnitz Jahrzehnte zuvor. Die persönliche 180 Ebd. S. 154. Lichtenberg, Sudelbücher, S. 674 182 Ebd. S. 641. 181 66 Raumaneignung funktionierte also hier nach dem gleichen Muster, das bereits zuvor beobachtet und analysiert werden konnte. An anderen Stellen ist die Wahrnehmung der Stadt durch Lichtenberg allerdings anders akzentuiert als die seiner Vorgänger. Obwohl Lichtenberg "[a]ls Gast eines hohen Hofbeamten [...] eher auf der Sonnenseite Londons"183 lebte, sind die dunkleren und abseitigeren Seiten der Stadt in seinen Briefen deutlich präsenter als sie es in den Berichten der adligen Reisenden waren. Er erwähnte diese Seite der Großstadt nicht nur nebenbei, sondern in einigen Passagen nahmen die Schilderungen eine ganz zentrale Rolle ein. Bereits in seinem ersten Brief an Baldinger vom Oktober 1774 erwähnt er einen Überfall extra in einem Nachwort: "Lord North ist neulich bei London von einem highwayman angegriffen und beraubt worden. 20 Schritte davon wurde 2 Tage zuvor ein andrer Mann geplündert, bei beiden wurde geschossen, ich kam über die Stelle, als ich hierher reiste, und sah noch das Loch, welches die Kugel in einer Mauer gemacht hatte. Die englischen Straßenräuber haben ihre ehemalige Großmut abgelegt."184 Vielleicht erklärt dieser frühe Kontakt mit dem Phänomen des Verbrechens in und um die Großstadt herum im Ansatz, warum Lichtenberg solchen Vorkommnissen deutlich mehr Platz in seinen Beschreibungen einräumte, denn auch in der Folge blieb dieses Beispiel nicht reines Kuriosum, sondern bildete lediglich den Auftakt zu einer ganzen Reihe von Beschreibungen illegaler Praktiken, die den Reisenden mitunter auch stark verstören konnten. Er beschrieb die "liederlichen Mädchen" die "Fragen an mich tun [...], bei welchen ein junger Student durch ein sohlendickes Fell rot geworden wäre."185 Er erwähnt "Betteljungen" und "Spitzbuben"186 genau so wie er Selbstmord187 und Unruhen und die damit einhergehenden Grausamkeiten nennt: "Habe in Coventgarden in einem Anlauf von Patriotismus besoffenen Gesindels, in einem alten Kleide gewandelt, wo der Pöbel der einen Partei Vivat schrie und die Hüte schwung und die andere Hälfte statt des Pereats tote Katzen warf."188 Insgesamt zieht er in einem seiner Briefe an Dieterich aus dem Januar 1775 das Fazit: 183 Hoffmann, Julia, "Ich laufe und renne den gantzen Tag, mit allen Sinnen sperrweit offen."Lichtenbergs Reisen nach England, in: Wagnis der Aufklärung, S. 211 - 227, hier: S. 213. 184 Lichtenberg, Briefe, S. 147. 185 Ebd. S. 156. 186 Ebd. 187 Ebd. S. 154. 188 Ebd. S. 151. 67 "Nach jedermanns Geständnis ist Üppigkeit, Bosheit und Liederlichkeit in London noch nie so hoch gestiegen gewesen wie jetzt. Es vergeht kein Abend, daß ich will nicht sagen, eine sondern 3, 4 oder 5 Straßenräubereien begangen werden, der nächtlichen Einbrüche und andrer Diebereien nicht zu gedenken. Man henkt sie zu Dutzenden, schickt sie zu halben Dutzenden nach Amerika, das alles achten sie nicht."189 Sein Bild der Großstadt war weniger das London der Oberschicht, obgleich er sich häufig in erlesener Gesellschaft des Königspaars bewegte. Trotzdem richtete er den Blick auch auf diese andere Seite der Großstadt und lieferte so einen deutlich realistischeren bzw. weitwinkligeren Blick auf das Phänomen der Großstadt im 18. Jahrhundert. Allerdings wird aus diesen Passagen allein noch nicht verständlich, was genau Lichtenberg denn unter dem Terminus London verstand. An einer Stelle finden sich als Ausgangspunkt genauere Angaben dazu, was Lichtenberg sich von der Ausdehnung her unter dem Begriff London vorgestellt hat. Er schreibt in einem Brief kurz vor seiner Abreise aus England an Baldinger: "Ich hatte unter 800.000 Seelen, die London enthält"190. Dieser kurze Vermerk gibt dem Leser zumindest den Hinweis, dass es sich in Lichtenbergs Wahrnehmung bei London nicht nur um die City of London handelte, sondern er den gesamten großstädtischen Komplex unter diesem Signum zusammenfasste, denn anders lässt sich die Zahl der Einwohner nur schwer erklären, da nur ein Bruchteil dieser Summe in den 1770ern noch in der ursprünglichen City of London lebte. An anderer Stelle diskutierte er die alten Vorrechte der Stadt London und bediente sich dabei einer extra gewählten Konstruktion. Er schreibt: "Die Stadt London hat sehr große Vorrechte. [...] Des Königs Truppen können nicht ohne des Lord Mayors Erlaubnis durch die City marschieren. [...] Am ersten Lord Mayors-Tag nach der Krönung speist der König mit dem Lord Mayor und dem Rat."191 Er schreibt an dieser Stelle nicht nur „London“, sondern "die Stadt London" und "die City". Dies kann als Abgrenzung der City of London vom Rest der Großstadt gelesen werden oder ggf. als Unkenntnis der rechtlichen Verhältnisse. Es ist durchaus möglich, dass Lichtenberg hier die reichsstädtische Organisation, welche sein typischer Erfahrungsrahmen gewesen ist, mehr oder weniger unreflektiert auf London übertrug, indem er die am ehesten zutreffenden Äquivalente der typischen Honoratioren einer Stadt im Reich – Bürgermeister und Ratsherren – hier durch den Lord Mayor und die Aldermen ersetzte.192 In jedem Fall existierte bei ihm trotzdem ein Bewusstsein dafür, dass 189 Ebd. S. 168. Lichtenberg, Schriften und Briefe III, S. 364. 191 Lichtenberg, Sudelbücher, S. 656. 192 Auch wenn diese Honoratioren von ihm nicht sonderlich geschätzt werden. An einer Stelle zieht er den Vergleich zwischen dem König und seinem Parlament zu dem Lord Mayor und den Aldermen mit den Worten: "Sie vergleichen sich mit dem König, Oberhaus, Unterhaus und Freemen, in der Tat ist eine Ähnlichkeit 190 68 "die Stadt London" und "die City" nicht deckungsgleich waren, woraus der Schluss gezogen werden kann, dass die zuerst allgemein genannte Stadt London die obere Ordnungskategorie darstellte und die später im speziellen erwähnte City auf einer unteren Gliederungsebene zu suchen war oder aber das Lichtenberg die Begriffe eher wenig reflektiert benutzte. Es finden sich nämlich wenige andere Belegstellen für eine Beschäftigung mit der juristischen Gliederung der Stadt durch den Göttinger. Auch ansonsten findet sich die Annahme von der unreflektierten Benutzung der Begriffe in anderen Passagen bestätigt, denn ihm war auch die Anthropomorphisierung der Großstadt kein unbekanntes Stilmittel. Vor allem wenn er von Schauspielen oder Opern spricht, finden sich Äußerungen wie die folgenden zur Sängerin Dido Gabrielli. Nachdem die Sängerin einige Vorstellungen wegen Krankheit hatte ausfallen lassen müssen, attestierte er bei sich und den Einwohnern der Stadt ein Massenphänomen. Er schreibt in seinem letzten Brief aus London: "Eine bis zur Raserei gestiegene Influenza Signora zu sehen hatte London befallen."193 Etwas später wiederholt sich die rhetorische Figur, als er folgende Zeilen notiert: "Dido Gabrielli, in Gold und weißer Seide, flog vor einer silbernen karthaginesischen Garde unter dem Beifall Londons daher."194 Selbstverständlich sind diese sprachlichen Figuren heute nicht unüblich und waren es wohl auch zu Lichtenbergs Zeiten nicht unbedingt, aber sie zeigen eindeutig, dass unter dem Begriff London mehr verstanden wurde als die City an sich. Ganz explizit wird dies in einem Brief an Baldinger vom Januar 1775, als er die City of London explizit als "diesen Teil der Stadt, the City (..)"195 bezeichnete und damit unzweifelhaft klar machte, dass in seiner Wahrnehmung die City nur ein Bestandteil der Großstadt und nicht selbstständige Einheit war. Sie stand auf derselben Ordnungsebene wie andere Stadtteile auch. Ein Effekt in der Wahrnehmung, den man bereits bei Uffenbach und Pöllnitz beobachten konnte. Es scheint bei allen Reisenden bisher so zu sein, dass die Wahrnehmung des städtischen Raums als großstädtisches Ensemble die Wahrnehmung von Partikularstädten überlagerte. In der Perspektive der Reisenden war die Großstadt längst zu einer Einheit zusammengewachsen, auch wenn dies rechtlich noch nicht der Fall gewesen war. Lichtenbergs London ist im Vergleich zu den beiden zuvor betrachteten Fällen eine deutlich facettenreichere Stadt. Was bei Uffenbach noch fast ein wenig museal als Aneinanderreihung von Sehenswürdigkeiten und bei Pöllnitz als exklusiver Treffpunkt der zwischen beiden, so wie zwischen einem Regiment Preußen und der Götingischen Schützen-Compagnie."Ebd. S. 668. 193 Lichtenberg, Briefe, S. 363. 194 Ebd. S. 364. 195 Lichtenberg, Briefe, S. 155. 69 englischen Oberschicht erschien, bekam bei Lichtenberg deutlich mehr Schattierungen. Obwohl auch Lichtenberg Teil der Oberschicht seines Landes war und auch in England in dieser Schicht zu verorten wäre, hatte er viele Aspekte der Stadt im Blick. Über den gesamten Zeitraum seines Aufenthalts besuchte er sowohl die großen Sehenswürdigkeiten wie St Paul‘s, das Parlament, den Tower, London Bridge etc. als auch die umliegenden ländlichen Gemeinden, in denen er zeitweise monatelang lebte. Er lieferte den Empfängern seiner Briefe einerseits einen tiefen Einblick in seine Erfahrung der Großstadt, andererseits verfestigte er durch sein Schreiben auch den Eindruck von London als ein außergewöhnliches und nur schwer in angemessene Worte zu fassendes Phänomen. Im Vergleich zum kleinen Göttingen ist dies auch sicherlich zutreffend, aber die Unfähigkeit bzw. der Unwillen, London als Begriff zu fassen, wird auch hier augenscheinlich. Lichtenberg musste sich immer ausgefallenerer Methoden bedienen, um seine Eindrücke zu transportieren, was den eklatanten Mangel an etablierten Vergleichsmaßstäben deutlich macht. London bleibt auch bei ihm ein Eindeutigkeit suggerierender, aber im Grunde diffuser Begriff, der auf vielfältige Weise ausdefiniert werden konnte. Eindeutig ist jedoch, dass London für Lichtenberg nicht nur die City of London war, sondern eine einzelne Großstadt, auf der die Stadtteile lediglich den Stellenwert von Gliederungseinheiten einnahmen. London wurde in den Briefen Lichtenbergs also als ein einheitlicher – im Sinne eines nicht artifiziell untergliederten städtischen Verbunds – aber gesellschaftlich heterogener Raum gleichsam von ihm selbst erfahren und in seinen Briefen für deren Empfänger konstruiert. Die Doppelgestalt der persönlichen Internalisierung und der darauf folgenden Externalisierung sowie die Prozesse der Synthese / Mapping und des Spacing fallen hier besonders ins Auge. Gleichzeitig ist es vor allem die Unbeschreiblichkeit der Stadt in all ihren Facetten, die dem Leser vorgeführt wurde. Es ist dem Schreiber kaum möglich, die Dimensionen und Schichten Londons in die ihm zur Verfügung stehenden Kategorien der Erfahrung und Beschreibung einzusortieren, so dass er immer wieder aufs Neue gezwungen war, sich mit Wortneuschöpfungen und Metaphern zu behelfen. Die Art und Weise wie über eine Großstadt wie London zum einen gedacht und zum anderen kommuniziert werden konnte, befand sich zu diesem Zeitpunkt noch im Stadium der Genese. Die Großstadt ist ein Erfahrungsraum, der im späten 18. Jahrhundert noch so außergewöhnlich ist, dass der kommunikative Rahmen dafür lediglich improvisiert werden konnte und sich hinter einem Städtenamen wie London ein unübersichtliches, schwer zu beschreibendes Kaleidoskop menschlichen Zusammenlebens verbarg, das sich auf vielen Ebenen den Deutungsansprüchen der Zeitgenossen entzog. 70 4.5. Moritz' Reisen eines Deutschen in England Als letzter Fall eines Reisenden nach London, ist dieses Kapitel dem Reisebericht Karl Philipp Moritz "Reisen eines Deutschen in England 1782" gewidmet. Karl Philipp Moritz war, genau wie Lichtenberg, kein adliger Kavalier, der sich im Rahmen seiner Grand Tour nach London begeben hätte, sondern ein Mann aus sehr bescheidenen Verhältnissen, der seine Reise nach London als Teil eines Bildungsprogramms antrat. 196 Sein Reisebericht, den er ein Jahr nach seiner Reise um Jahre 1783 veröffentlichte, verhalf ihm zu seinem ersten Ruhm als Schriftsteller und sorgte mit dafür, dass er weitere Schriften und Romane veröffentlichte, die sich allerdings nicht wieder mit dem Reisethema beschäftigt haben. 197 Trotzdem war sein Werk so bekannt, dass es sogar in die englische Sprache übersetzt wurde und dort ebenfalls eine gewisse Verbreitung fand. Eine Tatsache, die in dieser Form nur auf wenige Reisezeugnisse zutrifft und Moritz' Bericht somit durchaus zu einem herausragenden und in der Forschung vergleichsweise stark rezipiertem Beispiel seiner Art macht.198 Zu der Zeit seiner Reise war er, nach einer gescheiterten Ausbildung als Hutmacher und einem Studium der Theologie, als Lehrer an einem Berliner Gymnasium angestellt und lebte seit einigen Jahren in der preußischen Hauptstadt. Die Stadt Berlin wurde in seinen Briefen dementsprechend auch immer wieder als referenzieller Bezugspunkt genutzt. Sein Reisebericht ist in Briefform an einen Herren Direktor Gedike abgefasst und umfasst den Zeitraum vom 31.05.1782 bis zum 18.07.1782. Die Briefform war, wie bereits erwähnt, keine ungewöhnliche äußere Form, um das Erlebte möglichst wirklichkeitsgetreu und unmittelbar an den Leser weiterzugeben.199 Moritz bewegte sich hier also durchaus im Rahmen der Reiseliteraturkonventionen seiner Zeit, zumal er seine Briefe noch weiter strukturierte. Die einzelnen Briefe waren jeweils mit dem Ort überschrieben, von dem aus sie geschrieben wurden, außerdem fügte er des Weiteren Zwischenüberschriften ein, wenn er von einem besonders herausragenden Ort redete. Diese innere Strukturierung half dem Leser, sich 196 Biografische Hinweise zu Moritz: Meier, Albert, Moritz, Carl Philipp, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 149-152. 197 Moritz ist heute eher als Romanautor, denn als Reiseliterat bekannt. Sein Roman "Anton Reiser"ist sein meist gelesenes Buch und wird auch in der Wissenschaft deutlich stärker rezipiert als es sein Reisebericht bisher wurde. Vgl. dazu exemplarisch: Dobstadt, Michael, Existenzmagel und schwankendes Ich. Georg Christoph Lichtenberg und Karl Philipp Moritz im Kontext einer Krisengeschichte neuzeitlicher Subjektivität, Würzburg 2009. 198 In ihrem einleitenden Kapitel gibt Ute Heidemann Vischer einen guten Einstieg in die Rezeptionsgeschichte von Moritz‘ Text, sowohl im deutschsprachigen wie auch im englischen Raum. Vgl.: Heidemann Vischer, Ute, Die eigene Art zu sehen. Zur Reisebeschreibung des späten achtzehnten Jahrhunderts am Beispiel von Karl Philipp Moritz und anderen Englandreisenden, Bern 1993, besonders: S. 1 - 33. 199 Griep, Reiseliteratur, S. 754. Der Adressat war in diesem Fall eine tatsächlich existente Person und ein Freund von Moritz, nicht wie in manchen Reiseberichten eine literarische Figur: Vgl. dazu: Heidemann Vischer, Art zu sehen, S. 99f. 71 besser im Textfluss zu orientieren und hob natürlich auch bestimmte Fixpunkte der Wahrnehmung des Autors formal hervor. In der Zeit seiner Reise besuchte Moritz nicht nur London, sondern auch noch weitere Städte wie Oxford, Kensington oder Windsor. Die Hauptstadt England nahm allerdings aus verschiedenen Gründen eine besondere Stellung in diesem Bericht ein. Zum einen verbrachte er dort mehr Zeit als in jeder anderen Stadt, was sich auch in dem Umfang niederschlug, in dem er von London berichtete, denn das erste Drittel des Berichts drehte sich nahezu ausschließlich um die Großstadt. Zum anderen kam er auch in seinen Berichten über die anderen Orte in England immer wieder auf London als Hauptreferenzrahmen neben Berlin zurück. Wie viele Reisende zog es auch Moritz besonders nach England, das, wie auch in den vorherigen Analysen bereits deutlich wurde, bereits fester Teil sowohl von großen Kavalierstouren als auch von Bildungsreisen war. So schreibt auch Moritz in seinem ersten Brief, den er noch mit der Ortsangabe "Themse" versah: "Endlich liebster G..., befinde ich mich zwischen den glücklichen Ufern des Landes, das zu sehen Jahre lang mein sehnlichster Wunsch war, und wohin ich mich so oft in Gedanken geträumt habe."200 Eindeutiger konnte Moritz seinem Reiseziel keine Vorschusslorbeeren verleihen und den Leser von Beginn an dem Reiseziel gegenüber positiv stimmen. Sein erster Eindruck von London entsprach ebenfalls den Tendenzen, wie sie in den anderen Berichten festgehalten werden konnten. Die Größe und Vielfalt der Großstadt wirkte auf den ersten Blick offenbar einschüchternd auf den Reisenden. Er schreibt in dem Unterkapitel "Die Aussicht von London" aus seinem ersten Brief aus London, der auf den 02.06.1782 datiert: "Wie näherten uns mit großer Schnelligkeit, und die Gegenstände verdeutlichten sich alle Augenblicke. Die Westminsterabtei, der Tower, ein Turm, eine Kirche nach der andern, ragten hervor; Schon konnte man die hohen runden Schornsteine auf den Häusern unterscheiden, die eine unzählige Masse kleiner Türmchen auszumachen schienen [...] In den Straßen wodurch wir fuhren, behielt alles ein dunkles und schwätzliches, aber doch dabei großes und majestätisches Aussehen. Ich konnte London seinem äußeren Anblick nach, in meinen Gedanken mit keiner Stadt vergleichen, die ich sonst gesehen hatte."201 Es war also auch bei Moritz vor allem die Unbeschreiblichkeit der Erfahrung, die den ersten Eindruck dominierte und die er an seine Leser weitergab. In Moritz‘ eigenem Erfahrungshorizont gab es offensichtlich kein vergleichbares urbanes Erlebnis, das sich mit London messen konnte. Trotzdem zog er an vielen Stellen die preußische Hauptstadt Berlin 200 201 Moritz, Karl Philipp, Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782, Berlin 1903, S.5. Ebd. S. 8ff. 72 oder andere große Städte des Reichs als Vergleichspunkt heran, um dem Leser einen Maßstab an die Hand zu geben, um die geschilderten Erlebnisse und beschriebenen Orte, sowie die Distanzen zwischen ihnen in einen sinnvollen Kontext sortieren zu können. Unmittelbar im Anschluss an den gerade zitierten ersten Eindruck schreibt er beispielsweise: "Sonderbar ist es, daß mir ohngefähr vor fünf Jahren beim ersten Eintritt in Leipzig, gerade so wie hier zu Mute war [...]."202 Nur um dann wenige Seiten später zugeben zu müssen "Beinahe sind die Londner Plätze und Straßen weltbekannter, als die meisten unserer Städte."203 Die besondere Stellung Londons im europäischen Städtekosmos wurde hier nicht nur erwähnt, sondern auch noch stark überzeichnet, so dass die Vergleiche mit den deutschen Städten oder Orten direkt relativiert wurden. Betrachtet man die besuchten Orte, so fällt auch hier auf, dass sich ein gewisser Kanon bei den essentiellen Orten der Stadt herausgebildet hatte. Moritz besuchte St Paul‘s204, Westminster Abbey205, St James‘s Park206, den Tower207, die Börse208, das britische Museum209, verschiedene Theater210, das Parlament211 etc. Das waren alles Fixpunkte, die bereits von anderen Reisenden besucht und beschrieben worden waren und bis in die Gegenwart als Wahrzeichen der Großstadt London gelten. Moritz‘ Erfahrung bewegte sich in diesem Punkt also auch in den Bahnen, die seine Vorgänger gezogen hatten und denen leicht zu folgen war. Dass eine explizite Vorbildung stattgefunden hatte, lässt sich ohne größere Schwierigkeiten aus dem Bericht herauslesen. An einigen Stellen verwies Moritz direkt oder indirekt auf die Lektüre, die er zur Vorbereitung genutzt hatte, zwar nicht so offensiv wie es beispielsweise Uffenbach tat, aber trotzdem deutlich erkennbar. In seinem Brief vom 09.06.1782 notiert er beispielsweise: "Heute habe ich in der deutschen Kirche in Ludgatehill für Herrn Pastor Wendeborn gepredigt. Er ist der Verfasser der statistischen Beiträge zur näheren Kenntnis Großbritanniens. Dieses schätzbare Buch hat mir schon außerordentliche Dienste geleistet, und ich möchte einem jedem raten, der nach England reist, sich dieses Buch anzuschaffen, das um desto brauchbarer wird, weil man es bequem in der Tasche tragen, und sich allenthalben daraus Rats erholen kann."212 202 Ebd. S. 10. Ebd. S. 12. 204 Ebd. S. 55ff. 205 Ebd. S. 58ff.. 206 Ebd. S. 12ff. 207 Ebd. S. 148. 208 Ebd. 209 Ebd. S. 40f.. 210 Ebd. S. 41f. 211 Ebd. S. 29ff. 212 Ebd. S. 19. 203 73 Die persönliche Vorbereitung auf die Reise durch das Studium einschlägiger Schriften stellte also auch hier den ersten Schritt in der persönlichen Aneignung des Raumes durch den Reisenden dar. Es ist davon auszugehen, dass bereits vor der Ankunft in der Großstadt eine grobe mental map im Kopf des Neuankömmlings vorhanden war, die anhand bekannter Vergleichsgrößen skaliert und durch das Urteil der vorangegangenen Reisenden wertend eingefärbt war. Eine solche wertende Vorprägung trat dem Leser beispielsweise aus den ersten Beschreibungen des St James‘s Park entgegen. Moritz schreibt: "Und doch macht man sich eine so hohe Idee von dem St. James-Park und andern öffentlichen Plätzen in London: das macht, weil sie mehr als die unsern in Romanen und Büchern figuriert haben."213 Ein anderes Beispiel für dieses Phänomen ist die Beschreibung des Lustgartens Ranelagh im Brief vom 13.06. Dort formuliert er: "So oft ich von Ranelagh gehört hatte, machte ich mir doch keine deutliche Vorstellung davon [...]. Ich schloß nun, dies könne unmöglich das prächtige, gepriesne Ranelagh sein [...]. Aber welch ein Anblick, als ich auf einmal aus der Dunkelheit des Gartens in ein von vielen hundert Lampen erleuchtetes rundes Gebäude trat, das an Pracht und Schönheit alles übertraf, was ich noch dergleichen gesehen hatte!"214 Es ist nicht zu übersehen, dass Moritz über eine gewisse Vorbildung diese Orte betreffend verfügt haben muss. Diese inneren Vorstellungen wurden bei dem tatsächlichen Besuch der Orte mit der vorgefundenen Wirklichkeit verglichen und so ein spezifisches eigenes Bild erzeugt, welches dem Leser schließlich entgegentrat. Man kann hier den Prozess der Konstruktion des persönlichen Bildes in mehreren Stufen hervorragend verfolgen und aufzeigen. Neben diesen Abgleichen mit angelesenem oder auf anderen Wegen durch Dritte erworbenem Wissen, bildete der Vergleich mit bekannten Größen einen Fixpunkt in Moritz‘ Schreiben. Wie bereits erwähnt, ist es hier vor allem die Stadt Berlin, in welcher Moritz zu dieser Zeit lebte, die den Rahmen des Vergleichs darstellte. Vergleiche mit Berlin finden sich an vielen Stellen des Buches und besitzen einen merkwürdigen Doppelcharakter in ihrer Funktion. Zwar postulierte er zu Beginn seines Berichts: "Ich konnte London seinem äußeren Anblick nach, in meinen Gedanken mit keiner Stadt vergleichen, die ich sonst gesehen hatte."215 Trotzdem zog er Berlin einige Seiten später direkt als Vergleichspunkt heran. Besser gesagt: Er nahm den Tiergarten als Vergleichspunkt zum St James‘s Park, wenn auch nur um die Unbotmäßigkeit dieses Vergleichs zu betonen: "Wie wenig aber dieser so berühmte Park 213 Ebd. S. 12. Ebd. S. 26f. 215 Ebd. S. 10. 214 74 mit unserm Berliner Tiergarten zu vergleichen sei, darf ich nicht erst sagen."216 Der Vergleich war seiner Wahrnehmung nach notwendig, zeigt sich aber kein Stück zielführend. Die Unbeschreiblichkeit der Erfahrung brauchte offenbar einen defizitären Vergleich um ihre Einzigartigkeit verständlich machen zu können. Es wurde ein Rahmen beschworen, der dem Leser wahrscheinlich vertrauter als die Erfahrung von London war, um gerade die Unmöglichkeit der Kategorisierung der Großstadt zu verdeutlichen. An einer Stelle, die die Aussicht von der Spitze von St Paul‘s beschreibt, findet sich dieses Stilmittel in besonders pointierter Form. Moritz beschrieb zunächst die Ausmaße der Großstadt London, um diese dann abschließend in einen defizitären Vergleichsrahmen zu stellen: "Wie groß kam mir Berlin vor, als ich es zum erstenmal vom Marienturm und vom Tempelhoffschen Berge übersah: wie verschwindet es jetzt in meiner Vorstellung gegen London."217 Der Vergleich wird absolut linear aufgebaut – der Ausblick von einem erhöhten Punkt aus über die gesamte Stadt – um die Unvergleichbarkeit des jeweiligen Ergebnisses miteinander festzustellen und so London in eine Sphäre zu heben, die Berlin in dieser Form nicht erreichen konnte. Diese Vorgehensweise findet sich in verschiedenen weiteren Passagen des Berichts und ist nicht allein auf die Größe Londons beschränkt. Auch die einzelnen Orte, die ggf. Äquivalente in Berlin hatten, wie der bereits oben genannte Tiergarten, wurden im Rahmen des Berichts auf diese bezogen. So schreibt Moritz über die Gärten in Vauxhall: "Ich fand beim Eintritt wirklich einige Ähnlichkeit mit unserm Berliner Vauxhall, in sofern man kleines mit größerm vergleichen kann [...]".218 Auch an Stellen, an denen London Berlin aus der Sicht Moritz‘ unterlegen war, findet sich ein anderer Aspekt, der den ersten sofort relativiert. Er schreibt beispielsweise: "So weit ich diese paar Tage über London durchgestrichen bin, habe ich, im Ganzen genommen, nicht so schöne Häuser und Straßen, aber allenthalben mehr und schönere Menschen, als in Berlin, gesehen."219 Zwar sind die Gebäude Londons nicht herausragend, dafür aber die Menschen, die in der Stadt leben oder sie besuchen umso mehr. Die scheinbare Überlegenheit Berlins wird durch den zweiten Punkt unmittelbar aufgehoben und betont im Gegenteil eher die Ausnahmestellung Londons denn die Vergleichbarkeit Berlins. Noch deutlicher wurde dies allerdings in den Passagen, in denen es um die Weitläufigkeit der britischen Hauptstadt ging: "Von meiner Wohnung in Adelphi bis an die Königliche Börse, ist wohl so weit, wie von einem Ende Berlins zum andern, und bis an den Tower und St. Catharins [...] ist wohl noch 216 Ebd. S. 12. Ebd. S. 57. 218 Ebd. S. 22. 219 Ebd. S. 16. 217 75 einmal so weit, und diesen Weg habe ich [...] schon zweimal zu Fuße gemacht."220 Der Maßstab Londons muss hier also schon in einem Vielfachen Berlins ausgedrückt werden, um die Erfahrung überhaupt angemessen transportieren zu können. Die Ausmaße der Großstadt übertrafen jede Kategorie, die Berlin zum Vergleich anbieten konnte. Der Vergleich ermöglichte also gleichzeitig die Einordnung in einen persönlichen Kontext und zeigte einem durch das Aufzeigen der Begrenztheit dieses Kontexts den überbordenden und im Prinzip vergleichslosen Maßstab Londons auf. Was den Maßstab der Großstadt London an sich beziehungsweise ihre Grenzen betraf, so zeigte sich Moritz ebenfalls reflektiert und scheint über die juristischen Grenzen profunder informiert zu sein als dies bei Uffenbach, Pöllnitz oder Lichtenberg der Fall war. Zum einen unterschied er zwischen der Großstadt London auf der einen und der City of London auf der anderen Seite. Beide Begriffe waren ihm nicht nur geläufig, sondern sie wurden auch klar abgrenzend voneinander benutzt, indem er einerseits allgemein von London, im Speziellen dann allerdings von „der eigentlichen City“221 sprach, wenn er die City of London meint. Deutlich wird seine Kenntnis der Materie auch daran, dass er den Begriff nicht einfach nur als ein Synonym für die Innenstadt oder einen ansonsten gleichberechtigten Teil der Stadt benutzt, sondern ihn klar als Bereich gesonderten Rechts darstellt. In einer Passage, in der er die Meinungen des englischen Volkes über die Monarchen Preußens und England vergleicht, schreibt er: „[…] da sich in London, oder der eigentlichen City, nicht einmal ein Trupp Soldaten von des Königs Garde darf blicken lassen. Vor einigen Tagen habe ich auch den Zug des Lordmayors in London, in einem ungeheuer großen, vergoldeten Wagen gesehen, welchem eine erstaunliche Menge von Kutschen folgten, in denen die übrigen Magistratspersonen oder sogenannte Aldermänner von London sitzen.“222 Das Zusammenspiel der Differenzierung zwischen kleiner City und größerem London mit der Wahrnehmung der Amtspersonen der City deutet auf eine tiefergehende Kenntnis der administrativen Gegebenheiten der Großstadt hin. Der Begriff ‚London‘ wird von Moritz zumeist dann benutzt, wenn er von der Gesamtheit der Großstadt spricht, auch wenn er dies nicht immer einhält und den Terminus in manchen Kontexten eher frei verwendet. An einer Stelle zu Beginn seines Berichts erwähnt er allerdings explizit den geografischen Rahmen, den er der Stadt in seiner Wahrnehmung gibt. Er schreibt folgendes zu dem Thema: 220 Ebd. S. 19. Ebd. S. 33. 222 Ebd. S. 39. 221 76 "Von hieraus hatte ich den schönsten Anblick, den man sich nur denken kann. Vor mir lag die Themse in ihrer Krümmung mit den prächtigen Schwibbögen ihrer Brücken; Westminster mit seiner ehrwürdigen Abtei zur rechten, und London mit seiner Paulskirche zur linken Seite, bog sich mit den Ufern der Themse vorwärts und am jenseitigen Ufer lag Southwark, das jetzt auch mit zu London gerechnet wird. Hier konnte ich also beinahe die ganze Stadt, von der Seite von wo sie der Themse zugewandt ist, mit einem Blick übersehen."223 Hier wurde der Name London von ihm zwar synonym für die City of London benutzt, aber der abschließende Satz und die Kennzeichnung des Beschriebenen als "ganze Stadt" machte deutlich, dass Westminster, Southwark, London und weitere Teile als ein großer städtischer Verbund gesehen wurden, in welchem die einzelnen Teile nicht selbstständig, sondern nur als untergeordnete Kategorien betrachtet wurden. Die erfahrene Praxis des freien Verkehrs zwischen den einzelnen Teilstädten hatte dafür gesorgt, dass der gesamte großstädtische Raum zwar als gegliedert, aber nicht separiert wahrgenommen wurde. London stand eben nicht nur für die City of London, sondern auch pars pro toto für die gesamte Großstadt. Diese Beobachtung wird an einer späteren Passage des Berichts noch deutlicher, als Moritz zu einer anderen Gelegenheit noch einmal seine Eindrücke von einer Betrachtung der Stadt aus einer erhöhten Position, dem Turm von St. Pauls, beschreibt: "Ich wandte mich von einer Seite, von einer Weltgegend zur andern, und studierte recht die Aussicht, um meiner Einbildungskraft ein immerwährendes Bild davon einzuprägen. Unter mir lagen in der Tiefe, Türme, Häuser und Paläste, im dicksten Gedränge, und die Squares, mit ihren grünen Plätzen in der Mitte, machten dazwischen ein angenehmes Kolorit. An dem einen Ende der Themse ragte der Tower, wie eine Stadt, mit einem Wald von Masten hinter ihm, und an dem andern die Westminsterabtei, mit ihren Türmen, empor. Dort lächelten die grünen Hügel längst der Gegend von Paddington und Islington; hier lag Southwark am jenseitigen Ufer der Themse. Die Stadt war beinahe unübersehbar, denn wenn sie schon an sich aufhört, erstreckt sie sich doch fast immer noch in einzelnen Häusern an den Seiten der Heerstraße bis zu den benachbarten Plätzen fort."224 In der Wahrnehmung Moritz‘ war die alltägliche Erfahrung der Stadt längst an einem Punkt angelangt, an dem sie die administrative bzw. juristische Praxis überholt hatte, obwohl man theoretisch noch darüber Kenntnisse besaß. Das ungeheure Wachstum der Stadt wurde hier in einer Momentaufnahme festgehalten, wenn Moritz von den Häusern schrieb, die sich entlang der Heerstraße weiterzogen. Allein der Anblick des großstädtischen Raums machte offensichtlich klar, dass die Großstadt längst ein gewisses Eigenleben entwickelt hatte, das sich weit über die Grenzen der Gesetzgebung hinwegbewegt hatte. Im Alltag bewegte man sich dann auch längst, wie auch schon bei den zuvor betrachteten Reisenden, über diese administrativen Grenzen hinweg und strukturierte den 223 224 Ebd. S. 13. Ebd. S. 57. 77 großstädtischen Raum nicht durch seine Verwaltungsgliederung, sondern eher durch seine markanten Orte, die dem wachsenden städtischen Raum so etwas wie eine geteilte Identität verliehen. Die herausragenden Landmarken wie die St Paul‘s, Westminster Abbey, die verschiedenen kleineren Kirchen oder die Themse selbst halfen dabei, die Stadt bzw. ihre Teile deutlich zu kennzeichnen und eindeutig identifizierbar zu machen, weit mehr als andere Gliederungsoptionen. In der alltäglichen Erfahrung des Raumes waren es ohnehin mehr die großen Kreuzungen und ihre Verbindungen untereinander, die die Bewegung durch den Raum strukturierten und die Großstadt so erfahrbar gemacht hatten. Bei der Orientierung und Bewegung durch den Raum spielten persönliche Kenntnis, Erfahrung und im Zweifelsfall das Gespräch mit einem Einheimischen,225 weit vor der Orientierung an Stadtteilen, die wichtigsten Rollen. Bei seinen Erkundungsgängen durch die Stadt schienen sich bei Moritz gewisse Wege fest eingeprägt zu haben, denn er erwähnt sie explizit: "Noch eine weitere Tour habe ich ziemlich oft gemacht, über Hannoversquare, und Kavendischsquare, noch Bullstroatstreet, bei Paddington [...]."226 Überhaupt war Moritz ein passionierter Fußgänger und redete viel und ausgiebig über diese Art der Fortbewegung. Nicht nur in der Stadt, sondern auch über Land, was ihm einigen Ärger einbrachte, da er außerhalb Londons immer für einen Landstreicher gehalten und schlecht behandelt wurde.227 In der Stadt "erspart man sich viel, wenn man zu Fuße geht"228, nicht nur weil die Kutschen seiner Auffassung nach zu teuer waren, sondern weil die gewonnenen Eindrücke einer Kutschenfahrt offensichtlich weit weniger einprägsam waren als die eines Spazierganges zu Fuß. An den wenigen Stellen, an denen er Kutschen als Fortbewegungsmittel nutzte und dies auch aufschrieb, finden sich nur kurze Verweise auf die Fahrt, wie man es auch bei den Berichten der vorherigen Reisenden beobachten konnte. Nach seinem Besuch im Garten Ranelagh notiert er beispielsweise lediglich: "Und ich dann auch eine Kutsche nahm und nach Hause fuhr."229 Der Weg mit der Kutsche hinterließ also weder bei Moritz noch bei Uffenbach, Pöllnitz oder Lichtenberg einen prägenden Eindruck. Die Erschließung und persönliche Strukturierung des Raumes funktionierte entweder auf bestimmten zuvor angelesenen Pfaden, oder auf Spaziergängen durch die Stadt bzw. zwischen den großen Landmarken und um diese herum. Auf diese Art und Weise konstruierte der jeweilige Reisende seine persönliche innere Karte der Stadt, die er dann in seinem Bericht 225 Ebd. S. 11, 30. Ebd. S. 53f. 227 Ebd. S. 68, 77, 96. 228 Ebd. S. 19. 229 Ebd. S. 29. 226 78 niederschrieb und so seinen Leser vermittelte, die dieser dann erst einmal als Spiegel der Stadt wahrnahm und ggf. für die Konstruktion seines eigenen Bildes der Großstadt benutzte. Die Rezeption der Berichte durch nachfolgende Generationen von Reisenden fand sich unmittelbar in deren Texten wieder und auch die Folgen waren, wie erwähnt, in den Reflextionsprozessen des Vergleichs zwischen der angelesenen und der erlebten Realität abzulesen.230 Insgesamt war das von Moritz beschriebene London das "typische" London des Bildungsreisenden. Er beschrieb die zentralen Orte der Stadt, die ein jeder Reisender seiner Meinung nach gesehen haben sollte, er besuchte Theater, das Parlament, Lustgärten und das Land um die Großstadt herum. Er umriss den großstädtischen Raum als einen zusammenhängenden Komplex einzelner Bestandteile, der sich noch immer im Wachstum befand, obwohl er längst den Vergleichsrahmen verlassen hatte. London als Großstadt sprengte jeden möglichen Vergleich mit Städten im Reich und Moritz gab sich alle Mühe diese Außergewöhnlichkeit des Erlebten seinem Leser in all seinen Dimensionen deutlich zu machen. Er erwähnte auch an einigen Stellen die abgründigeren Seiten der Großstadt, allerdings immer nur beiläufig, wie zur notwendigen, aber ungeliebten Vervollständigung eines Bildes der Stadt. Er erwähnte die "Frechheit der hiesigen unzüchtigen Weibspersonen"231, "Beutelschneiderei"232, sowie Raub und Mord, jedoch immer nur als Randnotiz seines jeweiligen Kapitels. Bei einer Erwähnung eines Raubmordes in London schreibt er exemplarisch: "[...] denn noch vergangene Woche ist auf eben diesem Wege ein Mensch beraubt und erschlagen worden. Doch nun von etwas anderem."233 Erst auf seinen Reisen durch das Umland widmet er sich den verschiedenen Arten von "Spitzbuben"234 in England genauer bzw. bringt die Unterschiede dem Leser näher.235 In der Großstadt London selbst hingegen blieb dieses Thema randständig und musste zu Gunsten der als wichtiger erachteten Betrachtungen zurücktreten. Der Fokus des Berichts lag nun einmal nicht auf den erwähnten Schattenseiten des großstädtischen Lebens, sondern auf den Erlebnissen und Errungenschaften, die dem anvisierten Publikum eher gefallen würden. Die Art und Weise der Aneignung und Konstruktion des großstädtischen Raumes funktionierte bei ihm allerdings auf 230 Am einprägsamsten wurde dies sicherlich bei Uffenbach, der seine Quellen explizit erwähnte. Generell zu dem Phänomen: Maurer, Michael, Reiseberichte, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften. Band 4: Quellen, hrsg. v. Michael Maurer, Stuttgart 2002, S. 328f. 231 Moritz, Reisen, S. 23. 232 Ebd. S. 24. 233 Ebd. S. 40. 234 Ebd. S. 62. 235 Ebd. S. 62f. 79 die gleiche Art und Weise wie bei seinen Vorgängern, auch wenn die Großstadt im Laufe des betrachteten Zeitraums noch bedeutend gewachsen war. 80 5. Wahrnehmung der Stadt von innen: London im Spiegel seiner Bewohner 5.1. Defoe - A tour through the whole island of Great Britain Nachdem im vorangegangenen Kapitel die Eindrücke, Konstruktionen und Wahrnehmungen Londons durch Reisende in die Stadt untersucht wurden, wendet sich der Blick der Arbeit in diesem Kapitel den Einwohnern der Stadt selbst und deren Beschreibungen bzw. Wahrnehmungen und Erfahrungen der Großstadt zu. Einer dieser Einwohner war Daniel Defoe. Er wurde circa 1660 in London geboren, verbrachte den größten Teil seines Lebens in der Großstadt und viele seiner Texte befassen sich mit der Großstadt und ihren spezifischen Themen, auch wenn er seinen größten Ruhm durch den im Jahre 1719 erstmals verlegten Roman Robinson Crusoe erlangte.236 Die Grundlage dieser Untersuchung stellt allerdings nicht die weltberühmte Robinsonade, sondern sein zwischen 1724 und 1727 ursprünglich in drei Teilen erschienenes Werk "A tour through the whole island of Great Britain" dar. In diesem Reisebericht führte Defoe seinen Leser tatsächlich einmal durch sämtliche Gebiete Englands, Schottlands und Wales' und erklärte die jeweiligen Besonderheiten, Sehenswürdigkeiten etc. der jeweiligen Region. Überschrieben sind die Kapitel stets mit den Orten, von denen sie berichten und sie sind, wie im Rahmen des Reiseberichts dieser Zeit nicht unüblich, in Briefform geschrieben. Diese Briefe hatten allerdings keinen bestimmten Empfänger, denn Defoe wandte sich an kein bestimmtes individuelles Gegenüber. Die Briefform ist in diesem Fall, anders als beispielsweise bei Moritz, lediglich eine literarische Form und kein Hinweis auf einen ursprünglichen Entstehungskontext. Im Gegensatz zu beispielsweise Uffenbach oder Pöllnitz hatte Defoe zum Zeitpunkt der Abfassung des Buches bereits einigen literarischen Ruhm erworben und es ist davon auszugehen, dass er den Bericht bereits mit der Absicht zur Publikation geschrieben hat.237 Im Rahmen seines Berichts befasste sich Defoe unter anderem auch mit seiner Heimatstadt London, deren Bewohnern, Eigenheiten, Gliederungsebenen etc. Er wird wegen dieses Berichts und vieler seiner anderen Schriften als einer der großen zeitgenössischen 236 Zu Defoe ist im Laufe der Jahre eine unübersichtliche Vielzahl an Biografien geschrieben worden. Diese teilt sich größtenteils in die Kategorien der politischen und der schriftstellerischen Biografie auf. Ein aktuelles Beispiel für die erste Kategorie stellt beispielsweise Furbank, P.N., Owens, W.R., A Political Biography of Daniel Defoe, London 2006. dar. Eine etwas andere Stoßrichtung wählte unlängst Clark, Katherine, Daniel Defoe: The Whole Frame of Nature, Time and Providence, Basingstoke 2007. Zu den eher literarisch orientierten Biographien zählt beispielweise: Richetti, John, The Life of Daniel Defoe, Oxford 2005; oder: Riehle, Wolfgang, Daniel Defoe, Reinbeck 2002. 237 Aus seinen eigenen einleitenden Worten und seiner Begründung seiner Vorgehensweise lässt sich dies zweifellos ablesen. Defoes Werk war immer zur Publikation und als Beitrag zur Beschreibung des Landes gedacht. Vgl. zur Quellenkritik an Defoe auch: Dahlen, Peter von, Daniel Defoes Tour through the Whole Island of Great Britain und ihre Vorläufer. Ein Beitrag zum Gesellschafts- und Geschichtsbewußtsein Defoes, Köln 1975, besonders: S. 110 - 122. 81 Biografen seiner Stadt angesehen. Jack Lindsay beschreibt ihn in seiner Studie zu London mit folgender Aussage: "No writer more fully chronicled and discussed his City and his Time."238 Defoe hat in seinem Leben mehr als 500 verschiedene Pamphlete, Gedichte, Romane und andere Schritten veröffentlicht und kann damit nicht nur als ein einflussreicher, sondern auch als ein enorm produktiver Schreiber angesehen werden. Der hier zu Grunde liegende Reisebericht wurde erst in der Spätphase seiner schriftstellerischen Tätigkeit angefertigt und war das letzte große, mehrbändige Projekt, dass Defoe veröffentlichte. In den Bericht flossen die Erfahrungen aus verschiedenen Reisen des Autors in ein zusammenhängendes Werk ein.239 Die tatsächliche Orts- und Fachkenntnis des Autors, die Defoe auf seinen Reisen durch England, Frankreich und Italien gesammelt hatte, machten, neben dem sprachlichliterarischen Anspruch, die Popularität des Buches aus. Das Werk gilt als eines seiner bedeutendsten und hat zeitgenössisch und in der Bewertung durch Historiker viel Lob erhalten. Der Defoe-Biograf John Richetti beschreibt es beispielsweise als Defoes "best work, the book that most clearly represents him and does full justice to his talents".240 Wolfgang Riehle nennt es, trotz einiger Kritik an seiner mangelnden Originalität, ein "hochrangiges und bahnbrechendes Werk [...] geschrieben von einem journalistisch höchst begabten [...] sein Metier bestens beherrschenden Schriftsteller."241 Die Tour wurde und wird einhellig als wichtige Quelle für das Leben in Großbritannien im frühen 18. Jahrhundert gesehen und hat auch einiges zu London zu berichten. In seinem Bericht widmete Defoe ein gesamtes Kapitel bzw. einen ganzen Brief der Stadt London. Dieser fünfte von insgesamt dreizehn Briefen ist überschrieben mit dem Titel "Letter V Containing a Description of the City of London, as Taking in the City of Westminster, Borough of Southwark, and the Buildings Circumjacent". 242 Allein aus dem Titel lässt sich bereits die Sonderstellung der Stadt London herauslesen, wenn man sie mit den anderen Überschriften der Briefe des Bandes vergleicht. Der vorangegangene Brief ist beispielsweise mit "Letter IV. Containing a Description of the North Shore of the Counties of Cornwall, and Devon, and some Parts of Sommersetshire, Wiltshire, Dorsetshire, Gloucestershire, Buckinghamshire, and Berkshire"243 überschrieben, der folgende "Letter VI. Containing a Description of Part of the Counties of Middlesex, Hertford, Bucks, Oxford, 238 Lindsay, Jack, The Monster City. Defoe's London, 1688 - 1730, London / Toronto / Sydney / New York 1978, VII. Ebenfalls dort findet sich ein kurzer Abriss von Defoes publikatorischen Tätigkeiten. 239 Vgl. dazu: Heidmann Vischer, Art zu sehen, S. 63. 240 Richetti, Daniel Defoe, S. 324. 241 Riehle, Defoe, S. 124. 242 Defoe, Daniel, A Tour Through the Whole Island of Great Britain. Volume I, New York 1962, S. 314. 243 Ebd. S. 254. 82 Wilts, Somerset, Gloucester, Warwick, Worcester, Hereford, Monmouth, and the Several Counties of South and North-Wales". Wie man auf den ersten Blick feststellen kann, wurde weder in diesen Kapiteln noch in einem anderen einer einzelnen Stadt ein kompletter Brief gewidmet. London erschien somit bereits in der formalen Aufteilung des Buches als ein besonderer und aus dem Kontext gehobener Ort, dem man besondere Aufmerksamkeit widmen musste, um ihm gerecht werden zu können. Ferner liefert die Überschrift direkt einen Hinweis darauf, was Defoe alles unter den Begriff London fasste. Bereits in der Betitelung wird deutlich, dass Defoe London als Begriff für die gesamte Großstadt benutzte und nicht nur die City of London darunter fasste. Er erwähnte hier mit der City, Westminster und Southwark die klassischen drei Pole der Großstadt, um die herum sich die expandierende Großstadt formierte. Auch das unkontrollierte Wachstum und der nur schwer zu fassende Umriss der Stadt wurden in dem Begriff "Buildings Circumjacent" bereits angedeutet. Im eigentlichen Text wird diese Beobachtung an vielen Stellen gestützt. Zunächst einmal ist da das sicherlich bekannteste Zitat aus diesem Werk, in welchem Defoe bei dem Versuch, die Grenzen der Großstadt zu beschreiben angesichts des stetig expandierenden Londons zunächst feststellt, dass "all these put together, are still to be called London"244 und direkt im Anschluss die verzweifelt klingende Frage an seine Leserschaft stellt: "Whiter will this monstrous city then extend?"245 Es folgte eine enorm detaillierte Aufführung einer gedanklichen Linie, die die Begrenzung der Großstadt als Einheit beschreiben sollte. Defoe nennt das Vorhaben "A Line of Measurement, drawn about all the continued Buildings of the City of London, and Parts adjacent, including Westminster and Southwark, etc."246 In der Folge breitet er auf sechs Seiten eine genaue geografische Beschreibung der Begrenzung der Großstadt aus, um dann zu schließen: "Thus the extent or circumference of the continued buildings of the cities of London and Westminster, and borough of Southwark, all which, in the common acceptation, is called London [...]."247 Er nahm also für sich in Anspruch, einen gesellschaftlich geteilten Konsens zu beschreiben, wobei er sich nicht auf rechtliche bzw. schriftliche Quellen, sondern lediglich auf "common acceptation" stützen konnte. Diese Bemühungen, der Stadt eine Begrenzung zu geben, speisten sich aus Defoes Unwohlsein in Hinblick auf den unkontrolliert und rasant wachsenden Körper der Großstadt. Wenig später im Text musst Defoe sich auch selbst schon eingestehen, dass sein Aufwand doch nur eine Momentaufnahme darstellte. Noch einige Jahre vor seinem Bericht gab es eine 244 Ebd. S. 314f. Ebd. S. 315. 246 Ebd. S. 316. 247 Ebd. S. 321. 245 83 unabhängige Ortschaft namens Deptford, welche aber während seiner Lebzeiten so sehr mit der Großstadt verwachsen war, dass er feststellt "Deptford is no more a separated town, but is become a part of the great mass."248 Bezug nehmend auf diese bereits in der Großstadt aufgegangenen Städte wie Islington und Deptford wagt er auch den Blick in die Zukunft und prognostiziert: "The town of Greenwich, which may, indeed be said to be contiguous to Deptford, might be also called a part of this measurement; but I omit it, as I have the towns of Chelsea and Knights Bridge on the other side, tho' both may be said to joyn the town, and in a very few years will certainly do so."249 Einen vergleichbaren Effekt beschreibt er auch für den Bereich südlich der Themse: "A very little time will shew us Newington, Lambeth, and the Burrough, all making but one Southwark".250 London war zu diesem Zeitpunkt in seiner Wahrnehmung also ein stetig wachsender Moloch, der sich ehemals eigenständige Städte einverleibte und sie zu seinem "mighty, I cannot say uniform, body"251 hinzufügte, dabei neue Einheiten schuf und sein Gesicht beständig veränderte. Die Großstadt und ihr Wachstum wurden hier eindeutig als angsteinflößend, überwältigend und atemberaubend konnotiert. Das Ausgreifen der Stadt auf die umliegenden Dörfer verursachte also auch bei seinen Bewohnern und nicht nur bei Reisenden ungläubiges Staunen. Die Dynamik des großstädtischen Wachstums hatte sich bereits zu diesem Zeitpunkt verselbstständigt und der Umfang bzw. die Ausdehnung des städtischen Gebiets konnte nur noch in kurzen Momentaufnahmen skizziert werden. Im Gegensatz zu diesen enorm dynamischen Prozessen stand die juristische bzw. administrative Ordnung der einzelnen Teilstädte Londons, die sich nicht so schnell weiter entwickelt hatten, wie es die schiere räumliche Ausdehnung tat. Im Gegensatz zu den Reisenden aus Deutschland, mit der Ausnahme von Moritz, war sich der in London lebende Defoe der administrativen Feinheiten seiner Heimat durchaus bewusst und ließ sie auch im Rahmen seines Berichts nicht unerwähnt. Er differenzierte nicht nur direkt zu Beginn seines Briefes zu London zwischen der Großstadt und der ursprünglichen City252, sowie zwischen der City of London, der City of Westminster und dem Burough of Southwark, sondern ging einen großen Schritt weiter, in dem er – immer noch zusammenfassend und bewusst komplexitätsreduzierend – zehn unterschiedliche Teile identifizierte: 248 Ebd. S. 315. Ebd. S. 321. 250 Ebd. S. 315. 251 Ebd. S. 316. 252 Ebd. S. 314ff. 249 84 "By this may be plainly understood, that I mean not the city only, for then I must discourse of it in several parts, and under several denominations and descriptions, as, 1. Of the city and liberties of London. 2. Of the city and liberties of Westminster. 3. Of the Tower and its hamlets. 4. Of the suburbs or buildings annex'd to these, and called Middlesex. 5. Of the borough of Southwark. 6. Of the Bishop of Winchester's reserv'd privileged part in Southwark, called the Park and Marshalsea. 7. Of Lambeth. 8. Of Deptford, and the king's and merchants yards for building. 9. Of the Bridge-house and its reserved limits, belonging to the city. 10. Of the buildings on Southwark side, not belonging to any of these."253 Das Nebeneinander der unterschiedlichen administrativen Gliederungen und der räumlichen Untrennbarkeit kennzeichnete die Großstadt London und wurde von Defoe auch als ein solches zentrales Merkmal erkannt. Er erwähnte die Sonderrechte der City und Westminsters gegenüber der Krone und dem Rest der Großstadt,254 machte aber trotzdem unmissverständlich klar, wo die Grenzen dieser Sonderrechtszone waren. Was auf den Leser zunächst wie eine große Unordnung wirken musste, wurde von Defoe selbst allerdings positiv, in einem pragmatischen Sinne, gesehen. Zusammenfassend schreibt er: "The government of this great mass of building, and such a vast collected body of people, though it consists of various parts, is, perhaps, the most regular and well-ordered government, that any city, of above half its magnitude, can boast of."255 Die Stadt hatte also nach seiner Auffassung die beste Regierung, die bei einer solchen Größe überhaupt noch möglich sei, obwohl er an anderer Stelle selbst eine Reform der städtischen Organisation forderte. Am Ende seines ersten Überblickskapitels zur Großstadt regte er drei Punkte an, die die von ihm als Problem erkannten Phänomene beheben oder zumindest eingrenzen sollten. Neben einer weiteren Brücke über die Themse waren dies zum einen die Forderung nach einer grundlegenden Verwaltungsneugliederung durch das Parlament: "abrogating the names as well as the jurisdictions of all the petty privileged places, and joyning or uniting the whole body, Southwark and all, into one city, and calling it by one name, London."256 Zum anderen forderte er eine Regulierung der Bautätigkeiten "where they too much run it out of shape, and letting the more indented parts swell out on the north and south side a little, to balance the length, and bring the form of the whole more near to a circle"257. Etwas resigniert musste er dann allerdings eingestehen, dass dies alles nur Forderungen und Wünsche seien und die Ausführung "must be left to the wisdom of future ages".258 Trotzdem verdeutlichte Defoe hier eine eindeutige Diskrepanz zwischen dem täglichen Erleben der Großstadt und ihrer formalen 253 Ebd. S. 323. Ebd. S. 322f. 255 Ebd. S. 322. 256 Ebd. S. 330. 257 Ebd. S. 330. 258 Ebd. S. 330. 254 85 Gliederung. Was er hier forderte, ist im Prinzip nichts anderes als eine Anpassung der politischen Gegebenheiten an zeitgenössische Praktiken bzw., im Falle der Bauregulierung, eine Einhegung des als einschüchternd empfundenen stetigen Wachstums. Die konkreten Probleme, die sich aus der Kombination dieser administrativen Zersplitterung, dem Fehlen eines klaren Verwaltungszentrums und der ungehemmten Expansion der Großstadt ergaben, wie beispielsweise die hohe Kriminalitätsrate bei gleichzeitig ineffektiver Verfolgung von Delinquenten, blieben bei Defoe allerdings unerwähnt. Die Schattenseiten der Großstadt werden in diesem Bericht zu Gunsten einer abstrakteren Analyse- und Beschreibungsposition nahezu vollkommen ausgeklammert. Weder Prostitution noch Raub, Einbruch oder Mord finden sich in dem gesamten Brief über London, so dass man hier einen eklatanten Unterschied zu den zuvor betrachteten Reiseberichten der deutschen Reisenden feststellen muss.259 Trotz dieser beständigen Fluktuation und des Ausgreifens auf das Umland, sah Defoe eine gewisse Ordnung innerhalb des großstädtischen Verbunds, die sich zwar nur bedingt rechtlich-geografisch, dafür aber funktionell beschreiben ließ. In seiner Wahrnehmung funktionierte die Großstadt durch die Spannung ihrer drei Pole. Diese drei Pole waren allerdings nicht die geografischen Pole London, Westminster und Southwark, obgleich man manche Überschneidungen durchaus sehen konnte, sondern waren drei funktionale Pole. In seiner Beschreibung bildeten "The City", "The Court" und "The Out-Parts"260 die definierende Trias der Großstadt, die jeweils eine bestimmte Rolle übernahmen. Die geografischen Entsprechungen der drei Funktionsbereiche lassen sich relativ klar verorten, allerdings war die Konzeption Defoes an diesem Punkt nicht an den konkreten physischen Raum gebunden, sondern operierte in einem durch konkrete Handlung okkasionell hergestellten Funktions- und Bedeutungsraum, der an den zu erwartenden Orten stattfinden konnte, aber es nicht zwangsläufig musste. Die City in ihrer Funktion als "center of its (Der Großstadt: Anm. d. Autors) commerce and wealth"261 konnte sich an dem Ort der Börse, der großen Kompanien oder der vielen Einkaufsmöglichkeiten manifestieren, war aber nicht an die Stadtmauern der ursprünglichen City gebunden, sondern konnte beispielsweise auch in den verschiedenen Wochenmärkten bei Gelegenheit hergestellt und somit sozial wirkmächtig werden. 259 Auf diese Auslassung verweist auch Wolfgang Riehle, der sich davon irritiert zeigt. Vgl.: Riehle, Defoe, S. 122. 260 Defoe, Tour, S. 335. 261 Ebd. 86 Ähnliches galt für den Hof. "The Court" stand für "its gallantry and splendor"262. Dieser konnte sich in den königlichen Residenzen oder Schlössern entfalten, was sicherlich auch der Normalzustand gewesen sein dürfte. Die ausufernde Beschreibung eines möglichen Neubaus von Whitehall und die daraus entstehenden repräsentativen Möglichkeiten über die Defoe spricht, standen hier nur exemplarisch für die Bindung von bestimmten Funktionen an spezielle Orte.263 Der "Scheme for a royal Palace in the Place of White-Hall" nimmt mehrere Seiten in Anspruch und zeigte die Bedeutung von konkreten Orten zur Herstellung der von Defoe angesprochenen Qualitäten auf. Der mögliche Palast von Whitehall wurde bei Defoe damit zu einem enorm wichtigen Ort, gerade dadurch, dass er nicht existent war. Der fiktive Ort des neuen Whitehall deutet auf eine empfundene Lücke in der räumlichen Repräsentation royaler Prachtentfaltung hin. Das Netz von Orten zwischen denen sich diese Funktion der Großstadt entfalten konnte, wurde von Defoe offensichtlich als verbesserungswürdig wahrgenommen und bedurfte der Verstärkung. Diese besagten Qualitäten mussten sich also auch an anderen sozialen Orten, wie dem Theater, großen Parks etc. entfalten, an denen sich die höfisch-kulturelle Elite zusammenfand und somit kurzfristig einen Ort erschaffen konnte, der diese Qualitäten besaß bzw. herstellte und entsprechend kommunizierte. Der Raum sozialer Repräsentation konnte also sowohl konkret örtlich gebunden sein, wie beispielsweise an den königlichen Residenzen, oder aber okkasionell im großstädtischen Raum hergestellt werden, wobei viele dieser Orte damit nicht eindeutig einem Pol zugeordnet, sondern jeweils von den Bewohnern entsprechend besetzt werden mussten. Defoes Konzept der Pole der Stadt zeigte sich hier weniger als statisches Modell der räumlichen Verortung von Funktion, sondern bewies fluide Qualitäten. Der dritte Pol war im Vergleich zu seinen Vorgängern etwas anders gestaltet. Er hatte als Beisteurer von "its numbers and mechanicks"264 nahezu schon transzendente Eigenschaften und schien am wenigsten an einen konkreten Ort gebunden zu sein. Stattdessen verlieh er dem Raum der Großstadt erst seine spezifische Gestalt, auf der die anderen beiden Pole aufbauen konnten und mussten, um ihre volle Wirkmacht entfalten zu können. Der dritte Pol bildete somit den Hintergrund der Großstadt und war für ihren Charakter im hohen Maße prägend, auch wenn seine gegenüber den beiden anderen Polen deutlich marginalere und uneindeutigere Rolle dies auf den ersten Blick nicht vermuten ließ. Der Zustrom von Einwanderern in die Großstadt machte sie erst zu der von Defoe beschriebenen "overgrown 262 Ebd. Ebd. S. 385ff. 264 Ebd. 263 87 city"265, die "crouded with people"266 sei. Diese Masse an Einwohnern und der stetige Zustrom von Einwanderern, machte London zu der pulsierenden, wachsenden Großstadt, deren positive Auswirkungen Defoe an so vielen Stellen beschrieb. Wirtschaftliche Prosperität und royale Prachtentfaltung geschahen hier also vor dem Hintergrund der wachsenden Großstadt und gaben London somit sein spezifisches Gesicht. Es schien insgesamt selbst für Defoe als Bewohner der Großstadt ein Problem zu sein, die passenden Termini zur Beschreibung zu finden, um dem Leser London nahe zu bringen. Ebenso schwer tat er sich mit der Suche nach vergleichbaren Städten, die zur Illustration und als Maßstab dienen konnten. Alle schienen aus dem einen oder anderen Grund nicht passend genug zu sein, selbst wenn es nur um kleine Bestandteile der Großstadt ging. Bei der Beschreibung der Werften auf der Themse beispielsweise brachte Defoe zunächst Amsterdam ins Spiel, dessen Werften sogar größer waren als die Londons: "[...] there may be more vessels built at Schedam, and the parts adjacent, than in the River Thames [...]"267. Allerdings wurde dieser Vergleich in vier Punkten direkt wieder eingeschränkt. Erstens würden die Holländer nicht nur für sich, sondern für die ganze Welt produzieren; Zweitens würden alle holländischen Schiffe würden dort gebaut, während die englische Flotte lediglich zu einem Fünftel in London produziert würde; Drittens würde man in Schedam zwar ständig mehr Schiffe auf weniger Raum sehen, davon sei aber ein Teil der normalen Binnen- und Küstenschiffahrt zugehörig und dürfte demnach nicht mitgerechnet werden. Viertens und abschließend hatte man außerdem vielleicht auch nur das Gefühl, in Schedam mehr Schiffe zu sehen.268 Amsterdam fiel als Vergleichspunkt also unmittelbar wieder heraus. Nur eine Stadt schien angemessen, neben London gestellt zu werden, und das war das antike Rom zu Trajans Zeiten.269 Die Hauptstadt des römischen Imperiums sei der einzige Fixpunkt gewesen, an dem London sich orientieren könne. Diese Behauptung fällt schon auf der ersten Seite des Briefes über London: "New Squares, and new streets rising up every day to such a prodigy of buildings, that nothing in the world does, or ever did, equal it, exept old Rome in Trajan's Time, when the walls were fifty miles in compass, and the number of inhabitants six million eight hundred thousend souls."270 265 Ebd. S. 337. Ebd. S. 336. 267 Ebd.S. 347. 268 Ebd. S. 347f. 269 Der Vergleich zu Rom war übrigens durchaus üblich im 18. Jahrhundert vgl. dazu: Schwarz, London, 642f. 270 Defoe, Tour, S. 314. 266 88 Die Ausmaße der antiken Stadt gingen zwar weit über das Maß hinaus, das London zu dieser Zeit anbieten konnte, aber der Vergleich dient auch wohl eher der Illustration der Einzigartigkeit Londons in seiner Zeit, als dem konkreten Erkenntnisgewinn durch einen Vergleich. Trajans Rom diente hier eher als Indikator der Größe und Bedeutung der Großstadt London, die durch den Vergleich der Hauptstadt des Imperium Romanum mit der Hauptstadt des britischen Weltreichs indirekt hergestellt werden sollte. Rom war deswegen hier eher als irrealer Idealbezug zu sehen, vor dem es sich auch London erlauben konnte, in einigen Punkten abzusinken, denn in seiner Form reichte London nicht an das symmetrische Ideal heran: "It is the disaster of London, as to the beauty of its figure, that it is thus stretched out [...] and (it) has spread the face of it in a most straggling, confus'd manner, out of all shape, uncompact, and unequal; neither long or broad, round or square; whereas the city of Rome, though a monster for its greatness, yet was, in a manner, round, with very few irregularities in its shape."271 Zeitgenössisch gab es in Defoes Sicht keine Stadt, die London ebenbürtig war. Man musste schon in die ferne antike Vergangenheit zurückgehen, um eine Stadt zu finden, die sich auf Augenhöhe mit London befand. Dieser Vergleich dominiert nicht allein die Einleitung, sondern es finden sich auch im weiteren Verlauf des Textes immer wieder Parallelen zur ewigen Stadt. Um nur zwei Beispiele zu nennen: In einer Passage, in der es um den Wiederaufbau der vom Großen Brand 1666 verwüsteten Stadtteile geht, wird beispielsweise explizit auf die Ähnlichkeiten des Konstruktionsplans von Christopher Wren mit Rom rekurriert "[...] after the model of that at Rome, but much more magnificent [...]".272 An anderer Stelle beschreibt er St Paul’s mit den Worten: "The church is a most regular building, beautiful, magnificent, and beyond all the modern works of its kind in Europe, St. Peter's at Rome, as above, only excepted."273 Die Kathedrale in Rom stand natürlich noch nicht zu Trajans Zeiten, aber als bedeutsamste Kirche des Katholizismus‘ war sie der einzig zulässige Vergleichsrahmen für das anglikanische Zentrum St‘ Paul‘s. Anglikanismus und Katholizismus wurden hier symbolisch auf eine Ebene gestellt, die sich in der herausragenden Gestalt ihrer beiden wichtigsten Orte manifestierte. Der Rest der Stadt Rom in seiner Zeit wurde jedoch nicht weiter erwähnt. Es waren also London und das antike Rom, die in seiner Gedankenwelt als auf einander beziehbare Entitäten eine große Rolle spielten, auch wenn er den Vergleich mit antiken Großstädten selbst an anderer Stelle als nur bedingt sinnvoll charakterisiert hatte. An 271 Ebd. Ebd. S. 334. 273 Ebd. S. 335. 272 89 einer deutlich früheren Stelle seines Werkes nahm er Stellung zur Bedeutung der antiken Großstädte insgesamt für seine Gedankenwelt. Er schreibt: "The ruins of Carthage, or the great city of Jerusalem, or of ancient Rome, are not at all wonderful to me [...] because being the capitals of great and flourishing kingdoms, where those kingdoms were overthrown, the capital cities necessarily fell with them."274 Konkret hatten diese Städte also keine Bedeutung mehr. Ihre Bedeutung generierte sich also nur noch als historische Vergleichsfolie, die im Zweifelsfall herangezogen werden konnte, wenn es ansonsten nichts Vergleichbares gab. Rom diente in diesem Sinne nur als die Erinnerung an eine Stadt aus der Vergangenheit, die es zu ihrer Blütezeit mit London seiner Gegenwart hätte aufnehmen können, deren Bedeutsamkeit aber durch den Fall des mit ihr assoziierten Reiches bedeutend gemindert wurde, da das britische Weltreich zum Zeitpunkt der Abfassung des Berichts noch in voller Blüte stand. Weitergedacht bedeutet das also auch, dass es in Defoes Gegenwart keine Stadt gab, die mit London vergleichbar gewesen wäre. Somit diente der Vergleich letztlich doch nur der Herausstellung der Einzigartigkeit. Neben diesen großen, abstrakten Betrachtungen der Stadt, schrieb Defoe natürlich auch über das Innenleben Londons. Seine Beschreibungen der Straßen, Squares und Viertel der Großstadt waren, wie der Rest seines Berichts, auf einem sehr hohen Abstraktionslevel angesiedelt, so dass sie wenig direkte Schlüsse auf die konkrete Erfahrung der Großstadt zulassen. Es gab einige Erwähnungen des Gedränges und der Fülle von Menschen in den Straßen. Diese bleiben jedoch immer kurze Erwähnungen wie beispielsweise im Rahmen einer Beschreibung eines Stadtviertels: "From this part of the town, we come into the publick streets, where nothing is more remarkable than the hurries of the people[...]".275 Eine tiefergehende persönliche Auseinandersetzung bzw. Beschreibung von Ereignissen, wie sie sich bei den Reisenden fand, spiegelt sich in diesem Band nicht wieder, war aber sicherlich auch nie Ziel bzw. Anspruch des Werkes. Aus den Beschreibungen der einzelnen Teile der Stadt lässt sich nichtsdestotrotz einiges herauslesen. Zunächst einmal lag der Fokus der Beschreibungen eindeutig auf der City und Westminster. Die beiden Teilstädte wurden jeweils in einem eigenen Kapitel besprochen, wohingegen der Rest der Stadt nur vereinzelt oder in ganz bestimmten Kontexten als Ergänzung Erwähnung fand. Folgt man Defoes eigener Logik, so ist dies auch wenig verwunderlich. In seinen Augen waren die "Out-Parts" ja auch nur dafür da, die Zahlen und 274 275 Ebd. S. 54. Ebd. S. 365. 90 Handwerker in die Gleichung der Großstadt hineinzubringen, um die rein numerische Größe und die notwendige Instandhaltungs- und Expansionskapazitäten beizusteuern. Für die City und Westminster ließ sich hingegen eine klare Tendenz erkennen, die die Aneignung des großstädtischen Raumes und die Bewegung in ihm betrifft. Defoe beschrieb den innerstädtischen Raum als ein Bezugssystem zwischen herausragenden Orten, wie beispielsweise Squares, Regierungsgebäuden, Krankenhäusern, Statuen etc. Diese Orte wurden untereinander in seinen Beschreibungen durch lanes, streets oder durch die Angabe einer Himmelsrichtung verbunden.276 Jene Art der Beschreibung ist eine, die auf den ersten Blick einleuchtend wirket, die mit den zuvor betrachteten Arten große Gemeinsamkeiten aufwieß, im Detail allerdings unterschiedlich gewichtet wurde. Wo die Reisenden sich vor allem an den herausragenden Landmarken und ihren wenigen individuellen Bezugsorten, wie an den gemieteten Räumlichkeiten o.ä. orientierten und ihre Wege als Wege zwischen diesen beschrieben, so gab Defoe ein deutlich detaillierteres Bild der Großstadt ab. Zwar tauchten auch in seiner Beschreibung die zentralen Orte wie St Paul‘s, Westminster Abbey oder die Themsenbrücken auf, allerdings weniger prominent und gleichberechtigt mit anderen Orten, die bei den Reisenden nur nebensächliche oder gar keine Erwähnung gefunden haben. Sein Blick auf die Stadt war deutlich feiner und höher aufgelöst, allerdings scheinen einige Erfahrungen, wie beispielsweise das Gedränge auf den Straßen und die generelle, überbordende Fülle der Stadt, von ihm ganz analog zu den Reisenden gemacht und erfahren worden zu sein. Insgesamt blieb Defoes London abstrakter, als das London der zuvor betrachteten Berichte. Der Bewohner der Stadt lieferte eine detaillierte Analyse und Beschreibung seiner Heimatstadt, die dem Leser auch die Feinheiten der administrativen Aufteilung oder der (momentanen) Grenzziehung zwischen der Großstadt und dem Umland nahebrachte, während er mehr als deutlich machte, dass die Großstadt in der Praxis längst eine Funktionseinheit geworden war. Wie nicht anders zu erwarten, brachte er einen etwas anders gewichteten Blick auf die Stadt mit, die er in langen Jahren als Bewohner und nicht in einigen Wochen oder Monaten als Tourist erfahren hatte, allerdings sind auch die Parallelen in der Wahrnehmung nicht zu übersehen. Genau wie für die Reisenden blieb die Größe und das ungeheure Wachstum der Großstadt auch für Defoe ein schwer zu fassendes bzw. zu beschreibendes Faktum. In diesem Fall versuchte er erst gar nicht, zeitgenössische Städte als Vergleich heranzuziehen, sondern wich direkt in die antike Vergangenheit aus, um eine Stadt zu finden die in ihrer Gesamtheit mit ‚seinem‘ London zu vergleichen wäre. Zwar gab es immer wieder 276 Die beiden Kapitel "The City"und "The Court and Westminster"funktionieren nach diesem Prinzip. 91 einzelne Aspekte anderer Städte, wie die Werften von Amsterdam oder der Palast von Versailles277, die mit London vergleichbar schienen, aber in seinen gesamten Ausmaßen konnte offensichtlich nach Defoes Meinung keine Stadt mit London auf Augenhöhe verglichen werden. London blieb auch bei ihm ein einschüchterndes Erlebnis. Sein Wachstum erschien maßlos und nicht zu stoppen, die Form der Stadt war nicht mehr genau zu fassen und entsprach längst keinen ideal-ästhetischen Maßstäben mehr, die Stadt quoll über vor Menschen und die Administration der Großstadt war längst von den Ereignissen abgehängt worden. Durch diese Brille betrachtet war London kein besonders reizvoller Ort. Trotzdem lobte Defoe die Großstadt auch an verschiedenen Punkten und gewann den Eigenheiten der Stadt immer wieder positive Aspekte ab. Die Regierung der Großstadt sei im Vergleich das Beste, was es für eine Stadt dieser Größe gebe, seine Kirchen, Häfen etc. seien mit kaum etwas in der Welt vergleichbar und die innere Aufteilung der Stadt in die von ihm beschriebenen Funktionsteile funktionierte blendend und machte London zu einer wunderbaren Stadt, deren Anblick von der Ferne "the most glorious sight without exeption, that the whole world at present can show, or perhaps ever cou'd show since the sacking of Rome [...]"278 sei. Die Größe und Ausdehnung Londons und das Fehlen eines angemessenen Vergleichsmaßstabs machten London in seiner Sicht nicht allein zu einer erschreckenden Monstrosität, sondern zu einer Ehrfurcht gebietenden Erscheinung. 5.2. James Boswells London Journal James Boswell war ein schottischer Advokat, Reisender, Schriftsteller und Journalist, der 1740 in Edinburgh geboren wurde. Nach einem Studium in seiner Heimatstadt zog Boswell 1762 nach London, um dort in die Armee einzutreten. Da er allerdings weder über ausreichende Beziehungen noch über einen großzügigen Patron verfügte, welcher seinen Plan vorantreiben konnte, gelang es ihm lange Zeit nicht, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Im Laufe seines Lebens verbrachte er viele Jahre in London und machte sich als Schriftsteller einen Namen, vor allem mit seinem bekanntesten Werk "The Life of Samuel Johnson", das bis heute den Grundstein seines Ruhmes bildet.279 Während seiner ersten Reise bzw. seines ersten Aufenthalts in London führte er außerdem ein Tagebuch, in dem er seine Eindrücke von der Stadt und seinen Bewohnern niederschrieb. Dieses Tagebuch war offensichtlich 277 Ebd. S. 364 Ebd. S. 168. 279 Die Enzyklopaedia Britannica listet ihn beispielsweise bis heute vornehmlich als Biografen. Vgl. dazu: http://www.britannica.com/EBchecked/topic/74986/James-Boswell 278 92 privater Natur, da es, auch nachdem er zu Lebzeiten einigen Ruhm erlangen konnte, nicht von ihm publiziert worden ist. Im Gegensatz zu "The Life of Johnson", das ebenfalls als Tagebuch abgefasst, aber von Anfang an zur Publikation vorgesehen war, blieb das "London Journal" bis ins 20. Jahrhundert hinein unentdeckt. Erst in den 1920er Jahre wurde es in den Schriften seines Nachlasses entdeckt. Es dauerte dann noch bis 1950, ehe es ediert und veröffentlicht werden konnte.280 Das Tagebuch umfasst den Zeitraum vom November 1762 bis zum August 1763 und gestattet einen tiefen Einblick in die Erlebnisse, Pläne und Vorhaben des jungen James Boswell. Unter anderem schrieb Boswell auch immer wieder über die Stadt, in der er sich niedergelassen hatte. Zu Beginn seiner ersten Reise herrschte auch bei Boswell zunächst ein Gefühl der Überwältigung angesichts des Ausmaßes der Stadt vor. Am 19. November, dem Tag seiner Ankunft in der Stadt, notiert er in seinem Tagebuch: "The noise, the crowd, the glare of shops and signs agreeably confused me. I was rather wildly struck [...]"281 Das initiale Erleben der Stadt als übervoll und unglaublich aktiv stellte sich bei Boswell also genau so ein, wie es das auch schon bei den Reisenden aus Deutschland oder bei Defoe tat. Jedoch stand dieses Empfinden in der Folge bei Boswell nicht besonders im Zentrum. Es finden sich nur spärliche Erwähnungen der Stadt und ihrer Atmosphäre. Der Fokus seiner Betrachtungen lag eindeutig mehr auf seinem sozialen Umfeld als auf der räumlichen Umgebung. In diesem Punkt ähnelt sein Tagebuch dem Bericht von Pöllnitz, dessen Darstellung ihren Fokus ebenfalls auf der Beschreibung sozialer Interaktion hatte. Trotzdem lassen sich die Grundlinien seiner Erfahrung der Großstadt und seiner inneren Konstruktion der Stadt problemlos nachvollziehen. Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Großstadt für ihn vor allem aus einem Netz von Orten bestand, an denen er seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgehen konnte. Er berichtete ausführlich von Treffen in Privatwohnungen, Kaffeehäusern, Parks etc. Die typischen Landmarken oder Sehenswürdigkeiten der Stadt stehen beispielsweise, im Unterschied zu den zuvor betrachteten Reisenden, recht weit unten auf seiner Prioritätenliste. Zwar erwähnte er diese Orte, aber zumeist nur nebenbei und eine eigene Motivation, diese Orte um ihrer selbst willen zu besuchen, ist nicht zu erkennen. Zum Parlament beispielsweise wurde er von seinem Mietsherren eingeladen und fasst die Rede des Königs vor den beiden versammelten Häusern mit dem lapidaren Kommentar "It was a very noble thing"282 280 Vergleiche dazu und zur Editionsgeschichte: Pottle, Frederick, Introduction, in: Boswell, James, London Journal 1762 - 1763, London 1950, S. 1 - 39. 281 Boswell, James, London Journal 1762 - 1763, London 1950, S. 44. 282 Ebd. S. 49 93 zusammen. Der Ort an sich oder seine Wirkung fanden sich mit keinem Wort erwähnt. Ähnlich erging es St Paul’s in seinem Tagebuch. Die größte Kirche und das bekannteste Wahrzeichen der City of London war in seinem Bericht nur eine kurze Erwähnung als Ort der Trennung von einem Konversationspartner wert. Im Wortlaut schreibt er: "He parted from me at St. Paul's, and I went to Child's".283 Selbst Orte, die er aus eigenem Antrieb aktiv besucht hat, wie beispielsweise eine Menagerie, werden nur extrem kurz beschrieben: "I went and saw a collection of wild beasts. I felt myself bold, easy, and happy."284 Weitere Erwähnung schien ihm dieser Anblick nicht würdig zu sein. Selbst der Ausblick von St Paul‘s aus schien bei ihm deutlich weniger Eindruck gemacht zu haben, als dies bei den anderen Schreibern der Fall gewesen war. Boswell berichtet in seinem Tagebucheintrag vom 18. Juli 1763 von seinem Besuch in St Paul‘s und der Aussicht von den Türmen: "Here I had the immense prospect of London and its environs. London gave me no great idea. I just saw a prodigious group of tiled roofs and narrow lanes opening here and there, for the streets and beauty of the buildings cannot be observed on account of the distance [...] I did not feel the same enthusiasm that I have felt some time ago at viewing these rich prospects."285 Zwar erwähnt er den Enthusiasmus früherer Anblicke, aber davon schien zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel vorhanden gewesen zu sein. Boswell beschreibt hier sehr nüchtern, fast gelangweilt, die Aussicht von den Türmen der Kirche, aber in dieser Beschreibung fand sich trotzdem noch ein sehr positives Bild von der Stadt. Im gesamten Tagebuch lassen sich Spuren davon finden, dass Boswell der Stadt insgesamt eher positiv gegenüber stand und sie vor allem als Möglichkeit begriffen hat, sich einflussreiche Freunde und gesellschaftliche Verbündete zu suchen. Die Stadt selbst wurde von ihm in ihrer spezifisch materiellen Dimension nur sehr randständig wahrgenommen, wie die obigen Zitate gezeigt haben. In ihrer Erscheinungsform als räumliche Rahmung und somit als einer der bestimmenden Faktoren ihrer erweiterten sozialen Umwelt hingegen wurde die Stadt sehr wohl von ihm wahrgenommen und rezipiert. Seine Wahrnehmung der Stadt und ihrer spezifischen Gestalt, versuchte er am 05. Dezember 1762 in seinem Tagebuch festzuhalten. In seiner gesamten Zeit blieb dieser Eintrag der längste zusammenhängende Versuch, die Stadt zu beschreiben: 283 Ebd. S. 67. Ebd.S. 45. Vermutlich handelte es sich bei dem Ort, den er hier so kurz beschrieb um die royal menagerie im Tower 285 Ebd. S. 310. 284 94 "In reality, a person of small fortune who has only common views of life and would just be as well as anybody else, cannot like London. But a person of imagination and feeling [...] can have the most lively enjoyment from the sight of external objects without regard to property at all. London is undoubtly a place where men and manners may be seen to the greatest advantage [...] Then the immense crowd and hurry and bustle of business and diversion, the great number of public places of entertainment, the noble churches and the superb buildings of different kinds, agitate, amuse and elevate the mind. Besides, the satisfaction of pursuing whatever plan is most agreeable, without being known or looked at, is very great. Here a young man of curiosity and observation may have a sufficient fund of present entertainment, and may lay up ideas to employ his mind in age."286 In diesem kurzem Abschnitt beschreibt Boswell viele verschiedene Charakteristika der Großstadt, die ihre spezifische Gestalt prägten. Zunächst einmal wurde hier der Eindruck verstärkt, dass die Stadt für ihn vornehmlich ein soziales Konstrukt war, in dem ein bestimmter Typus Mensch großen Erfolg erringen und alle denkbaren Ablenkungen zur Hand haben konnte. Die Stadt war gekennzeichnet durch ihre Fülle an Menschen, Potenzialen und Ablenkungen. In dieser großen Ansammlung von Menschen war es offensichtlich eine vorteilhafte Möglichkeit, sich vollständig unbemerkt in der anonymen Masse zu bewegen und die eigenen Pläne und Vorhaben voranzutreiben. Dass Boswell vor allem an sich selbst gedacht haben mag, als er von der hypothetischen "person of feeling" oder dem "young man of curiosity" gesprochen hat, liegt als Vermutung nahe. Pointiert gesagt, erschien ihm die Stadt erst einmal als ein Raum voller Potenziale, die es entsprechend den eigenen Fähigkeiten und Vorlieben zu nutzen galt. Somit fungierte die Großstadt auch als Identifikations- und Imaginationsfolie, auf deren Hintergrund sich Selbstbild und Zukunftsvorstellung Boswells projizieren ließen. Die städtische Umgebung war aber nicht nur statische Bühne bzw. Leinwand, sondern prägte auch die Menschen in ihr. Boswell selbst schreibt eines Tages, dass er in "good London humour and comfortable enough"287 gewesen sei. Ferner weiß er von einem Bekannten zu berichten " [he] had not passed a single happy day before since he came to London"288. Die Stadt wurde von ihren Bewohnern geprägt und übte im Umkehrschluss aber auch einen Einfluss auf ihre Bewohner aus. Sie wurde von ihm also als aktiver, prägender Part seiner Umgebung wahrgenommen und kommuniziert. Dieses London, von dem Boswell in seinem Tagebuch schreibt, ist in seiner Wahrnehmung die gesamte Großstadt mit all ihren unterschiedlichen Stadtteilen und Gesichtern. Er notiert dies eindeutig am 19. Januar 1763, als er von einem Spaziergang im Hyde Park schrieb: "As the spectator observes, one end of London is like a different country 286 Ebd. S. 68f. Ebd. S. 222. 288 Ebd. S. 93. 287 95 from the other in look and in manners"289. Ähnlich wie bei den anderen Reisenden, war London bei ihm der Terminus für die gesamte Großstadt. Alle anderen Unterteilungen sind diesem Überbegriff untergeordnet. Er nahm The City290, Soho291, Cheapside292 oder Holborn293 auf der Ebene von untergeordneten Gliederungen der Großstadt wahr und nicht als eigenständige Entitäten. Er benutzte den Begriff London stets, wenn er unspezifisch von der Großstadt spricht, und die einzelnen Gliederungen nur dann, wenn es ihm wichtig erschien, einen spezifischen Ort zu benennen. Dass der Terminus allerdings alles andere als kanonisch, sondern weiterhin notorisch unscharf blieb, belegt ein von ihm wiedergegebener Dialog im Child's. In diesem Dialog ging es um den damals noch laufenden Siebenjährigen Krieg. Auf die Frage, wer denn die Kosten eines fortgeführten militärischen Engagements in Nordamerika tragen solle, antwortet einer der Gesprächspartner "The City of London"294. Der andere Partner entgegnet darauf: "Consider how the country has been drained. Ay, ay, it is easy for a merchant in London to sit by his fire and talk of our army abroad."295 Hier wurden die beiden Begriffe City of London und London offensichtlich synonym benutzt. Auch wenn der Zusatz "City of" in der Regel von Boswell nur benutzt wurde, um den geografischen Raum der alten Stadt zu bezeichnen, so wird in diesem Dialog deutlich, dass diese Trennschärfe nicht immer und überall eingehalten wurde bzw. das alternative kommunikative Muster weiterhin genutzt wurde, auch wenn für Boswell selbst eindeutig schien, dass "London" nur der gesamte großstädtische Raum sein konnte. Unterhalb dieses Terminus fallen dann die einzelnen Stadtteile, denen er eine jeweils eigenständige Identität zusprach, allerdings nur als Bestandteil der Großstadt und nicht als selbstständige Entitäten erster Ordnung. Zumeist beschäftigte er sich auch nicht unbedingt mit dem jeweiligen Stadtteil als Orientierung im geografischen Raum, sondern nutzte das System von Squares, Streets oder ganz konkreten Anschriften, um niederzuschreiben, wo in der Großstadt er sich befunden oder wie er sich durch sie bewegt hatte.296 Seiner konkreten Bewegung durch den Raum widmet er, genau wie den einzelnen Orten, an denen er sich befand oder zu denen er sich bewegte, wenig Aufmerksamkeit. Die meisten seiner Wege legte er zu Fuß zurück. Lediglich für sehr lange Wege, in Gesellschaft 289 Ebd. S. 153. Ebd. S. 47 291 Ebd. S. 46 292 Ebd. S. 228 293 Ebd. S. 226. 294 Ebd. S. 75. 295 Ebd. 296 Exemplarisch: Ebd. S.64, 86, 118. 290 96 oder wenn er von einer Krankheit befallen war, nutzte er die Vielzahl an alternativen Fortbewegungsinstrumenten, die London zu bieten hatte. Die Erfahrungen, die er bei einer Bewegung durch die Großstadt in einer Sänfte, einem Hackney-Coach oder auf einer Themsen-Fähre macht, schienen aber keinen weiteren Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Er erwähnt sie stets nur mit kurzen Sätzen wie beispielsweise "I went to Vauxhall by water"297 oder "I got into a snug chair and was carried to Drury Lane"298. Der tatsächliche Prozess des Reisens wird hier vollkommen ausgeklammert und war für ihn in keiner Weise dauerhaft relevant. Ähnlich uninteressant waren die Schattenseiten der Großstadt für ihn. Das Erstaunen bzw. die Ungläubigkeit, die sich vor allem bei den deutschen Reisenden zeigte, ist in seinem Bericht kaum zu finden. Es gibt in seinen Berichten keinerlei Erwähnungen von Überfällen, von Mord oder Diebstahl. An diesem Punkt bewegte sich Boswell also in den gleichen Beschreibungsmustern, wie dies auch bei Defoe der Fall gewesen ist. Lediglich Prostitution wird an verschiedenen Stellen erwähnt, da Boswell damit selbst in regelmäßigen Abständen Kontakt hatte bzw. der Besuch von Prostituierten für ihn offensichtlich eine normale Tätigkeit war. Am 13. Dezember notiert er in seinem Tagebuch: "It is very curious to think that I have been in London several weeks without ever enjoying the delightful sex, although I am surrounded with numbers of free-hearted ladies of all kinds: from the splendid Madam at fifty guineas a night, down to the civil nymph with white-thread stockings who tramps along the Strand and will resign her engaging person to your honour for a pint of wine and a shilling."299 Etwas verwundert über sich selbst, reflektierte er hier über seine eher zufällige Enthaltsamkeit. Ob diese Enthaltsamkeit etwas mit seinen geringen finanziellen Mitteln oder seiner damals beginnenden Beziehung zur Schauspielerin Louisa Lewis zu tun hatte, erfährt man freilich aus diesen Zeilen nicht. Die einzige andere Episode, in der sich Boswell den weniger feinen Seiten der Großstadt widmete, findet sich relativ am Ende seiner Aufzeichnungen. Im Juni 1763 beschreibt er einen Zwischenfall in Vauxhall: "There was a quarrel between a gentleman and a waiter. A great crowd gathered round and roared out, ‘A ring - a ring,’ which is the signal for making room for the parties to box it out. My spirits rose, and I was exerting myself with much vehemence."300 Selbst dieser Ausbruch von Gewalt kam allerdings in einer gesellschaftlich akzeptierten Form daher und wurde von den Umstehenden umgehend in quasi 297 Ebd. S. 286. Ebd. S. 176. 299 Ebd. S. 83f.; Andere Beispiele finden sich bei Ebd. S. 48; S. 327. 300 Ebd. S. 278. 298 97 normierte Formen und Bahnen gelenkt. Diese Szene bleibt in seinem Bericht aber auch eine reine Episode. Gewalttätige Auseinandersetzungen wurden sonst an keiner Stelle beschrieben und fanden in Boswells Alltag entweder nicht statt oder zumindest keinen Niederschlag in seinem Tagebuch. Insgesamt erschien London bei Boswell, ähnlich wie beim deutschen Reisenden Pöllnitz, vor allem als eine Großstadt der gesellschaftlich aktiven Oberschicht. Seine Tage waren angefüllt mit Verabredungen zum Tee, zum Kaffee, zum Theater oder Restaurantbesuch. Er nutzte die Stadt als Reservoir an potenziellen Kontakten und Verbündeten, die ihm dabei helfen konnten, seine persönlichen Ziele zu erreichen. Reflexionen über die genauere Gliederung, Abgrenzung oder administrative Verwaltung der Großstadt waren für Boswell nicht notwendig. In seiner Wahrnehmung war der gesamte urbane Raum eine einzige Entität mit vielen verschiedenen Gesichtern, die er London nannte. Er konstruierte sich seine eigene Stadt zwischen den etablierten sozialen Treffpunkten und den verschiedenen Orten, an denen er sich mit seinen Bekannten treffen konnte, wobei sein Verhalten auch von der ihn umgebenden Stadt mit beeinflusst wurde. 98 6. Fazit: Wovon redet man, wenn man von London redet? Nach den Untersuchungen dieser Arbeit lässt sich die Ausgangfrage "Was ist London?" zumindest für das 18. Jahrhundert in Teilen beantworten. Diese Einschränkung ist notwendig, denn wie gezeigt wurde, kann von einem einheitlichen Diskurs zu keinem Zeitpunkt gesprochen werden. Vielmehr hat man es mit heterogenen Bedeutungszuschreibungen zu tun, die variieren, je nachdem, wessen Bericht man liest oder wessen Karte man betrachtet. Nun liegt eine solche Vermutung bei einer Stadt von der Größe Londons auch nahe, aber trotz dieser zu erwartenden Diversität der Bilder und Wahrnehmungen, ließen sich doch einige grundlegende Gemeinsamkeiten, universelle Zuschreibungen und grundlegende Linien der allgemeinen Wahrnehmung aus dem Material herausarbeiten. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das gesamte großstädtische Gebiet in nahezu allen untersuchten Medien als ein einheitliches Gebiet konstruiert und wahrgenommen worden ist. Die Grenzen dieser Einheit variierten natürlich im Laufe des 18. Jahrhunderts stark, was vor allem an dem anhaltenden explosiven Bevölkerungswachstum gelegen hat. Trotzdem benutzten alle Reisenden aus Deutschland den Begriff "London" nur dann, wenn sie vom gesamten großstädtischen Raum sprachen. Alle Reisenden benutzen den Begriff vergleichsweise unreflektiert, um damit die Großstadt insgesamt zu beschreiben. Dies gilt auch für Moritz, der von den analysierten Reiseberichtschreibern noch am genauesten über die administrativen Gliederungen der Großstadt informiert war. Derselbe Befund kann auch für Defoe und Boswell erhoben werden. Zwar ist bei Defoe ein deutlich höherer Grad der Differenzierung und kritischen Reflexion seines Vokabulars zu vermerken, aber seinen grundsätzlichen Gebrauch der Begrifflichkeiten beeinflusste diese Reflexion nicht. Auch hier steht London für eine übergeordnete Beschreibungskategorie. Auf den kartografischen Erzeugnissen stellt sich ein leicht anderes Bild dar. Zwar war auch hier der gesamte Raum der Großstadt als zusammenhängendes urbanes Gebilde zu erkennen, aber die Kartografen hielten sich in ihrer Beschreibung und in der Wahl ihrer bildlichen Mittel enger an die offiziell-administrative Gliederung der Stadt. Sie differenzieren in den Überschriften deutlich zwischen den einzelnen Partikularstädten und vermitteln so die Spannung zwischen dem erfahrbaren Zusammenhang der Stadt, wie er auch von den Reisebericht- und Tagebuchschreibern niedergelegt wurde, und der offiziell noch immer vorhandenen Separation des großstädtischen Gebildes in diverse Untergliederungen. Diese erwähnte Spannung wird auch daran deutlich, dass verschiedene Karten ihre Emphasen jeweils völlig unterschiedlich legten, entweder auf die Verkehrswege und damit auf die Einheit oder auf die Hervorhebung der London Wall und damit auf die Sonderstellung der 99 City of London im großstädtischen Kontext. Ähnlich lag der Fall auch bei den Linearkarten der Stadt, die den Begriff London enger akzentuierten als dies in den anderen Quellen der Fall ist. Bei ihnen war damit in erster Linie die City of London gemeint, die durch verschiedene Arten der Hervorhebung ins Zentrum der Betrachtung gerückt wurde. Die Perspektive der Karten war zumeist klar auf die City ausgelegt, die spezielle Benennung von Gebäuden im Index bzw. der Begleittext der Karte waren stark in Richtung der City gewichtet, während die rahmenden Teile des Bildes, wie beispielsweise Gruppen von Menschen und Tieren, eher illustrativen Charakter aufwiesen. Gleichzeitig waren die nördlich der City gelegenen Teile der Großstadt und Westminster zumeist nur angedeutet, oder gar nicht im Bildausschnitt präsent. Bei aller Mehrdeutigkeit des Begriffs kann also trotzdem eine Tendenz festgestellt werden, dass sich hinter dem homogenisierend wirkenden Begriff "London" deutlich komplexere Vorstellungswelten verbergen konnten. Alle untersuchten Quellen haben den großstädtischen Raum für sich selbst weiter untergliedert. Die Kartografen nutzen Hervorhebungen, Perspektivierungen und andere optische Mittel, um ihre jeweils bedeutenden Orte hervorzuheben. Die Reisenden und die Bewohner Londons hingegen nutzen mehr oder weniger elaborierte Erklärungen ihrer jeweils erfahrenen Realität der Stadt, um das Erlebnis für sich zu strukturieren und kommunizierbar zu machen, wobei natürlich der Fokus des jeweiligen Individuums die Erfahrung maßgeblich beeinflusste. Konnte man bei Uffenbach einen nahezu musealen Charakter der Stadt diagnostizieren, die bei ihm vor allem aus einer Ansammlung von Sehenswürdigkeiten im urbanen Raum zu bestehen schien, so ist sie für Pöllnitz und Boswell vor allem ein Ort der Netzwerke; sie bündelte, bot neue Kontakte und hatet damit das Potenzial, neue Netzwerke anzulegen. Für Lichtenberg war London allem voran ein Ort, der ihm die Möglichkeit zu besonderen Erlebnissen bot und allein durch seine Größe und seine Überfülle an Menschen schon ein Erlebnis für sich war. Je nach Blickwinkel der Person hatte man es also mit einem eher statisch geprägten oder einem enorm dynamischen Ort zu tun, aber jeder Schreiber hat die nur schwer vermittelbare Erfahrung des großstädtischen Raums in kleinere Einheiten herunter gebrochen, die jeweils für sich leichter zu beschreiben und zu verarbeiten waren. Auf dem einfachsten Level handelte es sich dabei um die Unterteilung in Stadtviertel, wie man sie bei allen Schreibern beobachten konnte. Defoe, der sich auf dem höchsten Abstraktionsniveau bewegte, machte sogar so etwas wie Funktionspole innerhalb der Stadt aus, die seiner Meinung nach durch das Zusammenspiel von City, Court und Numbers geprägt gewesen sei. Dies ist das Konzept, das sich am weitesten von dem unmittelbar erfahrbaren Raum abhob 100 und Erfahrung auf einer Metaebene strukturierte, auf der sich ansonsten keine der betrachteten Quellen explizit bewegte. Das Konzept von den verschiedenen Funktionen, die sich räumlich lose an bestimmte Stadtteile gebunden finden und so den Charakter der Stadt ausmachen, ist also nicht nur eine nachträgliche Rationalisierung der Historiker, sondern offensichtlich auch zeitgenössische Erfahrung gewesen. Diese Art der Erfahrung ist allen Quellen anzumerken. Nicht nur Defoe, der explizit eine Metakonstrukt erstellte, sondern auch Boswell, die Kartografen und die Reisenden aus Deutschland haben in ihren Beschreibungen, ob nun bewusst oder unbewusst, eine inhärente spatiale Gewichtung vorgenommen. Am augenfälligsten war dies natürlich bei den kartografischen Quellen. Die Zeichner haben durch ihre jeweiligen Mittel entsprechende Gebäude, Plätze, Stadtteile, ganz allgemein gesprochen: Orte hervorgehoben und den Blick des Betrachters auf diese gelenkt und seine Wahrnehmung der Stadt so beeinflusst. Bei den Hervorhebungen in allen betrachteten Karten ist auffällig, dass der Fokus der Darstellung zumeist auf der City of London liegt. Hier fanden sich die meisten piktografischen Hervorhebungen von Gebäuden, der Stadtmauer etc. Kurz dahinter fanden sich die anderen drei Nuklei der Großstadt London des 18. Jahrhunderts: Southwark und die City of Westminster. Auch bei den schriftlichen Zeugnissen fand sich eine entsprechende funktionalspatiale Präferenz. Reisende wie Uffenbach, Lichtenberg oder Moritz, die zu einem großen Teil aus Interesse an der Stadt nach England reisten, sei es nun im Rahmen einer Bildungsreise oder einer Grand Tour, hatten einen deutlich ausgeprägten Drang, die von ihnen besuchten Orte genau zu beschreiben, ihre Eindrücke wiederzugeben bzw. mit ihren vorher geprägten Vorannahmen zu vergleichen und dem Leser insgesamt die Erfahrung der Großstadt näher zu bringen. Ferner bewegten sie sich häufig auf Bahnen, die bereits von Reisenden vor ihnen gelegt worden waren und die sie nun ebenfalls bereisen konnten. Innerhalb der Großstadt führte sie das selten in Gebiete abseits der oben genannten drei Stadtteile bzw. den großen Verbindungsstraßen zwischen diesen und sorgte dafür, dass bestimmte räumliche Zuschreibungen bzw. Erfahrungen von jeder Generation erneut gemacht und kommuniziert wurden, wodurch sich langsam ein kontinuierlicher Kanon an Raumerfahrungen durchsetze, der wiederum auf folgende Generationen Einfluss ausübte. Auf der anderen Seite waren Reisende wie Pöllnitz oder Bewohner der Stadt wie Boswell, denen die Großstadt vor allem ein Ort der sozialen Kontakte und der Möglichkeiten zum gesellschaftlichen Aufstieg oder Statuserhalt war, wenig bedacht darauf, in ihren Schriften über die klassischen Sehenswürdigkeiten der Stadt, ihre Eindrücke von bestimmten 101 Orten oder ähnliches zu reflektieren, wie es die Reisenden getan haben. Ihre Ausführungen beschäftigten sich eher mit sozialer Interaktion an den Treffpunkten der Oberschicht oder im privaten Rahmen. Dementsprechend anders haben sie auch die Stadt beschrieben. Für sie bedeutete London folglich etwas völlig anderes als für die Verfasser der restlichen untersuchten Quellen. Jeder Reisende und jeder Einwohner Londons hatte demnach ein spezifisches Arrangement im Kopf, wenn er an die Großstadt dachte.301 Je nach Interesse und Erfahrungshorizont besuchte jeder andere Orte in der Stadt und wurde so zum räumlichen Akteur, der multiple Funktionen innerhalb des großstädtischen Raums wahrnahm. Zum einen wurden sie durch ihre Anwesenheit und ihre Aktion bzw. Interaktion im großstädtischen Raum selbst zum Teil dieses Raums und damit zu aktiven Teilnehmern des SpacingProzesses. Gleichzeitig konstruierte jeder von ihnen durch eine individuelle Synthese des erfahrenen Raumes seine persönliche interne Karte der Großstadt. Diese innere Karte wurde dann schließlich in Form von Berichten, Briefen oder Tagebüchern objektiviert und durch Veröffentlichung externalisiert. Durch diese Prozesse traten schließlich verschiedene Arrangements hervor, die sich jedoch nicht gegenseitig ausschlossen, sondern nach Schlögl ko-präsent waren.302 Konkret bedeutet das, dass London sowohl eine Ansammlung herausragender Gebäude, Zoos, Parks etc. als auch ein Treffpunkt der Oberschicht und sozialer Netzwerkknoten sein konnte. Es kam immer darauf an, wie die Großstadt von dem jeweiligen Menschen erfahren wurde. Die Formen der Erfahrung waren dabei durchaus vielfältiger Natur und lassen einen Blick in den Prozess des internen mapping der Schreiber zu. Wie gezeigt wurde, haben sich die meisten Reisenden und Bewohner innerhalb der Stadt zu Fuß bewegt und dabei die meisten dauerhaften Eindrücke gesammelt. Dabei bewegten sie sich vor allem zwischen für sie signifikanten Orten. Die Wege zwischen diesen Orten bildeten langsam bestimmte Bahnen heraus, die von ihnen jeweils benutzt wurden. Die Herausbildung eines solchen Präferenzrasters, in Verbindung mit den signifikanten Orten, führte dazu, dass die Reisenden sich einen eigenen großstädtischen Raum konstruierten. Diese Konstruktionsleistung konvergiert zum Teil mit den gängigen Zuschreibungen, die den besuchten Orten anheften, oder aber sie konterpunktiert diese. Die untersuchten Quellen legen somit Zeugnis darüber ab, wie die jeweiligen Menschen "ihre" Stadt wahrgenommen haben und wie sie ihr wahrgenommenes Konstrukt kommunizierten. Die Fortbewegung und Erschließung des 301 302 Zum Arrangementbegriff vgl. Löw, Relation, S. 39f. Schlögl, Karten, S. 274. 102 Raumes zu Fuß war dabei nur die gängigste, aber nicht die einzige Methode. Die Beherrschung langer Distanzen wurde durch Kutschen, Fähren oder ähnliche Fortbewegungsmittel möglich und versetzte die Menschen in die Lage, sich selbst einen vergleichsweise großen Raum zu eigen bzw. theoretisch verfügbar zu machen. London ist insgesamt ein auf den ersten Blick einfach klingender Begriff, hinter dem sich im Detail vielschichtige Wahrnehmungs- und Bedeutungskomplexe verbargen. Allerdings ließ sich klar zeigen, dass sich hinter dem Begriff an erster Stelle der gesamte großstädtische Raum verbirgt. Der Begriff ‚London‘ wurde in der Regel zur Bezeichnung des gesamten, zusammenhängenden besiedelten Gebiets um die alten Zentren City of London, Westminster und Southwark herum benutzt. Dabei ist allerdings festzustellen, dass diese alten Städte auch im 18. Jahrhundert in der Wahrnehmung und Konstruktion der untersuchten Quellen nach wie vor eine Sonderrolle einnehmen. Diese herausstechende Qualität in der Erfahrung des großstädtischen Raums deckt sich im Falle Londons und mit Abstrichen Westminsters, mit rechtlichen Privilegierungen der entsprechenden Gebiete. Somit lässt sich feststellen, dass die gefühlte Einheit des großstädtischen Raums mit einer rechtlichen Binnendifferenzierung im Grade der Privilegierung und der Wahrnehmung einhergeht. London konnte damit einerseits sowohl die verbindenden Elemente der Großstadt betonen als auch andererseits auf die bestehenden Unterschiede verweisen. Trotz aller Verbindungen und der in manchen Quellen durchscheinenden gefühlten Einheit der Großstadt war London im 18. Jahrhundert also alles andere als eine Stadt. Vielmehr ist nach den Ergebnissen dieser Arbeit davon auszugehen, dass der Begriff London lediglich eine bewusst komplexitätsreduzierendes Chiffre war, für eine Art von Stadt, für die das zeitgenössische Vokabular noch keine treffenden analytischen Begriffe bereitstellen konnte. Ein großstädtischer Raum diesen Ausmaßes überforderte die Zeitgenossen offenbar, so dass sie auf defizitäre Vergleiche oder Metaphern zurückgreifen mussten, um die Erfahrung angemessen kommunizieren zu können. London war somit eine Großstadt, die sich den gängigen Konventionen ihrer Zeit entzogen hat und die Unfähigkeit der eindeutigen Kategorisierung der Großstadt wird in jeder der untersuchten Quellen deutlich, entweder durch schlichte Abwesenheit des Versuchs oder durch die von ihnen selbst als unzureichend gekennzeichneten Methoden derjenigen, die sich an die Be- bzw. Umschreibung herangewagt haben. Die hier untersuchten Texte und Karten bieten natürlich nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum der verfügbaren Quellen. Das hier entstandene Bild ließe sich sicherlich noch verfeinern bzw. gewinnbringend von anderen Seiten beleuchten, wenn man die 103 Perspektive der Schreibenden wechseln würde. Zeugnisse von Bewohnern der Stadt aus den unteren Bevölkerungsschichten, reisender Arbeiter oder Schriften von Autoren aus anderen Ländern wären eine Möglichkeit, das Thema in der Forschung weiter zu vertiefen. Außerdem bietet das weite Feld des zeitgenössischen Romans bzw. generell der fiktionalen Literatur sicherlich ebenfalls mehr als genug Material, um das hier destillierte Bild des großstädtischen Raums kritisch auf die Probe zu stellen und ggf. zu bestätigen, oder neu zu akzentuieren. Die bisherige Forschung zur Stadtgeschichte Londons kann durch einen solchen akteurs- und wahrnehmungsfixierten Blickwinkel um eine bislang nur sehr randständig vorhandene Perspektive ergänzt werden. Erkenntnisse, die auf diese Art und Weise gewonnen werden, können aber auch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Phänomens frühneuzeitliche Großstadt insgesamt bieten und dabei helfen, das Verständnis moderner Forscher für die Besonderheit und Eigenheit der Großstadt des 18. Jahrhunderts zu schärfen, um ihre Position als Bindeglied zwischen der mittelalterlichen Stadt und der modernen Global City besser verstehen und damit analysieren zu können. Letztlich bedeutet ein solches Vorgehen den Versuch, einen Begriff nicht diffus alltagssprachlich zu benutzen, sondern den Blick auf seine jeweilige historisch-spezifische Bedeutung zu lenken. Die Entwicklung der Stadt ist für die europäische Geschichte von gar nicht zu unterschätzender Bedeutung und London war eben nicht schon immer London. Vielmehr hatte jede Epoche ihr eigenes London, dessen Gestalt und Wahrnehmung es zu ergründen gilt, wenn man das Verständnis für diese Epoche weiterentwickeln möchte. 104 7.Quellen Anonymous, A Critical Review of the Puplic Buildings , Statues and Ornaments in and about London and Westminster, London 1734. Cooper, Mary, A Map of London, Westminster and Southwark. With ye New Buildings to ye Year 1758, London 1758. 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Anhang Abbildung 1: 116 Abbildung 2: 117 Abbildung3: 118 Abbildung 4: 119 Abbildung 5: 120 Plagiatserklärung der / des Studierenden Hiermit versichere ich, dass die vorliegende Arbeit über ____________________________ ________________________ selbstständig verfasst worden ist, dass keine anderen Quellen und Hilfsmittel als die angegebenen benutzt worden sind und dass die Stellen der Arbeit, die anderen Werken – auch elektronischen Medien – dem Wortlaut oder Sinn nach entnommen wurden, auf jeden Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht worden sind. ____________________________________ (Datum, Unterschrift) Ich erkläre mich mit einem Abgleich der Arbeit mit anderen Texten zwecks Auffindung von Übereinstimmungen sowie mit einer zu diesem Zweck vorzunehmenden Speicherung der Arbeit in einer Datenbank einverstanden. ____________________________________ (Datum, Unterschrift) 121