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Kommunikationswissenschaft Erzählen als Kern von Unterhaltung Zur Operationalisierbarkeit von Narration in der Kommunikationswissenschaft Mit einem empirischen Beispiel Hausarbeit zur Erlangung des Grades einer Magistra Artium der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Westfalen vorgelegt von Annika Hamachers aus Münster 2010 Erzählen ist eine Kunst, keine Wissenschaft, aber das bedeutet nicht, daß unser Versuch, Prinzipien hierzu darzulegen, notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist. In jeder Kunst gibt es systematische Elemente, und wer sich kritisch mit Erzählliteratur beschäftigt, kann nie aus der Verpflichtung entlassen werden, technisch Gelungenes und Mißlungenes mit Bezug auf allgemeine Prinzipien zu erläutern zu versuchen. Wir müssen uns jedoch immer die Frage stellen, wo die allgemeinen Prinzipien zu finden sind. (Booth 1974: 170) Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ..............................................................................................1 THEORETISCHER TEIL 2. Unterhaltungsforschung ......................................................................6 2.1 Die triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie .............................6 2.2 Beispiele für Forschungsfelder .....................................................11 2.2.1 Spannung ....................................................................................... 11 2.2.2 Presence ......................................................................................... 14 2.2.3 Flow ............................................................................................... 17 2.3 Messung von Unterhaltungserleben ..............................................18 3. Erzählen als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft.........21 3.1 Allgemein ......................................................................................21 3.2 In der Unterhaltungsforschung ......................................................23 4. Erzählen als Gegenstand der Narratologie ......................................28 4.1 Narratologie als Forschungsfeld ...................................................28 4.2 Begriff und Konstrukt ‚Narration‗ ................................................31 4.3 Potenzielle Merkmale von Erzählungen .......................................34 4.3.1 Merkmalskomplex ‚Geschichte‗ .................................................... 34 4.3.2 Merkmalskomplex ‚Diegese‗ ......................................................... 40 4.3.3 Merkmalskomplex ‚Vermitteltheit‗ ............................................... 44 5. Erzählen in den kognitiven Wissenschaften ....................................53 5.1 Narratives Verstehen .....................................................................53 5.2 Story Grammars vs. Story Points ..................................................56 6. Synopse ................................................................................................65 6.1 Definitionsversuche.......................................................................65 6.2 Operationalisierbarkeit der Narrationsmerkmale und Bezüge zur Unterhaltungsforschung .....................................66 I Inhaltsverzeichnis EMPIRISCHER TEIL 7. Hypothesen und forschungsleitende Fragen ....................................77 8. Methodisches Vorgehen .....................................................................79 8.1 Auswahl und Variation des Stimulus-Materials ...........................80 8.2 Aufbau des Fragebogens ...............................................................83 8.3 Pretest und Änderungen des Vorgehens .......................................89 8.4 Durchführung der Hauptuntersuchung ..........................................90 9. Ergebnisse............................................................................................92 9.1 Beschreibung der Stichprobe ........................................................92 9.2 Manipulation-Checks ....................................................................93 9.3 Bedeutung der angenommenen Narrationsmerkmale für die Konstrukte ‚Geschichte‗ und ‚narrativ‗ .............................95 9.4 Narration und Unterhaltungsempfinden ........................................99 9.5 Einflüsse der Personen- und Situationsmerkmale .......................102 9.6 Zusammenfassung .......................................................................106 10.Fazit und Ausblick ............................................................................110 Quellenverzeichnis .................................................................................115 Abkürzungsverzeichnis .........................................................................126 Anhang (separat gebunden) ....................................................................127 Anhang 1: Stimulusmaterial ..............................................................127 Anhang 2: Fragebogen ......................................................................173 II Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildungen: Abb. 1: Unterhaltung als Makroemotion (nach Früh) .......................................... 10 Abb. 2: Illustration zum ‚book problem‗ ............................................................. 17 Abb. 3: Ebenen narrativer Inhalte (nach Martinez/Scheffel) ............................... 38 Abb. 4: Ebenen narrativer Welten ........................................................................ 42 Abb. 5: Neo-formalistisches Modell narrativer Vermittlung ............................... 50 Abb. 6: Modell narrativer Informationsverarbeitung .......................................... 55 Abb. 7: „Rewrite rules― für die Struktur einfacher Geschichten.......................... 58 Abb. 8: Karten für alle Anlässe (Huber 2009) ..................................................... 76 Abb. 9a: Einschätzung der Stimuli als ‚Geschichte‗ (deskriptiv) .......................... 96 Abb. 9b: Einschätzung der Stimuli als ‚narrativ‗ (deskriptiv) ............................... 96 Abb. 10a: Unterschiede in der Beurteilung eines Textes als ‚Geschichte‗ nach Merkmalen ..................................................................................... 98 Abb. 10b: Unterschiede in der Beurteilung eines Textes als ‚narrativ‗ nach Merkmalen ..................................................................................... 98 Abb. 11a: Unterhaltungserleben (nach Früh et al.) je Stimulus (deskriptiv) ......... 100 Abb. 11b: Unterhaltungserleben (nach Appel et al.) je Stimulus (deskriptiv) ...... 100 Abb. 12a: Unterschiede im Unterhaltungserleben (Früh et al.) je ‚Narrationsmerkmal‗ ......................................................................... 101 Abb. 12b: Unterschiede im Unterhaltungserleben (Appel et al.) je ‚Narrationsmerkmal‗ ......................................................................... 101 Abb. 13: Zusammenhang zwischen Alter der Befragten und Einstufung des Textes als ‚narrativ‗ .............................................. 103 Tabellen: Tab. 1: Potenzielle Narrationsmerkmale im Überblick ....................................... 64 Tab. 2: Alters- und Geschlechterverteilung der Stichprobe ................................ 92 Tab. 3: Korrelationen der Konstrukte ‚Geschichte‗, ‚gute Geschichte‗ und ‚narrativ‗ ....................................... 95 Tab. 4: Korrelationen der Unterhaltungsindizes mit den Narrationseinschätzungen .......................................................... 99 Tab. 5: Signifikanz der Unterschiede im Unterhaltungs- und Narrationserleben nach Rezeptionsbedingung ...................................... 102 Tab. 6: Zusammenhänge von Personenmerkmalen und Presence mit dem Unterhaltungsempfinden und den Narrationseinschätzungen ....... 104 III 1. Einleitung Geschichten wirken. Nachweislich! – Geschichten wirken persuasiv (vgl. Green/Brock 2002), sie verbessern unsere Lernfähigkeit (vgl. Glaser/Garsoffky/Schwan 2009) oder helfen ganz allgemein, unser Denken und soziales Handeln zu strukturieren (vgl. Bruner 1991). Es liegen sogar psychologische Meta-Studien vor, die belegen können, dass sogenannte „narrative Strukturen― das beste bekannte Mittel sind, um künstlich – quasi auf Knopfdruck – starke Emotionen zu erzeugen (vgl. Westermann/Spies/Stahl/Hesse 1996). Nicht nachgewiesen – aber immerhin geäußert – ist die Annahme, dass fiktionale Erzählungen sogar ganze Kriege auslösen können bzw. dazu beitragen, sie zu gewinnen (vgl. Green/Strange/Brock 2002). Eines der scheinbar stärksten Wirkpotenziale, das von Geschichten ausgeht, ist ihre ungeheure Anziehungskraft. Die Hinwendung zu narrativen Medienangeboten erfolgt nicht nur meist freiwillig, Menschen scheinen regelrecht nach Erzählungen zu suchen – und das offenbar nahezu unabhängig vom Thema oder Medium und über alle Kulturen und Statusgruppen hinweg. In der freien Wirtschaft führt das intuitive Wissen um die quasi universelle Attraktivität des Erzählens dazu, dass „narrativer Stil― in Konkurrenzmärkten mittlerweile sogar ausdrücklich als Marketing-Faktor bei Nachrichten-Medien gilt (vgl. Kramer 2000). Begründet wird die Suche nach Erzählungen mit der Vermutung, dass die Rezeption narrativer Medienangebote im Vergleich zu möglichen Alternativen als besonders angenehm erlebt wird, Narration per se Unterhaltungspotenzial hat (vgl. z.B. Brewer 1985). Diese Annahme spiegelt sich auch implizit in der Unterhaltungsforschung wieder: Narrative Formate wie Spiel- und Fernsehfilme, Hörspiele oder Serien werden hier zu den klassischen Unterhaltungsangeboten gezählt (vgl. Wirth/Schramm/Gehrau 2006: 7). Entsprechend stellen sie einen Großteil der Untersuchungsobjekte dieser kommunikationswissenschaftlichen Teildisziplin. So verbringen wir nicht nur als Rezipienten, sondern auch als Forscher einen Großteil unserer Zeit mit Erzählungen. Angesichts der Allgegenwart von Geschichten in Alltag und Wissenschaft ist es ausgesprochen verwunderlich, dass es in der Unterhaltungsforschung, oder allgemein in der Medienwirkungsforschung, nur sehr wenige Arbeiten gibt, die sich explizit mit dem narrativen Charakter von Medienangeboten beschäftigen (vgl. Wirth/Böcking/In-Albon 2006: 107). Vor allem ist bislang im Dunklen geblieben, welche Eigenschaften narrativer Texte bei den nachgewiesenen Wirkungen im Einzelnen eine Rolle spielen. Denn in den seltenen Fällen, in denen Narration doch in den Fokus des Interesses gerät, werden die Effekte meist nur für das ‚Gesamt-Paket‗ nachgewiesen. An welchem Merkmal (oder welchen Merkmalen) die jeweilige Wirkung genau festzumachen ist, bleibt weitgehend unklar (vgl. Bilandzic/Kinnebrock 2009: 357). Entsprechend existieren auch kaum Studien, die die Annahme, dass zwischen den Merkmalen narrativer Medienangebote und dem Unterhaltungserleben ein enger Zusammen1 Einleitung hang besteht, tatsächlich empirisch zu bestätigen versuchen. Insbesondere ist nicht geklärt, ob es die spezifischen Merkmale von Geschichten bzw. narrativen Texten sind, die positiv auf das Unterhaltungserleben wirken – also, ob der Unterhaltungswert narrativer Medienangebote auch auf genau die Merkmale zurückzuführen ist, die sie zu narrativen Medienangeboten machen und von anderen Medienangeboten abgrenzen. Die vorliegende Arbeit thematisiert daher genau diesen Zusammenhang und fragt explizit, ob Narrationsfaktoren per se Unterhaltungsfaktoren sind, ob das, was Erzählungen ausmacht, vielleicht sogar den Kern des Unterhaltungserlebens darstellt. Die Konstrukte Narration und Unterhaltung sollen dafür sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene miteinander konfrontiert werden. Allerdings sieht man sich bei diesem Vorhaben schnell einem weiteren Forschungsdefizit gegenüber: Der Literaturwissenschaftler Gerald Prince geht zwar davon aus, dass jeder Mensch intuitiv eine Geschichte von einer Nicht-Geschichte unterscheiden kann (vgl. Prince 1973: 9). Die große Frage ist nur: Woran? Obwohl medienvermitteltes Erzählen seit mehr als 2000 Jahren Gegenstand akademischer Betrachtungen ist, liegt bis heute keine allgemein anerkannte Antwort auf diese Frage vor. Insbesondere gibt es auch hier kaum empirische Forschung, die versucht, das Wesen narrativer Medienangebote zu bestimmen und einzelne Merkmale zu validieren. Im eigentlichen Zentrum dieser Arbeit steht deswegen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Konstrukt ‚Narration‗. Primäres Ziel ist es dabei zunächst, relevante wissenschaftliche Literatur möglichst flächendeckend nach Vorschlägen für Merkmale zu durchsuchen, die narrative von nicht-narrativen Texten unterscheidbar machen. Auf der Ebene dieser einzelnen Merkmale soll zudem nach Parallelen zu Überlegungen zur Entstehung von Unterhaltung gesucht werden um so zu potentiellen Erklärungen für die angenommene enge Verbindung von Narration und Unterhaltung zu kommen. Wichtig ist, dass die Auseinandersetzung mit den Narrationsfaktoren dabei aber aus einer für die kommunikationswissenschaftliche Unterhaltungsforschung angemessenen Perspektive erfolgt. Das heißt: Die reale, alltägliche Mediennutzungssituation soll nicht aus den Augen verloren werden. Anders als vielleicht bei einer eher geisteswissenschaftlich orientierten Erfassung des Konstrukts Narration, soll es daher nicht darum gehen, eine analytisch möglichst wasserdichte Definition zu entwickeln, sondern auf empirischem Wege zu evaluieren, welches Konstrukt von Narration beim durchschnittlichen Rezipienten existiert. Wesentlicher, als die Plausibilität der einzelnen Merkmalsvorschläge auf theoretischer Ebene zu verhandeln, ist es deswegen, ihre Operationalisierbarkeit zu klären. Denn eine empirische Forschungsfrage lässt sich erst beantworten, wenn den Größen, die sie zueinander in Beziehung setzt, beobachtbare Phänomene zugeordnet werden können (vgl. Huber 2009: 61). Ziel ist es, auf textueller Ebene Indikatoren zu finden, an denen sich das Vorhandensein der vorgeschlagenen 2 Einleitung Narrationsmerkmale ablesen lässt. Oder einfacher ausgedrückt: Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage, ob man das, was eine Geschichte zu einer Geschichte macht, messen kann. Um diese Frage in einem bearbeitbaren Rahmen zu halten, wird allerdings eine Einschränkung vorgenommen: Obwohl Narration ein medienübergreifendes Phänomen ist, für das sich entsprechend allgemeine Merkmale formulieren lassen müssten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich diese in unterschiedlichen Medien auch vergleichbar realisieren. Die Prüfung der Operationalisierbarkeit beschränkt sich in dieser Arbeit daher auf den Bereich der Erzählungen in Print-Medien. Ob und wie weit die gesammelten Überlegungen auf andere Medien übertragbar sind, kann hier nicht geklärt werden. Um zu überprüfen, ob die erarbeiteten Operationalisierungsvorschriften sich in der Forschungspraxis bewähren können und vor allem, um wieder an die Ausgangsfrage anzuschließen und erste empirische Erkenntnisse über die tatsächliche Wirkung spezifisch narrativer Strukturen auf das Unterhaltungserleben präsentieren zu können, werden drei potentielle Narrationsfaktoren in einer Studie auf ihren Erklärungsgehalt untersucht. In einem quasi-experimentellen Design werden dazu die textuellen Indikatoren für die Merkmale zu eliminieren versucht und der Effekt der Manipulation auf die Beurteilung des narrativen Gehalts des Medienangebots sowie auf das resultierende Unterhaltungserleben beobachtet. Aufgrund des relativ komplexen Bildes, das unterschiedliche Wissenschaften in der Summe vom Konstrukt ‚Narration‗ zeichnen und da mit den drei Faktoren aus forschungsökonomioschen Gründen nur ein kleiner Ausschnitt daraus getestet werden kann, kann die vorgestellte Studie trotz ihres relativen Aufwands allerdings nur Beispielcharakter haben. Die vollständige Erfassung des Wesens von Narration und der Beziehung zwischen Narration und Unterhaltung ist ein langer Weg, auf dem hier nur die ersten kurzen Etappen zurückgelegt werden können. Die vorliegende Arbeit gliedert sich entsprechend in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Im zweiten Kapitel wird mit der triadisch-dynamischen Unterhaltungstheorie (TDU) nach Werner Früh (u.a. 2002) der grobe theoretische Rahmen aufgespannt und das Konstrukt ‚Unterhaltung‗ modelliert. Um mehr Ansatzfläche für Verbindungen zum Narrationskonstrukt zu schaffen, werden zudem exemplarisch einzelne Themenfelder der Unterhaltungsforschung vorgestellt. Abschließend wird die Messung von Unterhaltung diskutiert. Danach beginnt die Dimensionierung von Narration. Das dritte Kapitel beleuchtet dabei zunächst, wie sehr das Konstrukt in der Kommunikationswissenschaft, insbesondere in der Unterhaltungsforschung, Thema ist, in welche Fragestellungen es eingebunden ist und welche Erkenntnisse sich daraus für seine Merkmale ableiten lassen. 3 Einleitung Das vierte Kapitel widmet sich der Narratologie. Diese wird kurz vorgestellt und es werden wichtige aus ihr hervorgegangene Ansätze herangezogen, um zu präzisieren, über welchen Gegenstand bzw. welche Gegenstände überhaupt etwas ausgesagt werden soll und um möglichst fundierte Kandidaten für deren Merkmale zu finden. Im fünften Kapitel werden die narratologischen Überlegungen durch Ansätze aus den kognitiven Wissenschaften ergänzt. Damit ist die jeweils separate Dimensionierung von Unterhaltung und Narration abgeschlossen. Im sechsten Kapitel werden die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse miteinander in Beziehung gesetzt. Es wird versucht, Definitionen zu erarbeiten und die Überlegungen zum Narrations- und Unterhaltungskonstrukt auf gegenseitige Anknüpfungspunkte hin zu untersuchen. Gleichzeitig wird überlegt, wie die gefundenen potenziellen Narrationsmerkmale einer empirischen Erfassung zugänglich gemacht werden können. Abschließend werden die drei Merkmale exemplarisch ausgewählt, die im anschließenden empirischen Teil in einem QuasiExperiment auf ihren Narrations- und Unterhaltungswert untersucht werden. Der empirische Teil setzt sich aus den Kapiteln 7, 8 und 9 zusammen. In Kapitel 7 werden dabei zunächst konkrete Forschungsfragen über den Zusammenhang von Unterhaltungserleben und Narration entwickelt, sowie Hypothesen für den Einfluss der drei ausgewählten Merkmale aufgestellt. Das methodische Vorgehen, mit dem die Forschungsfragen beantwortet und die Hypothesen geprüft werden sollen, wird detailliert in Kapitel 8 beschrieben. Im neunten Kapitel erfolgt die Präsentation und Interpretation der damit gewonnenen Ergebnisse. Im abschließenden zehnten Kapitel werden die gesammelten theoretischen und empirischen Erkenntnisse zusammengefasst, um zu zeigen, welche Fortschritte gemacht werden konnten, aber auch, welche Probleme und Forschungsdefizite sich gezeigt haben. Darauf aufbauend werden Vorschläge gemacht, wie die Erfassung von Narration bzw. der Beziehung von Narration und Unterhaltung in Zukunft weiter verfolgt werden kann. 4 THEORETISCHER TEIL 2. Unterhaltungsforschung Um zum empirischen Teil hinzuführen, wird sich den Konstrukten ‚Unterhaltung‗ und ‚Geschichte/Narration‗ zunächst getrennt gewidmet. Da sich die vorliegende Arbeit ganz explizit als Beitrag zur Unterhaltungsforschung versteht, wird dabei zunächst mit dem Unterhaltungskonstrukt begonnen. Als theoretischer Rahmen dient dabei die triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie (TDU). Auf ihren Prämissen aufbauend wird modelliert, wie Unterhaltungserleben im Prozess medienvermittelter Kommunikation entsteht. In den folgenden Abschnitten werden Beispiele für Themenfelder der Unterhaltungsforschung gegeben. Vorgestellt werden im Einzelnen Ansätze zu Spannungserleben, Presence und Flow. Abschließend wird kurz diskutiert, wie Unterhaltungserleben gemessen werden kann. 2.1 Die triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie Aufgrund der Fragestellung liegt der Fokus dieser Arbeit auf einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Konstrukt ‚Narration‗. Dadurch soll allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass es sich bei ‚Unterhaltung‗ um eine weniger problematische Kategorie handelt. Sowohl im alltäglichen (vgl. Westerbarkey 2003) als auch im akademischen Gebrauch (vgl. Wünsch 2006a) wird der Begriff auf eine Vielzahl von Phänomenen angewandt, die teilweise nur sehr bedingt miteinander zu tun haben. Da kein Konsens darüber herrscht, welches Konstrukt hinter dem Begriff steckt, existiert zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch keine allgemein anerkannte Definition von Unterhaltung. (vgl. Wünsch 2002: 15). Erschwerend kommt hinzu, dass nicht einmal Einigkeit darüber besteht, ob Unterhaltung im wissenschaftlichen Kontext überhaupt der adäquate Begriff für das Konstrukt ist, auf dessen Inhalt man sich zu einigen versucht (vgl. z.B. Mikos 2006; Vorderer/Klimmt/Ritterfeld 2004 oder Hügel 1993). Sich den Problemen rund um Konstrukt und Begriff ‚Unterhaltung‗ im Einzelnen zu widmen, ist beim Umfang dieser Arbeit aber leider nicht möglich. Als Alternative soll als theoretischer Rahmen die triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie (TDU) nach Werner Früh übernommen werden. Denn die TDU gilt gegenwärtig als „wohl elaborierteste Theorie der Unterhaltung― (Mikos 2006: 131) und integriert zahlreiche Vorschläge anderer Autoren. Darüber hinaus sieht Früh seine Theorie explizit als Rahmentheorie der Unterhaltungsforschung, an der man kommende Forschung ausrichten kann und soll (vgl. Früh 2003). Die TDU lehnt sich theoretisch zunächst an einen noch allgemeineren Rahmen an. Sie orientiert sich am dynamisch-transaktionalen Ansatz (DTA), den Früh gemeinsam mit Klaus Schönbach entwickelt hat (z.B. Früh/Schönbach 1982) (vgl. Früh 2002: 67). Beim DTA handelt es sich um eine Art Meta-Theorie: Er bezieht sich nicht auf konkrete Gegenstände der Kommunikationswissenschaft, sondern – auf höherer Abstraktionsebene – darauf, wie man sich als Kommunikationswissenschaftler mit seinen Forschungsobjekten auseinandersetzen 6 Unterhaltungsforschung soll. Wünsch spricht bildhaft von einem „Gerüst [.], mit dessen Hilfe neue Theorien ‚gebaut‗ werden können― (Wünsch 2008: 261). Der dynamisch-transaktionale Ansatz setzt sich im Wesentlichen aus drei Einzelheuristiken zusammen, von denen er zwei bereits im Namen trägt: Mit der dynamischen Sichtweise trägt Früh dem Umstand Rechnung, dass es Phänomene gibt, die sich schlecht als Zustände beschreiben lassen. Dazu zählen ganz allgemein die Objekte der menschlichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, im Besonderen aber eben auch Kommunikation. Kommunikationsphänomene sollen daher gemäß des DTA nach Möglichkeit nicht statisch oder als Aneinanderreihung von Momentaufnahmen, sondern in ihrer Prozesshaftigkeit beschrieben (und operationalisiert) werden. (vgl. Früh 2002: 70) „Indem man hier also die Dynamik eines Phänomens beschreibt, beschreibt man das Phänomen an sich.― (Wünsch 2006a: 89) Des Weiteren soll kommunikationswissenschaftliche Forschung aus einer molaren Perspektive erfolgen – sie soll gegenstandsbezogen und problemorientiert sein. Damit ist erstens der Einbezug aller für das zu untersuchende Phänomen relevanten Einflussgrößen gemeint, was ggf. auch heißt, dass man über den Rahmen einer einzelnen Theorie oder auch der eigenen wissenschaftlichen Disziplin hinausgehen muss. So soll, wenn es die Fragestellung verlangt, nicht nur genuin kommunikationswissenschaftliches – oder ggf. noch soziologisches oder psychologisches – Fachwissen einfließen, sondern u.U. auch ökonomisches, politologisches, literaturwissenschaftliches etc. (vgl. Früh 2002: 69f). Außerdem fordert der DTA dazu auf, die zusammenhängenden Größen zu Komplexen zu verdichten und mit den so gebildeten Syndromen zu argumentieren (vgl. Wünsch 2006a: 91). Der molare Kontext umfasst zweitens die Sichtbarmachung des Forschungsgegenstandes. Ein Objekt hat demnach keine identifizierbare Existenz, solange es nicht wahrnehmbar ist. Das trifft auf viele Gegenstände zu, die potenziell für die Kommunikationswissenschaft interessant sind (z.B. Meinungen, Wissensinhalte etc.). Ein solcher latenter Gegenstand muss deshalb, bevor Aussagen über ihn getroffen werden können, durch Messung manifest gemacht werden. Daraus folgt andersherum aber auch, dass theoretisch berücksichtigt werden muss, dass die Art der Messung die Art und Identität der Existenz dieses Objektes vorgibt (vgl. Früh 2002: 69f). Mit der Transaktion führt der DTA schließlich einen neuen Typ von Ursache-WirkungsBeziehung ein, der die Bezüge zwischen den Größen kommunikativer Prozesse besser abbilden soll als das Prinzip der Kausalität. Die Dynamik von Kommunikationsprozessen berücksichtigend, geht eine Transaktion davon aus, „dass nicht ein Faktor wirkt und ein anderer beeinflusst wird, sondern zwei Größen in einer Beziehung zueinander stehen, die das Resultat gleichzeitiger Prägung von beiden Seiten ist.― (Früh 2002: 69) Mit diesen drei Grundsätzen ausgerüstet, versucht Früh auch dem Kommunikationsphänomen Unterhaltung zu begegnen. Ziel seiner Theorie ist es dabei nicht nur, Unterhaltung als Prozess zu beschreiben, sondern auch a) Alleinstellungskriterien zu erarbeiten, die es möglich 7 Unterhaltungsforschung machen, Unterhaltung von anderen positiven Emotionen abzugrenzen und b) das Phänomen zu erklären, was Wünsch „Valenztransformation― (Wünsch 2006a: 12) nennt – den Umstand, dass auch Medienangebote, die primär negative Emotionen wie Angst oder Ekel erwecken, unterhaltend wirken können. Ganz im Sinne der molaren Perspektive zieht er dazu nicht nur eine Vielzahl bereits bestehender Ansätze zum Unterhaltungserleben heran, er greift vor allem zunächst einmal auf Theorien aus der Linguistik und der kognitiven und Emotionspsychologie zurück. Insgesamt entwickelt er ein Modell kommunikativer Informations- und Emotionsverarbeitungsprozesse, in das er spezifische Überlegungen zum Unterhaltungserleben integriert. Der erste Schritt zur Erklärung von Unterhaltungsempfinden ist, dass Früh es als emotionsähnliches, subjektives Erleben ausweist. Mit Rückgriff auf das Stimulus-Evaluation-CheckModell von Scherer (1993) und den Appraisal-Ansatz von Schachter und Singer (1962) sind Emotionen kognitiv evaluierte Erregungszustände (vgl. Früh 2002: 86). Die Evaluation erfolgt dabei nach Osgood, Suci und Tannenbaum (1957) auf mehreren Dimensionen. Eine dieser Dimensionen ist Valenz. Die Valenz gibt an, ob eine Erregung als eher angenehm oder unangenehm interpretiert wird. Dieses Erkenntnisse kombiniert Früh mit linguistischen Überlegungen zum Textverstehen (vor allem Kintsch/van Dijk 1978). Die ganzheitliche Verarbeitung von Texten verläuft demnach auf zwei unterschiedlichen, aber voneinander abhängigen Eben: Auf einer lokalen Ebene erarbeitet der Rezipient zunächst durch die Interpretation einzelner Propositionen auf Satzebene die Mikrostruktur des Textes. Um den Text verstehen zu können, muss der Rezipient diese Propositionen während der Rezeption sukzessive zu abstrakteren Bedeutungseinheiten auf höherer Ebene transformieren, indem er sie zu Makropropositionen zusammenfasst und verallgemeinert. Die Bedeutung eines Textes erfasst ein Rezipient, wenn er auf der höchsten Abstraktionsebene angekommen ist und die globale Bedeutung des Textes zu einer einzigen Proposition, seiner Makrostruktur, verdichtet hat. „Vereinfacht kann man diese als eine ‚Zusammenfassung der wesentlichen Aussagen des Textes‘ bezeichnen.― (Wünsch 2006a: 121) Früh weitet diese Vorstellung aus, indem er annimmt, dass während der Rezeption auch Emotionen aggregiert werden: Durch die transaktional gekoppelte Informations- und Emotionsverarbeitung werden die einzelnen kognitiv-affektiven Wahrnehmungen auf der Mikroebene […] während der Rezeption nach und nach zu einer allgemeineren Makroemotion transformiert. (Früh/ Wünsch 2007: 42) Unterhaltung ist nach Früh genau so eine Makroemotion. Welche einzelnen Emotionen dabei auf der Mikroebene entstehen und wie sie valenziert sind, ist sekundär. Unterhaltung als Makroemotion kann durchaus auch Trauer, Wut, Angst oder Ekel als Mikroemotionen einschließen. Entscheidend ist nur dass dem Erleben insgesamt eine positive Valenz zugeschrieben wird, es als angenehm erlebt wird. 8 Unterhaltungsforschung Die TDU nennt drei Faktoren, die für das angenehme Erleben von Medienangeboten relevant sind: Abwechslung, Souveränität und Kontrolle (vgl. Wünsch 2006a: 99). Abwechslung wird dabei als Veränderungen im Wahrnehmungsfeld eines Rezipienten gefasst, wobei das Wahrnehmungsfeld nicht nur externe, sondern auch interne Reize umfasst (Abwechslung kann z.B. auch durch Nachdenken entstehen) (vgl. Früh 2002: 102). Souveränität und Kontrolle stehen einander semantisch sehr nahe, haben aber leicht andere Bedeutungsnuancen: Das Gefühl von Souveränität entsteht, wenn der Rezipient sich frei in seinen Entscheidungen fühlt (vgl. Wünsch 2006a: 98). Er kann ein Medienangebot auswählen oder eben nicht, außerdem kann er entscheiden, wie lange und intensiv er sich damit auseinandersetzten möchte. Kontrolle hingegen bezieht sich stärker auf die Beherrschbarkeit und Konsequenzenlosigkeit der Rezeptionssituation (vgl. ebd.). Mit dem latenten Bewusstsein der Virtualität von Medieninhalten kann ein Rezipient z.B. in eine spannende und abenteuerliche Welt oder ein Horrorszenario eintauchen, ohne dass er selbst ernsthaft Angst um Leib und Leben haben muss (vgl. Früh 2002: 135). Andererseits kann die Kontrolle aber auch verloren gehen, wenn Medieninhalte z.B. zu traurig, ekelig oder spannend empfunden werden. Genau diese Evaluation von Souveränität und Kontrolle auf Metaebene ist somit der zentrale Faktor, um das Phänomen der Valenztransformation zu erklären und in dem Früh das Abgrenzungskriterium von Unterhaltung gegenüber anderen positiven Emotionen wie Spaß, Freude oder Genugtuung sieht (vgl. Früh 2006a: 40). Für Souveränität und Kontrolle kann darüber hinaus jeweils zwischen einer aktiven und einer passiven Dimension unterschieden werden. Auf der passiven Dimension sind die Freiräume angesiedelt, die durch die Rezeptionssituation geschaffen werden, die aktive Dimension bezieht sich darauf, wie sehr der Rezipient diese auch Freiräume nutzt (vgl. Früh 2002: 100f). Dem Rezipienten muss also zum einen ganz allgemein die Möglichkeit gegeben sein, sich auf Unterhaltung einlassen zu können, er muss diese Möglichkeit aber auch aktiv (z.B. in Form einer zumindest minimalen kognitiven Beschäftigung mit dem Stimulus) nutzen, damit Unterhaltungserleben entsteht. Des Weiteren identifiziert Früh drei Gruppen von Einflussgrößen, die ganz allgemein den Verlauf von Rezeptionsprozessen bestimmen, im Besonderen aber auch über das Entstehen von Unterhaltung entscheiden – die sogenannten „objektiven Unterhaltungsfaktoren― (Früh 2002: 178) Diese setzten sich (1) aus Personenmerkmalen (z.B. aktuelle Stimmung, Vorwissen, Erwartungen, Einstellungen), (2) Medien- und Stimulusmerkmalen (z.B. bestimmte Inhalte, formale Gestaltung) und (3) Merkmalen der Situation und des gesellschaftlichen Kontextes (z.B. verfügbare Alternativen, Sozialverträglichkeit) zusammen (vgl. Früh 2002: 178). Nur wenn diese Faktoren in bestimmten Konstellationen gegeben sind, also quasi zueinander passen, entsteht Unterhaltungsempfinden. Diese Konstellation, in der die Merkmale hinreichend zusammenpassen nennt Früh „triadisches Ursachenfitting― (Früh 2002: 88) 9 Unterhaltungsforschung Damit sind die wesentlichen Bausteine von Frühs Unterhaltungstheorie beschrieben. Früh selbst nennt das die „statisch-analytische Betrachtung― des Unterhaltungsempfindens. Da diese Betrachtung den Heuristiken des DTA noch nicht voll gerecht wird, ergänzt Früh sie um eine „dynamische Betrachtung―, in der er – beginnend in der vorkommunikativen Phase bis hin zur Situation nach der Rezeption – die Prozesse nachzeichnet, in die die einzelnen Elemente eingebunden sind und zeigt, wie sie miteinander interagieren (bzw. transagieren). Er stellt vor allem die kontinuierlich ablaufenden Transaktionen zwischen Informations- und Emotionsverarbeitung auf der Mikroebene heraus. Außerdem betont er die Bedeutung permanenter Kontrollprozesse, mit denen Mikro- und Makroebene aufeinander reagieren. Insbesondere muss die Gesamtsituation ständig auf ihre Souveränität und die Passung der „objektiven Unterhaltungsfaktoren― (Fitting-Control) geprüft werden, die evaluieren, ob nach wie vor Unterhaltung empfunden werden kann. Abb.1: Unterhaltung als Makroemotion (nach Früh 2002) Unterhaltung ist also ein emotionsähnliches Erleben auf Makroebene, das, weil es selbstbestimmt und konsequenzenlos ist, als angenehm erlebt wird, also zumindest minimale positive Valenz aufweist. Das Vorliegen der Komponenten aus Frühs Modell kann im Kontext einer realen Rezeptionssituation Unterhaltungserleben aber noch nicht hinreichend erklären. Vielmehr ist es auch nötig, dass die Merkmale bestimmte Ausprägungen annehmen und in diesen Ausprägungen ‚fitten‗ (vgl. Früh 2003: 19). Ab welchem Schwellenwert dann von Unterhaltung auf der Makroebene gesprochen werden soll, müsse normativ festgelegt werden. Nach Früh sollte der Wert an dem Punkt angesetzt werden, an dem die subjektive Beurteilungstendenz des Rezipienten den Bereich der Unentschlossenheit überschritten hat und er das Erleben eindeutig, wenn auch u. U. geringfügig, als angenehm empfindet (vgl. Früh 2002: 223). Früh macht zwar in seiner Theorie bereits einige Aussagen „probabilistischer Art―, wonach z.B. angenommen werden kann, 10 Unterhaltungsforschung dass Medienmerkmale wie Dynamik, Humor oder Narration etc. eine vergleichsweise größere Chance haben, bei möglichst vielen Personen in möglichst vielen sozialen Situationen zu Unterhaltungserleben zu führen als andere Medienmerkmale. (Früh 2003: 19) Welche Faktoren in welchem Zusammenspiel und in welchen Ausprägungen aber tatsächlich dazu führen, dass die Schwelle überschritten wird, kann nur empirisch geklärt werden (vgl. Wünsch 2006: 108). 2.2 Forschungsfelder der Unterhaltungsforschung In diesem Kapitel wird die oberste Abstraktionsebene der Unterhaltungsforschung – die Bestimmung und Modellierung des Forschungsgegenstandes – verlassen und es werden ein paar Beispiele für einzelne Themenfelder gegeben, mit denen sie sich darüber hinaus beschäftigt. Ziel des Kapitels ist es dabei nicht nur, einen Eindruck von den recht vielfältigen Interessen der Unterhaltungsforschung zu vermitteln, sondern auch einen möglichst breiten Boden zu schaffen, um später nach Anknüpfungspunkte für das Narrationskonstrukt zu suchen. Vorgestellt werden die Forschung zum Spannungserleben, das Presence- und das FlowKonstrukt. Die Auswahl orientiert sich dabei an Themen, die zum einen recht prominent und zahlreich in Sammelbänden sowie Fachzeitschriften diskutiert werden. Zum anderen werden sie alle auch in Frühs Unterhaltungstheorie behandelt (vgl. Früh 2002; Wünsch 2006). 2.2.1 Spannung Spannung gilt zwar nicht als unbedingt notwendiger, aber dafür als ein sehr häufiger Bestandteil von Unterhaltungserleben (vgl. Schulze 2002: 49). Ein Großteil der Unterhaltungsmedien kann explizit als „Spannungsmedien― ausgewiesen werden. So fielen z.B. 29,6 % aller im Jahr 2004 in den USA verkauften Bücher unter die Kategorie ‚Mystery/Thriller‗, was über 900 Millionen verkauften Exemplaren entspricht (vgl. Schwab 2008: 235). Demnach ist es nicht verwunderlich, dass das Phänomen auch in der Wissenschaft ausgiebig diskutiert wird. Der englische Begriff Suspense leitet sich vom lateinischen Verb suspendere her, was so viel bedeutet wie ‚in Unsicherheit schweben‗ (vgl. ebd.). Spannung und Suspense werden in der deutschsprachigen Forschung zwar teilweise synonym verwendet, strenggenommen ist Spannung aber ein etwas weiter gefasster Begriff und schließt unter Umständen auch Mystery (s.u.) ein. In ihrer einfachsten Form wird Spannung als ein Erleben beschrieben, mit dem Mediennutzer in spezifischer Weise auf Ereignisse reagieren, die im Verlauf einer Erzählung geschildert werden (vgl. ebd.). Dafür, wie diese Reaktionen beschaffen sind und wie sie entstehen, gibt es mehrere, teils sehr unterschiedliche Erklärungsvorschläge. Grob kann dabei zwischen Ansätzen unterschieden werden, die Spannungserleben als eine Folge von Informationsverarbeitungsprozessen (kognitive Ansätze) und Ansätzen die es als Folge von Emotionsverarbeitungsprozessen sehen (affektive Ansätze) (vgl. ebd.: 236). 11 Unterhaltungsforschung Im Rahmen der kognitiven Ansätze modelliert Gerrig (1996) Spannungsrezeption z.B. als einen Problemlösungsprozess, bei dem der Rezipient versucht, den Ausgang der Erzählung zu antizipieren und hofft, in seinen Annahmen von der Narration bestätigt zu werden. Ohler und Nieding (Ohler 1994; Ohler/Nieding 1996), argumentieren ähnlich, wenden sich aber explizit gegen die Vorstellung des Problemlösens (vgl. Ohler/Nieding 1996: 145), da aus ihrer Sicht viele Prozesse, die an der Entstehung von Spannung beteiligt sind, unbewusst ablaufen. Sie benutzen stattdessen schematheoretische Überlegungen, um das Erleben zu erklären: Spannung entsteht demnach in zwei Schritten. Das Medienangebot baut beim Rezipienten systematisch Erwartungen, die unmittelbar darauf wieder gezielt verletzt werden. Erwartungen (oder besser: Wahrnehmungshypothesen) entstehen dabei, indem die Erzählung bis kurz vor ihrem Ende nur unvollständige Informationen liefert. Das Streben nach vollständiger Erfassung der Wahrnehmungswelt treibt den Rezipienten dazu, dass er Strategien entwickelt, dieses Informationsdefizit auszugleichen. Die Lücken werden vorläufig geschlossen, indem er für Informationen auf kognitive Schemata zurückgreift. Sehr stark vereinfacht heißt das, dass er zunächst Informationen aus seinen Alltagserfahrungen oder aus spezifischem Genrewissen an die Leerstellen setzt (vgl. Ohler 1994: 136f). Werden die damit gebildeten Erwartungen im Verlauf der Erzählung durch neue (immer noch unvollständige) Informationen enttäuscht, beginnt die Suche nach passenden Schemata von Neuem. So ist der Rezipient bis zur endgültigen Auflösung gezwungen, permanent seine Schemata gegen den medialen Input abzugleichen. Zu den affektiv orientieren Ansätzen kann u.a. Dolf Zillmanns (z.B. 1996) AffectiveDisposition Theory (ADT) gezählt werden. Die ADT ist wahrscheinlich die am häufigsten herangezogene (und am besten empirisch überprüfte) Theorie, die Spannung und auch das daraus resultierende Unterhaltungserleben erklärt. Erste Grundvoraussetzung dafür, dass Mediennutzer überhaupt Spannung erleben können, ist aus dieser Sicht, dass sie sogenannte affektive Dispositionen gegenüber den Protagonisten des Medieninhalts entwickeln: Sie müssen sie entweder so sympathisch finden, dass sie Empathie für sie aufbauen (sich in sie einfühlen und mit ihnen mitfiebern) oder sie müssen sie hinreichend unsympathisch finden, um sogenannte „Counterempathy― zu fühlen. Die zweite wichtige Bedingung ist, dass die Erzählung einen Konflikt enthält; für den Protagonisten muss sich ein gravierendes Problem auftun oder er muss in ernsthafte Gefahr geraten. Im Verlauf der Handlung ist der Rezipient hin- und hergerissen zwischen Hoffen und Bangen – entweder, weil er einen schlimmen Ausgang für eine sympathische Figur erwarten muss oder befürchtet, dass ein unliebsamer Charakter am Ende triumphiert. Das Erregungsniveau des Rezipienten steigt an. Aufgrund der undistanzierten, mitfühlenden Rezeptionshaltung wird diese Erregung als unangenehm interpretiert, man fühlt sogenannten empathischen Stress. Je wahrscheinlicher dabei der befürchtete negative Ausgang erscheint, desto intensiver ist der empathische Stress (vgl. Zillmann 1996: 208f). 12 Unterhaltungsforschung Wie aus so einer Spannungssituation letztendlich positiv valenziertes Erleben im Sinne von Unterhaltung entsteht, erklärt Zillmann mit der sogenannten Excitation-TransferHypothese. Diese nimmt an, dass die Erregung, die von Medienstimuli ausgelöst wird, nur langsam abgebaut wird und als unspezifisches Potenzial der reinen Potenz in die Evaluation folgender Reize einfließt. Auf Spannungsverläufe übertragen folgt daraus nach Zillmann: Am Ende der Rezeption ist die starke Erregung, die im Zuge des empathischen Stresses entstanden ist, noch vorhanden. Wird der Konflikt dann doch entgegen der Befürchtungen positiv aufgelöst, schlägt das negative Empfinden in einen euphorischen Zustand um. Konfliktsituationen, die zu Ungunsten des Protagonisten oder zu Gunsten des Antagonisten ausgehen, führen nach Zillmann nicht zu Unterhaltungserleben, weil die Erregung nicht ins Positive transferiert wird. Gleiches gilt für Konflikte, die im Verlauf der Handlung überhaupt nicht aufgelöst werden. (Vgl. Zillmann 1996: 220ff) Ein weiterer Ansatz, der in der Unterhaltungsforschung oft zur Erklärung von Spannung herangezogen wird, ist die sogenannte Structural-Affect Theory (SAT), die der Psychologe William Brewer (vor allem mit seinem Mitarbeiter Ed Lichtenstein) entwickelte (Brewer 1980; Brewer/Lichtenstein 1981; 1982). Spannung wird in dieser Theorie als unmittelbare affektive Reaktion auf die textuelle Struktur von Medienangeboten betrachtet. Das Besondere an der Theorie von Brewer und Lichtenstein ist, dass sie keine reine Spannungs-Theorie ist, sondern zugleich eine Unterhaltungstheorie und – im Rahmen dieser Arbeit noch viel wichtiger – eine Narrationstheorie. Brewer und Lichtenstein analysieren das Textmaterial unterhaltender Medienstimuli zunächst anhand zweier Begriffe, die sie aus der Literaturwissenschaft übernehmen: Gemäß der russischen Formalisten hat jeder narrative Text eine event structure und eine discourse structure. Es kann also analytisch zwischen der Ebene der Ereignisse, die eine Geschichte bilden und der Ebene ihrer Präsentation unterschieden werden. Dadurch ist es möglich, dass ein Text die berichteten Ereignisse nicht in derselben Reihenfolge präsentieren muss, wie sie passiert sind (vgl. Brewer/Lichtenstein 1982: 473f). Narration ist für die Autoren demnach vor allem ein Selektions- und Organisationsprozess, der aus einer (erfundenen oder tatsächlich passierten) Ereigniskette einzelne Ereignisse auswählt und in eine bestimmte Reihenfolge bringt. Brewer und Lichtenstein nehmen an, dass es drei wesentliche Diskurs-Strukturen gibt, die Unterhaltung auslösen, weil sie jeweils mit einer für Unterhaltungserleben spezifischen affektiven Reaktion verknüpft sind. Je nachdem, ob dabei die ursprüngliche Chronologie beibehalten, umgedreht oder die relevanten Informationen verzögert gegeben werden, kommt es beim Rezipienten zu unterschiedlichen affektiven Reaktionen – zu Spannung, Neugier oder Überraschung. Eine Spannungs-Struktur behält im Wesentlichen die natürliche Chronologie der Ereignisse bei. Relativ zu Beginn schildert sie das initiating event, ein bedeutungsvolles Ereignis, das potenziell ernsthafte Folgen haben kann (sowohl gute als auch schlechte). Ähnlich wie in 13 Unterhaltungsforschung Zillmanns Theorie bringt so ein Ereignis den Rezipienten dazu, sich um das Schicksal der Charaktere zu sorgen, sodass er gespannt die Handlung verfolgt. Der Spannungszustand wird aufgelöst, wenn der Ausgang offenbart wird. Eine Überraschungs-Struktur lässt die wichtige Information am Anfang aus, ohne es den Rezipienten merken zu lassen. Wird das Ereignis an späterer Stelle aufgedeckt, reagiert er überrascht. Die Überraschung hält an, bis der Rezipient die Ereignisstruktur auf Grundlage der neuen Information reinterpretiert hat. Die NeugierStruktur ist der Überraschungsstruktur sehr ähnlich. Auch hier wird das relevante Ereignis ausgelassen. Allerdings gibt der Diskurs hier genug Informationen, dass der Leser um das Fehlen weiß und neugierig auf Hinweise wartet. Die Neugier löst sich auf, sobald genug Hinweise gegeben sind, die es dem Leser ermöglichen, das fehlende Ereignis zu rekonstruieren. (Vgl. Brewer/Lichtenstein 1982: 480f) In empirischen Studien konnten Brewer und Kollegen nicht nur nachweisen, dass die drei Diskurs-Strukturen tatsächlich – wie vorhergesagt – Spannung, Überraschung und Neugier hervorrufen, sondern auch, dass Lesern Texte, die nach diesen Mustern gestaltet sind signifikant besser gefallen als andere, wobei die Spannungs-Struktur insgesamt am besten gefällt. (Vgl. Brewer/Lichtenstein 1982) Darüber hinaus konnten sie zeigen, dass Texte, die nach keiner der drei Affektstrukturen gestaltet sind, nicht nur nicht unterhalten, sondern tendenziell auch eher nicht als Geschichten wahrgenommen werden. (Vgl. Brewer/Lichtenstein 1981) Viele der in diesem Kapitel gesammelten Überlegungen zum Spannungserleben finden sich in komprimierter Form bei Junkerjürgen: Unter Spannung lassen sich verschiedene Erzählstrategien subsumieren, die allesamt die Konzentration den Rezipienten auf den Ablauf der Narration bannen. Es sind in erster Linie Inszenierungen von informativen Leerstellen, Anreizen und Gefahren, die in der Forschung als mystery und suspense bezeichnet werden. (Junkerjürgen 2006: 175) 2.2.2 Presence Presence (oder Präsenzerleben) bezeichnet, sehr stark verkürzt, das Gefühl, sich in einer medienvermittelten Welt anwesend zu fühlen. Der Begriff geht auf die von Marvin Minsky (1980) geprägte telepresence zurück und wurde zu Anfang vor allem im Rahmen (technikzentrierter) Beschreibungen virtueller Realitäten (VR) benutzt. In sozialwissenschaftlichen Kontexten taucht Presence erst seit jüngerer Zeit auf (vgl. Wirth et al. 2008: 70). Da das Konstrukt im Laufe seiner ‚Karriere‗ in ganz unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen diffundiert ist, und dort jeweils unabhängig voneinander weiterentwickelt wurde, hat der Begriff heute mehrere Bedeutungsnuancen. Lombard und Ditton identifizieren insgesamt sechs Dimensionen von Presence. Im Rahmen der Unterhaltungsforschung tauchen aber vor allem drei davon immer wieder – in teils unklarer Abgrenzung zueinander – auf. Auf der Dimension Präsenz als Realität wird nach Lombard und Ditton evaluiert, wie sehr es einem Medium gelingt, Gegenstände (und Personen) wie echt abzubilden, wie sehr sie sowohl optisch, akustisch und haptisch 14 Unterhaltungsforschung real erscheinen. Der Aspekt der Transportation umfasst das Gefühl, dass räumliche Grenzen verschwimmen. Man meint, selbst im Medium anwesend zu sein oder – anders herum – dass Gegenstände und Personen aus der medialen Welt bei einem selbst anwesend sind. Immersion hingegen thematisiert das Phänomen, dass man soweit in die mediale Umgebung eintaucht, dass man sich vollständig von ihr umschlossen fühlt. Die reale Umgebung tritt völlig in den Hintergrund, wird quasi ‚unsichtbar‗ (vgl. Lombard/Ditton 2001: o.S.). Als das allen Aspekten von Presence Gemeinsame identifizieren die Autoren eine „illusion of nonmediation― (ebd.) Diese Illusion tritt auf „when a person fails to perceive or acknowledge the existence of a medium in his/her communication environment and responds as he/she would if the medium were not there.‖ (ebd.) Das Interesse am Phänomen der Unvermitteltheit ist so stark und weit verbreitet, dass im Jahr 2000 die ISPR (International Society for Presence Research) ins Leben gerufen wurde, die u.a. das interdisziplinär orientierte Journal Presence herausgibt. Im Rahmen eines Forschungsprogramms der ISPR ist unter Mitarbeit von 15 Wissenschaftlern aus fünf verschiedenen Ländern das derzeit wohl leistungsfähigste Modell entwickelt worden, das das Zustandekommen vom Präsenzerleben in seiner Prozesshaftigkeit nachzeichnet (vgl. Wirth et al. 2007). In diesem Model entsteht räumliche Präsenz in zwei Schritten: Im ersten Schritt muss der Rezipient ein mentales Model des medienvermittelten Raumes, ein Spatial Situation Model (SSM), konstruieren. Dazu muss das Medienangebot ausreichend Informationen liefern, die erkennen lassen, dass der vermittelte Inhalt ein Raum ist. Die zweite Modellebene bezieht sich auf das eigentliche Präsenzgefühl, die Vorstellung tatsächlich unvermittelt die Medienwelt zu erleben. Das Modell stützt sich dabei auf Annahmen der Hypothesentheorie der Wahrnehmung (Bruner/Postman 1948). Diese geht davon aus, dass Menschen aufgrund ihrer allgemeinen Erfahrungen Erwartungen über die Wahrnehmung der Realität ausbilden und diese Hypothesen permanent mit Informationen aus der tatsächlichen Umwelt überprüfen. Wahrnehmen heißt in diesem Sinne nicht, die Umwelt abzubilden, sondern kontinuierlich Umweltreize gegen die eigenen kognitiven Strukturen testen (vgl. Hartmann/Böcking/Schramm 2005: 28f). Das Präsenz-Modell übernimmt diese Vorstellung, indem es davon ausgeht, dass in vielen Mediennutzungssituationen zwei ganz bestimmte Wahrnehmungshypothesen miteinander konkurrieren. Die erste Hypothese (die sogenannte Realhypothese) – besagt, dass der Lokalisationsrahmen der Realität der primäre Referenzrahmen – oder kurz PERF (für primary egocentric reference frame) – ist und der Rezipient seine Wahrnehmung deshalb darauf ausrichten sollte. Unter der entgegengesetzten zweiten Hypothese (der Präsenz- oder sogenannten medium-as-PERF-Hypothese) nimmt der Rezipient an, dass der primäre Referenzrahmen der Lokalisationsrahmen der Medienumgebung ist und es gilt die Wahrnehmung daran auszurichten. Für welche Hypothese ein Rezipient sich entscheidet, hängt von mehreren Faktoren ab. Sehr vereinfacht könnte man sagen, dass die Hypothese zugunsten 15 Unterhaltungsforschung des Referenzrahmens ausfällt, von dem qualitativ und quantitativ die stärksten Reize ausgehen und der es dem Rezipienten damit leicht macht, seine Wahrnehmung auf ihn auszurichten 1. (Vgl. Wirth et al. 2007: 497ff) Die Annahme ist oft, dass Medien besonders immersiv sein müssen, um derart dominante Reize aufzubauen. Unter immersiven Medien versteht man meist Stimuli, die sogenanntes multi-sensorisches Feedback liefern (also mehrere Sinne des Rezipienten gleichzeitig ansprechen) und dadurch Störreizen kaum eine Chance lassen (vgl. Wirth 2007: 496f). Durch diese Annahme ergibt sich aber etwas, das Biocca (2002) das „book problem― nennt: Print-Medien geben fast kein sensorisches Feedback, haben damit im klassischen Verständnis also kaum immersives Potenzial und dürften somit nur schlecht geeignet sein, um Präsenz zu erzeugen. Intuitiv würde aber wohl niemand abstreiten, dass man gerade bei der Lektüre von Romanen oder Kurzgeschichten besonders gut in fremden Welten wandeln kann. Die Frage ist: Wie kompensieren solche Medienangebote das nicht vorhandene immersive Potenzial? Der – im Rahmen dieser Arbeit – interessanteste Lösungsvorschlag, der dazu geäußert wurde, lautet „Books can produce presence because they use the power of narration.― (Schubert/Crusius 2002: 56) Bei der Konkretisierung dieser These wird die Argumentation von Schubert und Crusius aber leider recht dünn, denn sie umfasst nur einen einzigen Satz: „We think that narration adds meaning to a ‚mere Space‘ by (a) introducing temporal sequences of causes and results or even (b) giving events in the space a social meaning.‖ (ebd.) Abgesehen davon, dass die Aussage durch den Zusatz (b) ein wenig tautologisch klingt (Sinn wird gegeben, indem sozialer Sinn gegeben wird), ist nicht ersichtlich, warum Presence überhaupt etwas mit Sinn zu tun haben sollte. VR-Medien kommen scheinbar ja auch ohne (diese Form von) Sinn aus. Eine vielversprechendere Verkopplung von Presence und Narration nehmen Kelso, Weyrauch und Bates (1993) sowie Wirth, Böcking und In-Albon (2006) vor. Sie argumentieren, dass Narration vermittelt durch Suspense auch Presence entstehen lässt. Suspense führt demnach zu Interesse, Interesse führt zu gesteigertem Involvement und Involvement lenkt schließlich die Wahrnehmung: Der Spannungsstimulus wird fokussiert, weniger interessante Reize werden ausgeblendet und Presence kann entstehen. Wirth, Böcking und In-Albon liefern eine erste Bestätigung für den angenommenen Prozess, indem sie einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen Präsenzerleben und Spannung nachweisen können (vgl. Wirth/Böcking/In-Albon 2006: 122). 1 Zwei prototypische Beispiele wären a) die Rezeption eines Films in einem abgedunkelten Panorama-Kino mit Dolby-Surround-Sound und b) die Lektüre der Morgenzeitung in einer überfüllen U-Bahn. Im Fall des Kinofilms ist es gut möglich, dass Presence dauerhaft entsteht. Die ganze Szenerie ist darauf ausgerichtet den Medienstimulus zu betonen und andere Reize auszublenden. Im Fall der Zeitungslektüre ist aufgrund der Störreize (Wackeln des Wagens, Gespräche anderer Fahrgäste, Ansage der Haltestellen) eher nicht mit einer Präsenzerfahrung durch das Medium zu rechnen. 16 Unterhaltungsforschung Weiter relativeren lässt sich das ‚book problem‗ vor den Forschungserbenissen von Mögerle, Böcking, Wirth und Schramm (2006). Die Autoren zeigen, dass der immersive Gehalt von Medienfaktoren zwar eine Rolle Abb. 2: Illustration zum ‚book problem‘ bei der Entstehung von Präsenzerleben spielt, der Einfluss der Medienfaktoren aber unter Berücksichtigung von Personenmerkmalen deutlich abnimmt. Insbesondere die räumlich-visuelle Vorstellungskraft bestimmt, ob und wie stark Präsenz erlebt wird Mögerle/Böcking/Wirth/Schramm (vgl. 2006: 87). Insgesamt ist der Einfluss der Perso- Quelle: Helme Heine (auf http://www.arttakeaway.ch/) nenmerkmale in ihrem Modell größer als der der Stimulusmerkmale. Was die Forschung derzeit aber noch unzureichend herausstellt, ist der genaue Zusammenhang zwischen Presence und Unterhaltung. Es konnte zwar in der Tat nachgewiesen werden, dass Unterhaltungsempfinden (hier: enjoyment) signifikant hoch mit Transportation korreliert (vgl. Green/Brock/Kaufman 2004), diese Erkenntnis wird aber bislang nur unzureichend theoretisch implementiert und hat z.B. noch keinen Eingang ins Prozessmodel gefunden. Die Autoren begnügen sich damit, darauf hinzuweisen, dass viele klassische Unterhaltungsmedien immersiv sind (vgl. Lombard/Ditton 1997) oder immer immersiver werden (vgl. IJsselsteijn 2002). Andere ziehen eine lockere Verbindung zwischen Präsenzerleben und eskapistischen Nutzungsmotiven (vgl. Green/Brock/Kaufman 2004). 2.2.3 Flow Ein drittes Konstrukt, das mit (medienvermittelter) Unterhaltung verbunden wird und vor allem genutzt wird, um die Unterschiede im Erleben verschiedener Personen zu erklären, ist Flow. Die Flow-Theorie geht auf den ungarisch-amerikanischen Psychologen Mihaly Csikszentmihalyi zurück. Ausgangspunkt war eine Entdeckung, die Csikszentmihalyi während seiner Doktorarbeit bei der Beobachtung einer Gruppe von Künstlern machte: Sie verbrachten viele Stunden und Tage damit, völlig konzentriert zu malen oder Skulpturen zu bearbeiten, ohne sich von ihrer Arbeit finanziellen Lohn oder Ansehen zu erwarten. Sie waren komplett in ihre Arbeit versunken. Sobald die Werke aber fertig waren, schienen sie für die Künstler nicht mehr von Interesse zu sein (vgl. Csikszentmihalyi 1988: 15). Dieses Phänomen verwunderte Csikszentmihalyi und sein Interesse galt von da an der Frage, was das Vergnügen an Tätigkeiten ausmacht, deren einziger Zweck in der Tätigkeit selbst besteht, wie diese ausschließlich intrinsische Motivation zustande kommt. 17 Unterhaltungsforschung Die wohl prototypischste Tätigkeit, die rein intrinsisch motiviert ist, ist das Spiel. Man spielt das Spiel um seiner selbst willen, ist dabei bereit sich – wenn auch nur für kurze Zeit – Regeln zu unterwerfen und erwartet als einzige Gratifikation das Erleben der Tätigkeit selbst. Aus diesem Grund kombiniert Csikszentmihalyi seine aus Interviews und Beobachtungen gewonnenen Erkenntnisse mit Ansätzen der Spieltheorie und Neugier-Psychologie. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass es im Erleben solch autotelischer Tätigkeiten einen Zustand geben kann, den er Flow nennt und der vor allem so angenehm empfunden wird, dass man ihn immer wieder erleben möchte (vgl. Csikszentmihalyi 1988: 43). Flow-Zustände sind charakterisiert durch eine klare Zielsetzung der Tätigkeit, permanentes und unmittelbares Feedback auf die eigenen Handlungen und eine optimale Übereinstimmung der Anforderungen der Tätigkeit mit den Fähigkeiten des Handlenden, was schließlich zur vollständigen Konzentration auf die Handlung bzw. das Ausblenden aller Störfaktoren führt. Flow entsteht auf dem schmalen Grat, auf dem äußeren Reize weder zu Über- noch zu Unterforderung führen und bezeichnet damit einen optimalen Zustand jenseits von Angst oder Langeweile. Handlung und Bewusstsein verschmelzen miteinander und das Subjekt „ist sich zwar seiner Handlungen bewusst, nicht aber seiner selbst― (Csikszentmihalyi 2000: 61). In der wissenschaftlichen Betrachtung wird Flow wegen dieses absorbierenden Potenzials oft im selben Atemzug mit den Konzepten Presence, Suspense, Involvement oder Transportation genannt (vgl. z.B. Wirth et al. 2008). Csikszentmihalyi untersucht dieses Zusammenspiel an verschiedenen beruflichen Tätigkeiten, vor allem aber an Freizeitaktivitäten (Klettern, Schach spielen, tanzen etc.). Bezogen auf Mediennutzung werden die Anforderungen und Fähigkeiten meist kognitiv verstanden. Unterhaltung entsteht dann, wenn ein Medieninhalt in optimaler Weise den Fähigkeiten entspricht, mit denen ein Individuum diesen Inhalt interpretiert (vgl. Sherry 2004: 328). Auf Seiten des Medienangebots variieren die Anforderungen an den Rezipienten dabei vor allem durch das Ausmaß, in dem von erlernten Konventionen abgewichen wird (vgl. ebd.: 333f). Die Fähigkeiten zur Mediennutzung hängen von den Erfahrungen, den Routinen und allgemeinen Begabungen ab (vgl. Sherry 2004: 336). 2.3 Messung von Unterhaltungserleben Die große Vielfalt und relative Heterogenität der einzelnen Ansätze zur theoretischen Erklärung von Unterhaltungserleben wirken sich natürlich auch auf die Vorschläge für die empirische Erfassung des Konstrukts aus. Ganz abgesehen von einer Fülle konkreter Anregungen dazu, wie sich die einzelnen Merkmale am besten operational definieren lassen, wird auch diskutiert, welche Methoden überhaupt geeignet sind, Unterhaltungserleben sichtbar zu machen. Die Bandbreite der vorgeschlagenen Verfahren reicht dabei von qualitativen und quantitativen Befragungen über die systematische Codierung und Interpretation von Gesichtsausdrücken bis hin zu technisierten Verfahren wie dem Continuous Response Measurement (CRM), 18 Unterhaltungsforschung bei dem Testpersonen z.B. durch Verschieben vor Reglern oder Justieren eines Joysticks permanentes Feedback geben sollen und physiologischen Messverfahren wie der Ermittlung des Hautleitwiderstandes oder zerebraler Aktivität (vgl. Trepte 2006; Wünsch 2006b). Trotz des wachsenden Methodenpools der Unterhaltungsforschung ist die gebräuchlichste Methode die standardisierte, quantitative Befragung. Ziel ist es meist, über mehrere Frageitems gemittelt einen Index für das Unterhaltungserleben zu konstruieren. Die einzelnen Itembatterien, die für die jeweiligen Indizes formuliert werden, sind dabei in sehr unterschiedlichem Maß an theoretische Vorgaben gebunden. So entwickeln z.B. Nabi und Krcmar (2004) ihre Skala zur Erfassung von Unterhaltung, die Media Enjoyment Scale (MES), in der Vorstellung, dass enjoyment psychologisch als eine Einstellung (z.B. gegenüber einem Medienangebot) verstanden werden sollte, weswegen sich der Fragebogen eng an allgemeine Einstellungstheorien anlehnt und versucht, Unterhaltung auf die drei Dimensionen kognitiver, affektiver und konativer Reaktionen auf einen Stimulus herunterzubrechen. Als Indikatoren für Unterhaltung werden gemäß diesem recht speziellen Verständnis z.B. abgefragt, ob sich ein Rezipient über die Nutzungssituation hinaus gedanklich mit dem Medieninhalt auseinandersetzt oder ob er versucht, auch Freunde zur gemeinsamen Rezeption zu überzeugen. Anders Appel, Koch Schreier und Groeben: Die Autoren tragen mit ihren Skalen zum Leseerleben (SZL) ganze 14 Fragebatterien zu unterschiedlichen Aspekten der Rezeption von Print-Medien zusammen. Darin enthalten ist auch eine Skala „Allgemeines Lesevergnügen (pleasure)―, die relativ atheoretisch, aber dafür umso intuitiver einfach die Zustimmung zu Items wie Das Lesen des Textes hat mir Spaß gemacht oder Der Text war unterhaltsam abfragt. (Vgl. Appel et al. 2002) In Bezug auf die für diese Arbeit gewählte Rahmentheorie sind zwei Ansätze hervorzuheben: Mit dem TDU-Unterhaltungsindex (in seiner standardisierten Form kurz: UI100) haben Früh, Wünsch und Klopp (2004) ein Instrument zur retrospektiven Erfassung von Unterhaltungserleben entwickelt, das explizit an die Prämissen der triadisch-dynamischen Unterhaltungstheorie angelehnt ist. Aus den Kriterien, die die TDU aufstellt, ergeben sich für die Forscher vier Anforderungen an ein Instrument zur Messung von Unterhaltungsempfinden: • Es muss Unterhaltung als spezifische positive Emotion von anderen positiven Emotionen differenzieren. • Es muss Unterhaltung in beliebigen Kontexten (z. B. auch in so genannten ‚nicht unterhaltenden Genres‗) identifizieren. • Es muss Souveränität/Kontrolle in verschiedenen Varianten erfassen. • Es muss als unabhängiges stetiges Merkmal den Unterhaltungsanteil am Rezeptionserleben graduell abbilden. (Früh/Wünsch/Klopp 2004: 525) Zur Ermittlung der Valenz nutzen sie Adjektivlisten in Kombination mit Ratingskalen, auf denen die Befragten zum Ausdruck bringen können, wie stark ein jeweiliges Item die eigenen Empfindungen während der Rezeption widerspiegelt. Semantisch am besten repräsentiert sehen Früh, Wünsch und Klopp das Konstrukt positiver Valenz dabei durch das Adjektiv ‚angenehm‗. Es hat in den Augen der Forscher aber den Makel, dass es eventuell zu stark hedonis19 Unterhaltungsforschung tisch (ausschließlich im Sinne von ‚Spaß‗) konnotiert ist und demnach z.B. schlecht das Unterhaltungsempfinden wiedergibt, bei dem Valenztransformation eine Rolle gespielt hat oder das positive Gefühl, durch einen Medienbeitrag etwas gelernt zu haben. Deshalb wird die Liste um die Adjektive ‚erfreut‗, ‚gut‗, ‚unzufrieden‗ und ‚negativ‗ ergänzt (wobei die Skalen für die letzten beiden umzukodieren sind). (Vgl. ebd.: 526f) Zur Ermittlung der aktiven Souveränität werden ebenfalls Adjektive aufgenommen (‚nachdenklich‗, ‚verträumt‗, ‚interessiert‗ und ‚mitfühlend‗). Passive Souveränität wird über die Zustimmung zu vollständig ausformulierten Statements ermittelt, die die Rezipienten ähnlich wie bei den Adjektivlisten auf einer je fünfstufigen Likert-Skala ausdrücken können (getestet werden Aussagen wie: Manchmal konnte ich den Beitrag nicht mehr richtig genießen, weil mich das Gezeigte abgestoßen hat. oder Ich konnte abschalten und den ganzen Alltag mit Familie, Schule oder Beruf vergessen.). (Vgl. ebd.: 527) Das Instrument konnte in mehreren empirischen Studien für verschiedene Kontexte (Alltags- und Laborsituation und in Bezug auf unterschiedliche Genres) erfolgreich validiert werden. (Vgl. Wünsch 2006b: 181; Früh/Wünsch/Klopp 2004: 529ff) Der UI100 berücksichtigt mit der retrospektiven Erfassung von Globalurteilen aber nur die statische, und im Grunde nur analytische Formulierung der Bausteine der TDU. „[D]er eigentliche Trumpf des Früh'schen Theorieansatzes― (Gehrau 2003: 57) – die dynamische Modellierung – wird mit dieser Operationalisierung nicht abgebildet. Auf dieses Defizit reagiert Carsten Wünsch (2006b), indem er ergänzend ein Instrument entwickelt, das den performativen Aspekt von Unterhaltung berücksichtigt. Von der statischen Operationalisierung der Unterhaltungsdimensionen durch Wünsch, Früh und Klopp ausgehend und nach Sichtung unterschiedlicher Verfahren zur prozessbegleitenden Erfassung von Rezeptionsphänomenen (z.B. Methode des lauten Denkens, Mimikcodierung oder Hautwiderstandsmessung) schlägt Wünsch ein Multi-Method-Verfahren vor. Hierbei sollen das CRMVerfahren, physiologische Messungen und die Messung von Reaktionszeiten kombiniert werden. Da allerdings die Unterhaltungsdimension ‚passive Souveränität‗ nicht adäquate mit diesen prozessbegleitenden Erhebungsmethoden abgebildet werden kann, soll das Design (vorläufig) durch eine postrezeptive Befragung ergänzt werden. Die Ergebnisse der einzelnen Messverfahren sollen abschließend standardisiert und im dynamischen Unterhaltungsindex (DUX100) zusammengefasst werden. Der DUX konnte in Ansätzen ebenfalls bereits erfolgreich validiert werden. Insbesondere bestätigen die Befunde, die über CRM-Verfahren generiert wurden, auch, dass es sich bei der Valenz von Unterhaltungserleben tatsächlich um einen sehr dynamischen, starken Schwankungen unterworfenen Faktor handelt. (Vgl. Wünsch 2006b: 199) 20 3. Erzählen als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft Ab diesem Kapitel widmet sich die Arbeit dem wissenschaftlichen Umgang mit dem Konstrukt Narration. Ziel ist es dabei immer, Merkmale zu entdecken, die narrative Texte von nicht-narrativen Texten unterscheidbar machen und Hinweise auf Möglichkeiten für ihre empirische Darstellbarkeit zu sammeln. Dabei wird hier zunächst für die eigene Disziplin gezeigt, wo das Konstrukt Narration eine Rolle spielt und wie es bestimmt wird – einmal für die Kommunikationswissenschaft ganz allgemein und einmal speziell für die Unterhaltungsforschung. 3.1 Allgemein ‚Erzählen‗ ist schon lange kein exklusiver Gegenstand der Literaturwissenschaft mehr. Neben dem berühmten ‚cognitive turn‗ meinen Forscher für Ende der 1980er-Jahre auch einen ‚narrative turn‗ in den Sozialwissenschaften feststellen zu können (vgl. Czarniawska 2004: 3). Sucht man aber in den großen Bereichen der Kommunikationswissenschaft nach Verwendungen von Begriffen wie Narration oder Geschichte, wird man in sehr unterschiedlichem Maße fündig. In der Forschung zur Public Relations scheinen die Begriffe überhaupt keine Rolle zu spielen. Auch in der Werbeforschung sind Veröffentlichungen wie Andrea Ochsners (2004) gut 10-seitige Untersuchung Über den narrativen Charakter von Werbetexten eindeutig ein Randphänomen. Karriere gemacht hat der Begriff Narration außerhalb der Unterhaltungsforschung vor allem in der Journalismusforschung. Besonders in den USA ist die Verschränkung von Narration und Journalismus allgegenwärtig. Das zeigt sich u.a. an Lehrplänen von Journalistenschulen, die gezielt Kurse zur Lektüre literarischer Texte anbieten, damit ihre Studenten narrative Verfahren der Textgestaltung erlernen (vgl. Blais 2000: 42), aber auch an der Institution des Pulitzer-Preises, der, nachdem er 1917 zum ersten Mal in den Kategorien ‚Biography or Autobiography‗, ‚History‗, ‚Editorial Writing‗ und ‚Reporting‗ vergeben wurde, schon im Folgejahr um die Kategorien ‚Novel‗ und ‚Drama‗ ergänzt wurde (vgl. http://www.pulitzer.org/). Fiktionale Erzählungen werden damit in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung auf die gleiche Stufe wie Nachrichtentexte gestellt und als hinreichend verwandt betrachtet, um für sie dieselbe Auszeichnung zu verleihen. Dieser Nähe versuchen Autoren wie Gaye Tuchman seit den 1970er-Jahren auch in der Wissenschaft nachzugehen und die Strukturen zu beschreiben, die Nachrichten und Geschichten teilen. Tuchman greif dabei auf das Vokabular der Goffman‘schen Frame-Analyse zurück (vgl. z.B. Tuchman 1976)2. Die Anzahl der nachfolgenden Publikationen ist mittlerweile so 2 Für Tuchman sind Nachrichten Geschichten und Geschichten wiederum Frames, weshalb Nachrichten (und Geschichten) von Individuen innerhalb einer Gesellschaft herangezogen werden, um soziale Erfahrungen zu kategorisieren und zu interpretieren. (Vgl. z.B. Tuchman 1976) 21 Erzählen als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft groß, dass ohne Übertreibungen von einem eigenen Zweig der Journalismusforschung gesprochen werden kann (vgl. recht aktuell z.B. Johnson-Cartee 2005). Man kann diesen Zweig der kommunikationswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Narration‗ also weder als Randbewegung abtun, noch ihm vorwerfen, atheoretisch zu sein. Dennoch ist die Herangehensweise der Journalismusforschung für eine empirische Operationalisierung des Konstrukts problematisch, wie stellvertretend an den Überlegungen des Medienwissenschaftlers Knut Hickethier gezeigt werden soll. Hickethier ist ein Name, an dem man im deutschsprachigen Raum kaum vorbeikommt, sucht man fachintern nach Schriften zum Thema ‚Narration‗: Mit seiner Narrationstheorie der Nachricht geht er seit Mitte der 1990er-Jahre quasi auf Tournee durch eine Vielzahl kommunikationswissenschaftlicher und medienpraktisch orientierter Journals (vgl. z.B. Hickethier 1997, 1998, 1999, 2000 u. 2002). Unter mehr oder weniger blumigen Titeln wie Narrative Navigation durchs Weltgeschehen (ebd.: 1998) oder Geschichten aus 1001 Nachricht (ebd.: 2000) will er „Nachrichten als Erzählungen― definieren und wendet dazu – wie er selbst sagt – „erzähltheoretische Begriffe der Literatur- und Textwissenschaft auf die journalistische Form der Nachricht an.― (ebd.: 1999: 5). Hickethiers wichtigste Erkenntnis ist, dass Nachrichten/Erzählungen einen Vermittlungsmodus darstellen, für den die Anwesenheit eines Erzählers konstitutiv ist. Dieser Erzähler berichtet das Erzählte nicht nur, er ist derjenige, der es auswählt, organisiert und strukturiert. (Vgl. z.B. ebd.: 2002: 659ff). Als weitere Gemeinsamkeiten von Nachrichtensendungen und Erzählungen nennt er „Tendenz zur Emotionalisierung―, „Konflikt―, ein Aufbau nach dem Muster „Exposition, Wendung zum Dramatischen und Zuspitzung, Höhepunkt, verzögernde Erwartungssteigerungen, schließlich Lösung und Ende― (ebd.: 2000: 71), das Berichten „vom Außergewöhnlichen und Unerwarteten― (ebd.: 72) sowie Inszenierung (vgl. ebd.: 1999: 18), Personalisierung und Dramatisierung (vgl. z.B. ebd.: 1998: 189f). Hickethiers Aussagen zu diesen Merkmalen stehen allerdings derart unverbunden nebeneinander, dass man nur schwer von einer Argumentation, geschweige denn von einer ‚Narrationstheorie der Nachricht‗ sprechen kann. Ihm ist vor allem anzukreiden, dass seine Ausführungen, die angekündigten „erzähltheoretische Begriffe der Literatur- und Textwissenschaft― vermissen lassen. Mit Begriffen wie Dramaturgie oder Inszenierung bewegt man sich – zumindest im Sinne der klassischen Gattungstrias (vgl. z.B. Petersen/Wagner-Egelhaaf 2006: 75) – eher auf dem Terrain der Theaterwissenschaften. Insgesamt kann festgehalten werden: Narration wird in der Journalismusforschung zwar gerne herangezogen, aber nur geringfügig erklärt. Vielmehr soll Narration selbst dazu dienen, etwas zu erklären. Autoren wie Hickethier tragen im Rahmen solcher Fragestellungen zwar durchaus zahlreiche Merkmale narrativer Texte zusammen, inwiefern diese aber geeignet sind, narrative von nichtnarrativen Texten abzugrenzen, bleibt offen. Ihr Ziel ist lediglich das im Narrativen zu finden, was auch in journalistischen Texten auftaucht. 22 Erzählen als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft 3.2 In der Unterhaltungsforschung3 In Kapitel 2 hat sich bereits angedeutet, dass man nach Begriffen wie narrativ oder Narration in der Unterhaltungsforschung nicht lange suchen muss. Vor allem für Presence scheint Narration von großer Bedeutung, Spannung wird sogar direkt mit Erzählstrategien gleichgesetzt (vgl. z.B. Junkerjürgen 2006). Umso interessanter ist es aber, dass sie auch hier wenig theoretisch unterfüttert zu sein scheint und teilweise ausgesprochen unsystematisch verwendet wird. So fällt zunächst auf, dass Narration in relativ unklarer Abgrenzung zu anderen Begriffen gebraucht wird. Als scheinbare Synonyme tauchen u.a. Story (z.B. Brewer/Lichtenstein 1981; 1982), Plot (z.B. Wirth et al. 2007) oder Drama (z.B. Zillmann 1996) auf. Außerdem ist auch hier das Phänomen zu beobachten, dass sehr selektiv einzelne Aspekte von Narration herangezogen werden, um andere Forschungsgegenstände zu bestimmen. So greifen Wirth, Böcking und In-Albon (2006) z.B. das Konstrukt auf, weil sie in Narration das Verbindungsglied zwischen Spannungs- und Präsenzerleben sehen4. So interessant der Grundgedanke und ihre empirischen Befunde auch sein mögen, ihre Argumentation liefert mit Hinblick auf den Narrationsbegriff doch eher konfuse Ergebnisse: Zusammenfassend kann also vermutet werden, dass die narrative Struktur sowohl Spannung wie auch (räumliche) Präsenzwahrnehmung erzeugt […]. Aus der ADT von Zillmann (1996) sowie den Arbeiten von Brewer und Lichtenstein (1981, 1982) kann gefolgert werden, dass Spannungskomponenten wesentliche Aspekte narrativer Strukturen überhaupt sind. Konkret wird das Empfinden von Spannung nach Zillmann durch zwei Faktoren bestimmt, die hier gleichzeitig als Merkmale für narrative Strukturen interpretiert werden: (I) Die narrative Struktur ermöglicht es dem Leser, Sympathie mit dem Protagonisten (bzw. Antipathie gegenüber dem Antagonisten) zu empfinden, was laut Zillmann zu Empathie führt. (2) Die narrative Struktur legt dem Leser nahe, mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Story für den Protagonisten negativ endet. (Wirth/Böcking/In-Albon 2006: 116) Wenn auch die Formulierungen nicht gänzlich falsch sind, sind sie doch zumindest reichlich schief. Denn hier werden potenzielle Wirkungen mit Merkmalen gleichgesetzt. Sicherlich können Gegenstände auch durch ihre Wirkungen charakterisiert sein, hinreichend ist diese Charakterisierung aber nur, wenn sich daraus eine allgemeine Regel ableiten lässt. Dass aber jede narrative Struktur Sympathiegefühle und die Annahme eines negativen Ausgangs transportiert, scheint schon rein intuitiv unwahrscheinlich und war auch bestimmt nicht das, was die Autoren ausdrücken wollten. Was ‚narrativ‗ hier also eigentlich meint, bleibt unklar. Es existiert eine Vielzahl ähnlich gelagerter Texte, bei denen man bestenfalls versuchen könnte, „zwischen den Zeilen― herauszulesen, was genau der Begriff im gegebenen Kontext bezeichnet. Das zu tun, wäre aber wahrscheinlich ein Forschungsunterfangen für sich. Stattdessen möchte ich mich hier darauf beschränken, ein paar der wenigen positiven Beispiele 3 An manchen Stellen überschreitet dieses Kapitel den Rahmen der Unterhaltungsforschung, indem von manchen Autoren zusätzlich Texte herangezogen werden, die man vielleicht allgemeiner zur Wirkungsforschung zählen würde. 4 Vgl. Kapitel 1.3.2 23 Erzählen als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft vorzustellen, die das Phänomen Narration tatsächlich ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt und systematisch zu bestimmen versucht haben. Einige gute Überlegungen stecken z.B. in einer Studie von Silvia Knobloch, Grit Patzig, Anna-Maria Mende und Matthias Hastall. Sie sind der Frage nachgegangen, ob Nachrichtentexte die gleichen Affekte hervorrufen wie (fiktionale) Prosatexte (vgl. Knobloch et al. 2004). Die Grundannahme ist dabei ähnlich wie bei Hickethier: Nachrichtentexte bestehen aus den gleichen Strukturbausteinen wie fiktionale Erzählungen, sind also ebenfalls narrative Texte. Im Zuge ihrer Untersuchung stellen die Autoren auch Überlegungen dazu an, welches ein angemessenes Narrationskonzept ist und suchen – einiges systematischer als Hickethier – nach geeigneten Ansatzpunkten für eine Definition. To sort out existing ambiguous notions, approaches taken from narratology […] can serve as a starting point. These approaches define any sequence of events or (willful) actions involving characters as a story. This logic can be applied to news. In this sense, actual events depicted by a journalist equal a story; the report as their representation, then, forms a narrative. However, this definition of a story taken from narratology probably does not converge with intuitive understandings of stories by journalists or readers because in this interpretation, any sequence of mundane actions would also qualify as a story. (Knobloch et al. 2004: 260) Denn derart definierte Sequenzen schließen auch die Schilderung alltäglicher Vorgänge, wie z.B. dass jemand einkaufen geht oder seine Wäsche macht, ein. Solche Prozessbeschreibungen würden aber wahrscheinlich die wenigsten Rezipienten massenmedialer Angebote intuitiv als „Stories― bezeichnen, es sei denn, etwas Ungewöhnliches ereignet sich dabei, was dem ganzen Vorgang „newsworthiness‖ (Shoemaker: 1996) verleiht. Der Bezug auf die literaturwissenschaftliche Narratologie allein sei also aus der Perspektive der Kommunikationswissenschaft nicht ausreichend, weil hier wichtige Aspekte des Phänomens – wie Interesse, Relevanz oder affektive Reaktionen – nicht berücksichtigt werden. Aufgrund dieser Defizite, greifen Knobloch und ihre Kollegen zudem auf die Annahmen der bereits vorgestellten StructuralAffect Theory zurück und verstehen Narration als einen Selektions- und Organisationsprozess, der entweder Spannungs-, Überraschungs- oder Neugier-Strukturen erzeugt. Unter dieser Prämisse können Knobloch et al. empirisch nicht nur bestätigen, dass die Reihenfolge, in der Ereignisse präsentiert werden, tatsächlich u.a. Einfluss auf das Unterhaltungserleben hat. Sie können auch belegen, dass diese Effekte unabhängig davon auftreten, ob ein Text als Nachrichtenbeitrag oder Romanausschnitt ausgegeben wird. Vor allem das letzte Ergebnis kann als erstes Indiz gewertet werden, dass es tatsächlich textuelle Merkmale gibt, die auch unabhängig vom Rezeptionskontext eindeutige narrative Merkmale sind – also dass sich Narration auf Textebene operationalisieren lässt. Dass jeder Text, um narrativ zu sein, aber entweder nach einem Suspense-, Neugier oder Überraschungsmuster aufgebaut sein muss, klingt zu streng und bedarf zumindest einer genaueren Prüfung. Das eigentlich Bemerkenswerte an dieser Studie sind aber auch gar nicht so sehr die Ergebnisse oder die konkrete Operationalisierung von Narration sondern die Art des Vorgehens: 24 Erzählen als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft Knobloch und Kollegen suchen nicht nur nach einer Definition von Narration, sondern explizit nach einer für die Kommunikationswissenschaft angemessenen Definition. Dabei übernehmen sie nicht den erstbesten Treffer aus der Literatur, sondern wägen verschiedene Ansätze gegeneinander ab. Am wichtigsten: Sie stellen heraus, dass eine Definition von Narration nicht nur analytischen Kriterien genügen muss, sondern auch empirische Realität haben muss, d.h. den Intuitionen entsprechen sollte, die man von tatsächlichen Rezeptionssituationen hat. Die wohl systematischste Auseinandersetzung mit dem Konstrukt Narration ist innerhalb der Unterhaltungs- und Wirkungsforschung derzeit eindeutig mit dem Namen Helena Bilandzic verknüpft. Bilandzic weist „narratives Erleben und Persuasion― nicht explizit als einen ihrer Forschungsschwerpunkte aus (vgl. http://www.imb-uni-augsburg.de/helenabilandzic-0), sie bemüht sich auch um eine stärkere Institutionalisierung der Erforschung von Narration, sowohl innerhalb der Kommunikationswissenschaft als auch interdisziplinär. 2009 hat sie z.B. gemeinsam mit Susanne Kinnebrock ein Special Issue der Zeitschrift „Communications― zum Thema Narrative experiences and effects of media stories herausgegeben, in dem der Narrationsbegriff u.a. auch mit Fragestellungen der Kultivierungs- oder Persuasionsforschung zusammengebracht wird (vgl. Bilandzic/Kinnebrock 2009). Außerdem ist sie eine der Initiatorinnen des Narrative Network, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen zusammenzubringen, um den Inhalt von und den Umgang mit narrativen Medienangeboten zu untersuchen. (vgl. http://www.bilandzic.de /index_NaNe.html)5. Zwei jüngere Publikationen Bilandzics, die gewisse Berührungspunkte mit der Fragestellung dieser Arbeit haben, sollen deshalb zum Abschluss dieses Kapitels vorgestellt werden: Gemeinsam mit Rick Busselle entwickelt Bilandzic z.B. eine Skala zur Messung von Narrative Engagement, der Intensität, mit der sich ein Rezipient mit narrativen Medieninhalten auseinandersetzt (Busselle/Bilandzic 2009). Die zentrale Annahme dabei ist, dass eine intensive Auseinandersetzung mit narrativen Medienangeboten u.a. auch zu ausgeprägtem Unterhaltungserleben führt, Unterhaltungserleben also über die Intensität der Beschäftigung mit einem Stimulus voraussagbar ist. Aufbauend auf Ansätzen der Unterhaltungsforschung (z.B. Zillmanns ADT oder Überlegungen zu Presence und Transportation) und kognitionspsychologischen Publikationen (z.B. Graesser et al. 2002) entwickeln die Autoren zunächst ein Modell, das das Zusammenspiel unterschiedlicher Prozesse beim Verstehen narrativer Texte abbildet. Im nächsten Schritt leiten sie daraus Items für die Narrative-Engagement-Scale her. Die Skala wurde erfolgreich getestet. Eine anschließende Faktorenanalyse deutete auf vier separate Dimensionen narrativen Engagements hin: narrative understanding (wie gut und leicht ein Stimulus verstanden wird), attentional focus (wie sehr die reale Welt zugunsten der Medienwelt 5 Unter dieser URL bekommt man z.B. einen Überblick über verschiedene Workshops, die das Narrative Network angeboten hat. Leider scheint die Seite allerdings seit Mitte 2009 nicht mehr aktualisiert worden zu sein. 25 Erzählen als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft ausgeblendet wird), emotional engagement (z.B. die Enge der Bindung zu den handelnden Figuren) und narrative presence (wie sehr man sich im Medium anwesend fühlt). (Vgl. Busselle/Bilandzic 2009: 2) Außerdem ließ sich der Zusammenhang mit Unterhaltung bestätigen: Unterhaltungserleben korrelierte signifikant positiv mit der Gesamtskala (vgl. Busselle/Bilandzic 2009: 18). Obwohl der Text keine direkten Hinweise auf Merkmale narrativer Texte liefert, ist er aus zweierlei Gründen interessant: Zum einen gibt er erste Hinweise darauf, welche kognitiven und affektiven Dimensionen narrative Stimuli ansprechen müssen, was wiederum mittelbar auch zu ihrer Bestimmung beitragen kann. Zum anderen stärkt er die These für den Zusammenhang zwischen narrativen Stimuli und Unterhaltungserleben noch weiter, indem er zahlreiche der in Kapitel 2.3 vorgestellten Einzelkonstrukte, die die Unterhaltungsforschung behandelt, in den Prozess narrativen Erlebens integriert und eine empirische Bestätigung liefert. Potenzielle narrative Textmerkmale sammelt Bilandzic in einem anderen Zusammenhang. Gemeinsam mit Susanne Kinnebrock erarbeitet sie – auf dem Transportation-ImageryModell (Green/Brock 2002) aufbauend – ein Modell narrativer Persuasion (Bilandzic/Kinnebrock 2006). Ihr Ziel ist es, die Merkmale narrativer Texte zu identifizieren, die Transportation und im Endeffekt auch Persuasion begünstigen. Als Rahmen dient ihnen dabei das literaturwissenschaftliche Konstrukt der Narrativität. Narrativität, drückt aus, wie eine Geschichte beschaffen sein muss, um gut und interessant zu sein. Im Beitrag werden aus narratologischen Forschungsarbeiten ‚narrativitätssteigernde Elemente‗ in Geschichten identifiziert und daraufhin Hypothesen aufgestellt, welche spezifischen Wirkungen diese auf das Rezeptionserleben und mittelbar auch auf die Persuasion haben. (Bilandzic/Kinnebrock 2006: 103) Narrativität meint hier6 also mehr als – wie der Name es vielleicht vermuten lassen würde – einfach nur eine skalierbare Vorstellung von Narration. Narrativität zeichnet sich vor allem durch seine stark wertende Komponente aus: Ein Text hat mehr Narrativität, je mehr Merkmale er enthält, die seine Geschichte zu einer guten und interessanten Geschichte machen. Auf mehreren literaturwissenschaftlichen Arbeiten aufbauend, identifizieren Bilandzic und Kinnebrock 16 verschiedene solcher „narrativitätssteigernden Faktoren―: 6 Darauf, dass der Begriff nicht immer ganz klar in diesem Sinne benutzt wird und dass das dahinterstehende Konstrukt mit einigen Schwierigkeiten behaftet ist, wird in Kapitel 4.2 noch näher eingegangen. 26 Erzählen als Gegenstand der Kommunikationswissenschaft Im Rahmen von Bilandzics und Kinnebrocks Vorhaben ist der Rückbezug auf Narrativität völlig legitim. Es kann durchaus sein, dass es vor allem die Merkmale guter Geschichten sind, die persuasiv wirken. Die vorliegende Arbeit fraget aber nicht nur, ob gute Geschichten unterhaltsam sind, sondern ob es die allgemeinen Merkmale narrativer Texte sind, die per se (oder bei starker Ausprägung) Unterhaltungsempfinden auslösen. Daher ist mit dieser Merkmalsliste auf den ersten Blick nicht viel gewonnen. Betrachtet man sie aber genauer, fällt auf, dass die Begriffe unterschiedlich weit um ein intuitives Verständnis von Narration streuen: So kann bei Faktualität, Spezifität oder Kunstfertigkeit relativ leicht entschieden werden, dass es sich dabei in der Tat nur um Qualitätsmerkmale handelt. Geschichten, die nicht faktual, spezifisch oder sonderlich kunstfertig sind, sind durchaus vorstellbar – nur sind sie eben schlechte Geschichten. Bei Merkmalen wie Konflikthaltigkeit oder Handlungsakzentuierung fällt die Entscheidung schwerer: Würde man einen Text, in dem nicht oder kaum gehandelt wird oder der nicht den Ansatz eines Konfliktes aufweist nicht vielleicht auch gar nicht mehr als narrativ bezeichnen? In diesem Sinne empfiehlt es sich, die Liste im Hinterkopf zu behalten. Denn sollten sich einige der Narrativitätsfaktoren bei genauer Prüfung auch als allgemeine Narrationsfaktoren herausstellen, ist es dank der Vorarbeit der Autorinnen ein Leichtes, den Bogen zu Konstrukten der Unterhaltungsforschung (z.B. Transportation) zu schlagen. Als Ergebnis dieses Kapitels kann festgehalten werden, dass Narration in der Kommunikationswissenschaft zwar häufig thematisiert wird, der Begriff insgesamt aber ausgesprochen oberflächlich verwendet wird. Zu selten wird Narration überhaupt definiert, zu undeutlich ist die Abgrenzung zu anderen Begriffen. Was im jeweiligen Kontext als narrativ gilt, muss oft erraten werden oder es wird schlicht so gesetzt, dass es sich besonders gut in die Auseinandersetzung mit anderen Forschungsgegenständen eingliedern lässt. Zu behaupten, dass aber überhaupt keine gehaltvolle Beschäftigung mit Narration stattfindet, wäre aber reine Polemik. Vor allem den Publikationen und dem institutionellen Engagement von Wissenschaftlern wie Bilandzic ist es zu verdanken, dass eine strukturierte Suche nach narrativen Inhalten und narrativem Erleben in den letzten Jahren zumindest begonnen hat und es tatsächlich endlich sogar gerechtfertigt ist, von einer kommunikationswissenschaftlichen „Narrationsforschung― (Wirth/Böcking 2008: 156) sprechen. Allerdings sind auch diese „besseren― Forschungsarbeiten im Kontext der gegebenen Fragestellung nicht 100%-ig zufriedenstellend. Die gemachten Operationalisierungsvorschläge erscheinen auf den ersten Blick entweder zu eng oder zu weit gefasst. Vor allem aber sind keine kommunikationswissenschaftlichen Studien bekannt, die – ähnlich wie Brewer und Lichtenstein – erheben, ob die herausgearbeiteten Merkmale tatsächlich auch die Vorstellungen widerspiegeln, die die Masse der Rezipienten von narrativen Medienangeboten hat. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll deswegen über den Tellerrand der Kommunikationswissenschaft hinausgeblickt werden. 27 4. Erzählen in der Narratologie Im vierten Kapitel wird der Suchradius damit interdisziplinär erweitert. In den Blick rückt dabei recht selbstverständlich zunächst die sogenannte Narratologie, die Wissenschaft, die sich ausschließlich der Auseinandersetzung mit dem Narrativen widmet. Der Stellenwert, der der Narratologie bei der Beantwortung der gegebenen Frage zukommt, ist dabei so besonders, dass nicht nur die Merkmale zusammengetragen werden, die ihre Vertreter als definitorisch für den Begriff Narration herausgearbeitet haben (Kapitel 4.3). Zuvor sollen Geschichte und aktuelle Situation des Forschungsfeldes kurz nachgezeichnet werden (Kapitel 4.1). Außerdem werden mit Hilfe des Begriffsinventars, das die Narratologie entwickelt hat, einige terminologische Vorüberlegungen angestellt, die dabei helfen sollen, eine klarere Vorstellung von dem Konstrukt zu entwickeln, über dessen Merkmale in dieser Arbeit bestimmt werden sollen (Kapitel 4.2). 4.1 Narratologie als Forschungsfeld Die Narratologie ist keine eigenständige wissenschaftliche Fachrichtung, die Institute oder Lehrstühle vorweisen kann. Sie versteht sich als die Theorie und Analyse des Erzählens (vgl. Zink 2010: 164) und ist dabei vorwiegend in den Geisteswissenschaften zu verorten. Vor allem in den Philologien (wie der Germanistik und Anglistik) und in der Filmwissenschaft haben sich narratologische Schwerpunkte gebildet. Vom Begriff her lässt sich die Narratologie zwar ans Lateinische narratus (Erzählung) anlehnen, ihre Wurzeln reichen aber nicht bis in die Antike zurück. Das, was heute traditionell unter „Narratologie― verstanden wird, entstand erst Mitte des 20. Jahrhunderts und wird oft mit dem Aufkommen zweier Phänomene erklärt – einem literaturhistorischen und einem literaturtheoretischen: Zum einen hatte sich der Roman in der Bevölkerung als beliebteste literarische Gattung durchgesetzt, womit Prosatexte, also eben erzählende Texte, den mit Abstand größten Teil der rezipierten Literatur bildeten (vgl. ebd.). Zum anderen etablierten sich mit dem Formalismus und später mit dem Strukturalismus neue literaturtheoretische Strömungen, die ihr Augenmerk nicht mehr länger auf die Produktionsbedingungen von Literatur oder das Aufspüren von Autorintentionen richteten, sondern versuchten, die Bedeutung von Texten rein über ihr textuelles Material zu erklären. Dazu verknüpften sie literaturwissenschaftliche mit sprachwissenschaftlichen Überlegungen, wobei sie vor allem Anleihen bei der ebenfalls noch recht jungen Semiotik Ferdinand de Sausssures machten (vgl. Czarniawska 2004: 2). Dass sich das Interesse der Strukturalisten (und in einzelnen Vorläufern auch bereits das der Formalisten) wie selbstverständlich auf erzählende Texte richtete, war unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nur eine Frage der Zeit. Als einer der ersten versuchte z.B. Claude Bremond im Anschluss an die Arbeiten von Vladimir Propp (1895-1970), eine Grammatik des Erzählens zu 28 Erzählen in der Narratologie entwickeln. Propp hatte in seiner Morphologie des Märchens (Morfologija volšebnoj skazki, 1928) aus einem Korpus von 100 Volksmärchen 31 immer wiederkehrende Funktionen (z.B. die des Helden oder des Widersachers) abgeleitet. Bremond erhoffte sich, in ähnlicher Weise fixe Bausteine entdecken zu können, mit denen sich alle Arten erzählender Texte gleichermaßen beschreiben lassen. Weitere Vertreter der frühen strukturalistischen Narratologie sind Roland Barthes, Algirdas Julien Greimas, Umberto Eco, Gérard Genette und vor allem Tzvetan Todorov. Todorov war derjenige, der 1969 in seiner Schrift Grammaire du Décaméron den Begriff narratologie – in expliziter Anlehnung an Bezeichnungen wie Biologie oder Soziologie – kreierte, um auch ein Wort für „la science du ‚récit‗―(Todorov 1969: 10), also die Wissenschaft vom Erzählen, zu haben. Für einige Theoretiker ist diese Beschäftigung mit dem Gegenstand ‚Erzählen‗, die in der Endphase des Formalismus und der Hochphase des französischen Strukturalismus stattgefunden hat, die einzige Narratologie, die je existiert hat und den Namen tragen darf. Die recht fragmentierte nachfolgende Beschäftigung mit dem Phänomen solle lediglich als „Erzählforschung― bezeichnet werden. Bei der breiten Masse hat sich Todorovs Begriff aber international als allgemeine Bezeichnung für jegliche erzähltheoretische Forschungsstränge durchgesetzt. (Vgl. Nünning/Nünning 2002: 4) Um die unterschiedliche Gewichtung aber dennoch abzubilden, wird die Zeit der 60er- und frühen 70er-Jahre, in die die strukturalistischen Ansätze fallen, oft als die „klassische Phase der Narratologie― (Fludernik 2008: 20) bezeichnet. Spätere Arbeiten, die sich in ihrer Grundausrichtung und der verwendeten Terminologie an die strukturalistische Erzählforschung anlehnen, gelten als Vertreter der „postklassischen Phase―. Diese Phase hält im Grunde bis heute an und umfasst z.B. viele Arbeiten der mittlerweile als selbstständige Zweige ausdifferenzierten feministischen, postkolonialen oder pragmatischen Narratologie7. Außerdem berücksichtigt man heute auch oft eine sogenannte „archaische Phase―. Das erlaubt es, auch Beträge zur Narratologie zu zählen, die zeitlich vor dem Strukturalismus angesiedelt sind (und deren wissenschaftliche Bedeutung oft erst mit Verspätung erkannt wurde). Narratologische Geschichten der Narratologie setzten an dieser Stelle das NameDropping auch für die „postklassische― und die „archaische― Phase der Forschungsgeschichte bis in die Gegenwart fort und führen Forschungsarbeiten auf, die neue Fragestellungen aufgeworfen, Begriffe eingeführt oder erweitert haben. Aus der Perspektive der Kommunikationswissenschaft und mit Blick auf die übergeordnete Fragestellung dieser Arbeit sind aber die wenigsten davon wirklich interessant. Es soll sich deshalb eher auf die groben thematischen Entwicklungen der Erzählforschung beschränkt werden. Dabei erscheint durchaus sinnvoll, das Verständnis von Narratologie noch über den Rahmen der „postklassischen― Ansätze hinaus zu erweitern und auch die sogenannte Wir7 Aufgrund dieser Entwicklungen rät Ansgar Nünning dazu, den Begriff „Narratologie― heute am besten nur noch im Plural zu verwenden (Nünning 2002: 13). 29 Erzählen in der Narratologie kungsästhetik (manchmal auch Rezeptionstheorie; engl. Reader-Response Criticism) mit in eine Geschichte der Narratologie einzuschreiben. Die Wirkungsästhetik ist eine Literaturtheorie, die sich über das strukturalistische Dogma der textimmanenten Analyse hinwegsetzt und verstärkt den Rezipienten in den Blick nimmt, bzw. die Interaktion von Text und Leser. Sie entstand in Deutschland gegen Ende der 1960er Jahre – also in etwa parallel zum Strukturalismus in Frankreich – und ist eng mit dem Namen Wolfgang Iser verknüpft. Anders als Strukturalismus und Formalismus nimmt die Wirkungsästhetik an, dass die Bedeutung eines Textes nicht einfach in seinem Material gegeben ist, sondern erst im Akt des Lesens durch die Aktivitäten eines denkenden Subjekts entsteht (z.B. Iser 1974). Strenggenommen ist die Wirkungsästhetik allerdings kein erzähltheoretischer Ansatz. Denn der Gegenstand, für den Iser seine Theorie geltend macht, ist nicht auf narrative Texte beschränkt, sondern umfasst (fiktionale) literarische Texte allgemein. Es ist allerdings so, dass die Annahmen der Wirkungsästhetik und vor allem das, was sie offen ließen – nämlich, wie genau der Leser zur Bedeutungsproduktion eines Textes beträgt – den Boden dafür bereitet haben, dass auch in der Narratologie das Interesse an kognitiven Prozessen geweckt wurde, etwa nach dem Credo: „Narration implies communication, communication implies reception, and reception implies cognition.― (Eder 2003: 282) Der berühmte Begriff der „kognitiven Wende― sollte aber dennoch besser nicht auf die Entwicklungen der Narratologie angewendet werden, denn „[a]ttitudes range from outright rejection to partial integration to the radical claim that narratology should actually be treated as part of cognitive science.‖ (Eder 2003: 284) Aber obgleich sich die Narratologie in Bezug auf den gemeinsamen Forschungsgegenstand bis heute noch nicht noch nicht zwischen kategorischer Ablehnung und der Forderung nach unbedingtem Einbezug kognitiver Phänomene entscheiden konnte, sind unter den Labeln wie Psychonarratology (Bortolussi/Dixon 2003) einige sehr interessante, interdisziplinär ausgerichtete Arbeiten entstanden, die vermuten lassen, dass derartige Themen bald auch aus dieser Disziplin nicht mehr wegzudenken sein werden. Methodische Anleihen bei empirischen Wissenschaften fallen aber noch äußerst zaghaft aus. Will man die heutige Situation der Narratologie kurz beschreiben, kann man feststellen, dass sie trotz ihrer starken thematischen Fragmentierung und Verteilung auf unterschiedliche Mutterdisziplinen relativ gut institutionalisiert ist. Mit Narrative (Columbus, OH; Ohio State University Press), Poetics Today (Tel Aviv; Duke University Press), Style (DeKalb, IL; Northern Illinois University Press), Poetica (Berlin; Wilhelm Fink Verlag), dem Journal of Narrative Theory (vormals Journal of Narrative Technique; Ypsilanti, MI; Eastern Michigan University) und neuerdings auch Storywolds (University of Nebraska Press) verfügt sie über einige regelmäßig erscheinende Publikationsorgane. Außerdem existiert die SSNL (Society for the Study of Narrative Literature), die einmal im Jahr die international bedeutendste NarratologenTagung ausrichtet und darüber hinaus über ihre Homepage eine Chatgruppe zum Austausch 30 Erzählen in der Narratologie von Wissenschaftlern (Anmeldung über listproc@george-town.edu) organisiert – genau wie ein Narrative Wiki, das zahlreiche Artikel zu narratologischen Fachbegriffen, Biographien wichtiger Narratologen oder Bibliographien zu einzelnen Themenschwerpunkten bereitstellt8. 4.2 Begriff und Konstrukt ‚Narration‘ Narration, Erzählung oder Geschichte? Einer der Kritikpunkte an der kommunikationswissenschaftlichen Untersuchung des Phänomens ‚Narration‗ war, dass sie den Begriff unpräzise und vor allem in unklarer Abgrenzung zu anderen Begriffen wie z.B. Geschichte verwendet. Die erste Hoffnung, die deshalb an die Narratologie geknüpft wird, ist, dass sie mehr Klarheit in Bezug auf das zu verwendende Vokabular schafft und dabei zu entscheiden hilft, ob Narration überhaupt der richtige Begriff für das ist, was hier untersucht werden soll. Je nachdem, wo man mit der Suche beginnt, bekommt man allerdings unterschiedlich zufriedenstellende Ergebnisse. Schaut man z.B. mit der Hoffnung auf eine möglichst kurze Begriffsexplikation in Prince‗s Dictionary of Narrative Theory, erfährt man auf den ersten Blick eine herbe Enttäuschung. Gleich vier verschiedene (wohlgemerkt ausschließlich akademische) Verwendungsweisen werden dort für das englische „narration― identifiziert (vgl. Prince 2003: 58). Das heißt, man ist sich offensichtlich nicht mal in der Narratologie einig, was denn eigentlich der gemeinsame Forschungsgegenstand sein soll. Es ist aber glücklicherweise nicht so, dass alle Narratologen diese Mehrdeutigkeit einfach im Raum stehen lassen. Der Strukturalist Gérard Genette erkennt das Problem auch für die französische Entsprechung des Begriffs Erzählung, für das récit. Seine Lösung: Ich schlage vor, ohne weiter auf den im übrigen evidenten Gründen für diese Wahl zu insistieren, das Signifikat oder den narrativen Inhalt Geschichte zu nennen (auch wenn dieser Inhalt nur von schwacher dramatischer Intensität und ereignisarm sein sollte), den Signifikanten, die Aussage, den narrativen Text oder Diskurs Erzählung im eigentlichen Sinne, während Narration dem produzierenden narrativen Akt sowie im weiteren Sinne der realen oder fiktiven Situation vorbehalten sein soll, in der er erfolgt. (Genette 1998: 16) Genette betont aber auch, dass die Trennung, die die Begriffe ermöglichen, eine rein analytische ist und dass die Konstrukte, die den Begriffen zugrunde liegen, nicht unabhängig voneinander bestehen. Geschichte und Narration existieren für uns also nur vermittelt durch die Erzählung. Umgekehrt aber ist der narrative Diskurs oder die Erzählung nur was sie ist, sofern sie eine Geschichte erzählt, da sie sonst nicht narrativ wäre […], und sofern sie eben von jemandem erzählt wird, denn sonst wäre sie (wie etwa eine Sammlung archäologischer Dokumente) überhaupt kein Diskurs. Narrativ ist die Erzählung durch den Bezug auf die Geschichte, und ein Diskurs ist sie durch den Bezug auf die Narration. 8 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Schnelllebigkeit des Internets. Unter dem nicht vor allzu langer Zeit vom Monika Fludernik ausgewiesenen Link zur SSNL [www.narrativesociety.org (vgl. Fludernik 2008: 155)] findet man inzwischen ein nicht ganz jugendfreies „Alternativangebot― zu akademischen Beschäftigungen. Die aktuelle URL lautet http://narrative.georgetown.edu/ [Stand: Oktober 2010]. 31 Erzählen in der Narratologie Die Analyse des narrativen Diskurses ist für uns also im wesentlichen die Untersuchung der Beziehungen zwischen Erzählung und Geschichte, zwischen Erzählung und Narration sowie (sofern beide in den Diskurs der Erzählung eingeschrieben sind) zwischen Geschichte und Narration. (Genette 1998: 17) Damit ist für die gegebene Fragestellung schon einmal eine Menge gewonnen: Zum einen sollte klar geworden sein, dass Geschichte, Narration und Erzählung keineswegs synonym gebraucht werden sollten. Sie bilden unterschiedliche Aspekte eines Phänomenkomplexes ab. Wobei allerdings problematisch ist, dass Genette dem Gesamtkomplex – bestehend aus ‚Erzählung‗, ‚Geschichte‗ und ‚Narration‗ – keinen Namen gegeben hat9. Um Missverständnisse zu vermeiden, soll in dieser Arbeit deshalb präziser von ‚Narration im engeren Sinne‗ oder besser von ‚Vermitteltheit‗ gesprochen werden, wenn die Ausdrucksseite von Erzählungen gemeint ist. Damit bleibt der Begriff ‚Narration‗ (im weiteren Sinne) für das Gesamtpaket reserviert. Zum anderen kann festgelegt werden, dass der Untersuchungsgegenstand, auf dem das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegen sollte, strenggenommen nicht die Narration ist, sondern die Erzählung. Denn als Ziel des theoretischen Teils der Arbeit wurde es formuliert, die textuellen Merkmale finden zu wollen, die narrative Text von nicht-narrativen Texten unterscheiden. Der einzige narrative Aspekt, der sich als Text manifestiert und daher auch als einziger der Analyse zugänglich ist, ist eben der narrative Diskurs, die Erzählung. Narration oder Narrativität? Bevor aber angefangen werden soll, nach Merkmalen des narrativen Diskurses zu suchen, soll noch überlegt werden, welche Vorstellung man sich am besten von der Qualität des Phänomens machen will, das man dadurch manifest machen möchte. Die Literatur wirft dazu vor allem immer wieder die Frage auf, ob das Prädikat ‚narrativ‗ nur dichotom vergeben werden soll (entweder sind Texte narrativ oder eben nicht) oder ob man es skalieren kann (dann gibt es neben nicht-narrativen Texten auch solche, die narrativer sind als andere). Oft wird die Skalierungsfrage mit dem Konstrukt der Narrativität in Verbindung gebracht, was auch von Bilandzic und Kinnebrock im Zusammenhang mit Persuasion aufgegriffen wurde10. Narrativität ist allerdings sehr problematisch definiert ist. Mal meint der Begriff wirklich nur eine skalierbare Vorstellung des Konzepts ‚Narration‗. So etwa bei Nünning, der Narrativität als „Bündel von formalen und/oder thematischen Merkmalen, durch das sich Erzählungen bzw. narrative Texte auszeichnen und von anderen, nicht-narrativen Gattungen und Textsorten unterscheiden― (Nünning 2004: 483) definiert. Nach dieser – sehr plausiblen Vorstellung – machen mehrere Merkmale gemeinsam einen Text zu einem narrativen Text und da die einzelnen Merkmale selbst unter Umständen mehr oder weniger ausgeprägt vorliegen, ist 9 Außerdem hat er keine passende Adjektive/Adverbien zu den Begriffen geliefert. So benutzen auch Theoretiker, die die Differenzierung eigentlich beachten, „narrativ― weiterhin gleichermaßen, um auszudrücken, dass etwas den Charakter einer „Narration―, einer „Geschichte― oder einer „Erzählung― hat. 10 siehe Kapitel 3.2 32 Erzählen in der Narratologie Narration selbst ein stetiges Phänomen. In der klassischen Formulierung meint Narrativität aber genau das leider nicht. Bei Prince erklärt Narrativität nicht das Wesen narrativer Texte sondern ihre Qualität/Wohlgeformtheit. Unter einer Erzählung (a narrativ) versteht Prince sehr allgemein jede beliebige Verbindung zweier unabhängiger Zustandsveränderungen (vgl. Prince 1982; s.u.). Damit sieht er sich aber vor dem Problem, dass rein analytisch betrachtet auch eine Formulierung wie Das Wasser kochte und dann war John glücklich. eine vollwertige Erzählung ist. Er stellt aber auch fest, dass solche Gebilde in realen Rezeptionssituationen wohl für ziemlichen Unmut sogen würden, da Leser bei einer Erzählung eigentlich etwas anderes erwarte. Er löst das Problem für sich dadurch, dass er Zusatzkriterien aufstellt und Merkmale entwickelt, die Erzählungen darüber hinaus auch zu „guten― Erzählungen machen. Je nachdem, wie viele dieser Merkmale vorhanden sind und wie stark sie jeweils ausgeprägt sind, ergibt sich dann die spezifische Narrativität eines Textes. Ergebnis seiner Überlegungen ist im Wesentlichen der Merkmalskatalog, den Bilandzic und Kinnebrock herangezogen haben und der an dieser Stelle aufgrund seines Umfangs nicht wiederholt werden soll. Nebenprodukt dieser Logik sind aber auch Formulierungen, die der Autor selbst als paradox erkennt: Indeed, many narratives are valuable not so much qua narratives but rather for their wit, their style, their ideological content, or their psychological insight: there is much more than narrative in most narratives! Moreover, and paradoxically, saying that a text has some narrativity does not necessarily mean that it is a narrative; if certain narratives have minimal narrativity, certain non-narratives which adopt various narrative trappings for one reason or another may reach a high degree of narrativity at least in some of their parts. (Prince 1982: 160f) Prince Argumentation ist also ziemlich verdreht und muss nicht nur im Rahmen unserer Fragestellung, sondern eigentlich generell abgelehnt werden. Denn jede Definition von ‚Erzählung‗ ist – zumindest aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive – obsolet, wenn sie nicht auch pragmatisch zufriedenstellend ist. Wahrscheinlich liegt das, was eine Erzählung ausmacht, tatsächlich irgendwo zwischen den Prince‗schen Konstrukten von Narration und Narrativität. Vielleicht sollte man deshalb hier Ockhams berühmtes Rasiermesser ansetzen und anstatt, dass man den Begriff Narrativität – quasi als ‚Anhängsel‗ für die Gültigkeit im pragmatischen Kontext – zusätzlich mit durch seine Argumentationen zieht, lieber fragen, welche der Narrativitätsfaktoren man lieber noch in die Definition von Narration aufnehmen sollte. Das Phänomen Erzählung soll deshalb hier alternativ zum Narrativitätskonstrukt im Sinne einer Prototypen-Definition beschrieben werden11. Damit schließt der Begriff ebenfalls eine skalierbare Vorstellung ein, das Prinzip funktioniert aber in genau entgegengesetzter Richtung wie Prince‗ Ansatz: Die Definition sammelt typische Merkmale von Erzählungen, berücksich- 11 Der Prototypen-Ansatz stammt aus der kognitiven Psychologie und geht davon aus, dass Objekte mental danach sortiert werden, ob sie eher typische Vertreter ihrer Art sind (eben die sogenannten Prototypen) oder untypische. Die Trennung erfolgt nicht nur nach semantischen, sondern auch pragmatischen Kriterien (vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann 2004: 175f). 33 Erzählen in der Narratologie tigt dabei aber auch, dass diese nicht immer gleich stark ausgeprägt sein müssen und folgert abschließend (ganz im Sinne der molaren Perspektive des DTA), in welcher Komplexion und Ausprägung sie den Kern des Begriffs am besten – eben am prototypischsten – widergeben. 4.3 Potenziell Merkmale von Erzählungen Nachdem nun die begrifflichen Grundlagen geklärt sind, kann mit der eigentlichen Suche nach den Merkmalen, die narrative Texte zu narrativen Texten machen, begonnen werden. Von der Gesamtlage der narratologischen Literatur abstrahierend können dabei drei grobe thematische Komplexe ausgemacht werden, auf die sich die Vorschläge zu den Merkmalen von Erzählungen aufteilen lassen: Im ersten hier vorgestellten Merkmalskomplex werden Ansätze zusammengefasst, die sich auf den Inhalt narrativer Texte konzentrieren und im weitesten Sinne zu beantworten versuchen, wie ein Text eine Geschichte repräsentiert. Ein zweiter inhaltlicher Aspekt von Erzählungen, der in der Literatur mehrfach thematisiert wird und in dem einige Autoren eines ihrer Wesensmerkmale sehen ist, dass narrative Diskurse – im weitesten Sinne – die Vorstellung einer anderen Welt erzeugen. Im Komplex Diegese werden diese Ansätze vorgestellt und nach den Mitteln gesucht, mit denen narrative Texte Welten evozieren. Der dritte Merkmalskomplex, Vermitteltheit, fasst schließlich Ansätze zusammen, die den Umstand betonen, dass narrative Inhalte nicht unmittelbar sondern nur vermittelt erfahren werden können und sucht nach den textuellen Anzeichen dieser Vermitteltheit. 4.3.1 Merkmalskomplex ‚Geschichte‘ Genette hatte geäußert, dass narratologische Analysen im Wesentlichen die Beziehungen zwischen Erzählung und Geschichte, zwischen Erzählung und Narration und zwischen Narration und Geschichte untersuchen müssten (vgl. Genette 1998: 17; s.o.). Die mit Abstand meisten, vor allem die strukturalistisch orientierten Forscher, folgen dem Vorschlag, indem sie sich auf die erste der genannten Beziehungen konzentrieren. Sie versuchen, die Merkmale im Diskurs zu entdecken, die erkennen lassen, dass der in ihm transportierte Inhalt eine Geschichte ist. Die Liste der Merkmalskandidaten für diesen Aspekt von Erzählungen ist dementsprechend lang. Die wichtigsten werden im Folgenden kurz vorgestellt. Eine der ersten Monographien, auf die man bei der Suche nach geeigneten Merkmalen für das Wesen von Erzählungen aufgrund ihres eingängigen und vielversprechenden Titels fast zwangsläufig stößt, ist H. Porter Abbotts The Cambridge Introduction to Narrative. Abbott vertritt darin die wohl schlichteste aller Definitionen von Narration: Simply put, narrative is the represetitation of an event or a series of events. ‚Event‘ is the key word here, though some people prefer the word ‚action.‘ Without an event or an action, you may have a ‚description,‘ an ‚exposition,‘ an ‚argument‘ a ‚lyric,‘ some combination of these or something else altogether, but you won't have a narrative. ‚My dog has fileas‘ is a descripti- 34 Erzählen in der Narratologie on of my dog, but it is not a narrative because nothing happens. ‚My dog was bitten by a flea‘ is a narrative. It tells of an event. (Abbott 2009: 13) Ein einziges Ereignis reicht nach Abbott also aus, um von einer Erzählung sprechen zu können. Seine Geschichten benötigen ausdrücklich nicht einmal ein Setting. „‚I fell down‘ tells a story with no setting and, not much of a world either. Yet it is a perfectly valid narrative.‖ (Abbott 2009: 20) Ein Ereignis zeichnet sich dabei ganz allgemein zunächst dadurch aus, dass – im weitesten Sinne – irgendetwas passiert, oder wie Prince es formuliert, ist ein Ereignis a change of state manifested in DISCOURSE by a PROCESS STATEMENT in the mode of Do or Happen. An event can be an ACTION (when the change is brought about by an agent. […]) or a HAPPENING (when the change is not brought about by an agent [...]). (Prince 2003: 28) Vielen Narratologen reicht ein einziges Ereignis nicht aus, um den Inhalt einer Erzählung zu konstruieren. Bei Prince müssen es mindestens zwei Ereignisse sein, an die außerdem noch weitere Bedingungen geknüpft sind: „[A]n object is a narrative if it is taken to be the logically consistent representation of at least two asynchronous events that do not presuppose or imply each other.‖ (Prince 2008: 19) Die Ereignisse müssen also unterschiedliche Zeitpunkte beschreiben und dürfen einander weder enthalten noch auseinander ableitbar sein. Labov sieht das ähnlich, stellt aber nicht die Ereignisse und ihre Anzahl in den Vordergrund, sondern sieht eine Erzählung, oder wie er sagt eine „mininal narrative―, dann gegeben, sobald ein Text mindestens eine zeitliche Konjunktion aufweist (z.B. nach dem Muster „Sie aß und dann putzte sie sich die Zähne.― oder „Der Regen setzte ein als sie die Haustür erreicht.―) (vgl. Labov 1976). Auch für Chatman steht bei der Abgrenzung von narrativen gegenüber nicht-narrativen Texten ihre Zeitlichkeit im Vordergrund. Für Chatman gibt es grundsätzlich drei voneinander unterscheidbare Diskurstypen: Narrative, Description und Argument (vgl. Chatman 1990: 7), also Erzähltexte, Beschreibungen und logische Beweisführungen. Für Chatman ist es dabei aber zunächst wichtig, zwischen einem Text als Ganzem und einzelnen Textteilen zu trennen. Narrative Diskurse können eine ganze Reihe beschreibender oder argumentierender Elemente beinhalten, ohne ihren Status als narrative Diskurse zu verlieren. Umgekehrt können auch nicht-narrative Diskurse narrative Anteile enthalten. Als ein narratives Element auf lokaler Ebene scheint Chatman dabei – ähnlich wie Abbott und Prince – eine einzelne Repräsentation eines Vorgangs, also ein Ereignis, zu sehen, im Gegensatz zu Repräsentationen von Eigenschaften von Dingen oder Propositionen, die Meinungen oder Schlussfolgerungen ausdrücken. Diskurse, die Ereignisse enthalten, sind in Chatmans Augen dann zwar „narrative― aber noch lange keine „Narratives―12. Narratives werden sie erst, wenn mehrere solcher Elemente einen spezifischen Erklärungszusammenhang, eine für Erzählungen notwendige Logik, herstellen: 12 Um kenntlich zu machen, wann sich dass Attribut „narrative― auf den Modus einer einzelnen Proposition bezieht und wann auf die Globalstruktur eines ganzen Diskurses, verwendet Chatman im letztgenannten Fall stets Großschreibung. 35 Erzählen in der Narratologie As has been clearly established in recent narratology, what makes Narrative unique among the text-types is its ‚chrono-logic,‗ its doubly temporal logic. Narrative entails movement through time not only ‚externally‗ (the duration of the presentation of the novel, film, play) but also ‚internally‗ (the duration of the sequence of events that constitute the plot). The first operates in that dimension of narrative called Discourse (or récit or syuzhet), the second in that called Story (histoire or fabula). (Chatman 1990: 9) Nicht-narrative Texte haben also zwar insofern einen Bezug auf Zeit, als es Zeit benötigt, sie zu rezipieren, ihre Inhalte sind aber statisch und atemporal. Narrative Texte hingegen haben sowohl auf der Ebene ihres Diskurses einen Bezug auf Zeit (auch sie benötigen Zeit um rezipiert zu werden) als auch auf ihrer Inhaltsebene, da dieser Inhalt primär zeitliche Vorgänge repräsentiert und im sogenannten Plot zu mindestens einer Sequenz verdichtet. Um diese Sequenz zu etablieren und tatsächlich von der Chronologik eines Textes sprechen zu können, ist es aber nicht nur notwendig, Vorgänge abzubilden und in ihrer Zeitlichkeit zu markieren, sondern sie auch – und hier geht Chatman nun über die Annahmen von Abbott, Prince, und Labov hinaus – logisch zueinander in Beziehung zu setzen (vgl. ebd.). Wie diese Beziehungen nun genau strukturiert sein sollen, darüber ist sich Chatman selbst nicht sicher. Er meint zwar, dass man für die meisten „traditionellen― Erzählungen von Kausalbeziehungen zwischen den Ereignissen sprechen kann (also von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, wobei ein Ereignis a zu einem anderen Ereignis b führt, b wiederum zu einem Ereignis c. etc.). Er hält aber auch einen schwächeren Typ von Beziehungen für durchaus ausreichend, den er „contingency― (zu Deutsch in etwa „Zufall―) nennt und folgendermaßen beschreibt „a does not directly cause b, nor does b cause c, but they all work together to evoke a certain situation or state of affairs x.― (Chatman 1990: 9) Ob und warum „contingency― ausreicht, begründet Chatman nicht weiter und gesteht an anderer Stelle sogar ganz offen ein „Whether or not the events must also be causally linked is not so clear.‖ (Chatman 1980: 31) So indifferent wie Chatman verhalten sich in diesem Punkt aber bei weitem nicht alle Wissenschaftler. Die Forderung nach Kausalität ist eine der am weitesten verbreiteten Bedingungen, die an die Bausteine narrativer Texte geknüpft werden. Wie weit verbreitet sie ist und vor allem wie intuitiv sie zu sein scheint, zeigt sich u.a. daran, dass einige berühmt gewordene Ansätze hierzu nicht aus den Reihen der Narratologen selbst stammen, sondern von Autoren, die das Phänomen unverschult, quasi „naiv― in den Blick genommen haben und nachträglich von der Narratologie aufgegriffen wurden. Eines der frühesten Beispiele dafür stammt von dem britischen Romancier E. M. Forster, der sich in seinem 1927 erstmals und in recht handlichem Format erschienenen Aspects of the Novel mit den Bausteinen von Kurzgeschichten beschäftigt. Er versucht dabei als Literaturpraktiker vor allem Regeln aufzustellen, wie Erzähltexte den Erwartungen eines modernen, intelligenten Lesers gerecht werden. Ein guter Erzähltext muss nach Forster nicht nur die Neugier seines Lesers befriedigen, indem er permanent 36 Erzählen in der Narratologie neue Ereignisse aneinanderreiht, sondern auch sein Bedürfnis nach Sinn. Sinnstiftend ist ein narrativer Inhalt für Forster aber nur, wenn er ein Plot ist. Let us define a plot. We have defined a story as a narrative of events arranged in their timesequence. A plot is also a narrative of events, the emphasis falling on causality. ‚The king died and then the queen died,‗ is a story. ‚The king died and then the queen died of grief‗ is a plot. […] Consider the death of the queen. If it is in a story we say ‚and then?‗ If it is in a plot we ask ‚why?' That is the fundamental difference between these two aspects of the novel. (Forster 1969 [1927]: 82f) Diese Definition (oder besser Explikation) ist eine der prominentesten Formulierungen der Erzählforschung und taucht auch heute noch in vielen Lehrbüchern auf. Allerdings steht diese Formulierung, die aus der „archaischen Phase― der Narratologie stammt, etwas schief zur modernen Verwendung des Begriffs Plot. Die heutige Sichtweise ist – Genettes Bestimmung folgend – eher die, dass jeder narrative Text eine Geschichte (story) zum Inhalt haben muss und eine Geschichte wiederum nur eine Geschichte ist, wenn das diskursive Material als Plot organisiert ist (vgl. Martinez/Scheffel 2009: 25; s.u.). Ein zweiter Autor, der wegen des Skandals, den er in seiner eigenen Disziplin auslöste, gerne und viel zur Kausalität zitiert wird, ist der Historiker Hayden White. White hat die Geschichtswissenschaft mit der Behauptung auf den Kopf gestellt, dass es eigentlich gar keine Geschichtswissenschaft gebe, sondern nur Geschichtsschreibung. Geschichte entsteht in Whites Augen genau wie die Geschichten, die das Literatursystem liefert, nämlich durch emplotment. Unter Emplotment versteht White den Vorgang, bei dem ge- oder erfundene Ereignisse in einen Sinnzusammenhang gebracht werden. Der Sinnzusammenhang entsteht dabei dadurch, dass die Ereignisse kausal so verknüpft werden, dass sich das Produkt als Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire rezipieren lässt. (Vgl. Czarniawska 2004: 2; White 1987) Einige Narratologen verschärfen die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Ereignisse einen Plot bzw. eine Geschichte darstellen, noch weiter, indem sie den Begriff der Kausalität durch den der Motivierung ersetzen. Das Wort ist der Psychologie entlehnt und bezeichnet in der Narratologie Sonderform kausaler Zusammenhänge, bei der die in einer Erzählung beschriebenen Handlungen (und daraus resultierende Zustandsveränderungen) mit internen/psychischen Zuständen von Figuren (z.B. Wünsche, Ziele oder Absichten) erklärt werden können. So verlangt Marie-Laure Ryan z.B., dass ein Text, will er eine Erzählung sein, folgende Auflagen erfüllt: „The text must allow the reconstruction of an interpretive network of goals, plans, causal relations, and psychological motivations around the narrated events. This implicit network gives coherence and intelligibility to the physical events and turns them into a plot.‖ (Ryan 1992: 370) Für Vertreter der Motivierungs-These wären die narrativen Modi demnach nicht wie für Prince DO und HAPPEN, sondern eher DO, THINK und FEEL. Motivierung ist auch bei Martinez und Scheffel für entscheidende Bedeutung für das Konstrukt Geschichte. In ihrer Einführung in die Erzähltheorie integrieren Martinez und Scheffel viele der genannten Merkmale in ein Ebenen-Model narrativer Inhalte. Insgesamt 37 Erzählen in der Narratologie machen sie dabei vier hierarchisch aufeinander aufbauende Ebenen aus, die sie im Einzelnen beschreiben und deren Elemente sie teilweise weiter typologisieren. Inhaltlich kommt durch das Modell zwar nicht viel Neues hinzu, es soll zum Abschluss dieses Kapitels aber dennoch vorgestellt werden, weil es sehr gute Begriffe liefert, die es ermöglichen, die einzelnen inhaltlichen Bausteine von Erzählungen präzise zu benennen: Das Ereignis oder Motiv ist die kleinste, nicht mehr weiter unterteilbare Einheit der Inhaltsseite einer Erzählung. Motive haben eine propositionale Struktur, d.h. sie manifestieren sich als (Behauptungs-)Sätze (vgl. Martinez/Scheffel 2009: 108). Im Zusammenhang mit der Globalstruktur der Erzählung können Motive danach klassifiziert werden, ob sie die beschriebene Situation verändern (dann nennt man sie dynamische Motive) oder nicht (dann nennt man sie statische Motive). Dynamische Motive sind entweder Geschehnisse (wenn es sich um nichtintendierte Zustandsveränderungen handelt) oder Handlungen (wenn die Zustandsveränderungen „durch die Realisierung von Handlungsabsichten menschlicher oder anthropomorpher Agenten zustande kommt― [Martinez/Scheffel 2009: 109]). Bei den statischen Motiven lassen sich Zustände (wenn sie die allgemeine Sachlage schildern; z.B. „Es regnete.―) und Eigenschaften, (wenn sie singuläre Gegenstände, wie z.B. Figuren, charakterisieren; etwa „Er war etwas unter Normalgröße, brünett und hatte ein Doppelkinn.―) unterscheiden (vgl. ebd.). Folgen mehrere Motive (des dynamischen Typs) chronologisch aufeinander, gelangt man auf die nächst abstraktere Ebene des Inhalts einer Erzählung, man spricht von einem Geschehen. Die nächst höhere Ebene wiederum ist die der Geschichte. Damit eine Geschichte gegeben ist, reicht es nicht aus, dass die Motive chronologisch verknüpft sind, sie müssen zusätzlich kausal verknüpft sein – strenger noch: motiviert sein. Die Motivierung integriert die Ereignisse in einen Erklärungszusammenhang. Die Ereignisse werden dann so verstanden, daß sie nicht grundlos wie aus dem Nichts aufeinander, sondern nach Regeln oder Gesetzen auseinander folgen. (Martinez/Scheffel 2009: 110) Die abstrakteste Ebene, auf der man schließlich über den Inhalt von Erzählungen sprechen kann, geht über den Einzeltext hinaus. Das Handlungsschema ist ein aus allen erzählten Motiven abstrahiertes globales Schema, das für Erzählungen typisch ist. Durch Einbetten des konkreten Textes in das Handlungschema wird die Geschichte zu einem sinnhaften und geschlossenen Ganzen (z.B. mit Anfang, Mitte und Ende). (Vgl. Martinez/Scheffel 2009: 25) Abb. 3: Ebenen narrativer Inhalte (nach Martinez/Scheffel) 38 Erzählen in der Narratologie Zusammenfassend kann zum Merkmalskomplex ‚Geschichte‗ festgehalten werden, dass sich die meisten Narratologen relativ einig sind, dass die kleinsten inhaltlichen Einheiten von Erzählungen Ereignisse sind, also eine Erzählung mindestens Zustandsveränderungen beschreiben muss. Welche dieser Vorschläge möchte man nun aber übernehmen, welche kann man begründet zurückweisen? Abbotts Ansatz argumentativ zu entkräften, fällt ausgesprochen schwer, eben weil er so minimalistisch ist und Abbott selbst kaum genug Argumente liefert, an denen man ansetzen könnte. Alles in allem scheint es schlichtweg nicht besonders intuitiv, einen Satz wie „Mein Hund wurde von Flöhen gebissen.― als Geschichte zu bezeichnen. Außerdem kann man die Definition getrost als automatisch mit ausgeschlossen betrachten, wenn es gelingt, Vorschläge von höherem Komplexitätsgrad zu entkräften. Denn auch das Vorhandensein zeitlicher Junktoren und kausaler Beziehungen zwischen diesen Ereignissen scheinen keine hinreichenden Abgrenzungskriterien zu anderen Textsorten zu sein. Zwar genügt wahrscheinlich ein flüchtiger Blick in einen x-beliebigen Roman, um festzustellen, dass Erzähltexte in der Tat voll sind von derartigen Verbindungen, allerdings findet man sie nicht exklusiv in narrativen Texten. Man kann den Gegenbeweis mit fast jedem beliebigen (kohärenten) Text führen. Um den Fall möglichst plastisch zu machen, denke man beispielweise an ein Laborprotokoll, in dem das Wachstum von Pilzkulturen dokumentiert ist. Es ist durchaus denkbar (wenn auch aufgrund mangelnder biologischer Kenntnisse vielleicht nicht wahrscheinlich), dass dort Sätze auftauchen wie „Nachdem das erste Wachstumsstadium abgeschlossen war, bildeten die Sporen nach ca. 2 Stunden schwarze Köpfe.― oder „Durch die Zugabe von Phenolphthalein und dessen Verfärbung konnte nachgewiesen werden, dass der pH-Wert der Probe im basischen Bereich lag.― Die Sätze enthalten eindeutig sowohl temporale als auch kausale Junktoren und haben eine doppelte Zeitlogik im Sinne Chatmans, dennoch wird man einen solchen Text – selbst wenn er vollkommen frei von ausschließlich argumentativen und beschreibenden Propositionen ist – nur schwerlich als „narrativ― oder als „Geschichte― bezeichnen. Von daher erscheint es am plausibelsten, sich der Forderung von Ryan anzuschließen und neben Kausalität auch Motivierung vorauszusetzten. Narrative Texte zeichnen sich demnach auf inhaltlicher Ebene vorerst dadurch aus, dass sie Zustandsveränderungen schildern, die sich durch den Rückbezug auf interne Zustände von Handlungsträgern in einen sinnvollen Erklärungszusammenhang bringen lassen. Auf propositionaler Ebene entspricht das im Modell von Martinez und Scheffel dem zweiten Typ dynamischer Motive, den Handlungen (im engeren Sinne). Handlungen scheinen unverzichtbarer Bestandteile aller Erzählungen zu sein und müssen sich notwendiger Weise im diskursiven Material manifestieren, sodass sie im Zentrum des Prototyps „Erzählung― anzusiedeln sind. 39 Erzählen in der Narratologie 4.3.2 Merkmalskomplex ‚Diegese‘ Viele der im vorherigen Kapitel vorgestellten Ansätze, die in Ereignissen oder Handlungen das Wesensmerkmal von Erzählungen sehen, sind sich einig, was demnach das absolute Gegenteil narrativer Texte sein muss: Beschreibungen. Genette teilt diese Auffassung nicht. In seinen Augen sind zwar Beschreibungen ohne Narration möglich, aber keine Narration kann ohne Beschreibung existieren. Das begründet er mit einem kleinen Gedankenexperiment, wonach es zwar möglich ist, Dinge ohne Bewegung zu denken, aber umgekehrt nicht möglich ist, Bewegung ohne Dinge zu denken (vgl. Genette 1966: 156f). Alan Palmer geht noch einen Schritt weiter. Für ihn sind beschreibende Passagen nicht nur nicht das Gegenteil von Narration, sondern Grundvoraussetzung dafür, dass ein Text überhaupt narrativ sein kann. Denn Beschreibungen ermöglichen es, dass der Rezipient beim Lesen eine Welt konstruieren kann, in die er die Ereignisse einbettet. Nach Palmer sollte diese Story World deshalb „be considered a third defining feature of narrative along with story and narrative discourse.‖ (Abbott: 2009: 20) Für diese Welt, die ein Text konstruiert und die hier in Anlehnung an Palmer als mögliches weiteres Merkmal narrativer Texte in den Blick genommen werden soll, benutzt die Narratologie den Terminus Diegese. Das Wort wurde von Etienne Souriau 1951 eigentlich zur Bezeichnung der in einem Film dargestellten Welt geprägt. Genette übernahm es mit Figures III 1972 aber als „das raumzeitliche Universum der Erzählung― (Genette 1998: 313) auch für literaturwissenschaftliche Erzähltheorie (vgl. Martinez/Scheffel 2009: 23). Die bisher wohl intensivste – aber wahrscheinlich auch abstrakteste – Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Diegese liefert sich die sogenannte possible-worlds theory (PWT) (z.B. Ryan 1991). Dieser Ansatz ist einzigartig, da er sich nicht nur ausschließlich mit den durch Erzähltexte transportierten Welten beschäftigt, sondern – wie der Name es bereits andeutet – auch versucht, diesen Aspekt narrativer Texte in einen möglichst geschlossenen theoretischen Rahmen einzubetten: Aufbauend auf Gottfried Wilhelm Leibniz‗ ‚Konzept der möglichen Welten‗ aus der analytischen Philosophie werden (fiktionale) narrative Texte in der PWT „als semiotische Mechanismen für die Konstruktion alternativer Welten angesehen, welche die Wirklichkeit nicht mimetisch abbilden, sondern parallele Welten, z.B. in Form von Gegenbildern, zu ihr entwerfen.― (Surkamp 2002: 153)13 So bedeutend die PWT aber auch für die Literaturwissenschaft ist, so dient sie dem eigentlichen Ziel dieses Kapitels leider nur wenig: Die PWT ist primär damit beschäftigt, den ontologischen Status narrativ erzeugter Welten zu klären und bewegt sich damit auf sehr hohen Abstaktionsniveau. Auf konkrete Merkmale, die ein 13 Die Vorstellung, die dem zugrunde liegt, ist, dass der aktuelle Zustand unserer realen Welt sich aus einer Kette von Ereignissen und Entscheidungen ergeben hat, parallel dazu existieren eine Vielzahl virtueller Welten, in denen einzelne dieser Entscheidungen und Ereignisse nicht realisiert wurden, Welten, die also zwar nicht real existieren, aber denkbar sind, da sie unter anderen Umständen möglich gewesen wären.) 40 Erzählen in der Narratologie Text enthalten muss, um eine solche Welt entwerfen zu können, gehen die PWT-Theoretiker kaum umfangreicher oder fundierter ein als andere Narratologen. Eine erste Vorstellung davon, was alles zum Konstrukt einer Story World zählt, gibt Hans Wulffs Text Schichtenbau und Prozesshaftigkeit des Diegetischen (2007). Nach Wulff lässt sich jede Textwelt in mehrere Ebenen zerlegen, jede Diegese „ist gleichzeitig physikalische Welt, Wahrnehmungswelt, soziale Welt und moralische Welt. Auf allen Ebenen kann sie eigenständig sein, von der Alltagswelt […] abweichen.― (Wulff 2007: 40) So gibt es z.B. eine ganze Reihe Science Fiction-Erzählungen, in denen sich die physikalische Schicht der Diegese dadurch auszeichnet, dass die Gesetze der Schwerkraft in ihr nicht gelten oder Materie beliebig zerlegt und an einen anderen Ort „gebeamt― werden kann. Oder die soziale Schicht in einem Fantasy-Roman ist so angelegt, dass feudale Herschafftsstrukturen gelten, die ausgesprochen wenig mit unserer modernen Vorstellung von Demokratie zu tun haben, an denen innerhalb der Diegese aber niemand Anstoß nimmt. Eine Diegese umfasst also im weitesten Sinne physikalische und soziale Gesetzmäßigkeiten, Wertvorstellungen und alle Entitäten, die zusammengenommen den Raum des Textes bilden und von den darin handelnden Figuren wahrgenommen werden können. Das was Wulff „Wahrnehmungswelt― nennt, hat den wahrscheinlich direktesten Bezug zur Genetteschen Formulierung der Diegese als „raumzeitliches Universum― und ist auch der Aspekt textueller Welten, den die meisten der Narratologen, die sich überhaupt eingehender mit der Textwelt befassen, in den Blick nehmen. Von ihr soll deshalb als Diegese im engeren Sinne gesprochen werden. Was diese Diegese im engeren Sinne aber textuell ausmacht, wird von verschiedenen Autoren aber sehr unterschiedlich gesehen, es kommt sogar vor, dass ein und derselbe Autor verschiedene Merkmale anführt. Für Wulff entsteht die Diegese im engeren Sinne durch die Repräsentation von Sinneseindrücken. „Alles, was von ihnen [den Figuren] wahrgenommen werden kann — Visuelles, Akustisches, aber auch Olfaktorisches, Gustatorisches, Haptisches -, gehört zur Diegese.― (Wulff 2007: 41) Mieke Bal sieht das ähnlich, nimmt aber Einschränkungen vor: Für sie spielen nicht alle Sinne, die wir nutzen, um unsere reale Welt zu erkunden, automatisch auch eine Rolle bei der Wahrnehmung textuell vermittelter Welten. Unter einer Textwelt versteht Bal primär einen Raum und an der Konstruktion dieses virtuellen Raumes sind nur der Seh-, der Hör- und der Tastsinn beteiligt. Die Repräsentation von visueller Wahrnehmung hat dabei den hierarchisch höchsten Stellenwert. Sie resultiert aus der Beschreibung von Formen, Farben und Größen von Gegenständen und ist die einfachste und meistgebrauchte Möglichkeit, einen Raum vorstellbar zu machen. Hören spielt demgegenüber eine untergeordnete Rolle für die Repräsentation eines Raumes, ebenso wie haptische Wahrnehmungen. Sie werden lediglich benutzt, um die räumliche Nähe einer Figur zu einer anderen oder zu Gegenständen auszudrü41 Erzählen in der Narratologie cken oder um Materialien und Texturen abzubilden. Geruch, als vierter Sinn, kann nach Bal zwar dazu beitragen, einen Raum zu charakterisieren, spielt aber für seine mentale Konstruktion keine Rolle und ist daher, genauso wie Geschmack, aus dem Kanon der diegeseevozierenden Sinneswahrnehmungen als irrelevant auszuschließen. (Vgl. Bal 2004: 133f) Einen etwas breiteren Ansatz verfolgt Monika Fludernik. Fludernik sieht einen narrativen Raum nicht nur durch die Sinneseindrücke gegeben, die in der Sprache des Erzählers oder im Dialog der Figuren untereinander geschildert werden, sondern auch in sogenannten RaumDeiktika. Eine Phrase wie hier in Berlin erschafft automatisch eine relativ vollständige Welt, in die der durchschnittliche Leser die Geschichte einer Erzählung problemlos einbetten kann. So eine Phrase verknüpft Bekanntes, wovon vorausgesetzt werden kann, dass der Leser bereits eine (wie auch immer grobe) Vorstellung davon hat (z.B. Berlin) mit einem deiktischen Partikel (z.B. hier), der zu erkennen gibt, dass das Bekannte14 nicht bloß in einer beliebigen Weise thematisiert, sondern zum Referenzrahmen der Diegese erhoben wird. (Vgl. Fludernik 2008: 52) Außerdem gehört es nach Fludernik Abb. 3: Ebenen narrativer Welten zu den meisten Diegesen dazu, dass sie auch zeitlich bestimmt sind und die ralen Gegenstände charakterisiert, wobei das auch die Figuren einschließt. Um die beschriebenen Handlungen besonders gut vorstellbar zu machen, etablieren die meisten Erzählungen ihre raum-zeitliche Verankerung sowie die wichtigen Attribute recht früh. So findet Fludernik heraus, dass sich der Anfang der meisten traditionellen Erzählungen mit einer Formel ausdrücken lässt, die in der Notation der Transformationsgrammatik folgendermaßen aussieht: [PP-Zeit] [PP-Ort] Verb [Adjektiv] [NP] Präpositionalphrasen (PP) des Ortes und der Zeit spannen dabei zunächst einen allgemeinen Rahmen auf geben und ein Adjektiv fungiert als Attribut zu einer Nominalphrase (NP). In natürlicher Sprache entspricht das Textbausteinen wie z.B. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte ein reicher Mann in Franken, der... oder Am Beginn unseres Jahrzehnts lebte in Sachsen eine arme Familie, die.... (Vgl. Fludernik 2008: 53) Eine Diegese tritt nach Fludernik also durch Bezüge auf die Zeit, auf den Ort und auf die Eigenschaften der in ihr enthaltenen Gegenstände hervor. 14 ‚Bekannt‗ heißt dabei nicht immer auch ‚real‗. Je nach Genre-Kontext und Leserschaft erfüllen Phrasen bei Frodo im Auenland oder auf der Enterprise durchaus die gleiche Funktion. 42 Erzählen in der Narratologie Räumliche Konturen fordert auch Marie-Laure Ryan von einer Erzählung ein. Für sie sind aber nicht nur in Bezug auf die Geschichte, sondern auch in Bezug auf die Diegese, die auftretenden Charaktere das Wichtigste: A narrative text must create a world and populate it with characters and objects. Logically speaking, this condition means that the narrative text is based on statements asserting the existence of individuals and on statements ascribing properties to these individuals. (Ryan 1992: 370) Die zum Merkmalskomplex ‚Diegese‗ vorgestellten Überlegungen in ähnlicher Weise gegeneinander abzuwägen wie im Fall der ‚Geschichte‗, erscheint nicht notwendig, da sie nicht in unmittelbarer Konkurrenz zueinander stehen. Vielmehr kann man hier additiv verfahren und zusammenfassen, dass die Textwelt in den verwendeten Deiktika und ganz allgemein in Beschreibungen zu finden ist – in Beschreibungen von Sinneseindrücken, des Raumes, der Charaktere und des zeitlichen Rahmens. Das Verhältnis von Textmerkmalen und Textwelt ist in Wirklichkeit aber einiges problematischer, als es nach diesen vorläufigen Ergebnissen vielleicht scheinen mag. Warum, illustriert der russische Schriftsteller Daniil Charms in Das blaue Heft Nr. 10 auf recht eindrückliche Art: Es war einmal ein Rotschopf, der hatte weder Augen noch Ohren. Er hatte auch keine Haare, so daß man ihn an sich grundlos einen Rotschopf nannte. Sprechen konnte er nicht, denn er hatte keinen Mund. Eine Nase hatte er auch nicht. Er hatte sogar weder Arme noch Beine. Er hatte auch keinen Bauch, keinen Rücken, er hatte keine Wirbelsäule, und er hatte auch keine Eingeweide. Nichts hatte er! So daß unklar ist, um wen es hier eigentlich geht. Reden wir lieber nicht weiter darüber. (Fälle, S. 207) (zitiert nach Martinez/Scheffel 2009: 123) Der kurze Ausschnitt zeigt, was Erzählungen in Print- und Audiomedien fundamental von visuellen Erzählungen unterscheidet: Sie müssen einen Großteil ihrer Welt nicht darstellen, da vieles, was ‚normal‗ ist, automatisch vom Leser antizipiert wird. Ryan (1980) nennt dieses Phänomen das principle of minimal departure: Wir wenden unsere Alltags-Scripts und Frames auf Textwelten an, weil wir solange, bis wir ausdrücklich etwas Gegenteiliges mitgeteilt bekommen, davon ausgehen, dass die Textwelt nicht von der uns bekannten Alltagswelt abweicht. Um dieses Problem – dass die Textwelt trotz ihres Namens nicht zwangsläufig auch im Text zu finden ist – zu betonen, werden der Diegese seit kurzem zwei neue Begriffe zur Seite gestellt: Diegetisieren bezeichnet den kognitiven Prozess der Konstruktion einer Story World. Die Bereitschaft zum Diegetisieren ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass Texte, die als narrative Texte angelegt sind, verstanden werden können (vgl. Wulff 2007: 46). Eine weitere Grundvoraussetzung ist die Diegetizität, die Fähigkeit eines Rezipienten, eine erzählte Welt hervorzubringen (vgl. Hartmann 2007: 59). Inwiefern kann also eine Storyworld tatsächlich ein Abgrenzungsmerkmal narrativer Texte sein? Wenn man einmal von dem Problem absieht, dass die Merkmale dieser Welt nicht nur im Text, sondern auch zum Teil bereits im Kopf der Rezipienten stecken, wird man darü43 Erzählen in der Narratologie ber hinaus feststellen, dass es auch andere Textsorten gibt, die Beschreibungen nutzen, um Bilder zu evozieren. Klassische Beispiele wären Wegbeschreibungen oder Bedienungsanleitungen. Diese Texte verfehlen ihren Sinn, wenn sie es nicht schaffen, einem Leser etwas räumlich vorstellbar zu machen. Dennoch gelten sie eher nicht als narrativ. Die bloße Vorstellbarkeit von Räumen und Objekten scheint also kein hinreichendes Kriterium zu sein. Vielmehr müssen diese Räume tatsächlich (im Sinne der PWT) zumindest zeitweise als autonome, alternative Welten übernommen und in gewisser Weise erlebt werden. Vorläufig kann damit festgehalten werden, dass das Entstehen einer Textwelt im Kopf des Rezipienten in der Tat als konstitutives Merkmal von Erzählungen gelten kann, wenn es gelingt, sie als eigenständige Welt zu erleben. Über die Mechanismen, die dazu beitragen, aus (ggf. nur minimalen) Beschreibungen nicht nur Bilder, sondern ganze Welten entstehen zu lassen, können allerdings anhand der vorgestellten Theorien kaum Aussagen getroffen werden. 4.3.3 Merkmalskomplex ‚Vermitteltheit‘ Bis hierhin wurde sich mit der inhaltlichen Ebene von Erzählungen auseinander gesetzt. Es wurde gefragt, was ein Text vermitteln muss, um eine Erzählung zu sein. Die Frage nach dem wie einer Erzählung wird von vielen Narratologen dabei weitgehend ausgeklammert. Zu selbstverständlich ist der Umstand, dass wenn eine Erzählung sich als ein Diskurs manifestiert, notwendigerweise auch ein Vermittlungsprozess stattfinden muss. Darin sei nichts Spezifisches zu finden (vgl. z.B. Hühn 2008: 141). Der Gedanke, dass sich Narration vielleicht qualitativ von anderen Vermittlungsmodi unterscheidet und somit auch auf dieser Ebene Abgrenzungsmerkmale gefunden werden können, wird von nur wenigen Theoretikern verfolgt. Präsenz eines Erzählers Einer der berühmtesten Ansätze, der die Mittelbarkeit von Erzählungen doch ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ist die Erzähltheorie Franz K. Stanzels. Stanzel sieht gerade in dem Umstand, dass Erzählungen nicht unmittelbar an ihre Rezipienten herantreten, ihr eigentliches Unterscheidungsmerkmal zu anderen Texten. Diese Vermitteltheit drückt sich – relativ banal – dadurch aus, dass jeder Erzählung ein Erzähler zugeschrieben werden kann: Wo eine Nachricht übermittelt, wo berichtet oder erzählt wird, begegnen wir einem Mittler, wird die Stimme eines Erzählers hörbar. Das hat bereits die ältere Romantheorie als Gattungsmerkmal, das erzählende Dichtung vor allem von dramatischer unterscheidet, erkannt. (Stanzel 2008: 15) Und auch Christian Metz stellt fest: „‗Wenn dies (zu mir) spricht, dann spricht jemand‗ – dies ist die allgemeine Auffassung, auch wenn es sich dabei um ein Buch handelt.― (Metz 1994: 18) So intuitiv einleuchtend es aber auch erscheint, die Vermittlungsinstanz einer Erzählung – sprich den Erzähler – als entscheidendes Zeichen für ihre spezifische Vermitteltheit zu wählen, so schwierig ist es aber auch, passende Literatur zu finden, die erklärt, was genau ei- 44 Erzählen in der Narratologie nen Erzähler oder den Vermittlungsmodus „erzählen― ausmacht, geschweige denn, wo Zeichen für eins von beidem im narrativen Diskurs zu suchen sind. Die auffälligsten Hinweise auf einen Erzähler sind sicher das, was Prince „signs of the ‚I‗― nennt. Dazu zählen vor allem Personalpronomen der ersten Person (‚ich‗ oder ‚wir‗, und Raum- und Zeit-Deiktika (‚hier‗, ‚jetzt‗, ‚gestern‗), in denen der Erzähler sich und seinen Standort selbst thematisiert. Aber auch durch Personalpronomen der zweiten Person (‚du‗, ‚wir‗), kann auf einen personalisierten Sender geschlossen werden, da so der kommunikative Charakter des Textes in den Vordergrund rückt und man automatisch folgert, dass wenn jemand angesprochen wird, auch jemand da sein muss, von dem diese Ansprache ausgeht. (Vgl. Prince 1982: 8) Außerdem ist ein Erzähler automatisch immer Teil einer Diegese. Und als Objekt einer Diegese kann natürlich auch der Erzähler durch Beschreibungen repräsentiert werden. Der Erzähler wird sozusagen präsent, indem er sich selbst charakterisiert. Dies kann er z.B. tun, indem er Angaben zu seinem sozialen Status, seiner Rasse, Religionszugehörigkeit, seinem Beruf, politischen Interessen, seinem Alter, Geschlecht, seiner mentalen und körperlicher Gesundheit sowie zu Aktionen, die er geistig oder körperlich ausführt, macht (vgl. Bortolussi/Dixon 2003: 65). Man wird allerdings schnell feststellen, dass einem bei weitem nicht alle Texte, die man intuitiv als Erzähltexte einstufen würde, den Gefallen tun, ihren Erzähler derart explizit herauszustellen. In vielen Texten spricht niemand von sich selbst, sondern schildert lediglich, was anderen passiert ist, und dennoch würde man sagen, dass man es mit einem Text zu tun hat, der erzählt wird. Dieses Problem ist bekannt – und zwar schon relativ lange. Nachweislich als erster hat es Platon im 3. Buch des Staats behandelt. Platon unterscheidet dort zwei narrative Modi, einen bei dem der Dichter „selbst redet und auch gar nicht den Eindruck erwecken will, ein anderer als er sei der Redende― (Platon 1958: 392) und einen anderen bei dem er versucht „die Illusion zu erzeugen, nicht er sei es, der redet― (ebd.: 395). Den ersten Modus nennt er reine Erzählung (haplê diêgêsis), den zweiten Nachahmung (mimêsis)15. Mimesis wird ihrer Funktion der Nachahmung dabei dadurch gerecht, dass sie die Textwelt und die darin geschehenden Handlungen so gut und vor allem neutral wie möglich schildert. Ein mimetisch sprechender Erzähler bildet das Geschehen quasi bildlich für den Rezipienten ab (man spricht gelegentlich auch von 15 Aus den Beispielen, die Platon gibt, kann man folgern, dass Mimesis für ihn vor allem das meint, was wir heute als direkte oder wörtliche Rede bezeichnen, im Modus der Diegesis gibt der Erzähler die Inhalte mit seinen eigenen Worten in indirekter Rede wieder, er paraphrasiert. Strenggenommen bezieht sich die Unterscheidung Diegesis vs. Mimesis also ursprünglich ausschließlich auf die Wiedergabe von Figurenrede. In der späteren Rezeption wurde das Begriffspaar aber auch auf die Erzählung von Handlungen ausgedehnt. 45 Erzählen in der Narratologie der camera-eye perspective). Im Modus der Diegesis16 ist der Bericht des Geschehens meist weniger detailreich. Im Vordergrund steht hier nicht die präzise Vorstellbarkeit des Geschehens sondern seine Erläuterung, der Erzähler kommentiert und bewertet das Mitgeteilte und tritt damit auch selbst als Person aus dem Text hervor. Der amerikanische Schriftsteller Henry James fasst den Unterschied vielleicht am verständlichsten, indem er von Zeigen (showing) vs. Erzählen (telling) spricht. (Vgl. Genette 1998: 116) Sein deutscher Vorgänger Otto Ludwig sprach in ähnlicher Weise von „szenischer― im Gegensatz zu „eigentlicher Erzählung― (Ludwig 1891: 202ff; zit. nach Stanzel 1981: 11) Wie auch immer man die beiden entgegengesetzten Modi narrativer Vermittlung auch nennt, zwei Auffassungen teilen die Ansätze: 1. Die beiden Modi wirken einander entgegen (je mimetischer ein Erzähler erzählt, desto weniger diegetisch kann er erzählen und umgekehrt). 2. Mimetisches Erzählen ist gegenüber diegetischem Erzählen zu privilegieren. Mimesis (bzw. showing, bzw. szenisches Erzählen) treibt die Geschichte voran und erzeugt die Illusion des Geschehens im Kopf des Rezipienten. Bringt sich ein Erzähler hingegen selbst in die Erzählung ein, wird diese Illusion gefährdet, geschwächt oder ganz zerstört. So nennt z.B. Genette den narrativen Aspekt, der mit der Wahl eines der beiden Modi verbunden ist auch Distanz. Gemeint ist damit die Distanz zur erzählten Welt, in die der Rezipient durch die Erzählweise gebracht wird. Denn je präsenter der Erzähler – so die Ansicht – desto ferner ist die eigentliche Geschichte (vgl. Genette 1998: 118) Dadurch ergibt sich aber ein kleines, terminologisches Paradox: Eine Erzählung ist dann besonders gut (und nah am Prototyp), wenn sie gar nicht so viel erzählt, sondern mehr zeigt. Aus derselben Logik folgt für die Suche nach den Merkmalen von Erzählungen das Problem, dass ein Erzähler zwar definitorisch zur Erzählung dazugehört, er seine Sache aber offensichtlich am besten macht, wenn er im narrativen Diskurs überhaupt keine Spuren hinterlässt. Oder anders ausgedrückt: Die Vermittlungsleistung ist am größten, wenn sie den Anschein völliger Unvermitteltheit erweckt. Mit einer so krassen Herabsetzung der Bedeutung des Erzählers für den Erzählvorgang kann sich der Anglist Ansgar Nünning nicht abfinden. Er hält die Privilegierung der Mimesis und vor allem die daraus gezogenen Schlussfolgerungen für den illudierenden Gehalt von Erzählungen für unzulässig. Denn eine besonders gute Vorstellbarkeit vom Geschehen sei eben nicht die einzige Form von Illusion, die bei narrativen Texten zum Tragen kommt. Erzähltexte leben im Wesentlichen auch davon, dass sie natürliches, mündliches Erzählen nachahmen, also 16 Diegesis ist die verkürzte und ‚eingedeutschte‗ Verwendungsweise von Platons haplê diêgêsis. Sie wird vor allem deshalb gerne benutzt, weil sie ihren fremdsprachigen Entsprechungen sehr ähnlich ist (engl.: diegesis; frz.: diégésis). Diegesis darf aber nicht mit dem Begriff Diegese verwechselt werden, wie er in Kapitel 4.3.2 eingeführt wurde, auch wenn Souriau seine diégèse tatsächlich der platonischen Poetik entlehnt hat. 46 Erzählen in der Narratologie auch eine Erzählillusion – oder wie Nünning es nennt – eine „Mimesis des Erzählens― (2001: 17) stattfindet: Im Gegensatz zur Privilegierung der […] Geschehensillusion trägt das Konzept der Erzählillusion der Tatsache Rechnung, daß literarische Erzähltexte aufgrund der konstitutiven ‚Mittelbarkeit des Erzählens‗ (sensu Stanzel) zunächst einmal nicht die 'Wirklichkeit' nachahmen, sondern den Akt des Erzählens. Pointiert formuliert wurde diese Einsicht von Baker (1981: 156): ‚Fiction does not imitate reality out there. It imitates a fellow telling about it.‘ (Nünning 2001: 21) Darüber hinaus stehen Mimesis des Erzählens und Mimesis des Geschehens einander nicht als zwei konkurrierende Vermittlungsmodi gegenüber. Es sei vielmehr anzunehmen, dass eine plastische Vorstellung einer personalisierten Erzählinstanz mit der Geschehensillusion interagiert (vgl. ebd.). Die Literaturwissenschaft müsse sich also auf jeden Fall Gedanken machen „wie aus Sätzen Erzähler werden― (Nünning 2001: 17). Nünning selbst schlägt sieben solcher Faktoren vor, die die Mimesis des Erzählens sehr wahrscheinlich begünstigen: 1) ‚Fiktionen des Ich‘ (ähnlich wie Bortolussi/Dixon 2003: Der Erzähler thematisiert sich selbst in seinen Eigenschaften, was Grundlage für die Re-Konstruktion der Erzählerperspektive ist, indem sie Informationen über die Dispositionen, Einstellungen und Werte der Erzählinstanz liefern, die dazu beitragen, dass die Erzählinstanz im Kopf des Rezipienten nicht nur als Textfunktion sondern als stark individualisierte ‚Persönlichkeit‗ angelegt wird.) 2) Dominant appellativ-kommunikative bzw. phatische Äußerungen (Redeanteile, in denen sich der Leser direkt an einen fiktiven Leser wendet.) 3) Struktur eines Gesprächs (ergibt sich nach Nünning, wenn die phatischen und appellativkommunikativen Äußerungen in ein Spiel mit dem Leser übergehen und es zu einer Akzentuierung des kommunikativen Charakters der Vermittlungssituation kommt.) 4) kolloquiale Elemente und Merkmale mündlichen Erzählens (Die Wiedergabe des Geschehens ist oft sprung- oder episodenhaft und fragmentarisch; umgangssprachliche und regionalsprachliche Elemente fließen in den Redestil ein.) 5) ‚subjectivity markers’ / ‚expressive features’ („ein breites Spektrum textueller Merkmale, die eine subjektive und evaluative Färbung des Erzählten erkennen lassen und auf den Sprecher und dessen Subjektivität zurückverweisen―. [Nünning 2001: 30]) 6) Generalisierungen und Sentenzen (allgemeine Lebensregeln und –weisheiten mit höchst möglichem Grad an Allgemeinheit, die überhaupt keinen Bezug mehr zur konkreten Textwelt haben; z.B. Alle Menschen sind sterblich; erwecken den Eindruck des ‚Plauderns‗) 7) metanarrative Äußerungen (Redeanteile, die den Akt des Erzählens selbst thematisieren.) (Vgl. Nünning 2001: 29ff) Nünning schafft damit zwar das Paradox des möglichst nicht erzählenden Erzählers aus der Welt. Er weist aber auch selbst darauf hin, dass seine Formulierungen lediglich hypotheti47 Erzählen in der Narratologie schen Charakter haben und empirisch noch völlig unklar ist, welche dieser Faktoren tatsächlich und in welchem Maße zur Entstehung der Erzählillusion beitragen. Außerdem sei anzunehmen, dass „neben textuellen Informationen auch lebensweltliche Schemata relevant sind― (Nünning 2001: 24), um auf den Text projiziert die Vorstellung sogenannter „storytelling scenarios― (ebd.) beim Rezipienten auszulösen. Insgesamt kann damit für den Erzähler – wie schon für die Diegese – festgehalten werden, dass es sich zwar um ein definitorisches Merkmal von Erzählungen handelt, es nach den bisherigen Erkenntnissen aber nicht ganz klar ist, inwiefern es sich um eine textuelle oder nur um eine virtuelle Größe handelt. Die Besonderheit narrativer Vermittlung muss sich aber nicht nur in der Präsenz eines Erzählers erschöpfen. Wie an mehreren Stellen – auch schon innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Betrachtung von Narration – angeklungen ist, scheint es eine Eigenschaft narrativer Texte zu sein, dass sie Sachverhalte nicht nur protokollartig für den Rezipienten replizieren, sondern das Mittgeteilte in irgendeiner Weise für den Rezipienten „aufbereiten―. So stellt Chatman z.B. für das Wesen der Narration fest: „The principal features are order and selection.‖ (Chatman 1980: 28) Während die interessantesten Arbeiten zu den Ordnungsmechanismen narrativer Texte eher außerhalb der Narratologie zu anzutreffen sind 17, hat man sich hier vor allem auf den Aspekt der Auswahl konzentriert und nach den Merkmalen gesucht, mit denen ein Text seine Selektionsleistung markiert. Tellability/Eventfullness Einige Überlegungen, die die Narratologie in Bezug auf den selektiven Charakter von Erzählungen macht, deuten darauf hin, dass nicht jede beliebige Handlungskette zur Geschichte taugt, sondern dass bestimmte Zusatzbedingungen erfüllt sein müssen. Ein Konstrukt, das diesen Gedanken – wenn auch nicht besonders gut konturiert – abbildet, ist das der tellability. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Konversationsforschung. Mit Autoren wie Mary Louise Pratt (1977) wurde er im Zuge der pragmatischen Narratologie auch auf Erzähltexte übertragen. Sehr stark vereinfacht zusammengefasst, kann man sagen, dass dem Konstrukt die Vorstellung zugrunde liegt, dass der Inhalt einer Geschichte eine gewisse Trivialitätsschwelle überschreiten muss, um erzählbar zu sein. Anderenfalls würde die Handlung vom Rezipienten nicht als Geschichte erkannt. Die Aufgabe der Narration ist es in diesem Sinne dann, zu prüfen, welche Handlungen diese Schwelle überschreiten und nur diese für den narrativen Diskurs zuzulassen. In Bezug darauf, welche Merkmale aber wiederum über Trivialität oder Nicht-Trivialität entscheiden bzw. wo die Schwelle liegt, die es zu überschrei- 17 Siehe vor allem Kapitel 5.2 48 Erzählen in der Narratologie ten gilt, sind die Aussagen sehr schwammig. Erwähnt wird gewöhnlich, dass der Inhalt etwas Ungewöhnliches, Lustiges, Beängstigendes etc. darstellen muss (vgl. Baroni o.J.). Ein interessanter Ansatz, der das Konstrukt der tellability mit der Instanz des Erzählers verknüpft, ist Monika Fluderniks natürlichkeitstheoretische Narratologie (vor allem Fludernik 1996). Sehr ähnlich wie Nünning, versucht sie dabei zunächst, „mündliches Erzählen prototypisch für das Erzählen an sich zu konstituieren―. (Fludernik 2008: 122) Narration wird bei ihr als Vermittlung von Erfahrungshaftigkeit (experientiallty) definiert. Handlung, Intentionen und Gefühle sind alle Teil der menschlichen Erfahrung, die in Erzählungen berichtet und gleichzeitig evaluiert wird […]. Erfahrungshaftigkeit wird über das Bewusstsein erfahren und gefiltert - sie impliziert daher eine subjektive, bewusstseinsgesteuerte Vermittlung. (ebd.) Ereignissen wird dabei dadurch tellability zugeschreiben, dass sie auf emotionaler Ebene irgendeine Bedeutung für den Erzähler haben (vgl. Baroni o.J.) In diesem Sinne zeichnen sich Erzählungen gegenüber anderen Textsorten dadurch aus, dass sie nicht primär Fakten über Ereignisse und Gegenstände einer Textwelt vermitteln wollen, sondern wie diese durch ein Bewusstsein erfahren werden und wie ihnen (emotionale) Relevanz zugeschrieben wird. (Fludernik 2008: 122) Ein der tellability sehr verwandtes und vielleicht etwas präziser umrissenes Konstrukt ist eventfullness (Ereignishaftigkeit). Die Autoren, die es stark machen, bemerken, dass Rezipienten von den meisten, wenn nicht alle narrativen Text-Sorten und Gattungen erwarten, dass sie eine oder mehrere bedeutende Wendungen enthalten (vgl. Hühn 2008: 144). Solche bedeutenden Wendungen seien am treffendsten durch den Begriff Ereignis repräsentiert. Ein Ereignis (engl. event; russ.: sobyitie) wird gemäß der alltagssprachlichen Verwendung als eine besondere Begebenheit verstanden – „something which is not part of everyday routine.― (Schmid 2003: 24) Demnach ist nicht jede Zustandsveränderung ein Ereignis. Ein Ereignis ist eine Zustandsveränderung, die bestimmte Bedingungen erfüllen muss. Schmid (2003) nennt insgesamt sieben solcher Bedingungen – zwei absolute Grundvoraussetzungen und fünf weitere Merkmale, die mehr oder weniger stark ausgeprägt vorliegen können und so den Grad der Ereignishaftigkeit bestimmen. Die Grundvoraussetzungen sind erfüllt, wenn eine Zustandsveränderung sowohl faktual (sie ereignet sich tatsächlich und wird nicht bloß geträumt oder gewünscht) als auch resultativ ist (sie wird im Rahmen der Erzählung abgeschlossen und nicht bloß angefangen oder versucht). Als Zusatzbedingungen listet er Relevanz, Unvorhersehbarkeit, Dauerhaftigkeit, Irreversibilität und Singularität der Zustandsveränderungen auf. Dosiert Gabe von Informationen Edward Branigan stellt fest, dass Narration nur durch die Ungleichheit von Wissen überhaupt möglich sei (vgl. Branigan 1992). Die latente Annahme dieser Ungleichheit schwingt zwar in den meisten Ansätzen mit, die die Vermitteltheit von Erzählungen thematisieren. Einige Ansätze stellen sie aber besonders heraus, indem sie annehmen, dass es wesentlich für den 49 Erzählen in der Narratologie narrativen Modus ist, dass dieses Wissensgefälle gegenüber dem Rezipienten betont wird. So drückt sich in den Augen einiger Theoretiker die Selektionsleistung narrativer Texte gerade dadurch aus, dass interessante oder relevante Informationen nicht mitgeteilt werden. Relative Prominenz haben in diesem Zusammenhang Roland Barthes Strukturale Analyse von Erzählungen (im Original zuerst 1966) und die darauf aufbauenden Arbeiten der neoformalistischen Filmanalyse (vor allem Bordwell 1985; Thompson 1995) erlangt, die narrative Texte darauf hin untersuchen, wie sie mit diesem Wissensgefälle spielen. Um das, was den Vermittlungsmodus einer Erzählung besonders macht, überhaupt formulieren zu können, setzten Barthes und die Neo-Formalisten – ganz im Sinne Genettes – auf inhaltlicher Ebene zunächst einmal eine Geschichte voraus. Um eine Erzählung zu konstituieren, muss mit der Geschichte im Text aber mehr passieren, als dass die wichtigsten Ereignisse daraus ausgewählt und kausal verbunden präsentiert werden. Eine solche Kausalkette ist zwar wichtig, da ohne sie die logischen Verknüpfungen zwischen den einzelnen Handlungen nicht verstanden werden können. Dieser Aspekt der Erzählung, den Barthes den proairetischen Code (vgl. Barthes 1988: 146f) nennt, muss aber noch durch einen zweiten, den hermeneutischen Code ergänzt werden. Der hermeneutische Code „besteht aus einer Reihe von Rätseln, die die Erzählung aufwirft, indem sie Informationen zurückhält― (Thompson 1995: 56). Diese unterschiedlichen Abb. 4: Neo-formalistisches Modell narrativer Vermittlung Funktionen des proairetischen und hermeneutischen Aspekts einer Erzählung und ihre abwechselnde Aktualisierung sind für den Vorwärtsdrang der Erzählung verantwortlich: „Ohne die Wechselbeziehung zwischen Kausalität und Rätsel wären die Ereignisse lediglich aneinandergereiht und würden einen Sinn für Dynamik vermissen lassen―. (ebd.) Barthes spricht auch von einem „Selbsterhaltungstrieb der Erzählung― (Barthes 1988: 147), der darin besteht, dass selbst wenn Informationen gegeben werden, diese nicht zur (vollständigen) Auflösung der Geschichte beitragen. Bis zu einem gewissen Punkt wählt eine Erzählung immer das Ereignis oder den Ausgang einer Handlung, der die Geschichte vorantreibt, anstatt sie zu beenden. Die tatsächlich relevanten Informationen sind nur sehr spärlich und mit Bedacht gesät. Dieser Prozess, durch den der Text Fabelinformationen in einer bestimmten Reihenfolge gibt oder zurückhält, ist nun die Narration (vgl. Thompson 1995: 58). Narrative Rezeption wird von Barthes und den Neo-Formalisten damit als eine Art Problem-Lösen verstanden, bei der der Rezipient immer wieder angeleitet wird, Hypothesen zur Geschichte zu bilden und auf deren Bestätigung wartet. Durch die abwechselnde Aktualisierung des hermeneutischen und des proairetischen Codes erhält die Narration 50 Erzählen in der Narratologie ein permanentes Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Text und Rezipient aufrecht (vgl. Chatman 1980: 48). Ein anderer, viel beachteter Ansatz, der in ähnlicher Weise das Spiel mit Wissen und eine wohl-dosierte Gabe von Informationen in den Mittelpunkt stellt, ist die Rezeptions- bzw. Wirkungsästhetik Iserscher Prägung. Iser und seine Schüler gehen davon aus, dass die Bedeutung eines Textes erst im Akt des Lesens erzeugt wird. Diese Bedeutung ist zwar zum Teil vom Material des Textes vorgezeichnet, hängt aber auch stark vom Bewusstsein eines tatsächlichen (empirischen) Lesers ab. Der wichtigste Begriff, den Iser dabei einführt, ist der der Leerstelle. Die Leerstellte ist dem Konstrukt der ‚Unbestimmtheit‗ entlehnt, das die phänomenologische Philosophie Ingardens und Husserls benutzt, um die Gegebenheitsweise und die Wirkung von Kunstwerken zu erklären. Kunstwerke sind demnach bestimmt und unbestimmt zugleich: Sie haben zwar materielle Eigenschaften, sind also nicht nur gedachte Gegenstände, diese Eigenschaften reichen aber nicht aus, um den Gegenstand vollkommen zu verstehen. Aus der Sicht des Rezipienten hat ein mit künstlerischer Intention gestalteter Gegenstand quasi so etwas wie Lücken oder Löcher in seiner Bedeutung, die durch Interpretation beseitigt werden müssen. Das Kunstwerk ist also nicht mit dem Gegenstand, durch den es repräsentiert wird, identisch, sondern entsteht erst im Bewusstsein eines denkenden Subjekts, das seine Unbestimmtheit wahrnimmt und überwindet. Iser überträgt viele dieser Grundsätze nun speziell auf literarische Texte: So wie sich Kunstwerke durch ihre Unbestimmtheit von „normalen― Gegenständen unterscheiden, unterscheiden sich für Iser literarische Texte 18 durch Leerstellen von Gebrauchstexten. Anders als Ingardens Unbestimmtheit, sieht Iser in einer Leerstelle aber keineswegs ein Manko, das dem Rezipienten bewusst wird und das er beseitigen will, sie ist vielmehr überhaupt erst eine Art Katalysator für seine produktive Tätigkeit. (Vgl. Peters 2010: 318) In dieser Struktur hält der Text ein Beteiligungsangebot an seine Leser bereit. Sinkt der Leerstellenbetrag in einem fiktionalen Text, dann gerät er in Gefahr, seine Leser zu langweilen, da er sie mit einem steigenden Maß an Bestimmtheit - sei dieses nun ideologisch oder utopisch orientiert — konfrontiert. Erst die Leerstellen gewähren einen Anteil am Mitvollzug und an der Sinnkonstitution des Geschehens.― (Iser 1974: 16) Der Rezipient setzt ein Geschehen – man könnte hier auch sagen: eine Geschichte – erst dann auch im Kopf als Geschehen zusammen, wenn er motiviert genug ist, den Mitvollzug von Sinn zu leisten. Diese Motivation ist hier wiederum nur dann sichergestellt, wenn der Text den Leser nicht unterfordert, ihm also nicht alle relevanten Informationen unmittelbar zugesteht, sondern permanent dazu anhält, Hypothesen zu bilden und selbst Sinn zu konstituieren. 18 Wie in Kapitel 4.1 bereits kurz erwähnt wurde, ist Isers Ansatz kein ausschließlich narratologischer. Iser gibt vor, ganz allgemein literarische Texte erklären zu wollen. Da sich aber einerseits viele Aussagen ganz explizit auf Romane oder (etwas allgemeiner) Texte, die ein Geschehen repräsentieren, beziehen, und andererseits viele andere, kleinere Äußerungen unvereinbar mit z.B. lyrischen oder dramatischen Texten erscheinen, hat die Wirkungsästhetik besonders stark auf die Narratologie gewirkt und wird deshalb hier als quasinarratologische Literaturtheorie behandelt. 51 Erzählen in der Narratologie So interessant die von der Wirkungsästhetik vorgebrachten Ideen auch sind, so unvollständig sind sie aber leider auch geblieben. Dieser literaturwissenschaftliche Zweig hat im Grunde nichts anderes getan, als Forschungshypothesen aufzustellen. Den entscheidenden zweiten Schritt, einzelne dieser Hypothesen zu prüfen, ist aber kaum ein Wissenschaftler gegangen – weder auf theoretischem Weg noch auf empirischem. Einige Autoren sind sogar der Ansicht, dass die Rezeptionsästhetik – will man etwas darüber erfahren, wie Leser Texte verarbeiten – für mehr Verwirrung sorgt, als dass sie nutzt, da mittlerweile zu viele divergierende Hypothesen ungetestet nebeneinanderstehen (vgl. Bortolussi/Dixon 2003: 5). Als ein Grund dafür wird neben zu starken argumentativen Inkonsistenzen und einem recht verwirrenden „Theorien-Zapping― (Richter 2003: 521), das Iser betrieben hat auch ausdrücklich die fehlende Operationalisierbarkeit der zu abstrakt formulierten Konstrukte genannt (vgl. ebd.). Am Ende dieses Absatzes steht damit ein Problem, das so ähnlich schon von der Argumentation zur Diegese und zum Erzähler bekannt ist und das Genette mit einer recht hübschen Formulierung umschreibt: „Die Erzählung sagt immer weniger, als sie weiß, aber sie läßt einen oft mehr wissen, als sie sagt.― (Genette 1998: 140) Weniger hübsch, in eigenen Worten formuliert heißt das, dass es in narrativen Texten leider nicht einfach nur entweder Informationen gibt, die mitgeteilt werden oder Informationen, die vorenthalten werden, sondern dass es dazwischen noch eine Art Grauzone gibt – die sogenannten impliziten Informationen. Implizite Informationen sind solche, die durch keine Proposition des Textes repräsentiert werden, von denen man aber annimmt, dass sie vom durchschnittlichen Rezipienten ohne Probleme inferiert werden können. Um zu erklären, wie diese Inferenzmechanismen funktionieren, genügt den meisten Theoretikern ein kurzer Verweis auf das Alltagswissen, aus dem der durchschnittliche Rezipient schöpfen könne. Regeln dafür, wie man voraussagen kann, welche konkreten Wissensinhalte man bei welchen Rezipientengruppen erwarten kann, und aus denen man dann genauere Formalisierungen für eine Unterscheidung von inferierbaren und nicht-inferierbaren Informationen ableiten kann, werden leider nicht formuliert. Nur wenige Narratologen geben offen zu, wie wenig Erkenntnis mit dem allgemeinen Verweis auf Wissen gewonnen ist und dass sie hier im Grunde an die Grenzen ihrer Disziplin stoßen, die nur geringes Verständnis von dem hat, was tatsächlich bei der Rezeption narrativer Texte im Kopf passiert (vgl. z.B. Abbott 2009: 91). 52 5. Erzählen in den kognitiven Wissenschaften Viele der im vorherigen Kapitel angesprochenen Probleme verdeutlichen, was sich schon in einigen in Kapitel 3.2 vorgestellten Ansätzen angedeutet hat: Eine aus unserer – kommunikationswissenschaftlichen – Sicht zufriedenstellende Erfassung des Gesamtphänomens Narration überschreitet offensichtlich die Grenzen, die der Narratologie durch ihre Methoden und Methodologie gesetzt sind. Deswegen soll der Suchradius hier noch ein Stück erweitert werden und geprüft werden, wie der Gegenstand in den kognitiven Wissenschaften 19 behandelt wird. Zunächst wird dazu mit dem Mental Situation Model-Ansatz der Prozess narrativen Verstehens modelliert und untersucht, wie sich diese Art der Informationsverarbeitung von anderen unterscheidet. Im zweiten Abschnitt wird die Aufmerksamkeit wieder auf Forschungsarbeiten gelenkt, die an den diskursiven Strukturen ansetzen und entscheiden helfen sollen, durch welche Merkmale sich ein narratives Medienangebot auszeichnet. Dabei werden mit den sogenannten Story Grammars und den Story Points zwei klassische, aber unmittelbar miteinander konkurrierende Auffassungen vorgestellt und gegeneinander abgewogen. 5.1 Narratives Verstehen In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Narration ist bereits angeklungen, dass zwischen einer Erzählung auf dem Papier und der Erzählung im Kopf des Rezipienten unterschieden werden kann (und soll). Die Narratologie hat sich vor allem der Textseite gewidmet und den Rezipienten mehr oder weniger ausgeklammert. Kognitionswissenschaftliche Ansätze kehren die Perspektive um und nehmen vor allem letzteren in den Blick: Sie legen den Schwerpunkt weniger darauf, zu klären, welche textuellen Gegenstände Erzählungen sind, als darauf, nachzuzeichnen, welche mentalen Operationen Geschichten entstehen lassen. In diesem Sinne ist die Geschichte nicht im Text. Sie existiert erst dann, wenn sogenannte „narrative cues― (Bordwell 1985: 49) aus dem Text aufgenommen und in spezifischer Weise verarbeitet werden. Einer der derzeit meist verbreitetesten Vorschläge, wie diese Prozesse nachgezeichnet werden können, besteht darin, anzunehmen, dass eine Geschichte in einem Mental Situation Model (MSM) repräsentiert wird (vgl. z.B. Rinck 2000). Der Grundgedanke dabei ist, dass ein Rezipient aktiv an der Konstruktion der Geschichte beteiligt ist, indem er die aus dem Medienangebot gesammelten Informationen zu einer Art „Bild― der Gesamtsituation des Geschilderten verdichtet. In dieser Vorstellung entspricht die Handlung einer Geschichte quasi einer Aneinanderreihung von aufeinander bezogenen Momentaufnahmen, die sich zu gleichen Teilen aus aktuell eingehenden Informationen und bereits vorhandenem Wissen ergeben. Ein Text kann aber nicht alle Details explizit und vor allem nicht gleichzeitig nennen, die notwendig 19 Unter dieser Sammelbezeichnung werden in diesem Kapitel Ansätze aus der Psychologie, der Forschung zu künstlicher Intelligenz und aus der kognitiv und pragmatisch ausgerichteten Linguistik herangezogen. 53 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften sind, um eine kohärente Geschichte zu zeichnen. Vorhandenes Wissen umfasst deswegen nicht nur die aus dem Text gesammelten Informationen, die noch im Arbeits- bzw. Kurzzeitgedächtnis aktiviert sind, sondern auch Bausteine aus dem Langzeitgedächtnis – z.B. kognitive Schemata20 (vgl. Rapaport/Shapiro 1995). Diese Schemata bilden sowohl Allgemeinwissen als auch spezifischere Inhalte wie Wissen über Genres oder Erzählkonventionen ab. Die Gesamtsituation, durch die die Geschichte repräsentiert wird, beginnt deshalb mit sehr allgemeinen, individuellen und vagen Vorstellungen und wird konturierter, je mehr Informationen aus dem Text einfließen, die mit dem bestehenden Wissensinhalten der Rezipienten zusammenpassen. Grundsätzlich besteht keine Einschränkung hinsichtlich der Art der Informationen, die in einem MSM repräsentiert werden können. Die beiden häufigst beschriebenen Komponenten von Situationsmodellen sind aber wohl die Story World- und Charakter-Modelle. Ein Story World-Modell umfasst das, was man allgemein als ‚Setting‗ bezeichnet: Raum und Zeit des Geschilderten. Für die mentale Repräsentation des Raums wird dabei der im Zusammenhang Presence bereits aufgetauchte Begriff des Spatial Situation Modells gebraucht (z.B. Rinck 1996 et al.). Dieses Modell wird dabei (ziemlich identisch zu Ryans „princeple of minimal departure―) zunächst nach der Annahme aufgebaut, die Textwelt entspräche in allen Eigenschaften der realen Welt. Nach und nach konturiert sich die Welt durch Informationen dann aber individueller, sei es, weil konkrete Eigenschaften genannt werden oder weil Parallelen zu bereits Bekanntem entdeckt werden. So kann es in einem Western-Roman beispielsweise völlig ausreichen, dass der Begriff ‚Saloon‗ fällt, wenn aus vorherigen Kontakten mit dem Genre hinreichend bekannt ist, was einen Saloon hier im Allgemeinen ausmacht21. Auf diese Weise primen ein paar Begriffe ein ganzes, bereits fertig konturiertes Setting. Das zweite Submodell, das konstruiert werden muss, ist das Charaktermodell (vgl. Rapp/Gerrig/Prentice 2001). Charakter-Modelle nehmen ebenfalls Bezug auf bestehendes Wissen, oft derart, dass die Eigenschaften von handelnden Figuren von Stereotypen 22 abgeleitet werden (Graesser et al.: 2002). Ein Charakter-Model enthält die Wesenszüge, Motive und Ziele dieser Figuren. Um das Situationsmodell permanent adäquat aktualisieren zu können, müssen Rezipienten diese Ziele in einer Art mentaler Liste speichern (vgl. Bower/Morrow 1990: 45). Am besten stellt man sich daher einen Charakter im mentalen Modell als eine Art Spielstein vor, der Zug um Zug (Ereignis für Ereignis) entweder näher ans Ziel herangerückt werden kann, bleibt, wo er ist, oder sich sogar noch weiter davon entfernt. Die Mechanismen, die ein Rezipient dabei anwendet um Ziele und Ereignisse richtig in Beziehung zu setzen, sind im 20 Schemata können als strukturierte Cluster von Konzepten definiert werden, die allgemeines Wissen voraussetzen und benutzt werden um Ereignisse, Wahrnehmungen, Situationen oder Objekte mental zu repräsentieren (vgl. Matthes 2004: 546). 21 So kann z.B. Kenntnis über die obligatorischen Schwingtüren erklären helfen, warum ein Saloon bei Beginn einer Schießerei binnen Sekunden menschenleer ist. 22 Vereinfacht verstanden als Schemata für Personengruppen 54 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften Großen und Ganzen dieselben, die benutzt werden, um soziale Situationen in unserem Alltag mit Sinn zu versehen (vgl. ebd.: 48). Zusammengefasst, kann man sagen, dass ein mentales Model einer Geschichte entsteht, wenn ein Rezipient fortwährend Textinformationen und Wissensbestände abgleicht und erfolgreich zu Bedeutungseinheiten verknüpft, die Orte, Zeiten, Figuren, Pläne und Probleme repräsentieren. Mit diesem Modell lässt sich narratives Verstehen auch von anderen Informationsverarbeitungsprozessen unterscheiden. Denn nach dieser Vorstellung wird zwar ähnlich wie in allgemeinen Textverarbeitungsmodellen davon ausgegangen, dass eine Mikro- und eine Makrostruktur miteinander interagieren. Die Makrostruktur hat in dieser Vorstellung aber keinen propositionalen Charakter, sondern ähnelt sehr stark der Repräsentation einer selbst gemachten Erfahrung, eben als hätte man eine Situation erlebt (vgl. Wünsch 2006: 121).23 Bower spricht bildlich von einer Art kleiner Abb. 5 : Modell narrativer Informationsverarbeitung Theaterbühne ihm Kopf des Rezipienten. „The bare text is somewhat like a play scripts that the reader uses like a theater rector to construct in imagination stage a full production.‖ (Bower/Morrow 1990: 44) Der empirisch am intensivsten überprüfte Aspekt des Modells ist die Repräsentation von räumlichen, narrativen Informationen. Dabei ist die Frage vor allem, wie viel und welche textuellen Hinweise ein Rezipient aktiv verarbeitet und in sein SSM aufnimmt. Allerdings deuten die bis jetzt gesammelten Erkenntnisse in sehr unterschiedliche Richtungen. So konnten einige Autoren zwar nachweisen, dass eine ausgesprochen große Menge räumlicher Informationen ins Situationsmodel aufgenommen wird (z.B. Haenggi et al. 1995) und diese zur weiteren Textverarbeitung genutzt werden (Morrow/Bower/Greenspan 1989). Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass räumliche Information sehr selektiv verarbeitet wird und es Variablen gibt, die das Zustandekommen eines SSM generell negativ beeinflussen. So konnte z.B. nachgewiesen werden, dass Leser ihre Aufmerksamkeit bei der räumlichen Wahrnehmung am Protagonisten einer Erzählung ausrichten. Gegenstände in seiner Nähe sind mental besser zugänglich (d.h. 23 Einen Beleg dafür sehen Britten und Gülgöz (1991) und Graesser (1981) jeweils darin, dass sie nachweisen konnten, dass bei der Lektüre narrativer Texte mehr Inferenzen gebildet werden als bei der Lektüre von Informationstexten; es geht also nicht darum, Fakten zu sammeln, sondern eigenes Wissen/Erfahrung zu aktivieren. 55 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften können leichter erinnert werden) als weit entfernte (vgl. Rinck et al. 1996). Levine und Klein (2001) konnten außerdem zeigen, dass Szenenwechsel das räumliche Model beeinträchtigen. Darüber hinaus kann es als bestätigt gelten, dass nicht alle Rezipientengruppen gleich fähig und motiviert sind (räumliche) Situationsmodelle zu entwerfen, Persönlichkeitsmerkmale also entscheidenden Einfluss haben (vgl. z.B. Rinck 2000). Andere Autoren bezweifeln vollständig, dass dem SSM bei der Lektüre narrativer Texte eine große Bedeutung beigemessen werden muss. So kritisieren Zwaan und Oostendorp (1993), dass die meisten Versuche, die mit ihren Ergebnisse die Annahme eines detaillierten SSM stützen, wenig mit natürlichen Lesesituationen zu tun haben (die Experimentaltexte seinen überdurchschnittlich reich an räumlichen Informationen bzw. die Versuchspersonen werden so instruiert, dass ihre Aufmerksamkeit gezielt auf räumliche Aspekte gelenkt wird). In echten narrativen Texten seien räumliche Informationen eher rar (vgl. Zwaan/Oostendorp 1993: 127). Außerdem nehmen sie an, dass Leser ökonomisch lesen und ihr Situation Model anhand der Informationen aufbauen, die zum Verständnis eines narrativen Textes am Wichtigsten sind. Das sei das Netzwerk kausaler Beziehungen. Die Forscher selbst konnten nachweisen, dass Personen, die keine spezielle Leseanweisung bekommen haben, schlechter bei nachträglichen Fragen zum Raum der Erzählung abschneiden, als Personen, die gezielt auf räumliche Hinweise achten sollten. Daraus schlossen sie, dass Leser unter normalen Bedingungen eher unmotiviert sind, ein Spatial Situation Model aufzubauen. (vgl. Zwaan/Oostendorp 1993: 125) Räumliche Verarbeitung sei demnach kein wichtiger Aspekt narrativen Verstehens (vgl. ebd.: 140). Es muss allerdings auch darauf hingewiesen werden, dass alle diese Studien versuchen, dass Spatial Situation Model eines Rezipienten zu erfassen, indem sie abfragen, wie gut Textinformation erinnert wird. Damit bleiben sie weit hinter den eigentlichen Annahmen des Mental Situation Models zurück. Denn sie berücksichtigen eben nicht, ob und wie vielleicht räumlichen Informationen (bei einzelnen Rezipienten sehr unterschiedlich) aus bereits vorhandenen kognitiven Schemata aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden, um eine Textwelt im Kopf des Lesers entstehen zulassen. So ist es immer noch möglich, narratives Verstehen als hochgradig „visuellen― Prozess zu modellieren – nur entsteht das SSM eben nicht durch eine 1-zu-1-Übertragung textueller Informationen. Insgesamt können die Zusammenhänge zwischen Textinformationen, Schemata und mentaler räumlicher Repräsentation von Textwelten damit noch als unentdeckt gelten (vgl. Bortolussi/Dixon 2003: 181). 5.2 Story Grammars vs. Story Points Trotz der Kontroversen zu Einzelaspekten hat der MSM-Ansatz eine erste Vorstellung davon verschafft, was die Verarbeitung narrativer Informationen besonders macht. Was das Modell aber leider nicht mehr dezidiert in den Blick nimmt, sind diese narrativen Informationen selbst. Die angesprochenen „narrative cues― bleiben vorerst unbestimmt. 56 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften Dennoch besteht auch in den kognitiven Wissenschaften die Annahme, dass nicht jeder beliebig strukturierte Text diese Cues liefert, sondern er in irgendeiner Weise spezifiziert sein muss. Um zu betonen, dass man aber auch diese Merkmale aus der Perspektive des Rezipienten betrachtet, wird in den kognitiven Wissenschaften oft der Begriff des Erzählschemas benutzt. Ein oder besser das Erzählschema – könnte man sagen – ist die (allgemeine – ob bewusste oder unbewusste) Vorstellung von der Gestalt, die ein Gegenstand haben muss, wenn er eine Erzählung ist. Nur wenn ein Gegenstand in dieses Schema passt, wird er als Erzählung klassifiziert und kann den oben beschriebenen Informationsverarbeitungsprozess anstoßen. Die Tatsache, dass dem Erzählschema in einem relativ jungen Sammelband (Krämer et al. 2008) zu den „Schlüsselbegriffen― der Medienpsychologie sogar ein eigener Beitrag gewidmet wird, verleitet zu der Annahme, dass es sich dabei auch um einen Forschungsgegenstand handle, über den hinreichend gesichertes Wissen vorliegt. Dem ist nicht so. Aus medienpsychologischer Sicht stellt sich die Frage, welchen Einfluss diese Organisationsprinzipien auf die kognitive und affektive Verarbeitung der Medieninhalte haben - ob sie also eine psychologische Validität besitzen - und ob sich Leser oder Zuschauer dieser Organisationsprinzipien bewusst sind - ob sie also eine psychologische Realität besitzen. (Schwan 2008: 118) Insgesamt ist die gegenwärtige Forschungslage aber sowohl in Hinblick auf Validität als auch Realität eher dünn. Vor allem gibt es leider kaum kognitionspsychologische Forschung, die an narratologische Überlegungen anknüpft und so konkrete Operationalisierungsvorschläge für die im vorangegangenen Kapitel erarbeiteten Merkmalskandidaten liefern könnte 24. Ein klassischer kognitionswissenschaftlicher Ansatz, der zunächst einmal die „psychologische Realität― in Angriff nimmt und versucht, die textuellen Merkmale zu bestimmen, die dem Erzählschema zugrunde liegen, sind die sogenannten Story Grammars. Verfechter von Story Grammars gehen davon aus, dass Geschichten Objekte sind, denen eine linguistische Form zugrunde liegt und die sich daher analog zu anderen linguistischen Gegenständen wie Sätzen oder kohärenten Texten beschreiben lassen. Den ersten Vorschlag zu Story Grammars machte der Linguist George Lakoff (1972), der damit Propps Strukturanalyse zu russischen Volksmärchen aufgriff. Es folgten mehrere weitere grobe Skizzen anderer Autoren, bis Rumelhart (1975) die erste eigentliche Grammatik mit ausformulierten Regeln vorstellte. Sein Ansatz ist auf breite Anhängerschaft gestoßen, sodass relativ schnell eine Vielzahl mehr oder weniger stark voneinander abweichender Grammatiken nebeneinander existierte (z.B. Thorndyke 1977, Johnson-Mandler 1980, Schank 1982). Möchte man die sehr komplexe Terminologie nicht übernehmen, die die Story-Grammar-Vertreter in Teilen der generativen Transformationsgrammatik entlehnen, lässt sich vereinfachend sagen, dass diese Story Grammars Regeln dafür aufstellen, welche Elemente eine Geschichte beinhalten muss, wie sich diese Elemente auf 24 Vgl. hierzu Psychonarratology von Bortolussi und Dixon (2003): Das Werk trägt recht flächendeckend die narratologischen Fragestellungen zusammen, die bislang mit empirischen Mitteln bearbeitet wurden, weist aber auch auf den allgemein sehr defizitären Stand der Forschung in diesem Bereich hin. 57 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften verschiedene Ebenen aggregieren lassen (wie man sie noch weiter zerlegt und zu höheren Einheiten zusammensetzt) und vor allem in welcher Reihenfolge diese Elemente kombiniert werden dürfen. So formalisieren z.B. Johnson und Mandler (1980) eine Geschichte wie folgt: Abb. 5: „Rewrite rules“ für die Struktur einfacher Geschichten Quelle: Mandler 1980: 59 Die im Hinblick auf das Erzählschema der Rezipienten wichtigste Annahme, die in diesem Regelsystem steckt, ist, dass jede Geschichte nach Johnson und Mandler eine fixe Struktur abbildet, die (1) einen Anfang erkennen lassen muss, in dem sie das Setting etabliert, (2) eine Entwicklung nachzeichnet, die wiederum durch Ziele der Figuren und Versuche, diese zu erreichen gekennzeichnet ist, (3) diese Entwicklung mit einem Ergebnis/einer Auflösung abschließt und (4) ein klar zu erkennendes Ende aufweist. Als Bestätigung solcher Story-Grammar-Modells werden z.B. immer wieder Thorndykes Circle-Island-Experimente (1977) gewertet, womit er u.a. zeigen konnte, dass Geschichten besser erinnert werden, wenn die Ereignisse in der Reihenfolge präsentiert werden, die die Grammatik vorgibt, als wenn man sie per Zufall arrangiert. Andere Studien können darüber hinaus nachweisen, dass der normalen Chronologie widersprechende Passagen langsamer gelesen werden (vgl. Mandler/Goodman 1982) oder sogar, dass Leser in ihrer Erinnerung Komponenten zu Texten hinzufügen, um das Struktur-Schema zu erfüllen, auch wenn diese im Stimulus-Text gar nicht enthalten waren (Mandler 1978). Der Ansatz der Story Grammars hat zwar bis heute viele Anhänger. Er wird aber auch immer wieder kritisiert. Die wohl umfassendste Kritik, die relativ unmittelbar auf die ersten Story Grammars erfolgte, ist die von Robert Wilensky vorgebrachte Theory of Story Points. Wilensky wendet sich gegen die Vorstellung, Geschichten mit Sätzen vergleichen und den Mitteln der Linguistik25 beschreiben können. Als Beleg führt er an, dass man zwei unterschied- 25 Wilensky selbst ist kein Linguist sondern erforscht vor allem künstliche Intelligenz. Daran mag es liegen, dass er den Begriff Linguistik recht unsauber benutzt. Er meint wohl eher Grammatik als Linguistik ganz allgemein, denn der semio-pragmatische Ansatz, den er selbst verfolgt, ist strenggenommen ebenfalls ein linguistischer. 58 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften liche linguistische Strukturen (z.B. John fuhr mit dem Zug heim. und John nahm den Zug, um nach Hause zu fahren.) nie als denselben Satz bezeichnen würde. Ein und dieselbe Geschichte kann aber sehr wohl durch unterschiedliche sprachliche Formen ausgedrückt werden und wird trotzdem als dieselbe Geschichte erkannt (vgl. Wilensky 1983: 581). Daraus schließt Wilensky, dass das, was eine Geschichte ausmacht, nicht in ihrer grammatischen Struktur, sondern in ihrem Inhalt, ihrer Bedeutung, zu finden sein muss. Eben diese Bedeutung fassen Story Grammars aber nicht. Die bisherige kognitionspsychologische Forschung hätte daher im Grunde zu großen Teilen keine Geschichten untersucht, sondern lediglich kohärente Texte (vgl. Wilensky 1982: 345). Den Unterschied illustriert er an in etwa folgenden Beispielen: 1) John war in Mary verliebt. Er bat sie, ihn zu heiraten. Sie sagte ‚ja‗ und kurze Zeit später waren sie verheiratet. Sie waren sehr glücklich. 2) John war in Mary verliebt. Er bat sie, ihn zu heiraten. Sie sagte ‚ja‗ und kurze Zeit später waren sie verheiratet. Dann traf John Sue, eine neue Arbeitskollegin, und verliebte sich in sie. Beide Abschnitte sind ohne Zweifel zusammenhängende Texte, die im Großen und Ganzen den Regeln der Story Grammars folgen: Sie haben einen Anfang, Figuren mit Plänen und zeichnen eine Entwicklung nach, indem die Ziele durch Handlungen realisiert werden. Darüber hinaus findet die Entwicklung beide Male einen (vorläufigen) Abschluss, indem das Ziel erreicht wird. Dennoch unterscheiden sich beide Texte hinsichtlich ihrer Story-Intuition fundamental. Kein Rezipient würde – so Wilensky – vom ersten Abschnitt als einer Geschichte sprechen; er beschreibe allenfalls das Setting einer Geschichte. Der zweite Text ist zwar auch vielleicht noch keine vollständige Geschichte, er könnte aber zumindest ein vielversprechender Anfang einer Geschichte sein (vgl. Wilensky 1982: 351f). Warum? Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Absätzen sei, dass der zweite als einziger einen sogenannten Point vorweisen kann (vgl. ebd. 1982: 352)26. Den Begriff entlehnt Wilensky aus den Forschungsarbeiten von William Labov. In seiner Studie Language in the Inner City vergleicht Labov die Sprachgewohnheiten afroamerikanischer Bewohner von South-Central Harlem mit denen weißer Angehöriger der Mittelschicht. Das mittlerweile weit über die Grenzen der Linguistik berühmt gewordene Kapitel The Transformation of Experience in Narrative Syntax ist dabei der Frage gewidmet, wie mündliche Erzählungen aufgebaut sind. Die wichtigste Entdeckung, die Labov dabei macht, ist, dass jede pragmatisch zufriedenstellende Erzählung eine Evaluation beinhalten muss: Beginnings, middles, and ends of narratives have been analyzed in many accounts of folklore or narrative. But there is one important aspect of narrative which has not been discussed— perhaps the most, important element in addition to the basic narrative clause. That is' what we 26 Als sehr interessanten Beleg für seine These schildert Wilensky, dessen eigentliches Forschungsfeld die künstliche Intelligenz ist, dass es ihm und seinen Kollegen im Rahmen des BAIR (Berkeley Artificial Intelligence Research Project) zwar gelungen ist, das Programm PAM (Plan Applier Mechanism) zu entwickeln, das nach den Regeln der Story Grammars in der Lage ist, Texte vom Typ 1 zu verstehen und zu bilden, es aber bislang noch nicht gelungen ist, PAM Texte vom Typ 2 erzeugen zu lassen. Computer können also zwar kohärente Texte verstehen und bilden, aber keine Geschichten erzählen. 59 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften term the evaluation of the narrative: the means used by the narrator to indicate the point of the narrative, its raison d‘être: why it was told, and what the narrator is getting at. (Labov 1976: 366) Eine Erzählung muss also nicht nur eine Handlung schildern, es muss gleichzeitig auch gelingen, den Grund zu vermitteln, warum überhaupt erzählt wird27. Erfasst der Rezipient die Evaluation, erfasst er den Grund und verarbeitet den Text als Geschichte. Enthält ein Text keinen Point, oder evaluiert der Erzähler ihn zu schwach, ist die Reaktion des Rezipienten stattdessen lediglich „So what?― (vgl. Labov 1976: 366). Einige Points sind von sich aus so stark, dass sie ihre Evaluation im Grunde automatisch beinhalten Most of the narratives cited here concern matters that are always reportable: the danger of death or of physical injury. These matters occupy a high place on an unspoken permanent agenda. Whenever people are speaking, it is relevant to say ‚I just saw a man killed on the street.‗ No one will answer such a remark with ‚So what?‗ If on the other hand someone says, ‚I skidded on the bridge and nearly went off,‗ someone else can say, ‚So what? That happensto me every time I cross it.‗ In other words, if the event becomes common enough, it is no longer a violation of an expected rule of behavior, and it is not reportable.‖ (Labov 1976: 370f) Ist der Point weniger offensichtlich, muss der Erzähler die Evaluationsleistung erbringen und versuchen, ihn zu markieren. Evaluationen können dabei z.B. darin bestehen, dass von der üblichen Wortwahl abgewichen wird oder, dass alternative Handlungen aufgezeigt werden (was wäre passiert, wenn …), sowie in mündlichen Erzählungen durch gestische, mimische und akustische Unterstreichungen. Der Erzähler kann aber auch ganz einfach erklären, warum etwas von Bedeutung ist. Wilensky greift Labovs Gedanken auf und definiert Point wie folgt: „By a point I mean some element that invokes the interest of a reader. The point of a story is what the story seems to be about.‖ (Wilensky 1982: 351f). Als einen typischen Point, der ohne Evaluation auskommt, beschreibt Wilensky die sogenannte human dramatic situation: „A human dramatic situation is a sequence of goal-related events that contains some problem for a character. […] Dramatic situations usually also involve solution components that describe how a problem is resolved.‖ (Wilensky 1982: 354). Auf dieser Vorstellung aufbauend gibt Wilensky ganz konkret Anregungen für empirische Forschung, indem er testbare Hypothesen zu seiner Story Points Theorie aufstellt. Eine Annahme ist z.B., dass Rezipienten in der Lage sind, Texte anhand von Vorhandensein oder Abwesenheit eines Konflikts und der dazugehörigen Auflösung eindeutig entweder als Stories oder Non-Stories zu klassifizieren (vgl. Wilensky 1982: 371). Was Wilenskys Ansatz aber wieder ein bisschen unhandlich macht, ist, dass er, nachdem er diese relativ konkreten Vermutungen äußert, den Begriff des Points wieder weiter ausdehnt: „The notion of a story point goes beyond the idea of the simple dramatic situations outlined in 27 Die Parallelen zum bereits vorgestellten Konzept der Tellability sind dabei nicht zufällig. Labovs Idee des Point ist tatsächlich auch der Ausgangspunkt, von dem aus die Narratologie ihre Vorstellungen von Tellability und Eventfullness entwickelt hat und gilt aus Sicht der Literaturwissenschaft auch heute noch als der bekannteste und bedeutendste sozio- bzw. pragmalinguistische Beitrag zur Erzählforschung (vgl. Martinez/Scheffel 2009: 145). 60 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften this chapter. Points are those things that generate interest, and therefore should also involve constructs such as enigma, novelty, tragedy, and humor.― (Wilensky 1982: 372). Dadurch bekommt das Konstrukt insgesamt leider sehr schwammige Konturen. Und so stellt Wendy Lehnert im Anschluss an ihre Wilensky-Lektüre resigniert fest: „We are told, ‚points are defined as those aspects of a story that arouse the interest of the reader,‘ but we never see any general application of what's interesting. Unfortunately that's the tough part.‖ (Lehnert 1983: 602) Die bedeutendste empirische Bestätigung der Story Point Theory findet sich in den in Kapitel 2.3.1 bereits vorgestellten Arbeiten von Brewer und Kollegen, auf die deswegen an dieser Stelle noch einmal eingegangen werden soll – allerdings dieses Mal unter dem Aspekt des Erzählschemas. Brewer kritisiert die Forschung der Story Grammars vor allem dafür, dass sie annimmt, dass die Geschichten am prototypischsten sind, die am besten verstanden werden, weil sie der von der Grammatik vorgegebenen Ziel-Struktur folgen. Vor allem der Erfolg von Mystery-Romanen oder ähnlichen Genres und ihre intuitive Einordnung in die Klasse der Geschichte wäre demnach äußerst paradox. Denn diese Geschichten beginnen quasi am Ende der Ziel-Struktur und wären somit hochgradig ‚ungrammatisch‗ (vgl. Brewer/Lichtenstein 1982: 479). Ein bisschen anders als Wilensky folgern Brewer und Lichtenstein daraus aber nicht, dass das Wesen einer Geschichte einer spezifischen Konstellation von discourse (der reinen Textstruktur) und discourse force (der Textintention). Geschichten sind für sie eine Subklasse narrativer Diskurse28, deren primäres Interesse es ist, zu unterhalten. Ein Nachrichtenbeitrag wäre z.B. auch ein narrativer Diskurs, aber eben keine Geschichte, da seine primäre Absicht ist, zu informieren (vgl. Brewer 1980; Brewer/Lichtenstein 1982). Brewer greift dabei das Konstrukt des Points auf und entwickelt es aufbauend auf den erregungspsychologischen Arbeiten von Berlyne (1971) weiter. Er folgert daraus, dass Rezipienten vor allem Texte unterhaltsam finden, die so organisiert sind, dass sie entweder Überraschung, Neugier oder Spannung (inkl. der obligatorischen Auflösung dieses Zustandes) produzieren (vgl. Brewer 1985: 170ff)29. Bei der empirischen Überprüfung seiner Annahmen operationalisiert er u.a. im Grunde auch die von Wilensky vorformulierte Hypothese. Denn das initiating event wurde jeweils mit Bedacht so gewählt, dass es möglichst bedeutsam/folgenreich war (z.B. eine Bombe unter einem Auto oder ein Tsunami-Welle die auf eine Insel zurast), was sich in etwa mit der „human dramatic situation― deckt. Spannungs-, Neugierund Überraschungs-Strukturen haben also auf jeden Fall einen Point. Gleichzeitig wurde zu 28 Verstanden als Diskurse, die kausal verknüpfte Vorgänge in der Zeit schildern. Brewer versucht dabei ganz explizit, dem Missverständnis vorzubeugen, dass man aus der Theorie folgern müsse, dass Geschichten nur als Geschichten wahrgenommen werden, wenn sie tatsächlich Unterhaltung auslösen. Brewer ist durchaus der Ansicht, dass man einen Gegenstand als Geschichte identifizieren kann ohne ihn zu mögen. Denn die Story-Intuitionen seien anders als das Unterhaltungserleben nicht direkt an den produzierten Affekt gebunden. Vielmehr entstehen die Intuitionen als eine Art Meta-Affekte: Der Rezipient registriert, dass es sich um eine Struktur handelt, die prinzipiell dazu in der Lage ist, Affekte auszulösen – wenn auch sie es gerade nicht bei einem selbst tut. (Vgl. Brewer 1985: 172) 29 61 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften den drei Affekt-Strukturen noch jeweils eine zusätzliche, „base narrative―, geschaffen, die überhaupt kein signifikantes Ereignis für irgendeinen der Charaktere enthielt. (Brewer/Lichtenstein 1981: 374) Wie im Spannungskapitel bereits referiert, wurden nur die AffektDiskurse (also die Texte mit Point) von den Rezipienten als Geschichten wahrgenommen. Nach den vorgebrachten Argumenten und den empirischen Ergebnissen scheinen die rigiden Vorgaben der Story Grammars in der Tat nicht haltbar zu sein. Das Konstrukt des Story Points ist vor allem deswegen vielversprechend, narratives Erleben von der rein analytischen Ebene hebt und – wie es bei Labov am deutlichsten wird – in einen pragmatischen Kontext stellt. Allerdings scheint die Argumentation zum Konstrukt noch nicht wirklich gesättigt. Denn wie Wilensky selbst sagt, beschränkt sich ein Point nicht nur auf die von Brewer und Kollegen operationalisierte Erscheinungsform, sondern umfasst mehr. Wie viel mehr, wird aber immer nur sehr vage umrissen. Bei van Dijk ist ein Point z.B. ähnlich wie bei Wilensky eine Sammelkategorie für alles Besondere, Interessante, Beunruhigende, Lustige oder Unerwartete (vgl. van Dijk 1980: 14). Es sind zwar mehrere Versuche unternommen worden, den Point einer Erzählung stärker zu formalisieren – so spricht Livia Polanyi z.B. allgemein von „‚scriptbreaking‘ events― (Polanyi 1982: 516) – je abstrakter man den Point aber aufstellt, umso schwieriger wird es, ihn in empirischen Studien darzustellen. Was auch wohl der Grund ist, warum es eben solche Studien kaum gibt. Außerdem müssen auch Brewers und Lichtensteins empirische Arbeiten – wonach zumindest der Einfluss der human dramatic situation als Point bestätigt scheint –in kritischem Licht betrachtet werden: Die Autoren weisen an keiner Stelle konkrete Messergebnisse oder statistische Kennzahlen aus, sodass man die Gültigkeit ihrer Schlussfolgerungen beurteilen könnte. Insgesamt muss so auch dieses Kapitel mit relativ gemischten Gefühlen abgeschlossen werden: In der Tat gibt es zahlreiche Berührungspunkte von Narratologie und Kognitionswissenschaften. So lassen sich z.B. im Grunde alle hier vorgestellten Überlegungen mehr oder weniger gut auch unter die drei Merkmalskomplexe subsumieren, zwischen denen im vorherigen Kapitel unterschieden wurde: Die Situation Models gehen von einer quasi-visuellen, mentalen Repräsentation aneinandergereihter Zustände einer Textwelt aus. Sie liefern aber leider keine konkreten Merkmale. Die Story Grammars kommen mit der strukturellen Verankerung einer Zielund Entwicklungskette den narratologischen Überlegungen zu Handlungen, Kausalität und Motivation sehr nah, womit sie (wie sie es ja bereits im Namen tragen) mit auf der Ebene der Geschichte angesiedelt werden können. Story Points umfassen – wie die narratologischen, aber ebenfalls von Labov inspirierten Konstrukte Tellability und Eventfullness – eigentlich sowohl die Inhalts- als auch Ausdrucksseite einer Erzählung. Denn sie propagieren die Auswahl (und in der SAT auch die Anordnung) ganz bestimmter Inhalte als genuin narrativen Modus von Kommunikation. Da sie damit als einzige pragmatisch-orientierte Ansätze die spezifisch narra62 Erzählen in den kognitiven Wissenschaften tive Interaktion von Sender (narrator) und Empfänger (narratee30) in den Mittelpunkt rücken, können sie – wenn man sich entscheiden muss – aber vielleicht am besten auf der Ebene der Vermittlung eingeordnet werden. Schade ist allerdings, dass (mit Ausnahme kleinerer terminologischer Anleihen bei Brewer und Lichtenstein) keine Arbeiten vorgestellt werden konnten, die direkt Bezug auf die von der Literatur- und Filmwissenschaft ausgearbeiteten Vorschläge nehmen. Außerdem fällt auf, dass viele der vorgestellten Texte bereits etwas betagter sind. Zwar kann nicht behauptet werden, dass die Phänomene Narration oder Geschichte heute in den kognitiven Wissenschaften keine Rolle mehr spielen, die ‚Blütezeit‗ fällt aber eindeutig in die 70er- und 80er-Jahre. Aktuelle (Re-)Formulierungen und vor allem weitere empirische Validierungsversuche der Annahmen sucht man vergeblich. Abschließend ist auf den sehr großzügigen Gebrauch von Begriffen wie Schema, Script, Frame oder Stereotyp hinzuweisen, den diese Disziplinen machen und der im Hinblick auf Empirie problematisch sein kann. Denn wie Matthes (2004) argumentiert, zeichnen schematheoretische Ansätze ein stark vereinfachtes Bild von Informationsverarbeitungsprozessen und können nur in sehr seltenen Fällen eingesetzt werden, um Voraussagen über Medienwirkungen (wie eben z.B. Unterhaltungserleben oder Narrationsempfinden) zu formulieren. Schemata selbst können nämlich selten hinreichend scharf erhoben werden. So liegt es meist im Ermessen des jeweiligen Forschers, auf welchem Abstraktionsniveau Schemata ausgemacht werden. […] Bei der Verwendung von offenen Fragen zur SchemaMessung kann jede beliebige Aussage vom Forscher als ‚Schema‗ interpretiert werden. Dies führt dazu, dass in der Forschungsliteratur eine endlose Liste von verschiedenen Schemata identifiziert wurde, ohne zu explizieren, ab wann von einem Schema zu sprechen ist. Überspitze formuliert: Man bekommt immer ein Schema. (Matthes 2004: 556) Aus Sicht der Wirkungsforschung bleibt der mentale Apparat des Rezipienten, der zwischen ein Medienangebot und dessen Wirkung geschaltet ist, damit weitgehend eine „Black Box― (ebd.: 545). Das bestätigen auch die bislang eher wenig ertragreichen empirischen Forschungsarbeiten zu den Aspekten der Situation Models: Informationen dazu, wie viel z.B. vom Erzähler oder von der Diegese eines Textes bereits im Kopf des Rezipienten steckt und inwiefern diese Erzähler, Textwelten, Handlungsmuster etc. bei allen Rezipienten gleich sind, können in eine Operationalisierung der Komponenten nicht explizit mit eingebunden werden. Es bleibt lediglich das latente Wissen, dass es diese Strukturen gibt, da in unseren Köpfen ganz offensichtlich mehr passiert als auf dem Papier, auf dem eine Erzählung geschrieben steht. 30 Der Begriff geht auf Prince (1982) zurück. 63 Tab. 1: Potenzielle Narrationsmerkmale im Überblick Ebene narrativer Inhalte Merkmalskomplex Geschichte Motivierung Diegese Narration im engeren Sinne Ebene narrativer Vermittlung Merkmalsvorschlag mindestens eine Zustandsveränderung mindestens zwei logisch unverbundene, asynchrone Ereignisse Mindestens eine zeitliche Junktion „chrono-logic― (Beschreibung von zeitlichen Vorgängen + logische Verknüpfung der Vorgänge) Kausalität „Story Grammar― (grammatikalisch beschreibbare, fest vorgezeichnete ZielEntwicklungsstruktur mit Anfang und Ende) Beschreibung (potenzieller) Sinneseindrücken der Figuren Beschreibungen des Raumes und des zeitlichen Rahmens Deiktika Beschreibungen anthropomorpher Wesen Präsenz eines Erzählers Vertreter Abbott 2009 Prince 1982, 2003, 2008 Labov 1976 Chatman 1980, 1990 Forster 1969 [1927]; White 1987 Ryan 1992; Martinez/Scheffel 2009 Lakoff 1972; Rumelhart 1975; Thorndyke 1977; Johnson-Mandler 1980; Mandler 1980; Schank 1982 Bal 2004; Wulff 2007 Fludernik 2008 Fludernik 2008 Fludernik 2008 Nünning 2001; Prince 1982; Stanzel 2008 Tellability Fludernik 1996, 2008; Pratt 1977 Eventfullness Hühn 2008; Schmid 2003 Brewer/Lichtenstein 1981, 1982; Labov 1976; Wilensky 1982, 1983; Prince 1982, 2003 Barthes 1988; Bordwell 1985; Iser 1974; Thompson 1995 Brewer/Lichtenstein 1981, 1982 Point Dosierte Gabe der relevanten Informationen Affekt-Struktur 64 6. Synopse In diesem Kapitel geht es darum, die Fäden zusammenzuführen. Zunächst wird an Definitionsversuchen kurz problematisiert, wie komplex das Bild ist, das die Forschungsliteratur von den Konstrukten Narration und Geschichte zeichnet. Anschließend werden alle herausgearbeiteten potenziellen Narrationsmerkmale noch einmal rekapituliert und im Einzelnen auf ihre Anknüpfungspunkte zu Überlegungen der Unterhaltungsforschung geprüft. Damit werden auf theoretischer Ebene Belege für die Gültigkeit der These, es bestehe ein enger Zusammenhang zwischen dem Unterhaltungsempfinden und den Merkmalen, die Erzählungen zu Erzählungen machen, gesucht. Gleichzeitig werden die Merkmale jeweils auf ihre Operationalisierbarkeit als mess- bzw. manipulierbares Textphänomen von Print-Medien geprüft. Abschließend werden drei der Merkmale exemplarisch ausgewählt, mit denen in einer Beispielstudie erste empirische Erkenntnisse über die Wahrnehmung narrativer Texte und die Beziehung zwischen Narration und Unterhaltungsempfinden gewonnen werden sollen. 6.1 Definitionsversuche Mit einer kleinen Erweiterung ist eine Erzählung im Anschluss an Genette (1998) folgendermaßen bestimmt: Eine Erzählung ist ein Diskurs, der eine Geschichte (inkl. der Vorstellung einer Textwelt) auf spezifisch narrative Weise vermittelt. Als erstes Etappenziel dieser Arbeit wurde es formuliert, prototypische Merkmale für die Inhalte von Erzählungen (Geschichte + Textwelt) und ihre spezifische Vermitteltheit (Narration im engeren Sinne) zu finden. Indem verschiedene wissenschaftliche Disziplinen darauf untersucht wurden, wie sie den Gegenstand ‚Narration‗ behandeln und konzeptualisieren, ist dieses Ziel fast besser erreicht worden, als erhofft. Will heißen: Zusammengekommen ist ein recht langer Katalog an potenziellen Merkmalen (vgl. die Übersicht auf Seite 64), die mehr oder weniger gleichermaßen plausibel nebeneinander stehen. Nicht nur das Syndrom Narration selbst, sondern auch seine einzelnen Aspekte präsentieren sich damit als multidimensionale Phänomene, die nur schlecht definitorisch gefasst werden können. Denn alle diese Merkmale jeweils in einer einzigen Definition zu vereinen, führt den Sinn einer Definition als kurzer, prägnanter Bestimmung eines Gegenstands, beinahe ad absurdum. So ist eine Geschichte im Sinne der gesammelten Vorschläge in etwa wie folgt bestimmt: Eine prototypische Geschichte schildert durch anthropomorphe Figuren herbeigeführte Zustandsveränderungen, die durch Nachvollzug ihrer Wünsche und Ziele motivational zu Sinneinheiten verknüpft werden können. In der Regel folgen diese Handlungen einer klar zu erkennenden Entwicklung, an deren Ende das Erreichen der Ziele steht und die von einem Anfang und einem offenkundigen Ende eingerahmt werden. Die Zustandsveränderungen sind dabei mehr oder weniger deutlich raum-zeitlich determiniert, wodurch beim Rezipienten die mehr oder weniger plastische Vorstellung einer autonomen Textwelt evoziert wird. 65 Synopse Die Ebene der Vermittlung ist sogar noch etwas komplizierter gefasst: Narration ist ein kommunikativer Modus, der einen mehr oder weniger stark in Erscheinung tretenden Erzähler voraussetzt, der zuvor selektierte und strukturiere Informationen übermittelt. Die Selektion erfolgt nach den Kriterien Relevanz und Interessantheit, d.h. ausgewählt werden nur Inhalte, die für den Erzähler und/oder Rezipienten subjektiv Bedeutung haben oder die so besonders sind, dass sie universelle Interessantheit besitzen. Die Strukturierung des Inhalts ist nicht auf Faktenvermittlung sondern primär auf Affekterzeugung ausgerichtet. Relevanten Informationen werden deshalb nur dosiert gegeben, womit der Rezipient die Rezeption nicht als Informationsaquirierungsprozess sondern als quasi selbstgemachte Erfahrung erlebt. Die ausgesprochen hohe Komplexität dieser Definitionen – wenn man sie denn überhaupt noch so nennen kann – macht zwei Dinge deutlich: Zum einen ist ganz allgemein dringend empirische Forschung zum Narrationsbegriff nötig, um diese Komplexität möglichst reduzieren zu können. Denn wie auch Bortolussi und Dixon (2003) feststellen, kann das Wesen von Narration nicht komplett abstrakt ausgehandelt werden, sondern muss an echten Texten und mit echten Lesern beobachtet werden. Neben dem idealen theoretischen Leser braucht die Narrationsforschung auch den „statistical reader― (Dixon et al. 1993: 11), der die Verteilung von Meinungen und Wahrnehmungen in der Gesamtpopulation repräsentiert. Mit dem statistical reader ist es möglich, zu entscheiden, welche prototypischen Merkmale tatsächlich im Kern der Konstrukte liegen und welche komplett aus der Definition zu nehmen sind, weil sie nicht einmal für Minderheiten unter den realen Rezipienten Bedeutung haben. Zum anderen erscheint es vor der Vielzahl potenzieller Wesensmerkmale unzureichend, nur auf globaler Ebene einen Zusammenhang zwischen dem Gesamtpaket ‚Narration‗ und der Entstehung von Unterhaltungserleben herstellen zu wollen. Wenn sich Narration tatsächlich aus einer Menge einzelner Faktoren zusammensetzt, kann (und sollte) für sie auch jeweils einzeln entschieden werden, ob und wie sie zum Unterhaltungserleben beitragen. Deswegen sollen an dieser Stelle die gemachten Merkmalsvorschläge so weit wie möglich zusammengefasst und jeweils darauf hin geprüft, ob sie einer empirischen Prüfung zugänglich sind und inwiefern sich von ihnen Verbindungen zu Überlegungen der Unterhaltungsforschung ziehen. 6.2 Operationalisierbarkeit der Narrationsmerkmale und Bezüge zur Unterhaltungsforschung Merkmalskomplex ‚Geschichte‘ Wenn auch relativ viele einzelne Ansätze zusammengetragen wurden, die die Bausteine von Geschichten benennen, muss gleichzeitig doch festgestellt werden, dass in Bezug auf diesen Merkmalskomplex die größte Einigkeit unter den Forschern zu bestehen scheint. Denn man kann alle zu diesem Aspekt vorgebrachten Vorschläge zumindest auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Minimalvoraussetzung ist das Vorhandensein von wenigstens einer Zustandsveränderung (Abbott 2009). Alle zitierten Autoren bauen im Grunde auf dieser Basisannahme auf, stellen ihr aber mehr oder weniger scharfe Zusatzkriterien zur Seite. Allerdings bauen auch die meisten dieser Zusatzbedingungen jeweils aufeinander auf. So ist die Forderung nach 66 Synopse Kausalität (White 1987; Forster 1969) eine Verschärfung der Forderung nach allgemeiner logischer Verknüpfung (Chatman 1980, 1990) und die Forderung nach Motivation (Ryan 1992) wiederum eine Verschärfung der Forderung nach Kausalität. D.h. die Vorschläge konkurrieren unmittelbar miteinander und es muss eine Entscheidung getroffen werden, welcher am plausibelsten erscheint. Entsprechend muss aber auch nur dieser plausibelste Vorschlag auf seine Operationalisierbarkeit und Verbindungen zu Unterhaltung geprüft werden. Um narrative Inhalte dezidiert von den Inhalten nicht-narrativer Texte abzugrenzen, erschien dabei der strengste Vorschlag tatsächlich auch als der beste. Es wird angenommen, dass Texte, um als Geschichten identifiziert zu werden, neben allgemeinen Ursache-WirkungsBeziehungen auch motivierte Zustandsveränderungen schildern müssen, d.h. solche die sich nicht aufgrund allgemeiner (physikalischer) Gesetzmäßigkeiten erklären lassen sondern durch innere Zustände der dargestellten Charaktere, die intentional auf ihre Umwelt einwirken. Gute Hinweise, wo Motivation im Text ausgemacht werden kann, geben Martinez und Scheffel (2009). Denn in ihrem Modell identifizieren sie Bausteine narrativer Inhalte auf propositionaler Ebene, d.h. für Sinneinheiten in Form von Haupt- oder Nebensätzen. Den Propositionstyp, der von Figuren intendierte Zustandsveränderungen schildert – wie trivial diese auch sein mögen – nennen die Autoren Handlung. Intendierte Tätigkeiten, die keine (oder nur wiederholt) dieselbe Zustandsveränderung mit sich bringen, werden hingegen explizit nicht als Handlungen gezählt. So zählt z.B. „Er stand auf.― als Handlung, „Er stand am Ofen.― oder „Er ging ununterbrochen im Raum auf und ab.― nicht. Damit sind sehr konkrete Indikatoren auf Textebene gefunden. Das wesentliche Merkmal, das Geschichten zu Geschichten machen soll, ist demnach ausgesprochen gut operationalisierbar. Arrangiert man derart definierte Handlungen zudem so, dass erkennbar ist, dass sie den (Haupt-)Charakter seinen Zielen schrittweise näher bringen und erreicht dieser Charakter mit der letzten beschriebenen Handlung schließlich das übergeordnete Ziel, könnte man die nächst komplexere Einheit – das Handlungsschema bzw. die Story Grammar-Sturktur – ebenfalls leicht künstlich mit Textmaterial realisieren, um ihre Wirkung zu evaluieren. Ob solche Strukturen aber auch in natürlichen Texten problemlos identifiziert werden können, ist mindestens fraglich und muss an konkretem Material geprüft werden. Vom Merkmal Handlungen lassen sich nur sehr, sehr vage Verbindungen zwischen Narration und Unterhaltung herstellen. Man kann allenfalls anführen, dass Handlungen auch für die Annahmen einiger Spannungstheorien – vor allem der ADT nach Zillmann – Grundvoraussetzung sind. Denn ohne den intentionalen Nachvollzug der Motivationen handelnder Charaktere, wäre auch keine Grundlage gegeben, auf der der Rezipient empathische Gefühle ausbilden kann und ihm bliebe letzlich zumindest spannungsbedingter Genuss verwehrt. 67 Synopse Merkmalskomplex ‚Diegese‘ Umso offensichtlicher sind dafür die Bezüge zwischen Überlegungen der Unterhaltungsforschung und Überlegungen zum Merkmalskomplex ‚Diegese‗. Das quasi-visuelle Erleben der vom Medienangebot geschilderten Situation wird von der Presence-Forschung als zentraler Unterhaltungsfaktor gesehen, gleichzeitig wird es in den Augen einiger Narratologen, aber vor allem von Forschern aus den kognitiven Wissenschaften als konstitutives Merkmal von Narration betrachtet. Presence-Forschung und kognitive Narrationsforschung teilen mit Begriffen wie dem Spatial Situation Model (SSM) sogar das gleiche Vokabular. Aus der Perspektive der Unterhaltungsforschung scheint es deshalb vielversprechend, die Evokation einer (fremden) Welt explizit mit in die Definition des Narrationsbegriffs aufzunehmen und zu testen. Aber wie ist das Merkmal Textwelt operational zu definieren? Wie gezeigt wurde, handelt es sich beim SSM zwar in der Tat um einen der am stärksten empirisch beforschten Aspekte von Narration, allerdings sind aufgrund einander widersprechender Ergebnisse und der kontroversen Diskussion über adäquate Versuchspläne viele Fragen noch ungeklärt. So z.B. auch das basale Problem, wie viel und welche Textinformationen ein Rezipient braucht, um überhaupt ein SSM entwerfen zu können. Die narratologische Literaturwissenschaft liefert mehrere Vorschläge für die textuellen Bausteine, aus denen eine Diegese zusammengesetzt werden kann. Für Wulff (2007) zählt die Repräsentation all dessen, was potenziell von den Figuren wahrgenommen werden kann, zur Textwelt. Nach Bal (2004) sind das vor allem visuelle Eindrücke: Farben, Formen und Relationen der Objekte/Personen zueinander. Fludernik (2008) fügt dem raum-zeitliche Bestimmungen (z.B. durch Deiktika) und die Charakterisierung von anthropomorphen Wesen hinzu. Stark vereinfacht, aber durchaus mit den Überlegungen einiger Narratologen (z.B. Chatman 1980; Palmer 2004) d‘accord, kann man diese Vorschläge zusammenfassen, indem man sagt, die Textwelt besteht – so banal es auch ist – schlichtweg in jeglicher Form von Beschreibung. Allerdings wird die Textwelt dadurch zu einem sehr, sehr breiten und mit Hinblick auf empirische Vorhaben sehr unwegsamen Feld. Denn so intuitiv und leicht Beschreibungen auch wahrscheinlich in textuellem Material zu identifizieren sind, umso schwerer sind sie zu isolieren. Denn auch Handlungen können mehr oder weniger beschreibend sein (So schildern z.B. die Sätze „Er ließ sich aufs Bett fallen― und „Er schmiss sich aufs Bett― mehr oder weniger die gleiche Handlung, sie beschreiben sie aber jeweils sehr unterschiedlich). Außerdem können Handlungen logischerweise nicht ohne Handlungsträger gedacht werden, weswegen Fluderniks Vorschlag, dass das Vorhandensein anthropomorpher Wesen ein Merkmal von Textwelten ist, nicht separat geprüft werden kann, ohne auch den narrativen Aspekt ‚Geschichte‗ zu beeinträchtigen. Als Alternative kann man nur solche Beschreibungen als Manifestation einer Textwelt operationalisieren, die nicht unmittelbar funktional für den Fortgang der Geschichte 68 Synopse sind – die sogenannten Details. Damit wird zwar ein erheblicher Kompromiss eingegangen, allerdings bekräftigt z.B. Genette diesen Entschluss, indem er schreibt: Es versteht sich von selbst, daß eine detaillierte Erzählung im Tempo einer ‚Szene‗ dem Leser einen stärkeren Eindruck von Präsenz verschafft als ein rasches und dabei weit in die Vergangenheit zurückgreifendes Summary […]. ‚An dieser Vielzahl kleiner Dinge‗, so Diderot, ‚hängt die Illusion‗ Schließlich, und das ist vielleicht die Hauptsache, erzeugen diese Details eine um so [sic] größere ‚Illusion‗, als sie funktional überflüssig zu sein scheinen: Das ist der berühmte "Wirklichkeitseffekt" von Roland Barthes.― (Genette 1998: 222) Die Vorstellbarkeit der Textwelt hängt also nicht nur maßgeblich von Details ab, es fällt sogar explizit – eher unüblich für die Narratologie – der Begriff Präsenz. Textwelt, verstanden als Detailreichtum, materialisiert sich in Anlehnung an Fludernik, Bal und Wulff in Adjektiven, Adverbien, Orts-, Zeit-, Entfernungs- und Richtungsangaben, aber mitunter auch im Generalisierungsgrad von Substantiven (so liefert z.B. der Begriff Wüsten-Spei-Kobra mehr – je nach Kontext nicht notwendigerweise relevante – Informationen als der Begriff Schlange). Somit konnte zwar auch der Merkmalskomplex ‚Diegese‗ auf eine einzige Operationalisierungsvorschrift ‚heruntergebrochen‗ werden. Allerdings ist diese mit Kompromissen behaftet. Außerdem sei mit Rückverweis auf Überlegungen zum ‚priniciple of minimal departure‘ (Ryan 1980) oder zur ‚Diegetizität‗ (Hartmann 2007) sowie auf einige empirische Befunde (Oostendorp/Zwaan 1993) daran erinnert, dass es als ausgesprochen fraglich gilt, ob die Diegese – selbst wenn sie ein konstitutives Merkmal narrativen Erlebens ist – tatsächlich auch ein Textmerkmal sein muss. Merkmalskomplex ‚Vermitteltheit‘ Dass der Aspekt der „illusion of nonmediation― damit auch ein konstitutives Merkmal von Erzählungen sein soll, ist besonders mit Blick auf den letzten Merkmalskomplex interessant. In Bezug auf das, was nach Genette im eigentlichen Sinne ‚Narration‗ ist, werden darunter Ansätze subsummiert, die fragen, inwieweit sich narrative Vermittlung von anderen Informationsvermittlungsprozessen unterscheidet. Viele Autoren gehen dabei davon aus, dass narrative Texte, um als narrative Texte erkannt zu werden, ihre Vermitteltheit in irgendeiner Weise besonders herausstellen müssen, also eben nicht möglichst unvermittelt wirken wollen. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass sich dadurch ein scheinbares Paradox ergibt, sondern vor allem, dass im Zusammenhang mit Unterhaltung exakt der gleiche Widerspruch besteht: Denn während die Presence-Forschung von angenehmen Erleben durch möglichst starke Unvermittelt spricht, ist das Bewusstsein der Vermitteltheit von Medienangeboten in der TDU Voraussetzung dafür, dass die Mediennutzungssituation als souverän kontrolliert wahrgenommen und letztendlich als unterhaltsam interpretiert wird (vgl. Früh 2002: 135; Gehrau 2003: 65f). Sowohl für narrative als auch für viele unterhaltende Medienangebote scheint es dementsprechend charakteristisch zu sein, dass sie (wie auch immer) einen Spagat zwischen unvermittelter Vermitteltheit bewerkstelligen. 69 Synopse Das erste Merkmal, das in puncto spezifischer Vermitteltheit von Erzählungen in den Blick rückt, ist die Vermittlungsinstanz, die Figur des Erzählers. Die Narratologie liefert auch eine recht umfangreiche Liste textueller Signale, mit denen der Erzähler explizit in Erscheinung tritt: Die Verwendung von Personalpronomen der ersten und zweiten Person (‚signs of the I‗/‚sings of the you‗ Prince 1982), Selbstthematisierung der Eigenschaften des Erzählers („Fiktionen des Ich― Bortolussi/Dixon 2003), Nachahmung einer Gesprächssituation (durch direkt an den Leser gerichtete Äußerungen), Nachahmung mündlichen Erzählens (durch umgangssprachliche Elemente), subjektive Äußerungen, Generalisierungen und Kommentare zur Erzählsituation (metanarrative Äußerungen). (Vgl. Nünning 2001) Auf den ersten Blick scheint dieses Merkmal damit sehr gut Messungen bzw. Manipulationen zugänglich zu sein. Allerdings wird seit Platon diskutiert, inwieweit es für eine Erzählung notwendig bzw. typisch ist, dass der Erzähler tatsächlich in Erscheinung tritt. Viele Autoren sehen das Wesen einer Erzählung darin, Handlungen so präzise wie möglich nachzuahmen und damit eine möglichst plastische Illusion dieses Geschehens zu erzeugen. Ein personell in Erscheinung tretender Erzähler gefährde diese Illusion und sei demnach weder wünschenswert noch typisch. Nünning relativiert diese Ansicht zwar, indem er zeigt, dass viele moderne Erzählungen mindestens ebenso sehr davon leben, eine Kommunikationssituation nachzuahmen und Bewusstseinsinhalte zu vermitteln, wie davon, Handlungen zu präsentieren und auch ein dominanter Erzähler deswegen nichts illusionsgefährdender oder untypischer ist als ein ‚unsichtbarer‗. Das Problem ist nur, dass, selbst wenn textuelle Hinweise auf den Erzähler nicht untypisch sind, sie noch lange nicht prototypisch sind. Insgesamt scheint es keinen Unterschied für die Wahrnehmung eines Textes als Erzählung zu machen, ob der Erzähler als Person im Diskurs in Erscheinung tritt oder nicht. Konkrete Überlegungen dazu, was die Rezipienten aber neben bzw. anstelle der genannten Textmerkmale veranlassen könnte, parallel zum SSM auch ein Erzähler-Modell bzw. ein „storytelling scenario― (Nünning 2001: 24) aufzubauen, sind nicht angestellt worden. Ausgerechnet eines der scheinbar banalsten Merkmale narrativer Texte, ihr Erzähler, ist somit – ausgehend vom aktuellen Stand narratologischer und kognitionswissenschaftlicher Forschung – nicht sinnvoll operationalisierbar. Darüber hinaus gibt die rezipierte Literatur auch keinen Grund zur Annahme, dass eine Verbindungen zwischen einem dominant im Text in Erscheinung tretenden Erzähler zu einem in irgendeiner Weise gesteigertem Unterhaltungserleben besteht. Das spiegelt sich auch in den wenigen empirischen Studien wieder, die man zur narrativen Distanz finden kann: Entgegen seinen Hypothesen hat Andringa (1996) herausgefunden, dass unterschiedlich präsente Erzähler nicht zu unterschiedlichen Emotionen bei der Rezeption narrativer Texte führen, insbesondere Involvement und Gefallensurteile davon unabhängig bleiben. Das gleiche Bild zeige sich in einer ähnlich angelegten Untersuchung von Ludwig und Faulstich (1985). 70 Synopse Andere vorgestellte Ansätze gehen davon aus, dass sich die Vermitteltheit narrativer Texte in spezifischer Weise dadurch ausdrückt, dass sie den Selektions- und Ordnungsprozess betonen, der ihnen zugrunde liegt. In der Vorstellung der Theory of Story Points muss ein Text, um als narrativ erkannt zu werden, entweder offenkundig erzählenswerte Inhalte auswählen oder Inhalte durch den Erzähler als erzählenswert markieren (‚Evaluationen‗ im Sinne Labovs). Diese zentrale Prämisse teilt die Theorie mit den ebenfalls von Labovs Konzept des Points abgeleiteten Konstrukten Tellability und Eventfullness. Etwas unpraktikabel ist, dass bislang nur relativ abstrakt und nicht immer übereinstimmend formuliert wird, was einen Point ausmacht, sprich allgemein als erzählenswert gilt. Zwar hat Wilensky (1983) den Gedanken angestoßen, dass es auf Dauer sinnvoll ist, einen „Katalog― mit Themen/Ereignissen für potenzielle Points zusammenzustellen. Er selbst kommt aber nicht über einen einzigen Vorschlag, die „human dramatic situation―, hinaus. In der Literatur taucht ein Point z.B. auf als etwas Nicht-Triviales (Hühn 2008), Interessantes (Wilensky 1983), Relevantes (Schmid 2003), emotional Bedeutungsvolles (Fludernik 1996), (potenziell) Folgenreiches (Brewer/Lichtenstein 1982), Außergewöhnliches (Schmid 2003), Beunruhigendes (van Dijk 1980), Lustiges (ebd.) oder etwas, das mit den bestehenden Scripts bricht (Polanyi 1984). Diese terminologische und konzeptuelle Unschärfe erweist sich sowohl für die Operationalisierung als auch für die Suche nach Anknüpfungspunkten zum Konstrukt Unterhaltung als problematisch. Für beide Vorhaben sollte man das Wesen von Story Points zunächst auf einen Kerninhalt festlegen. Hier wird vorgeschlagen, unter einem Point ähnlich wie Schmid alles das zu verstehen, was einen Inhalt außergewöhnlich/nicht-alltäglich macht. Denn Außergewöhnliches/Nicht-Alltägliches erscheint allgemein genug zu sein, um die meisten anderen Vorschläge semantisch mit zu fassen. Zum anderen wirkt der Begriff. intuitiv leichter verständlich als z.B. „Relevantes― und weniger subjektiv gefärbt als „Interessantes― oder „emotional Bedeutungsvolles―. Ob diese Konzeptualisierung von Points aber geeignet ist, um textuelle Indikatoren daraus abzuleiten, kann sich nur in der Forschungspraxis zeigen. An konkreten Medienangeboten muss geprüft werden, ob es mehreren Personen gelingt, weitgehend einvernehmlich dieselben Inhalte als außergewöhnlich/nicht-alltäglich zu identifizieren. Das Merkmal Point kann damit nur vorläufig als operationalisierbar gelten. Konzeptualisiert man Points als außergewöhnliche/nicht-alltägliche Inhalte, lassen sich darüber auch gut Bezüge zwischen Narration und Unterhaltung herstellen: Sehr stark verkürzt formuliert, könnte man sagen, dass sich der Gedanke, dass Medieninhalte vom Gewöhnlichen abweichen müssen, bereits bei Früh findet. Denn die TDU nennt (neben passiver und aktiver Souveränität) Abwechslung als einen notwendigen Faktor, der gegeben sein muss, damit Medienrezeption als unterhaltsam beurteilt wird (vgl. Früh 2002: 102). Ein eingehender Reiz muss eine gewisse Neugierschwelle überschreiten, um überhaupt Affekte auszulösen, die in nachgelagerten Prozessen auf ihre Angenehmheit geprüft werden. Pointierter findet sich die Parallele 71 Synopse aber in der Übertragung des Flow-Konzepts auf Mediennutzungssituationen: Nach Sherry ergibt sich der Grad der Anforderung einer Rezeptionssituation daraus, wie sehr das Medienangebot von konventionellen Inhalten abweicht. In Kombination mit den spezifischen Eigenschaften eines Rezipienten entscheidet sich dann, ob daraus Überforderung, Unterforderung oder ein angenehm erlebter Zustand entsteht (vgl. Sherry 2004:333f). Die Structural-Affect Theory nach Brewer und Lichtenstein macht ebenfalls von Konstrukt des Points Gebrauch. Die SAT geht allerdings einen Schritt weiter. Sie nimmt an, dass Narration, nicht nur bestimmte Inhalte selektieren muss, sie muss die Ereignisse um den Point auch in einer von drei genuin narrativen Diskurs-Strukturen organisieren, die sich dadurch auszeichnen, dass sie jeweils unterschiedliche Affekte beim Rezipienten auslösen: Je nachdem, wie die Inhalte arrangiert sind, entsteht entweder Spannung, Überraschung oder Neugier. Das Narrationsmerkmal Affekt-Struktur hat zwei Vorteile gegenüber den anderen hier zusammengetragenen Vorschlägen: Die Autoren stellen zum einen die gesuchten Bezüge zu Unterhaltung selbst her – das allerdings in einer sehr gewagten Weise: Neugier, Überraschung und Spannung sind gemäß der Neugier-Motivations-Theorie Berlyns (1960) Affekte, die Unterhaltung hervorrufen können. Geschichten wiederum haben die primäre Funktion, zu unterhalten. Wird die Affektstruktur eines Textes (und damit sein Unterhaltungspotenzial) erkannt, wird er als Geschichte rezipiert. Brewer und Lichtenstein drehen damit die allgemeine Logik um: Ein Text unterhält nicht, weil er eine Geschichte ist, sondern ein Text ist eine Geschichte, weil er unterhält. Warum es allerdings nur die ausgesuchten drei Affekt-Strukturen und nicht vielleicht noch z.B. eine Humor-, Ekel- oder Trauer-Struktur geben sollte, erklärt die SAT nicht. Der zweite Vorteil ist, dass die SAT empirisch bereits geprüft ist. D.h. die AffektStrukturen für Überraschung, Neugier und Spannung wurden von Brewer und Lichtenstein bereits operational definiert: Werden die Ereignisse in ihrer natürlichen Chronologie präsentiert und am Ende durch den Point (verstanden als bedeutungsvolles/folgenreiches Ereignis) aufgelöst, entsteht eine Spannung-Struktur. Steht der Point am Anfang, wird aber ausgelassen und erst nachträglich präsentiert, besteht eine Neugier-Struktur, wenn das Fehlen des Points vorher markiert war. Steht der Point am Anfang, wird ohne Markierung ausgelassen und nachträglich präsentiert, besteht eine Überraschungs-Struktur. Allerdings wurden diese Operationalisierungsvorschriften bislang nur benutzt, um nach ihnen Experimentaltexte zu erzeugen. Ob sich die Strukturen auch so klar in natürlichen Texten zeigen, muss ähnlich wie für die Story Grammars erst noch geprüft werden. Außerdem darf man die Affekt-Struktur aufgrund der in Kapitel 5.2 angeführten Mängel in der Dokumentation der Forschungsarbeiten von Brewer und Lichtenstein noch nicht als empirisch bestätigtes Narrations- noch Unterhaltungsmerkmal ausweisen. 72 Synopse In einer anderen Vorstellung stellen Erzählungen ihre Vermitteltheit, heraus, indem sie nicht alle relevanten Informationen schlagartig liefern sondern sie wohl dosiert preisgeben. In der Vorstellung der Wirkungsästhetik geschieht das dadurch, dass narrative Texte bewusst mit Leerstellen versehen werden, für Barthes und die Neo-Formalisten vollzieht sich narrative Vermittlung als Balance einer Rätsel-Struktur (dem hermeneutischen Code) und kausal verknüpfenden, sinnstiftenden Informationen (proairetischer Code). Auch dieses Verständnis von Narration passt sich bei näherer Betrachtung ausgesprochen gut in Annahmen der Unterhaltungsforschung ein. So funktioniert Narration in diesem Verständnis sehr ähnlich wie es in einigen Ansätzen (Gerrig 1996; Ohler 1994; Ohler/Nieding 1996) für Spannung beschrieben wird: Das Streben nach vollständiger Erfassung der Wahrnehmungswelt treibt den Rezipienten dazu, auf Informationslücken in einem Medieninhalt zu reagieren, indem er zu antizipieren versucht, wie diese Lücken zu füllen sind. Er bildet Erwartungen und versucht diese am Medienangebot zu bestätigen. Der Sender des Medienangebots wiederum versucht, diese Erwartungen zu antizipieren und gezielt Informationen zu geben, die damit brechen, sodass der Rezipient permanent neue Erwartungen ausbilden muss, wodurch der Fluss der Erzählung bzw. die Spannungsstruktur aufrecht erhalten wird. In den Augen der Neo-Formalisten, von Barthes oder von Iser sind demnach im Grunde alle Erzählungen ‚spannend‗. Der Unterschied zwischen z.B. einer Gute-Nacht-Geschichte und einem Stephen-KingRoman wäre entsprechend kein kategorialer sondern ein gradueller: Klassische Spannungstexte sind lediglich Texte, bei denen das allgemeine narrative Prinzip sehr stark ausgeprägt ist. Außerdem lassen sich deutliche Verbindungen zum Flow-Konzept ziehen: Narration zielt nicht primär darauf ab, Faktenwissen zu vermitteln. Narration ist eher als eine Art Einladung zu einem Frage-Antwort-Spiel zu verstehen (vgl. Chatman 1980: 48). Aus Sicht des Rezipienten liegt der Zweck der Rezeption damit weitgehend in der Rezeption selbst, narrative Rezeption kann also zu den von Csikszentmihalyi angeführten autotelischen Tätigkeiten gezählt werden. Außerdem sagt Iser auch explizit, dass das Leerstellenangebot eines Textes nicht unter einen bestimmten Bereich fallen darf, da sonst Langeweile entstehe (vgl. Iser 1974: 16). Auf der anderen Seite existieren Texte – z.B. expressionistische Prosa-Gedichte – deren Leerstellenangebot so groß ist bzw. deren Kausalstrukturen so schwach sind, dass es nicht gelingt, die Lücken zu schließen und sie nicht narrativ gelesen werden können. Ganz im Sinne von Flow und TDU hängt die optimale Verteilung der Leerstellen von den konkreten Fähigkeiten des jeweiligen Rezipienten ab (vgl. ebd.: 22). Mag z.B. ein hochkomplexer Text wie Joyce‗ Finnigans Wake für die meisten Leser nicht narrativierbar sein und allenfalls ästhetischen Wert haben, kann es einem sehr motivierten Rezipienten, der dazu vielleicht noch Hintergrundwissen über Joyce‗ Schreibstil und seine Lebensumstände hat, durchaus gelingen, genug kausale Strukturen zu entdecken, um sich mit einer Geschichte konfrontiert zu sehen. 73 Synopse Das Problem ist, dass dadurch nicht nur Unterhaltungsempfinden, sondern auch die Beurteilung, ob ein Text narrativ ist oder nicht, eine sehr individuelle Angelegenheit ist und keinerlei Vermutungen dazu vorliegen, wie weit sich genau der überindividuelle Bereich erstreckt, in dem Rätsel- und Kausalstruktur für den durchschnittlichen Leser – den erwähnten statistical reader – hinreichend ausgeglichen sind. Daraus ergibt sich ein nicht ganz unerhebliches Problem: Die Annahme, Narration sei eine Funktion der dosierten Gabe von Information, ist damit nicht nur schwer empirisch zu bestätigen, sondern logisch auch schwer wiederlegbar – was wissenschaftstheoretisch noch gravierender ist (vgl. Bortz/Döring 2005: 18). Denn selbst, wenn ein Text, der in einem bestimmten Maß Leerstellen zeigt, mehrheitlich nicht als narrativ eingestuft wird, kann dieser Befund noch konform zu den Annahmen interpretiert werden, die Leerstellenstruktur hat eben nur nicht mit den Fähigkeiten der Rezipienten harmonisiert. Letztlich wären ganze Testreihen notwendig, bei denen man nach Intuition Texte auswählt, die den Informationsfluss wie beschrieben regulieren (z.B. einen typischen Krimi) und diese sehr kleinschrittig in beide Richtungen manipuliert, also Versionen produziert, die auskunftsfreudiger in Bezug auf die relevanten Fakten (z.B. Täter oder Motive) sind und solche, die noch weniger preisgeben bzw. weniger kausale Verknüpfungen zwischen den Informationen zulassen. Beim Versuch, so auszuloten, ob es tatsächlich einen Bereich gibt, in dem allgemein Einigkeit darüber besteht, dass ein Text narrativ ist, müssten darüber hinaus eine Vielzahl weiterer Größen berücksichtigt werden, um das Ergebnis als valide ausweisen zu können. So sollte das Prozedere für Texte aus unterschiedlichen Genres durchgeführt werden (damit z.B. nicht statt auf einen prototypisch narrativen Text auf einen prototypischen Krimi getestet wird) und es müsste eine ganze Vielzahl von Persönlichkeitsmerkmalen kontrolliert werden, die die Fähigkeiten der Rezipienten bestimmen könnten (z.B. Leseerfahrung, Intelligenz, das Bedürfnis, sich kognitiv zu beschäftigen [NfC] etc.). Hinzu kommt – wie in Kapitel 4.3.3 schon erwähnt – das Problem, dass nicht alle Informationen, die nicht explizit im Text genannt werden für den Rezipienten unzugänglich sind. Zwischen verschriftlichten und vorenthalten Informationen liegt der große Bereich der impliziten Informationen, die zwar nicht im Text zu finden sind, die aber inferiert werden können. Kriterien, nach denen man eine ‚echte‗ Leerstelle von einer impliziten Information unterscheiden kann, nennen die Ansätze nicht. Alles in allem ist die Vorstellung, dass Narration sich in einer wohl dosierten Gabe von Informationen manifestiert – vor allem mit Blick auf das Unterhaltungserleben – einer der interessantesten Merkmalsvorschläge, die die Narratologie macht. Gleichzeitig liegt sie aber an der äußersten Grenze der Operationalisierbarkeit, da sie nur in sehr komplexen Forschungsdesigns und unter hohem zeitlichen, personellen und finanziellen Aufwand getestet werden kann – wobei selbst dabei noch eine Vielzahl von Aspekten unberücksichtigt bleiben muss, da die theoretischen Grundlagen bislang noch zu lückenhaft sind. 74 Synopse Die These von einem engen Zusammenhang zwischen Unterhaltung und Narration ist durch diese Zusammenschau immens gestärkt worden. Obwohl in dieser Arbeit nur eine Hand voll Felder der Unterhaltungsforschung vorgestellt werden konnte, sind die Anknüpfungspunkte ausgesprochen zahlreich. Teilweise sind die gezogenen Verbindungen zwar eher vager Natur. In anderen Fällen, sind die Bezüge dafür aber verblüffend markant. So wird die Entstehung von Suspense nahezu identisch zum neo-formalistischen Verständnis von Narration modelliert und das Prozess-Modell zur Erklärung von Presence deckt sich mit zentralen Aspekten des Modells narrativen Verstehens. Es hat sich aber auch gezeigt, dass die Liste der Merkmale nicht nur lang ist, sondern dass sie auch in sehr unterschiedlichem Maße einer empirischen Prüfung zugänglich sind. Einige liefern intuitiv völlig unproblematische Indikatoren, andere müssen aufgrund des defizitären Stands gegenwärtiger Theorienbildung als nahezu unoperationalisierbar angesehen werden. Wieder andere Merkmale entziehen sich der Erfassung komplett, da sie sich nicht auf Ebene des narrativen Diskurses manifestieren. Es ist also auszuschließen, dass das Wesen von Narration in einer einzigen Studie zufriedenstellend erhoben werden kann. Vielmehr scheint man sich dem Phänomen empirisch nur noch kleinschrittiger nähern zu können, als auf theoretischer Ebene. Es aber einfach bei dieser Feststellung zu belassen, erscheint relativ unbefriedigend. Denn wie sich vor allem an den Vorbehalten in Bezug auf die tatsächliche Erfassbarkeit der Merkmale Point oder Story Grammar-Sturktur zeigt, kann die tatsächliche Güte von operationalen Definitionen und letztendlich auch die Operationalisierbarkeit eines Merkmals nur in der Forschungspraxis zeigen, indem geprüft wird, wie gut sich die abgeleiteten Indikatoren tatsächlich finden, erzeugen oder manipulieren lassen. Und so sollen – wohlwissend, dass im Rahmen dieser Arbeit nur ein kleiner Beitrag zur Erfassung narrativer Medienangebote geleistet werden kann – hier die ersten Schritte versucht und von den dabei gemachten Erfahrungen berichtet werden. Exemplarisch sollen die Merkmale Textwelt, Point und Handlungen auf ihren Einfluss auf die Einschätzung des narrativen Gehalts von Texten bzw. ihre Nähe zum Prototyp einer Geschichte und im zweiten Schritt auf das empfundene Unterhaltungserleben untersucht werden. Inhaltlich sie die Merkmale dabei aus unterschiedlichen Gründen interessant: Die Feststellung, dass Geschichten aus Handlungen bestehen, klingt vom Alltagsverständnis her fast schon banal. Handlungen scheinen also ein relativ sicherer Kandidat zu sein, was von Vorteil ist, da es natürlich vor allem interessant ist, Merkmale auf ihren Unterhaltungswert testen zu können, die sich als Narrationsmerkmale bestätigen ließen. Die Textwelt weist insgesamt mit die stärksten Bezüge zur Unterhaltungsforschung auf. Für den Point schließlich steht vor allem die Frage im Raum, ob er sich tatsächlich hinreichend eindeutig in natürlichen Texten identifizieren lässt. Vor allem aber sind die drei Merkmale ausgewählt worden, weil sie gemäß den vorangegangenen Überlegungen im Vergleich zu anderen Vorschlägen mit verhältnismäßig wenig Aufwand getestet werden können. 75 EMPIRISCHER TEIL Quelle: Huber 2009: 156 7. Hypothesen und forschungsleitende Fragen Wie gesagt, bedeutet ein argumentativ überzeugender Operationalisierungsvorschlag für ein Konstrukt noch lange nicht, dass es sich auch tatsächlich empirisch gut abbilden lassen muss. Bevor die genauen Zusammenhänge der drei potenziellen Narrationsmerkmale mit anderen Größen untersucht werden können, soll deshalb geklärt werden, ob es möglich ist, die Indikatoren der drei Merkmale in natürlichen Texten zu manipulieren und ausreichend stark auf ihre An- und Abwesenheit einzuwirken, dass von den Rezipienten Unterschiede wahrgenommen werden. Daraus ergibt sich zunächst folgende – allen anderen übergeordnete – Forschungsfrage: RQ1: Lassen sich die gewählten Narrationsmerkmale Welt, Point und Handlungen jeweils experimentell variieren? Erst, wenn überhaupt von Unterschieden ausgegangen werden darf, kann folgende Frage mit dem Methodeninventar der empirischen Sozialwissenschaft beantwortet werden: RQ2: Wie gut erklären die Faktoren Textwelt, Point und Handlungen das Narrationsempfinden der Rezipienten? Diese Frage bezieht sich dabei zunächst auf das Zusammenwirken aller drei aufgenommenen Merkmale und evaluiert, wie viel Narrationsempfinden sich durch den Versuchsplan insgesamt erklären lässt – bzw. wie viel noch unerklärt bleibt und eventuell auf die anderen oben verhandelten und hier nicht aufgenommenen Merkmale entfällt. Da die drei Kandidaten für Narrationsmerkmale in der herangezogenen Literatur jeweils einzeln behandelt und nicht gegeneinander abgewogen wurden, lassen sich zu diesem Zeitpunkt noch keine begründeten Annahmen über die mögliche Hierarchie der Effekte machen – daher auch die Formulierung als offene Forschungsfrage. Dem hier zu testenden Gesamtmodell von ‚Narration‗ liegen die separaten Annahmen zugrunde, dass sich sowohl die geschilderten räumlichen Details eines Medienangebots, als auch verhältnismäßig außergewöhnliche Inhalte, als auch das Vorhandensein von Handlungen positiv auf die Narrationsintuition auswirken. Um die Güte dieses Modells ggf. zu korrigieren, erscheint es daher auch sinnvoll ist, diese Annahmen einzeln zu prüfen. Demnach lässt sich die Forschungsfrage zusätzlich in folgende, gerichtete Einzelhypothesen aufspalten: H1a: Texte, die reiche Informationen über die Textwelt liefern, werden als narrativer/näher am Prototyp einer Geschichte eingeschätzt als detailarme Texte. H1b: Texte mit außergewöhnlichen Inhalten werden als narrativer/näher am Prototyp einer Geschichte eingeschätzt als Texte, die Alltägliches berichten. H1c: Texte, die Handlungen beschreiben werden als narrativer/näher am Prototyp einer Geschichte eingeschätzt als Texte, die ausschließlich Zustände oder iterative Prozesse beschreiben. 77 Hypothesen und forschungsleitende Fragen Je nachdem, ob es sich statistisch empfiehlt, die Hypothesen anzunehmen oder abzulehnen, wäre geklärt, ob die vorgeschlagenen Narrationsmerkmale auch tatsächlich Narrationsmerkmale sind. In komplett analoger Weiser kann dann auch die Vermutung in Angriff genommen werden, die überhaupt erst der Auslöser für die Suche nach Narrationsmerkmalen war – die Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen Narration und Unterhaltung. Unabhängig davon, ob die angenommenen Narrationsfaktoren sich tatsächlich als Narrationsfaktoren herausstellen, kann evaluiert werden, ob diese drei Faktoren Unterhaltungsfaktoren sind. Die dritte forschungsleitende Frage fragt dabei zunächst wieder, welches Gewicht allen drei potenziellen Einflussgrößen gemeinsam zukommt: RQ3: Wie gut erklären die Faktoren Textwelt, Point und Handlungen das Unterhaltungsempfinden der Rezipienten? Aufgrund der im theoretischen Teil hergestellten Bezüge zwischen Unterhaltungs- und Narrationsforschung stecken darin die einzelnen Annahmen, dass der geschilderte Detailreichtum, außergewöhnliche Inhalte und die Anwesenheit von Handlungen Unterhaltungsempfinden fördern. Analog zu oben sind also folgende Hypothesen systematisch zu testen: H2a: Bei detailreichen Texten ist das wahrgenommene Unterhaltungserleben höher als bei Texten mit minimaler Beschreibung. H2b: Bei Texten mit außergewöhnlichen Inhalten ist das wahrgenommene Unterhaltungserleben höher als bei Texten, die Alltägliches berichten. H2c: Bei Texten, die Handlungen beschreiben, ist das wahrgenommene Unterhaltungserleben höher als bei Texten, die ausschließlich Zustände oder iterative Prozesse beschreiben. Da gemäß den Annahmen der TDU Unterhaltungserleben aber nicht ausschließlich von Merkmalen des Medienangebots abhängt, sollen im Sinne einer molaren Perspektivierung zusätzlich ein paar Personen- und Kontextfaktoren erhoben werden, um zu prüfen, ob die Beziehung zwischen Narration und Unterhaltung durch weitere Größen beeinflusst wird. So lautet die vierte und letzte offene Forschungsfrage relativ locker: RQ4: Welche Personen- und Situationsmerkmale haben einen Einfluss auf das Unterhaltungserleben bzw. auf die Beziehung zwischen Narrationsmerkmalen und Unterhaltungserleben?31 31 Diese Einflussgrößen werden eher explorativ oder unter sehr vagen Vermutungen erhoben. Um diese Vermutungen von den zentralen Hypothesen abzugrenzen, werden sie nicht an dieser Stelle diskutiert. Welche Variablen erhoben wurden und mit welcher Absicht, ist der Beschreibung des Fragebogens zu entnehmen. 78 8. Methodisches Vorgehen Zur Überprüfung der Hypothesen und Beantwortung der Forschungsfragen bietet sich ein Quasi-Experiment an. Ein ‚echtes‗ Experiment ist durch zwei Bedingungen gekennzeichnet: (1) Mindestens eine interessierende Variable wird systematisch variiert und der Effekt, den diese Manipulation nach sich zieht wird registriert. (2) Gleichzeitig wird der Einfluss aller anderen potenziellen Störvariablen ausgeschaltet (vgl. Huber 2009: 69). Sind diese beiden Bedingungen erfüllt, ist es möglich, die Veränderungen der gemessenen bzw. abhängigen Variable (AV) eindeutig auf die Veränderungen der manipulierten bzw. unabhängigen Variablen (UV) zurückzuführen. Ein Experiment gilt dementsprechend als intern hoch valide und bestgeeignete Methode zum exakten Nachweis von Kausalbeziehungen (vgl. ebd.: 90). Die systematische Manipulation der UV ist dabei für die gegebene Fragestellung theoretisch relativ leicht dadurch umzusetzen, dass verschiedene Texte als Stimuli an die Teilnehmer der Studie ausgegeben werden, die die im oben beschriebenen Sinne operationalisierten Narrationsmerkmale entweder enthalten oder nicht. Die zweite Bedingung – die möglichst vollständige Kontrolle aller Störvariablen –kann aber meist nur unter Laborbedingungen gewährleistet werden. Aussagen darüber, wie die untersuchten Größen außerhalb des Labors (im ‚echten‗ Leben) zusammenspielen, können nur bedingt getroffen werden. Die externe Validität solcher Designs ist dementsprechend gering. Wie aber bereits im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen analytisch gültigen und pragmatisch gültigen Narrationsmerkmalen angesprochen, möchte die Kommunikationswissenschaft eben vor allem Aussagen generieren, die in realen Rezeptionssituationen Gültigkeit besitzen. Externe Validität hat also im Fach einen besonderen Stellenwert (vgl. Trepte/Wirth 2004: 63). Deswegen wurde entschieden, die Studie nicht im Labor sondern im Feld (bzw. mit so viel Feld-Charakter wie möglich) durchzuführen: Der Rezeptionskontext und die Stimulustexte sollten von den Versuchspersonen (Vpn) so natürlich wie möglich wahrgenommen werden (s.u.). Die Kontrolle möglicher Störvariablen konnte so nur partiell und indirekt erfolgen, indem zahlreiche potenzielle Einflussgrößen aus der Literatur abgeleitet und miterhoben wurden, um ihr Gewicht im Nachhinein evaluieren und ggf. aus den anderen Zusammenhängen herausrechnen zu können. Die zweite Bedingung an ein Experiment ist damit nur eingeschränkt erfüllt, weswegen von einem Quasi-Experiment gesprochen wird (vgl. Huber 2009: 197ff). Aus forschungsökonomischen Gründen wurde außerdem darauf verzichtet, alle Prämissen des DTA im Design abzubilden: Um zu schauen, ob überhaupt von einem Zusammenhang von Narrationsmerkmalen und Unterhaltungserleben ausgegangen werden darf, wurde nicht auf eine simultane Wechselbeziehung zwischen beiden Größen getestet, sondern zunächst die einfache (einseitige) kausale Beweislogik herangezogen. Die Narrationsmerkmale wurden da79 Methodisches Vorgehen bei als UV mit je zwei Stufen (Anwesenheit vs. Abwesenheit) und das Unterhaltungserleben als abhängige Variable (AV) aufgenommen. Außerdem erschien beim eher explorativen Charakter dieser Studie der Aufwand einer dynamischen Operationalisierung zu hoch. Die Erhebung der Daten erfolgte über eine postrezeptive Befragung. Diese Befragung war vollstandardisiert, womit vor allem eine gute Vergleichbarkeit der Befragten sichergestellt werden sollte, um eine spätere statistische Auswertung zu ermöglichen (vgl. Scholl 2003: 74). 8.1 Auswahl und Variation des Stimulus-Materials Weit weniger einfach als gedacht, gestaltete sich die Auswahl geeigneten StimulusMaterials. Denn die im vorangegangenen Abschnitt angesprochene externe Validität umfasst mehr, als eine Vp in einer möglichst natürlichen Umgebung mit einem Stimulus zusammenzubringen. Auch der Stimulus selbst sollte als hinreichend natürlich wahrgenommen werden. Von daher erschien es am Sinnvollsten, nicht selbst kreativ tätig zu werden und Experimentaltexte zu verfassen, sondern unter ‚echten‗ Texten nach geeignetem Material Ausschau zu halten. Geeignet bedeutete in dem Fall, dass ein Text folgenden Kriterien genügen musste. Er musste - intuitiv sowohl als narrativ als auch als Geschichte erscheinen, - alle drei Narrationsmerkmale enthalten, - die Narrationsmerkmale so realisieren, dass sie ohne größeren Aufwand eliminiert werden können, ohne dass die Veränderung auf die jeweils anderen Merkmale wirkt32, - hinreichend kurz sein, sodass er vollständig zur Rezeption ausgegeben werden kann, ohne dass Abbrüche oder Reaktanz-Effekte zu befürchten waren - und weitgehend unbekannt sein. Nach mehreren gescheiterten bzw. wenig zufriedenstellenden Manipulationsversuchen33 fiel die Auswahl dabei letztendlich auf zwei sehr unterschiedliche Texte: Die Geschichte Bed and Breakfast stammt aus dem Internetforum www.kurzgeschichten.de und wurde dort von einem Autor unter dem Pseudonym Kata Strophe veröffentlicht. Die Geschichte wurde nicht nur ausgewählt, weil sich viele Narrationsmerkmale gut an ihr variieren lassen, sondern auch, 32 Zu den Schwierigkeiten der experimentellen Variation von Medienangeboten siehe z.B. Woelke 2004. So wurde z.B. angenommen, dass sich Heftromane besonders gut eignen müssten, da sie die meisten der genannten Kriterien erfüllen und noch dazu sehr festen Mustern folgen, was sie sehr gut vergleichbar machen würde. Bei näherem Hinsehen ergab sich aber ein recht interessantes Problem: In keinem untersuchten Text ließen sich die Narrationsmerkmale zufriedenstellend voneinander isolieren. Das Setting ist in der Regel so besonders, dass es als Teil des Points betrachtet werden muss und die meisten Handlungen ergeben wiederum nur in diesem Setting Sinn. So handelt z.B. ein Science-Fiction-Roman davon, wie ein Raumschiff in einen intergalaktischen Sturm gerät und nur gerettet werden kann, indem der Protagonist sehr spezifische Handlungen mit dem ebenfalls sehr spezifischen Inventar des Raumschiffs ausführt. Da die Handlungen aber eben so außergewöhnlich sind, werden sie nur verstanden, wenn sie detailliert beschrieben werden. Wenn auch nicht so offensichtlich, funktionieren auch Arzt-, Adels,- oder Western-Heftchen in analoger Weise. 33 80 Methodisches Vorgehen weil sie dort häufig angeklickt wurde und positive Bewertungen bekommen hat 34. Der Inhalt lässt sich in etwa folgendermaßen zusammenfassen: Bed and Breakfast Es wird beschrieben, wie ein Wanderer nachts durch den Schnee einer recht apokalyptischen Landschaft auf eine bewohnte Kirche zugeht und dort um Unterkunft bittet. Die Bewohner der Kirche – zwei skurrile, feindselige Gestalten – gewähren ihm das Nachtlager. Im weiteren Verlauf werden die schäbige Einrichtung der Kirche, ihre ziemlich heruntergekommenen Bewohner und der Wanderer detailliert in ihrem Erscheinungsbild und beim Verrichten trivialer Tätigkeiten beschrieben (Essen kochen, eine Schlafstätte vorbereiten etc.). Außergewöhnlich ist allenfalls, dass der Wanderer neben den Pfirsichen auch zahlreiche Waffen im Gepäck hat und eine Art Söldner zu sein scheint. Beim später beschriebenen gemeinsamen Abendessen taucht eine vierte Person auf, ein verwahrlostes Mädchen, was auch in der Kirche wohnt und sich ausgesprochen devot gegenüber ihren beiden Mitbewohnern verhält, die sie schlecht behandeln. Im Verlauf des Abends bietet ein Bewohner dem Wanderer das Mädchen gegen Bezahlung für sexuelle Gefälligkeiten an. Der Wanderer lehnt ab. Alle legen sich schlafen. Am nächsten Morgen beobachtet der Wanderer weiter, wie schlecht das Mädchen behandelt wird. Er entschließt sich, es freizukaufen und mit sich zu nehmen. Das wird von den anderen beiden vehement abgelehnt, worauf es zum Streit kommt. Der Streit gipfelt in einem blutigen, detailliert beschriebenen Kampf, in dessen Verlauf beide Kirchenbewohner getötet werden. Der Wanderer nimmt das schweigende Mädchen mit sich. Als er ihr am Abend ein Nachtlager bereiten will, bricht sie ihr Schweigen, indem sie enthüllt, dass die Getöteten ihre Brüder waren und attackiert den Wanderer mit einem Messer. Der Wanderer wehrt sich, wobei sie versehentlich tödlich verletzt wird. Er beerdigt sie und zieht weiter. Quelle: http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=46529 Diese Geschichte in ihrer unveränderten Fassung wurde als Stimulus A ausgegeben und umfasst 4340 Wörter. Stimulus B sollte denselben Text beinhalten nur mit minimalen Angaben zur Textwelt. Weggelassen wurden alle Beschreibungen, die nicht unmittelbar für das Verständnis der Handlung relevant sind. Darunter fielen allgemeine Beschreibungen des Settings, Adjektive, Adverbien, Zeit- und Richtungsangaben, aber auch räumliche Relationen (z.B. Angaben über Entfernungen). Außerdem wurden Begriffe untergeneralisiert (so wurde z.B. statt einer „Kirche― nur noch ein „Gebäude― erwähnt). Mit 3313 Wörtern war diese Textversion deutlich kürzer als das Original. Mit Stimulus C sollte eine Variante des Textes erzeugt werden, die keinen Point enthält. Da aber keine Literatur vorliegt, die das Konstrukt Point ausreichend konkret formalisiert, wurde Point im Rahmen der Untersuchung provisorisch mit allem ‚Außergewöhnlichen‗ gleichgesetzt. In einer Gruppendiskussion mit vier Teilnehmern (darunter zwei Literaturwissenschafts-Studentinnen) wurde versucht, das Außergewöhnliche an Bed and Breakfast herauszuarbeiten. Neben dem eigentlichen Konflikt – der Streit und der anschließenden Ermordung des Bruderpaars – wurden (erstaunlich einstimmig) noch weitere Aspekte des Textes als hinreichend unalltäglich identifiziert. So wurden auch sämtliche Hinweise, die die Eskalation andeuten könnten (vor allem die Erwähnung von Waffen und feindseligem Gebärden) eliminiert. Außerdem wurden Informationen zu der recht skurrilen Lebenssituation der Kirchenbewohner getilgt. Darunter fielen zahlreiche Beschreibungen des desolaten hygienischen Zu- 34 Zur Bewertung konnten die Leser 0 bis 5 Sterne verteilen. Was im Einzelnen positiv bewertet wurde – ob der Unterhaltungswert, der ästhetische Gehalt etc. – kann allerdings nicht festgestellt werden. 81 Methodisches Vorgehen stands, in dem sie zu leben scheinen und der Umstand, dass das Mädchen offensichtlich zur Prostitution gezwungen wird. Übrig geblieben ist im Grunde ein Text, der lediglich beschreibt, wie ein Wanderer bei Fremden zu Abend isst, bei ihnen übernachtet und am nächsten Morgen wieder aufbricht. Die Eingriffe waren so massiv, dass Stimulus C nur noch 1869 Wörter umfasst. Das große Problem an Bed and Breakfast ist allerdings, dass der Text fast ausschließlich aus Handlungen im festgelegten Sinne besteht. Würde man diese für eine dritte TreatmentManipulation beseitigen, hätte man nahezu kein Material mehr übrig. Aus diesem Grund wurde entschieden, das Versuchsdesign um einen zweiten Basis-Text zu erweitern. Die Wahl fiel dabei auf die literarische Kurzgeschichte Schwere Stunde von Thomas Mann: Schwere Stunde Ein Mann sitzt nachts an einem Manuskript, das offensichtlich ein Theaterstück werden soll. Er hat eine Schreibblockade, steht vom Schreibtisch auf und lehnt sich an den Ofen, wo er über so einige Dinge nachdenkt: seinen schlimmen Schnupfen, seine Jugend, seine Familie und vor allem seine Konkurrenz. Er zerfließt eine Weile darüber in Selbstmitleid, dass es einen Konkurrenten gibt, dem das Schreiben allzu leicht fällt und der sich nicht so quält und körperlich und geistig schindet, um Großes leisten zu können. Schließlich fasst er neuen Mut, geht ins Nebenzimmer und küsst seine schlafende Frau, geht wieder zurück an den Schreibtisch und schreibt das Manuskript fertig. Quelle: Mann, T. (Hrsg.): Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Frankfurt: Fischer. Der Text hat zwei Besonderheiten gegenüber Bed and Breakfast, die ihn für die Studie interessant machen: Zu allererst enthält der Text kaum Handlungen, sondern portraitiert eher den Bewusstseinsstrom des Protagonisten. Die wenigen beschriebenen Handlungen können gut in Zustandsbeschreibungen oder iterative bzw. durative Vorgänge umformuliert oder ganz entfernt werden, ohne dass sich das Wesen des Textes zu sehr ändert. Das zeigt sich auch daran, dass sich die Originalversion mit 2816 Wörtern und die Version ohne Handlungen mit 2540 Wörtern in ihrer Länge nicht derart drastisch unterscheiden wie einige der oben beschriebenen Stimuli. Zum anderen lässt sich Außergewöhnlichkeit – der Point – mit diesem Text ganz anders operationalisieren als in Bed and Breakfast (oder wie es Experimenten von Brewer und Lichtenstein geschehen ist). Denn oberflächlich betrachtet ist der Point hier ein sehr schwacher: irgendein Autor hat kurz eine Schreibblockade, überwindet sie aber. Der eigentliche – starke Point – versteckt sich in Details. Ganz beiläufig webt Mann u.a. ein, dass der Schriftsteller feuerrotes Haar und eine Hakennase hat, in Jena lebt und sein ärgster Konkurrent in Weimar wohnt. Es geht also ganz und gar nicht um irgendeinen Autor sondern um einen der größten deutschen Dichterfürsten überhaupt – um Friedrich Schiller, der an seinem Wallenstein sitzt und durch das Genie Goethes in die Verzweiflung getrieben wird. Der Point besteht hier also weniger nicht so sehr im dargestellten Konflikt als in der relativen Prominenz des Protagonisten – sofern sie denn erkannt wird. Auch diese Informationen, die den Protagonisten ‚enttar82 Methodisches Vorgehen nen‗ und so den Point freilegen können, lassen sich relativ einfach entfernen und ergaben einen Stimulus mit einem Umfang von 2756 Wörtern. Der Vergleichbarkeit wegen wurde für Schwere Stunde auch eine Textversion mit minimalem Gehalt einer Diegese erzeugt. Die Kriterien, nach denen Informationen getilgt wurden, waren dabei dieselben wie oben bereits beschrieben und ergaben einen Stimulus mit nur noch 2278 Wörtern. Insgesamt konnten damit folgende sieben Stimulus-Varianten getestet werden: A  Bed and Breakfast – Original B  Bed and Breakfast – ohne Welt C  Bed and Breakfast – ohne Point D  Schwere Stunde – Original E  Schwere Stunde – ohne Welt F  Schwere Stunde – ohne Point G  Schwere Stunde – ohne Handlung35 Dieses Vorgehen widerspricht strenggenommen der allgemein üblichen Experimentallogik, wobei die Kontrollgruppen, diejenigen sind, die kein Treatment bekommen. Theoretisch hätte man auch diesen Weg gehen und nach intuitiv definitiv nicht-narrativen Texten suchen können, um diese experimentell zu ‚narrativieren‗. So ein Vorgehen erscheint aber als ungleich komplizierter. Im Grunde erfasst die Studie also nicht den Effekt der Anwesenheit eines Merkmals sondern den seiner Abwesenheit. Die formale Präsentation der Treatments war dabei relativ schlicht gehalten. Neben einem der sieben Stimuli enthielten die ausgegebenen Materialien jeweils einen kurzen Text mit Ausfüllanweisungen. Um Priming-Effekte zu vermeiden, wurden die Befragten darin nicht über die eigentlichen Ziele der Untersuchung aufgeklärt. Bei der Formulierung wurde deswegen auch darauf geachtet, dass nirgendwo Begriffe wie narrativ, Erzählung oder Geschichte auftauchten. Stattdessen wurde immer neutral vom ‚Gelesenen‗ oder dem ‚Text‗ gesprochen und die Untersuchung enthielt nach außen den Titel Studie zur Ermittlung von Leseeindrücken. Aus Kostengründen war geplant, die Stimuli als PDF-Dokumente ausgegeben werden – in der Hoffnung, dass die externe Validität nicht allzu sehr leiden würde. 8.2 Aufbau des Fragebogens Die Untersuchung wurde computergestützt durch die Software EFS als OnlineBefragung durchgeführt. Diese Vorgehensweise sollte nicht nur die spätere Auswertung vereinfachen, die elektronische Form des Fragebogens ermöglichte es außerdem, ohne großen Aufwand die Items der einzelnen Skalen zufällig zu rotieren, um möglichen Verzerrungen der Antworten durch sogenannte Primacy- oder Recency-Effekte (vgl. z.B. Brosius/Koschel/Haas 35 Die Stimulus-Versionen sind vollständig im Anhang einzusehen. Die vorgenommenen Variationen gegenüber dem ursprünglichen Text sind markiert. 83 Methodisches Vorgehen 2009: 102) vorzubeugen. Außerdem verringert sich die Gefahr, der Beantwortung nach sozialer Erwünscht, da kein direkter Kontakt zwischen Forscher und Vpn gegeben ist (vgl. Scholl 2003: 48). Der Fragebogen, der zum Einsatz kam, setzt sich insgesamt aus 15 thematischen Komplexen zusammen, deren Items größten Teils bereits bestehenden und ausreichend validierten Skalen entnommen sind. Um den Fragebogen in einem für die Vpn angenehm bearbeitbaren Umfang zu halten, wurde versucht, sich bei der Übernahme auf die jeweils zentralen Items zu beschränken36. Die Auswahl erfolgte dabei nach zwei Kriterien: Intuition (Wie gut bildet die Formulierung genau die Aspekte des Konstrukts ab, die im Hinblick auf die gegebene Fragestellung relevant sind?) und – sofern Informationen dazu vorhanden waren – Validierungsgrad (Welches sind die jeweils höchstladenden Items der Skalen?) 37. Die einzelnen inhaltlichen Blöcke sollen im Folgenden gemäß der Reihenfolge, in der sie auch im Fragebogen auftauchen, vorgestellt werden38: Lesebedingungen Am Anfang des Fragebogens befindet sich eine Seite mit Fragen, die inhaltlich eher von sekundärem Interesse sind und mehr dazu dienen sollen, dass sich die Vp mit dem Layout und dem Antwortmechanismus vertraut macht. Erhoben wird, ob der Teilnehmer den Text ungestört lesen konnte und mit welcher Motivation er an der Studie teilnimmt (wissenschaftliches Interesse, Gutscheinverlosung, einem Examenskandidaten helfen und/oder Lust, den Text zu lesen). Außerdem wurde gefragt, ob die Personen den Text bereits kannten. Denn vor allem in Bezug auf den Thomas-Mann-Text war zu befürchten, dass Bekanntheit die Ergebnisse verzerren könnte, weil sich Urteile über den Text mit Urteilen über den Autor vermischen oder Unterhaltungseindrücke von Qualitäts- bzw. Einschätzungen des ästhetischen Gehalts des Textes überlagert werden. Unterhaltungserleben Die Erhebung des Unterhaltungsempfindens erfolgt primär mit dem aus der TDU hervorgegangenen Unterhaltungsindex UI100 (Früh/Wünsch/Klopp 2004), der in Kapitel 2 bereits ausführlich vorgestellt worden ist. Die Adjektivlisten und Statements wurden ohne Verän- 36 Welche Items im Einzelnen aufgenommen worden sind, kann im Anhang eingesehen werden. Dort ist der vollständige Fragebogen abgedruckt. Die einzelnen thematischen Blöcke sind dabei ausgewiesen, ebenso ggf. die Skalen auf denen sie aufbauen. 37 Dass eine derart eigenmächtige ‚Verstümmelung‗ langwierig erarbeiteter Messinstrumente mit hoher Wahrscheinlichkeit erheblichen Einfluss auf deren interne Konsistenz hat, versteht sich von selbst. Die damit ermittelten Daten sollen dementsprechend auch nicht als feste Ergebnisse gewertet werden, die die Stärke eines Zusammenhangs ausweisen sondern lediglich als Tendenzen, die erkennen lassen, wo überhaupt Zusammenhänge vermutet werden können und ggf. welche Richtung diese haben. 38 Eine Ausnahme stellen, die Manipulation-Checks (s.u.) dar, die thematisch als ein Block gefasst werden, im Fragebogen aber an unterschiedlichen Stellen eingestreut werden. 84 Methodisches Vorgehen derungen übernommen, ebenso wie die Formulierung der Ausfüllanweisung39. Als Ergänzung wurde außerdem das ‚naivere‗ Maß Allgemeines Lesevergnügen herangezogen (Appel et al. 2002) (siehe ebenfalls Kapitel 2.4). Das Maß harmonisiert zwar nicht mit den Prämissen der TDU, da es mit ‚pleasure‗ ausschließlich die hedonistische Dimension von Unterhaltung misst. Es ist aber insofern interessant, da man prüfen kann, ob die Narrationsmerkmale nicht vielleicht nur diese hedonistische Komponente ansprechen. Presence Aufgrund der engen Bezüge zwischen dem potenziellen Narrationsmerkmal Textwelt und dem Presence-Konstrukt, soll das Präsenzerleben der Vpn auf jeden Fall erhoben werden. Dazu existiert mittlerweile eine Vielzahl umfangreicher Fragebögen, die Presence oder verwandte Konstrukte wie Transportation auf mehreren Dimensionen erheben. Im Rahmen dieser Studie interessieren aber nicht alle Aspekte von Presence gleichermaßen. Im Fokus sollten vor allem Items stehen, die ermitteln, ob der Rezipient in der Lage war, ein SSM zu konstruieren, die mediale Welt als PERF anzunehmen und/oder wie lebendig er das Dargestellte empfunden hat. Items, die sich auf wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten innerhalb der evozierten Welt beziehen, können hingegen ausgeschlossen werden, weil diese Dimension von Presence bei der Rezeption von Print-Medien keine Rolle spielt. Am geeignetsten, die gewünschten Aspekte abzubilden, scheinen letztlich die beiden Skalen Spatial Situation Model und Räumliches Präsenzerleben, Aspekt ‚Selbstlokalisation‘ aus der deutschen Version des MEC-Fragebogens zur Ermittlung von Presence (Wirth et al. 2008). Sie wurden von der Skala Vorstellbarkeit aus den Skalen zum Leseerleben (Appel et al 2002) ergänzt, die zusätzlich zur Raumwahrnehmung und gefühlten Verortung des Rezipienten evaluiert, wie sehr die Ereignisse in ihrem Verlauf vorgestellt werden können und wie lebendig die dargestellten Personen wirken. Einschätzung des Narrations-Grads Herzstück des Fragebogens ist die Erhebung des Syndroms ‚Narration‗. Gemäß den Ausführungen im Theorieteil dieser Arbeit sollen die Ebene des narrativen Inhalts und der narrativen Vermittlung dabei getrennt evaluiert werden: Zunächst wird erhoben, wie sehr die Vp dazu neigt, dem gelesenen Text das Label ‚Geschichte‗ zu geben. Der vollständige Itemtext lautet: „Einmal ganz unabhängig davon, ob Sie den Text gut oder schlecht, unterhaltsam oder langweilig fanden: Wie sehr entspricht der Text in Ihrer Vorstellung dem, was Sie unter einer prototypischen ‚Geschichte‘ verstehen?“ Mit dieser Formulierung soll 39 Der Index wurde als einziger nicht als reiner Mittelwert aus den Ausprägungen aller Skalenitems gebildet, sondern nach gemäß den Anweisungen von Früh, Wünsch und Klopp als multiplikatorischer Index berechnet. Da Früh und Kollegen ausdrücklich verlangen, dass Ausprägungen den Wert 0 annehmen können müssen, dies sich aber mit den Eingabevorgaben von EFS nicht vereinbaren ließ, mussten die Skalen des UI 100 nachträglich umkodiert werden. 85 Methodisches Vorgehen sichergestellt werden, dass die Frage auch wirklich im Sinne des Prototypen-Konzepts und nicht im Sinne des Prince‗schen Begriffs von Narrativität beantwortet wird, wo Narrationsgehalt und Qualitätsurteile unscharf ineinanderfließen. Um Überschneidungen mit eben diesem Narrativitätskonzept zu evaluieren, gelangten die Rezipienten, die der Ansicht waren, ein Stimulus sei eine Geschichte40 darüber hinaus zu einer Frage „Finden Sie, der Text erzählt eher eine gute oder eine schlechte Geschichte?“ Alle anderen Befragten werden direkt zur anschließenden Frage „Wie narrativ war der Text?“ weitergeleitet. Insgesamt werden also die Konstrukte ‚Geschichte‗, ‚gute Geschichte‗ und ‚narrativ‗ erhoben. Um zusätzlich sicher zu stellen, dass das Unterhaltungsempfinden nicht ins Narrationsempfinden hineinspielt, wurde bei der Platzierung dieser drei Items darauf geachtet, dass sie in ausreichendem Abstand zu den Unterhaltungsitems stehen. Um bei diesen wichtigen Fragen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit voraussetzten zu können, wurde das Antwortmuster hier deutlich verändert: Den Vpn wurden die Fragen nicht als Teil einer Item-Batterie präsentiert, sondern hatte jedes Item hatte eine ganze Fragebogenseite für sich. Außerdem waren die Frage graphisch etwas aufwändiger gestaltet: Geantwortet wird nicht wie sonst durch Anhaken einer Check-Box, sondern indem man einen animierten Regler an die gewünschte Position auf der jeweiligen Skala zieht. Need for Cognition Eines der häufigsten Persönlichkeitsmerkmale, dass herangezogen wird, um Unterschiede im Zusammenhang mit Informationsverarbeitungsprozessen zu erklären ist Need for Cognition (NfC). Das Konstrukt misst die Neigung einer Person, sich auf kognitive Aktivitäten einzulassen und diese zu genießen (vgl. Petty/Cacioppo 1982: 116) und ist interessant, weil u.a. die Tendenz nachgewiesen wurde, dass das Unterhaltungserleben (von Krimis) mit zunehmendem NfC abnimmt (vgl. Knobloch-Westerwick/Keplinger 2006: 143f). In dieser Studie wird zur Erhebung von NfC die Kurzfassung der Skala von Bless et al. (1994) verwendet, die sich eng an das Original von Petty und Cacioppo (1982) anlehnt, aber zusätzlich den Vorteil bietet, dass ihre Itemformulierungen speziell für den deutschen Sprachraum validiert wurden. Räumliches Vorstellungsvermögen Wie in Kapitel 2.3.2 kurz erwähnt, konnte nachgewiesen werden, dass das Entstehen von Presence nicht nur von den Cues zur räumlichen Orientierung abhängt, die ein Medienangebot bereitstellt, sondern auch maßgeblich von der Fähigkeit einer Vp beeinflusst ist, überhaupt räumlich zu denken. (Vgl. Mögerle et al. 2006) Diese Fähigkeit wurde im Fragebogen mit den Items der Sub-Skala Bildliches Vorstellungsvermögen aus dem aus der 40 Als solche werden alle Vpn betrachtet, die mindestens die mittlere Position auf der Skala wählen, sodass ihnen ein Wert ≥ 4 zugeordnet wird. 86 Methodisches Vorgehen deutschen Version des MEC-Fragebogens zur Ermittlung von Presence (Wirth et al. 2008) erhoben. Thematisches Interesse Thematisches Interesse gilt in der medienpsychologisch orientierten Kommunikationswissenschaft als Katalysator für viele kognitive Prozesse und wird u.a. im Zusammenhang mit der Entstehung von Presence (vgl. Mögerle et al. 2006) diskutiert, weswegen es als mögliche Kontrollvariable ebenfalls im Fragebogen berücksichtig wird. Um das Konstrukt zu erheben, wurden vier Items aus der Subskala Bereichsspezifisches Interesse, die ebenfalls aus dem MEC-Fragebogens zur Ermittlung von Presence (Wirth et al. 2008) stammt, benutzt. Need for Entertainment Seit relativ kurzer Zeit wird auch die interessante Annahme diskutiert, dass Menschen sich generell in ihrem Bedürfnis nach Unterhaltung unterscheiden, Unterhaltungsorientierung selbst also ein differenzierendes Persönlichkeitsmerkmal ist. Sind Unterhaltungserleben und Narrationseinstufungen tatsächlich gekoppelt, kann es gut sein, dass die Beziehung durch dieses Persönlichkeitsmerkmal beeinträchtigt wird. Unterschiede in der Unterhaltungsorientierung ermittelt die Need for Entertainment Scale (NEnt) von Brock und Livingston (2004). Die vollständige Skala erhebt das Konstrukt auf den drei Dimensionen Drive for Entertainment, Utility of Entertainment und Passivity of Entertainment. Im Validierungsverfahren der Skala erreichte allerdings nur die erste Dimension als Sub-Skala eine zufriedenstellende interne Konsistenz (Cronbachs alpha = .81), weswegen auch nur Items aus dieser Skala ins Deutsche übersetzt und in den Fragebogen aufgenommen wurden41. Medienpräferenz Zudem werden die Befragten gebeten, per drag‘n‘drop-Verfahren eine Liste aus den Medien Fernsehen, Internet, Hörbücher, Radio, Bücher und Illustrierte/Zeitschriften in eine neue Reihenfolge zu bringen, die die Häufigkeit abbildet, mit der sie diese Medien in ihrer Freizeit zu Unterhaltungszwecken nutzen. Diese Frage ist zum einen gesetzt worden, um die bis dahin sehr monotonen Antwortvorgaben aufzulockern. Zum anderen ist es denkbar, dass eine schwache Affinität zu Printmedien u.U. einen negativen Einfluss auf den Genuss am Text hat. Manipulation-Checks Zusätzlich wurden Fragen eingebaut, mit denen getestet werden soll, ob die Manipulation des Stimulus-Materials auch tatsächlich geglückt ist, also das verändert hat, was verändert werden sollte (vgl. zu Manipulations-Checks z.B. Bortz/Döring 2006: 117). Insgesamt wa41 Nach Trepte bildet diese Skala das Gesamtkonzept aber ohnehin hinreichend ab (vgl. Trepte 2006: 148f). 87 Methodisches Vorgehen ren drei solcher Checks notwendig – einer für jedes operationalisierte Narrationsmerkmal. Für das Narrationsmerkmal Textwelt mussten dabei keine neuen Items aufgenommen werden, da aus den bereits erhobenen Subskalen SSM und Vorstellbarkeit zur PresenceErfassung ein Index „Textwelt― errechnet kann, der abbilden soll, wie deutlich sich im Kopf des Rezipienten die Textwelt konturiert. Der Aspekt Selbstlokalisation, der ebenfalls vom Presence-Index erfasst wird, wurde dabei gezielt ausgeschlossen, weil er über die reine plastische Vorstellung des dargestellten Raums und der Personen hinausgeht. Hinzugekommen ist die Bitte, den Text auf zwei Dimensionen einzuordnen: Auf einer ebenfalls wieder fünf-stufigen Skala sollten die Vpn ihn einmal zwischen den zwei Polen statisch und dynamisch und einmal zwischen den Polen alltäglich/normal vs. außergewöhnlich/spektakulär einordnen. Im ersten Fall sollte damit geprüft werden, ob die Abwesenheit bzw. Anwesenheit von Handlungen wahrgenommen wird; im zweiten Fall, ob der jeweils gesetzte Point tatsächlich dazu beiträgt, dass das Geschilderte als ungewöhnlich eingestuft wird. Demographische Angaben Neben den Angaben zu Geschlecht, Alter und Bildungsstand wurde im Fall von Akademikern noch die studierte Fachrichtung abgefragt. Dadurch sollte später geprüft werden können, ob übermäßig viele Teilnehmer einen Ausbildungshintergrund haben, der es ihnen a) ermöglicht, die Absicht der Frageitems zu antizipieren, weil die verwendeten Skalen u.a. bekannt sind (z.B. bei Psychologiestudenten) oder sie b) mit einer weniger „naiven― Rezeptionsstrategie als den Durchschnittsleser der Grundgesamtheit an narrative Texte herantreten lässt (z.B. bei Studierenden einer Philologie, die ggf. gewohnt sind, narrative Texte nach ästhetischen Kriterien zu beurteilen). Die Anzahl und Polarisierung der Skalenstufen der Instrumente, aus denen sich dieser Fragebogen zusammensetzt ist in den Original-Skalen ausgesprochen heterogen. Um die Vpn nicht zu verwirren, wurden die Skalen für Fragen im Matrixdesign auf ein einheitliches Maß angepasst. Dabei wurde sich für fünf-stufige Skalen42 entschieden, bei denen die Pole jeweils mit trifft voll und ganz zu bzw. trifft überhaupt nicht zu beschriftet sind. Durch die Entscheidung für eine ungerade Stufenzahl soll vermieden werden, dass die Vpn in eine bestimmte Richtung gedrängt werden und so künstlich Meinungen erzeugt werden (vgl. Scholl 2003: 163). Um Zustimmung auf mittlerem Niveau dabei aber nicht mit eventueller Unentschlossenheit der Befragten zu verwechseln, hatten diese bei jedem Item zudem die 42 Eine Ausnahme wurde für die drei Items, die die Konstrukte ‚Geschichte‗, ‚gute Geschichte‗ und ‚narrativ‗ erfassen sollen gemacht. Um möglicherweise auch sehr feine Unterschiede sichtbar zu machen, wurde sich hier für eine 7-stufige Skala entschieden. 88 Methodisches Vorgehen Option, mit weiß nicht zu antworten, was als benutzerdefiniter Missing Value kodiert wurde. Da es sich nicht vermeiden ließ, viele längere Item-Batterien hintereinander zu positionieren, wurde darauf geachtet, dass gelegentlich die Polarisierung der Skalen geändert wurde, um Ja-Sager- bzw. Nein-Sager-Effekte zu vermeiden (vgl. Scholl 2003: 172). Optisch war der Fragebogen, soweit es die Vorgaben von EFS zuließen, an das Design des Stimulus-Materials angepasst. Außerdem wurde hier ebenfalls darauf geachtet, dass nirgendwo Begriff wie Narration, Geschichte etc. auftauchten. 8.3 Pretest und Änderungen des Vorgehens Um mögliche Schwierigkeiten im Umgang mit Fragebogen und Stimuli aufzudecken, wurde vor der Hauptuntersuchung ein Pretest mit N = 14 Teilnehmern (2 pro StimulusVersion) durchgeführt. Hierzu wurden zwei unterschiedliche Vorgehensweisen gewählt: Bei der einen Hälfte der Tester kam die Methode des lauten Denkens (MLD; vgl. Scholl 2003: 194) zum Einsatz, bei der die Befragten aufgefordert wurden, alle ihre Gedanken während der Rezeption des Textes und des Ausfüllens des Fragebogens laut zu kommentieren. Näher wurden diese Probanden nicht instruiert. Die zweite Hälfte der Tester war aufgefordert worden, mit dem Pretest-Tool zu arbeiten, das EFS zur Verfügung stellt und welches es ermöglicht, Kommentare direkt schriftlich im Fragebogen abzugeben. Dabei war diese Gruppe aufgefordert, vor allem auf folgende Aspekte zu achten: - Verständlichkeit der Item-Formulierungen - Semantischen Überschneidungsfreiheit der Items - Länge des Stimulus-Materials und des Fragebogens - Natürlichkeit der Rezeptionssituation Beide Methoden führten zu ähnlichen Erkenntnissen: Es konnte positiv festgehalten werden, dass die Formulierungen der Items und der Ausfüllanweisungen im Großen und Ganzen ausreichend präzise und überschneidungsfrei waren. Auch entsprach die technische Umsetzung des Online-Fragebogens den Erwartungen (Links und Filter funktionierten einwandfrei, das Layout wurde als angenehm empfunden und ließ sich auf mehreren Bildschirmformaten und in mehreren Auflösungen gleichermaßen darstellen). Für die Rezeption der der Stimuli benötigten die Pretester im Mittel 12 min. Die durchschnittliche Bearbeitungsdauer des Fragebogens – abzüglich der (geschätzten) Zeit für die Kommentierung – lag bei 14 min. Der Zeitaufwand wurde insgesamt als vertretbar eingestuft, weswegen nicht mit Reaktanzeffekten oder einer allzu hohen Abbrecherquote bei der Hauptuntersuchung gerechnet werden musste. 89 Methodisches Vorgehen Deutlicher Änderungsbedarf zeichnete sich aber für die Darreichungsform des StimulusMaterials ab: Fast alle Pretester merkte an, dass die Situation, dass narrative Texte43 am Bildschirm rezipiert wurden, als ausgesprochen künstlich empfunden wurde. Um also nicht doch erhebliche Abstriche in puncto externer Validität in Kauf nehmen zu müssen, wurde daher entschieden, die Stimuli im Rahmen der Hauptuntersuchung doch in gedruckter Form auszugeben. Rückschlüsse auf die Gültigkeit der Hypothesen ließen sich aus den Pretestdaten noch nicht ziehen. Es deutete sich aber an, dass alle Treatment-Checks erfolgreich waren. 8.4 Durchführung der Hauptuntersuchung Der Online-Fragebogen war für die Hauptuntersuchung zwischen dem 29.11. und dem 12.12.2010 freigeschaltet. Die Stimuli wurden als im A5-Format gefaltete Booklets kurz vor und während dieses Zeitraums etwa zu gleichen Teilen in Lehrveranstaltungen der Universität Münster ausgeteilt und an öffentlichen Orten ausgelegt (Institutsbibliotheken und Cafés). Die Hoffnung dabei war, eine zumindest halbwegs heterogene Stichprobe zu generieren 44. Zudem wurde über den Twitter- und Facebook-Account der Universität Münster sowie über private Accounts und Homepages auf die Studie aufmerksam gemacht. Dennoch kann bei dieser Art, Versuchspersonen zu rekrutieren keineswegs von einer echten Zufallsstichprobe gesprochen werden45, sodass auch nicht von repräsentativen Daten ausgegangen werden darf. Außerdem kann durch die zufällige Verteilung der Vpn auf Experimental- und Kontrollgruppe nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Vpn hinsichtlich der interessierenden Merkmale gleichmäßig auf die Gruppen verteilen – dem sozialwissenschaftlichen Fachjargon nach liegt damit ein „Experiment mit nicht äquivalenter Kontrollgruppe― (Huber 2009: 198) vor. Aufgrund des relativ hohen Zeitaufwandes für die Vpn und der insgesamt eher heiklen Situation, dass ein Teilnehmer nicht nur mit dem Stimulus in Kontakt kommen muss, sondern es auch komplett an ihm liegt, innerhalb des Versuchszeitraums selbstständig den Fragebogen aufzurufen, wurde mit einer sehr niedrigen Rücklaufquote gerechnet. Da aber für signifikante 43 Begriffe wie narrative, Narration oder Geschichte vielen zwar nicht direkt. Die Pretester grenzten das Stimulusmaterial aber kategorial von Texten zur Informationsgewinnung ab („Für die Uni lese ich schon manchmal so am PC, aber nicht, wenn ich sowas lese.―). 44 Versuche ausschließlich mit Studierenden sind oft nicht extern valide, da sie Teil einer „Informationselite― (Trepte/Wirth 2004: 66) sind. Vor allem in Hinblick auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale – wie z.B. NfC – lassen sich bei solchen Testgruppen oft keine ausreichend großen Unterschiede identifizieren, um verallgemeinerbare Aussagen über deren Einfluss abzuleiten. 45 Eine Zufallsstichprobe setzt per Definition voraus, dass alle Elemente der Grundgesamtheit theoretisch die gleiche Chance haben müssen, Teil der Stichprobe zu werden (vgl. Scholl 2003: 33). Inhaltlich liegt es aber nahe, die Grundgesamtheit nicht weiter einzuschränken als auf alle hinreichend lesefähigen Sprecher der deutschen Sprache. Da die Studie aber allein schon geografisch stark eingeschränkt operiert, kann diese Chancengleichheit beim Zugang ausgeschlossen werden. 90 Methodisches Vorgehen Ergebnisse mindestens 130 Personen46 befragt werden sollten, wurden insgesamt 560 Booklets ausgegeben (80 Exemplare pro Stimulus). Als zusätzlicher Anreiz wurden unter allen Teilnehmern 20 Gutscheine im Wert von je 10 Euro verlost. Außerdem hatten wissenschaftlich interessierte Teilnehmer die Möglichkeit, Informationen zum Hintergrund und zu den Ergebnissen der Studie anzufordern. Mit N=197 aufgerufenen Fragebögen beträgt die Rücklaufquote zunächst 35,81 Prozent. Allerdings sind 51 Abbrüche zu verzeichnen, womit die Netto-Stichprobe nur noch bei N=146 (und die darauf runter gerechnete Ausschöpfungsquote bei 26,1 Prozent)47 liegt. Von diesen mussten allerdings keine weiteren „Bögen― ausgeschlossen werden, da die zentralen Fragen mit sogenannten do-answer-checks versehen waren, also z.B. zwingend Angaben zu Alter, Geschlecht oder Unterhaltungserleben gemacht werden mussten, um den Fragebogen zu beenden. Die angestrebte Versuchspersonenzahl konnte somit erreicht werden. 46 Dieser Wert wurde ermittelt, indem mithilfe der Software GPower (Version 3.1) für mehrere in der späteren Auswertung potenziell nützliche statistische Test-Verfahren a priori-Tests gerechnet wurden. Die angestrebte Power wurde dabei auf mindestens auf 1-β = .8 festgelegt, die Irrtumswahrscheinlichkeit durfte α = .05 nicht überschreiten. Die Effektgröße f2 wurde auf .10 gesetzt. 47 Da die meisten dieser Abbrüche auf den ersten zwei der insgesamt 24 Seiten der Online-Version des Fragebogens zu verzeichnen waren, kann man davon ausgehen, dass es sich um neugierige ‚Stippvisiten‗ gehandelt hat und die Abbrüche nicht auf Reaktanz-Effekte zurückzuführen sind. 91 9. Ergebnisse 9.1 Beschreibung der Stichprobe Die Hoffnung, dass sich die abgefragten Merkmale der Vpn relativ gleichmäßig auf die Stichprobe verteilen, hat sich leider in vielen Fällen nicht erfüllt. So sind z.B. mit 106 Befragten (72,6 Prozent) fast drei Viertel der Teilnehmer weiblich, lediglich 40 Teilnehmer (27,4 Prozent) sind Männer. Die Vpn waren zum Zeitpunkt der Befragung zwischen 17 und 55 Jahren alt, wobei das durchschnittliche Alter bei 25,39 Jahren liegt. Wie ungleich die verschiedene Tab. 2: Alters- und Geschlechterverteilung der Stichprobe Altersgruppen vertreten sind, ist nebenstehender Tabelle entnommen werden. Zerlegt man diese Werte auf die Quartile, wird noch deutlicher, wie sehr die Stichprobe zugunsten recht junger Befragter verzerrt ist: Bis zur dritten Quartilsgrenze, d.h. für 75 Prozent der Befragten, liegt das Alter bei 27 Jahren oder jünger. Außerdem sind die Vpn überdurchschnittlich gebildet. Alle Befragten haben mindestens Mittlere Reife. Außerdem gaben von denen, die als Schulabschluss mindestens Fachhochschulreife nannten, 86 Prozent an, zu studieren oder bereits ein Studium abgeschlossen zu haben. Das entspricht mit 71,2 Prozent an der Gesamtstichprobe einem Akademiker-Anteil von gut zwei Dritteln. Problematisch gestaltete sich auch die Auszählung der einzelnen Studienfächer. Dass die Philologien (mit 37,6 Prozent) und Kommunikationswissenschaft (mit 20 Prozent) dabei dominierten, war zu erwarten gewesen, da man hier Stimuli gezielt in Lehrveranstaltungen ausgegeben hatte. Was allerdings nicht vorausgeahnt wurde war, dass die Kategorie „Sonstige― mit 21, 6 Prozent ausgesprochen häufig genutzt werden würde. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das daran lag, dass Lehramtsstudenten offensichtlich das Bedürfnis haben, sich explizit als solche auszuweisen und leider lieber ihren Studiengang als die Fachrichtung angeben. Damit liegt für fast ein Fünftel der Fälle keine Angabe zum Studienfach vor. Durchaus positiv gestaltete sich dafür die zufällige Verteilung der Vpn auf die sieben Texte. Mit jeweils 16 bis 26 Fragebögen entfielen auf jeden Stimulus zwischen 11 und 17,8 Prozent der Befragten und die Gruppen waren hinreichend gleich groß um sie miteinander vergleichen zu können. 76 Teilnehmer (52, 1 Prozent) lasen dabei eine Version von Bed and Breakfast, 70 Teilnehmer eine von Schwere Stunde. Außerdem konnte bestätigt werden, dass der Mehrzahl der Befragten (93,2 Prozent) der Stimulus-Text vorher nicht bekannt war. Über die Rezeptionssituation selbst gaben die meisten 92 Ergebnisse Vpn (79,5 Prozent48) an, dass sie weitgehend ungestört verlaufen sei. Als häufigstes Motiv für die Teilnahme an der Studie wurde mit 77, 4 Prozent „einem Examenskandidaten helfen― angegeben. „Wissenschaftliches Interesse am Thema der Studie―(31,5 Prozent) und die „Teilnahme an der Gutscheinverlosung― (24 Prozent) spielten für die Befragten eine untergeordnete Rolle. „Lust, den Text zu lesen― war zwar das zweitstärkste Motiv, lag aber mit sehr deutlichem Abstand dahinter, da es nur von 39 Prozent der Befragten als Grund für die Teilnahme genannt wurde. Insgesamt kann also nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Rezeptionssituation für einen Großteil der Befragten von der ‚normalen‗/freiwilligen Lektüre von Unterhaltungstexten unterschied. 9.2 Manipulation Checks Um zu prüfen, ob es überhaupt gelungen ist, die drei Narrationsmerkmale im Sinne der jeweiligen Operationalisierungsvorschrift zu variieren, wurde für jedes einzelne ein Manipulation-Check durchgeführt: Um die Manipulation der wahrgenommenen Textwelt zu überprüfen, wurde zunächst aus den Subskalen SSM und Vorstellbarkeit des Presence-Index eine neue Variable Textwelt (s.o.) errechnet und als abhängige Variable in eine Varianzanalyse 49 (ANOVA für Analysis of Variance) aufgenommen. Allein schon im deskriptiven Output war dabei zu erkennen, dass sich die Vorstellbarkeit der Textwelt tatsächlich abhängig davon, ob ein Text detailreich oder detailarm ist, unterscheidet (M=3.0 vs. M=3.5). Durch den mit der ANOVA ausgeführten Vergleich der Varianzen zwischen und innerhalb der beiden Gruppen konnte mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von ≤ 0,1 % bestätigt werden, dass auch in der Gesamtpopulation ein Unterschied zwischen beiden Gruppen besteht (F(1,145)=12.1). Das Ergebnis änderte sich nur geringfügig, wenn man die Daten für die Stimulus-Varianten von Bed and Breakfast 48 Dieser Wert entspricht den kumulierten Häufigkeiten der Antworten zu den Items Ja, ich konnte die Texte in Ruhe und ohne Unterbrechungen lesen. und Ja, ich war ungestört, hatte aber nicht viel Zeit zum Lesen. 49 Voraussetzungen einer einfaktoriellen ANOVA sind neben Intervallskalierung der abhängigen Variable(n) strenggenommen u.a. auch Normalverteilung und Varianzhomogenität der Residuen zwischen den jeweils zu vergleichenden Gruppen (vgl. Bortz 2005: 284ff). Es sei darauf hingewiesen, dass sowohl der KolmogorovSmirnov- und der Shapiro-Wilk-Test (auf Normalverteilung) als auch der Levene-Test (auf Varaianzhomogenität) bei vielen in dieser Studie gesammelten Daten darauf hinweisen, dass diese Bedingungen verletzt sind. Die mathematische Verletzung der Normalverteilungsannahme lässt sich dadurch relativieren, dass graphische Überprüfungen von Normalverteilungsdiagrammen zeigen, dass die jeweiligen Werte in allen Fällen hinreichend nah an der Normalverteilungsgeraden liegen und ebenfalls einen weitgehend linearen Zusammenhang beschreiben. Gravierender ist das Problem der Varianzheterogenität. Denn zum einen brachten Versuche, die jeweilige Streuung gegen den Median abzutragen (zum Verfahren vgl. z.B. Brosius 2008: 395f), keine nennenswerten Verbesserungen. Zum anderen kommt erschwerend hinzu, dass ungleich große Teilstichproben miteinander verglichen werden und sich die Varianzanalyse in solchen Fällen nicht unbedingt als robust gegenüber Verletzungen ihrer linearen Prämissen erweist (vgl. Bortz 2005: 286f). Aufgrund der Größe der Gesamtstichprobe und der Tatsache, dass die Aufgabe einer ANOVA lediglich darin besteht, das Vorliegen eines Zusammenhangs zu zeigen und nicht die Stärke eines Zusammenhangs auszuweisen (vgl Backhaus et al. 2005: 151), wird ihr Einsatz dennoch als vertretbar eingestuft. Die genannten Probleme sollten allerdings im Hinterkopf behalten werden – vor allem in Fällen, in denen die Entscheidung für die Annahme oder Ablehnung einer Hypothese nur knapp ausfällt. 93 Ergebnisse und Schwere Stunde getrennt betrachtet. Die Manipulation der Vorstellbarkeit der Textwelt kann also als geglückt betrachtet werden. Für das Merkmal Point wurde entsprechend verfahren, indem für seine An- und Abwesenheit die wahrgenommene Außergewöhnlichkeit des Textes varianzanalytisch verglichen wurde. Die Mittelwerte der beiden Gruppen unterschieden sich dabei in exakt demselben Maß wie beim Merkmal Textwelt (M= 3.0 vs. M= 3.5) und dieser Unterschied war ebenfalls signifikant (F(1,140)=6.538; p=.012). Auch die Manipulation des Points kann damit insgesamt als erfolgreich angesehen werden. Betrachtet man allerdings nur die Werte für Stimuli, denen die Geschichte Bed and Breakfast zugrunde liegt, fällt der Unterschied (M=3.57 vs. M=3.96) mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 7 Prozent nicht mehr in den signifikanten Bereich, sondern deutet allenfalls einen Trend an. Es fällt auf, dass die Geschichte mit einem Mittelwert von 3,84 insgesamt als deutlich außergewöhnlicher wahrgenommen wird als Schwere Stunde (M=2.88). Dass die Manipulation des Point von Bed and Breakfast so schlecht funktioniert hat, ist vor allem interessant, wenn man berücksichtigt, dass die Eingriffe in den Originaltext (mit einer Differenz von satten 2471 Wörtern) mit Abstand am drastischsten waren. Dementsprechend eindeutiger fiel aber der Unterschied für Schwere Stunde aus (F(1,68)=7.7; p=.007) (wobei sich Originalversion und der manipulierte Stimulus F nur um 60 Wörter unterscheiden!). Das kann als erstes Indiz50 gewertet werden kann, dass ein Point sich tatsächlich nicht nur als Konflikt realisieren muss. Der Unterschied in der wahrgenommenen Dynamik der Textversionen sollte die Manipulation des Narrationsmerkmals Handlungen ausweisen. Er fiel zwischen der Treatment- und der Kontrollgruppe von allen dreien am stärksten aus (M=3.19 vs. M=2.33) und konnte dementsprechend auch sehr eindeutig als signifikant (F(1,142)=11.2; p=.001) bestätigt werden. Wie allerdings bereits bei der Auswahl der Stimulus-Texte angesprochen, ist Bed and Breakfast insgesamt der dynamischere Text. Betrachtet man die Werte für Schwere Stunde, bei dem als einzigen manipulativ auf die Handlungen eingewirkt wurde, für sich, ist der Unterschied einiges geringfügiger (M=2.3 vs. M=2.9) und verfehlt bei gegebener Stichprobengröße sogar knapp den signifikanten Bereich (F(1,68)=3.7; p=.06). Allerdings waren hier die Manipulationen auch minimal: Auf der Ebene von Schwere Stunde wurden im Grunde nur handlungsfreie mit fast handlungsfreien Texten verglichen. Das Scheitern dieser Manipulation ist demnach nicht so gravierend wie das Scheitern der Manipulation des Points von Bed and Breakfast. 50 Es wird bewusst nur von einem Indiz und von keiner Bestätigung der Annahme aus der Literatur gesprochen, da die Wahrnehmung des Points in Schwere Stunde nur einen äußerst schwachen (Cramers V=.23) und nicht signifikanten (p=.16) Zusammenhang damit hatte, ob erkannt wurde, von wem die Geschichte handelt. Diesen Befund zu deuten, ist recht schwierig, denn demnach steckt zwar in den ausgelassenen Informationen tatsächlich der Point/das Außergewöhnliche der Erzählung, das, was ihn ausmacht, ist aber nicht die Prominenz von Schiller sondern irgendetwas anderes. 94 Ergebnisse Insgesamt kann mit Blick auf die erste Forschungsfrage (RQ1) festgehalten werden, dass alle Manipulationen auf globaler Ebene erfolgreich waren, sich also durchaus experimentell Unterschiede erzeugen lassen und die gewonnenen Daten in weitere Analysen einbezogen werden dürfen, um die formulierten Hypothesen mit ihnen zu testen. Es zeichnet sich aber auch ab, dass nicht alle Texte gleich leicht zu ‚entnarrativeren‗ sind und Rezipienten oft weniger sensibel reagieren, als es dem Aufwand der Manipulationen entspricht. 9.3 Bedeutung der angenommenen Narrationsmerkmale für die Konstrukte ‚Geschichte' und ‚narrativ‘ Bevor der Einfluss der einzelnen potenziellen Narrationsmerkmale auf die Wahrnehmung der Rezipienten untersucht wird, soll zunächst geprüft werden, inwieweit es sich bei ‚Geschichte‗, ‚gute Geschichte‗ und ‚narrativ‗ um verschiedene Konstrukte handelt. Diese Frage schließt an zwei terminologische Überlegungen an, die im theoretischen Teil dieser Arbeit behandelt wurden – an eine, die abgelehnt und eine, der sich angeschlossen wurde. Der abgelehnte Prince‗sche Begriff der Narrativität geht davon aus, dass Narration analytisch korrekt sehr minimalistisch bestimmt werden soll und für Gültigkeit im empirischen Bereich quasi ‚Qualitätskriterien‗ zu Seite gestellt bekommen muss, weil nur eine „gute Geschichte― vom Rezipienten als pragmatisch befriedigende Geschichte eingestuft würde. Betrachtet man aber, Tab. 3: Korrelationen der Konstrukte ‚ Geschichte‘, ‚gute Geschichte‘ und ‚narrativ‘ wie stark die Einstufung des gelesenen Textes als ‚narrativ‗ oder prototypische ‚Geschichte‗ jeweils mit der ebenfalls abgefragten Beurteilung des Stimulus als ‚gute Geschichte‗ korrelieren, erscheint es durchaus als gute Entscheidung, diese Vorstellung abgelehnt zu haben. Denn zwischen ‚narrativ‗ und ‚gute Geschichte‗ scheint überhaupt kein Zusammenhang zu bestehen (r=-.083; zweiseitig nicht signifikant ** auf dem Niveau 0,05 (2-seitig) signifikant. ** auf dem Niveau 0,01 (2-seitig) signifikant. bei p=.415) und zwischen ‚Geschichte‗ und ‚gute Ge- schichte‗ ist der Zusammenhang recht schwach (r=.198; zu zweiseitig p=.05). Die Korrelation zwischen den Konstrukten ‚narrativ‗ und ‚Geschichte‗ hingegen ist nicht nur deutlich ausgeprägter (r=.459), sondern mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von unter einem Promille auch hoch signifikant. Diese Beobachtung lässt sich gut mit der Genette‗schen Empfehlung für die Verwendung der Begriffe Geschichte und Erzählung vereinbaren: Da die Korrelation noch sehr weit davon entfernt ist, perfekt zu sein, kann man bestätigen, dass die Begriffe für einen Großteil der Rezipienten offensichtlich keine Synonyme darstellen. Da aber dennoch ein eindeutiger Zusammenhang zwischen ihnen besteht, ist es durchaus denkbar, dass sie sich tatsächlich auf dasselbe Phänomen beziehen – nur eben auf unterschiedliche Dimensionen und dem- 95 Ergebnisse entsprechend von unterschiedlichen Merkmalen gesteuert werden51. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse scheint es sinnvoll, die Konstrukte auch im weiteren Verlauf getrennt zu betrachten. Der deskriptive Output, der die Verteilung der zentralen Lagemaße in der Stichprobe beschreibt, deutet bereits an, dass es schwer wird, H1a-c mit den vorliegenden Daten zu bestätigen. Um die Kennwerte nicht im Einzelnen aufzulisten, sind sie graphisch in den unten stehenden Boxplots dargestellt. Zumindest ein einigermaßen vielversprechendes Bild Abb. 9a: Einschätzung der Stimuli als ‚Geschichte‘ (deskriptiv) Abb. 9b: Einschätzung der Stimuli als ‚narrativ‘ (deskriptiv) N=146 1= „Text hat nicht mit einer Geschichte zu tun― 7= „Text entspricht voll und ganz einer Geschichte― N=142 1= „überhaupt nicht narrativ― 7= „absolut narrativ― zeigt dabei Stimulus A. Als einer der beiden Stimuli, die alle Merkmale enthalten, erfüllt er die Erwartungen, indem er zum einen jeweils den höchsten Median (markiert durch den dicken, horizontalen Strich) vorweist – also sowohl am narrativsten als auch die prototypischste Geschichte ist. Zum anderen besteht über die Einstufung des Stimulus in der Stichprobe recht große Einigkeit. Die Werte schwanken auf hohem Niveau und in einem recht kleinen Bereich. Stimulus D, der dieses Bild ebenfalls zeigen sollte, verhält sich allerdings nicht so. Zum einen liegt sein Median nicht höher als der der ‚entnarrativierten‗ Stimuli, zum anderen streuen die Bewertungen sehr breit. Außerdem fällt auf, dass die Werte für alle sieben Stimuli bei beiden Fragen insgesamt sehr hoch ausfallen. Nähme man den mittleren Skalenwert 4 als Grenze, um zwischen Texten zu unterscheiden, die im Mittel tendenziell als Geschichten/narrativ betrachtet werden und solchen, die eher nicht als Geschichten/narrativ gesehen werden, lägen kaum Unterschiede vor. Im Mittel werden alle Texte als ‚narrativ‗ und außer den Stimuli F (M=3.44) und G (M=3.39) auch alle tendenziell als Geschichten wahrgenommen. Mit Rückbezug auf die Operationalisierbarkeit von Narration, bedeutet das, dass – insofern sich die vorgeschlagenen Merkmale als Narrationsmerkmale herausstellen sollen – sich der narrative Gehalt eines Textes zwar manipulieren, aber nicht durch Weglassen eines der Merkmale komplett ausschalten lässt. 51 Auch diese Schlussfolgerungen sind mit Vorsicht zu ziehen. Denn es kann aus den Zahlen natürlich nicht gefolgert werden, dass im Genette‗schen Sinne zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite unterschieden wird (oder ob überhaupt von allen Rezipienten dieselben Dimensionen unterschieden werden). 96 Ergebnisse Um die zweite Forschungsfrage (R2) nach diesem ersten Eindruck zu beantworten, wurden zwei Regressionsanalysen durchgeführt. Faktoren waren beide Male die dummy-codierten Variablen Welt, Point und Handlungen (Wert=1 bei Anwesenheit; Wert=0 bei Abwesenheit des jeweiligen Merkmals). Abhängige Variable war einmal die Einschätzung, wie sehr es sich um eine Geschichte handelt, einmal dafür, wie narrativ der Text ist. Das erste Modell erklärt 11,8 Prozent der Gesamtvarianz (korrigiertes R²=.099) an der Wahrnehmung eines Textes als Geschichte und war insgesamt auf einem Niveau von p≤.001 signifikant (F(3,142)=6.309). Bei gerade einmal drei aufgenommenen Faktoren kann dieses Ergebnis durchaus als Erfolg gesehen werden. Das Vorhandensein von Handlungen hatte dabei den stärksten Einfluss (β=.371; p≤.001). Der Einfluss des Point lag deutlich darunter, konnte aber dennoch als signifikant ausgewiesen werden (β=.222; p=.02). Die durch Detailreichtum erzeugte Vorstellung der Welt hingegen ist kritisch zu sehen, da im Modell zwar auch ein nicht ganz unerheblicher Erklärungsanteil auf sie entfällt, dieser aber nicht mehr als signifikant ausgewiesen werden kann (β=.118; p=.211). Aufgrund gegebener Multikollinearität52 zwischen den drei Faktoren soll über die Annahme der Hypothesen H1a–c allerdings nicht allein ausgehend von den Werten der Regressionsanalyse entscheiden werden, sondern auch durch zusätzliche einzelne Varianzanalysen: Dabei zeigte sich, dass lediglich für den Faktor Handlungen (M=3.39 mit Handlungen vs. M=4.73 ohne Handlungen) angenommen werden darf, dass er in der Grundgesamtheit einen Unterschied in der Wahrnehmung eines Textes als Geschichte bewirkt (F(1,145)=13.05; p≤.001). 52 Durch die Versuchsanordnung, bei der Merkmale variiert (und gleichzeitig systematisch kombiniert) wurden, sind mathematische Zusammenhäng zwischen den Faktoren erzeugt worden. Das zeigt sich an den Zusammenhangsmaßen (φ mindestens =-.242; signifikant zu p≤.01) aber auch an den Outputs der Kolliniaritätsdiagnosen, in denen die Varianzanteile der drei Variablen (trotz hoher Toleranzen) teilweise fast identisch auf die Eigenwerte verteilt werden. Vor allem für die ausgewiesenen β-Werte darf deswegen nicht angenommen werden, dass sie die Verhältnisse exakt quantifizieren. (Zum Thema vgl. Bortz 2005: 452ff) 97 Ergebnisse Einschätzung des Stimulus als Geschichtea Abb. 10a: Unterschiede in der Beurteilung eines Textes als ‚Geschichte‘ nach Merkmalen 5 4,5 4 Welt Mnein=4.72/Mja=4.50 3,5 Point Mnein=4.37/Mja=4.65 3 Handlungen** Mnein=3.39/Mja=4.72 2,5 nein ja Merkmal vorhanden? N=146 a 1= „Text hat nicht mit einer Geschichte zu tun― 7= „Text entspricht voll und ganz einer Geschichte― **auf dem Niveau von p≤.01 signifikanter Unterschied Die zweite Regressionsanalyse überprüfte, wie gut die drei Faktoren die Einstufung eines Textes als ‚narrativ‗ erklären. Das Modell weist mit 4,6 Prozent (korrigiertes R²=.025) nur einen äußerst geringen Erklärungsgehalt an der gesamten Varianz des Narrationsempfindens aus und ist insgesamt nicht signifikant (F(3,138)=2.223; p=.088). Dabei ist es auch egal, welche Variable(n) man probeweise aus dem Modell ausschließt, einen signifikanten Erklärungszusammenhang erhält man in keinem Fall. Dieses Bild geben auch für die drei Faktoren einzeln durchgeführte Varianzanalysen wieder, die die Annahmen, die einzelnen Merkmale würden in der Grundgesamtheit zu einem Unterschied im Narrationsempfinden führen mit enormen Irrtumswahrscheinlichkeiten von bis zu 79,8 Prozent (im Fall des Merkmals Point) zurückweisen. Weder eine Textwelt, noch ein Point, noch Handlungen tragen also zum narrativen Gehalt eines Textes bei. Einschätzung des Stimulus als narrativa Abb. 10b: Unterschiede in der Beurteilung eines Textes als ‚narrativ‘ nach Merkmalen 5 4,5 4 Welt Mnein=4.45/Mja=4.71 3,5 Point Mnein=4.59/Mja=4.65 3 Handlungen Mnein=4.17/Mja=4.70 2,5 nein ja Merkmal vorhanden? N=146 a 1= „überhaupt nicht narrativ―; 7= „absolut narrativ― 98 Ergebnisse 9.4 Narration und Unterhaltungsempfinden Dieser Abschnitt sucht nach einer Antwort auf die dritte Forschungsfrage (R3), also darauf, ob die potenziellen Narrationsmerkmale (auch) Unterhaltung erklären können. Da sich im vorangegangenen Abschnitt aber nicht alle vorgeschlagenen Merkmale tatsächlich als wichtige Narrationsmerkmale bestätigen ließen, läuft man Gefahr, mit der Beantwortung dieser Frage nur sehr wenig über das generelle Verhältnis von Unterhaltung und Narration zu erfahren. Von daher erscheint es sinnvoll, zunächst zu klären, ob überhaupt ein Zusammenhang zwischen der Einschätzung eines Textes als ‚Geschichte‗ und/oder als ‚narrativ‗ mit dem Unterhaltungsempfinden der Rezipienten besteht. Prüft man die Korrelationen der beiden Unterhal- Tab. 4: Korrelationen der Unterhaltungsindizes mit den Narrationseinschätzungen tungsindizes und der wahrgenommenen Nähe zu einer prototypischen Geschichte bzw. der Vergabe des Attributs ‚narrativ‗ wird die Grundannahme dieser Arbeit – Narration sei generell ein Unterhaltungsfaktor – nicht gestützt. Denn nur ein einziger Zusammenhang kann als signifikant markiert werden. Lediglich zwischen der Wahrnehmung eines Textes als Geschichte und dem ** Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. empfundenen Unterhaltungserleben besteht eine Beziehung – und interessanterweise auch nur, wenn das Konstrukt Unterhaltung mit den Items, die Appel und seine Kollegen vorschlagen, gemessen wird53. Dieser Beziehung ist dafür hochsignifikant. Annahmen, dass zwischen den übrigen Variablen Zusammenhänge bestehen, müssen mit hohen Irrtumswahrscheinlichkeiten zwischen 48 und 59 Prozent eindeutig zurückgewiesen werden. An diesem Ergebnis ändert sich nicht einmal etwas, wenn man die Variablen für die Narrationseinschätzung dichotomisiert, um lediglich die grobe Tendenz der Beurteilung zu erfassen (Werte ab dem Mittelwert der Skala, also ≥4, für „tendenziell eine Geschichte― bzw. „tendenziell narrativ―). Ausschließlich die tendenzielle Wahrnehmung eines Textes als Geschichte hat die Kraft, einen Unterschied im Unterhaltungserleben nach Appel zu erklären (F(1,144)=8.929; p≤.01), für Unterhaltung nach dem Früh‘schen Maß (F(1,144)=.407; p=.525) spielt sie keine Rolle, ebenso wie das Gefühl, tendenziell einen narrativen Text vor sich zu haben, weder Unterhaltung nach Früh (F(1,144)=3.0; p=.086) noch nach Appel (F(1,144)=.684; p=.401) beeinflusst. So scheint eine Erzählung tatsächlich nur die hedonistische/freudebetonte Ebene von Unterhaltung anzusprechen. Anders herum spielt offensichtlich 53 Die Unterhaltungsindizes selbst korrelieren hochsignifikant und stark (r=.493 bei zweiseitig p≤.001) aber nicht perfekt miteinander. Das entspricht den Erwartungen. Denn beide Maße erfassen, wie sehr die Rezeptionssituation als angenehm erlebt wird, der Index nach Appel et al. (2002) ist dabei aber simpler auf die rein hedonistischen Aspekte von Unterhaltung fixiert, während der UI100 mehrere Dimensionen abzudecken versucht. 99 Ergebnisse nur eine Ebene von Erzählungen – ihre Geschichte – für das Unterhaltungsempfinden eine Rolle. Widmet man sich spezifischer dem Einfluss der drei Merkmale Welt, Point und Handlungen, ist der erste Eindruck auch hier wenig vielversprechend. Betrachtet man wieder zunächst die Boxplots, um sich ein grobes Bild von der Verteilung der Lagemaße in der Stichprobe zu machen, fallen sofort zwei Dinge ins Auge: Es sind nicht die Stimuli, die alle drei Merkmale enthalten, die am unterhaltsamsten sind und die Streuung um die Mittelwerte ist wieder recht ausgeprägt. Ein wirkliches Muster lässt sich darin nicht erkennen. Außer vielleicht, dass insgesamt die drei Stimuli, denen Bed and Breakfast zugrunde liegt (A-C) unterhaltsamer zu sein scheinen, bei ihnen die Meinungen aber gleichzeitig auch am stärksten auseinandergehen.54 Abb. 11a: Unterhaltungserleben (nach Früh) je Stimulus (deskriptiv) N=146 Abb. 11b: Unterhaltungserleben (nach Appel) je Stimulus (deskriptiv) N=146 Ob die Merkmale Welt, Point und Handlungen tatsächlich (auch) keinen Anteil am Unterhaltungserleben haben, wurde auf dieselbe Weise geprüft wie ihr Anteil am Narrationsbzw. Geschichtenempfinden. Es wurden zunächst zwei Regressionsanalysen gerechnet, bei denen die drei potenziellen Merkmale jeweils wieder als unabhängige Variablen eingesetzt waren; abhängige Größe war jeweils einer der beiden Unterhaltungsindizes. Da beide Modelle sehr ähnliche Ergebnisse liefern, können sie zusammen vorgestellt werden: Der Anteil, den die drei Merkmale gemeinsam an der Varianz des Unterhaltungserlebens erklären ist nicht nur in beiden Fällen ausgesprochen gering (R²=.025/.038; korrigiertes R²=.004/.018), es ist auch keines der beiden Modelle insgesamt signifikant (F(3,141)=1.189; p=.316 für das Unterhaltungserleben nach Früh et al. und F(3,142)=1.871; p=.137 für das Unterhaltungserleben nach Appel et al.) Dieser Umstand lässt sich auch nicht durch den probeweisen Ausschluss einzelner Merkmale beheben. 54 Es sei darauf hingewiesen, dass den beiden Unterhaltungs-Indizes unterschiedliche Berechnungsvorschriften zugrunde liegen. Der multiplikatorische Index von Früh und Kollegen ist dabei ‚strenger‗ als der rein additive Index von Appel, weswegen auch die hier ausgewiesenen standardisierten Werte nur schwer direkt miteinander verglichen werden können. 100 Ergebnisse Überprüft man die Zusammenhänge im Hinblick auf die Einzelhypothesen H2a–c auch hier mit einer separaten Varianzanalyse für jedes Merkmal, können nicht wesentlich mehr positive Ergebnisse berichtet werden. Nur im Falle der Unterhaltungsmessung nach Appel bewirkt die Anwesenheit eines Points einen signifikanten Unterschied; allerdings entgegen den Erwartungen nicht im Sinne eines Zuwachses im Unterhaltungserleben sondern in umgekehrter Richtung (MmitPoint=.52 vs. Mohne=.59) (F(1,145)=4.2; p=.042). Dieses unerwartete Phänomen relativiert sich aber vor dem Hintergrund der Schwierigkeiten bei der Operationalisierung des Points. Betrachtet man nur die Fälle, bei denen die Manipulation gelungen ist (also die, denen Schwere Stunde zugrunde liegt), muss ein Einfluss sehr deutlich zurückgewiesen werden (F(1,68)=.002; p=.961). Erfasst man das Konstrukt Unterhaltung nach dem Vorschlag von Früh et al., setzt der Point zwar ebenfalls wieder das Unterhaltungserleben herab, allerding nicht im signifikanten Bereich (F(1,144)=3.338; p=.07). Ebenso scheidet der Faktor Welt beide Male mit absoluter Sicherheit als Einflussgröße aus: Im Fall des Früh‗schen Index bewirkt er überhaupt keine Veränderung, wird Unterhaltungserleben nach Appel et al. gemessen, ist der Unterschied minimal und muss mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von satten 59 Prozent als zufällig betrachtet werden. Auch die Anwesenheit von Handlungen, die oben als einzige bedeutende Einflussgröße auf die Geschichtenintuition bestätigt werden konnte, hat keinen Einfluss auf das Unterhaltungsempfinden. Zwar lässt sich hier im Fall des Index nach Appel eine Differenz messen, die sogar leicht über der für das Merkmal Point liegt (M=.47 vs. M=.55), allerdings wird diese aufgrund zu großer Schwankungen um den Mittelwert innerhalb der beiden Vergleichsgruppen als nicht signifikant ausgegeben (F(1,145)=2.703; p=102). N=146 0,2 UI100 0,18 0,16 0,14 0,12 0,1 nein ja Merkmal vorhanden? Welt Mnein=0.14 Mja=0.14 Point Mnein=0.17 Mja=0.13 Handlungen Mnein=0.12 Mja=0.15 Abb. 12b: Unterschiede im Unterhaltungserleben (Appel et al.) je ‚Narrationsmerkmal‘ Unterhaltung nach Appel et al. Abb. 12a: Unterschiede im Unterhaltungserleben (Früh et al.) je ‚Narrationsmerkmal‘ 0,62 0,58 0,54 0,5 0,46 0,42 Welt Mnein=0.53 Mja=0.55 nein ja Merkmal vorhanden? Point* Handlungen Mnein=0.59 Mnein=0.47 Mja=0.52 Mja=0.55 *auf dem Niveau von p≤.05 signifikanter Unterschied Berücksichtigt man die Operationalisierungsprobleme des Points, kann also keines der drei Merkmale herangezogen werden, um Unterhaltungserleben oder den aufgedeckten, moderaten Zusammenhang zwischen Unterhaltungserleben und der Wahrnehmung eines Textes als prototypische Geschichte zu erklären. 101 Ergebnisse 9.5 Einflüsse der Personen- und Situationsmerkmale Bleibt mit Blick auf die letzte der Forschungsfragen (RQ4) noch zu klären, ob für die zusätzlich erhobenen Personen- und Situationsmerkmale relevante Einflüsse ausgemacht werden können und ob sich darüber Weiteres über das Verhältnis von Narration/Geschichten und Unterhaltung aussagen lässt. Betrachtet man dafür zunächst die unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen, können keine Zusammenhänge ausgemacht werden, die wesentlich zur Erklärung von Unterhaltungsund/oder Narrationserleben beitragen. Wie die unten stehende Tabelle der varianzanalytischen Ergebnisse zeigt, kann weder vom Ausmaß der Ungestörtheit während der Rezeption noch vom Umstand, ob der Text bereits bekannt war oder nicht, auf Unterschiede im Unterhaltungserleben oder in den Narrationseinschätzungen geschlossen werden. Lediglich die Lust, den Text zu lesen, trägt signifikant zum Unterhaltungserleben (nach Appel) bei. Allerdings bleibt das gemäß dem gewählten Theorierahmen eigentlich interessierende Maß für Unterhaltung (nach Früh) auch davon unberührt. Dieser Befund widerspricht den Erwartungen, da freiwillige, motivierte Lektüre eigentlich den Eindruck der Souveränität verstärken und damit auch zu mehr Unterhaltungserleben führen sollte. Tab. 5: Signifikanz der Unterschiede im Unterhaltungs- und Narrationserleben nach Rezeptionsbedingung Unterhaltung Unterhaltung nach Früh nach Appel F(2,142)=.675 F(2,143)=.391 Ungestört? p=.511 p=.391 F(1,143)=.259 Lust, den Text zu F(1,144)=6.971** p=.612 p=.009 lesen? F(1,143)=.439 F(1,144)=.062 Text bekannt? p=.509 p=.803 **auf dem Niveau von p≤.01 signifikanter Unterschied Geschichte? narrativ? F(2,143)=2.251 p=.109 F(1,144)=.234 p=.620 F(1,144)=.496 p=.482 F(2,139)=1.040 p=.356 F(1,140)=3.326 p=.070 F(1,140)=.093 p=.760 Auf die Zusammenhänge von Unterhaltungs- und Narrationsempfinden wirkt sich die Teilnahmemotivation aber nicht wesentlich aus: Zwar verstärkt sich – betrachtet man nur die Vpn, die angaben, Lust zum Lesen zu haben – der bereits zuvor ausgewiesene Zusammenhang zwischen der Einschätzung eines Textes als prototypische Geschichte mit dem Unterhaltungsindex nach Appel (r=.372 statt vorher r=.272 jeweils zu p≤.01). Er bleibt aber auch der einzige Zusammenhang, der zwischen den Unterhaltungs- und Narrations-Konstrukten festgestellt werden kann. Zusammenhänge mit den demographischen Merkmalen der Vpn sind aufgrund der genannten Schwierigkeiten mit der Zusammensetzung der Stichprobe sehr vorsichtig zu interpretieren. So zeigt sich zwar für das Alter der Befragten ein schwacher, negativer Zusammenhang mit der Beurteilung eines Textes als narrativ (r=-.217; zweiseitig signifikant zu p≤.01), je jünger eine Vp also ist, umso eher ist sie scheinbar bereit, das Attribut ‚narrativ‗ zu vergeben. 102 Ergebnisse Allerdings lohnt es kaum der Mühe, diesen Abb. 13: Zusammenhang zwischen Alter der Befragten und Einstufung des Textes als ‚narrativ‘ inhaltlich schwer zu erklärenden Befund interpretieren zu wollen, wenn man berücksichtigt, dass es relativ schwer sein dürfte, mit den sehr spärlich gesäten Alterswerten im höheren Bereich einen linearen Zusammenhang zu konstruieren. Dass die Wertepaare tatsächlich weit davon entfernt sind, korrelativ interpretiert werden zu dürfen, bestätigt das nebenstehende Streudiagramm. Auch das Geschlecht der Befragten stellt keine Einflussgröße a 1= „überhaupt nicht narrativ― … 7= „absolut narrativ― dar. Es bewirkt nachweislich keinen Unterschied im Unterhaltungserleben (nach Früh (F(1,144)=.060, p=.807; nach Appel F(1,144)=.649, p=.422) oder im Urteil darüber, wie sehr ein Text eine Geschichte (F(1,144)=1.683; p=.197) oder narrativ (F(1,144)=1.961; p=.164) ist. Ebenso manifestieren sich Unterschiede im Unterhaltungserleben und in den Narrationsintuitionen unabhängig von Bildungsgrad (Korrelation mit Unterhaltung nach Früh ist ρ=-.001, p=.995; mit Unterhaltung nach Appel ρ=-.063, p=.448; mit Einschätzung als ‚Geschichte‗ ρ=-.010, p=.901; für Einschätzung als ‚narrativ‗ ρ=.081, p=.340). Außerdem zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Ausprägungen der vier abhängigen Größen, wenn man die Vpn nach ihren Studienfächern gruppiert. Zu den erhobenen Persönlichkeitsmerkmalen lassen sich mehr Zusammenhänge nachweisen. Wie Tabelle 6 zeigt, tragen allerdings auch hier nicht alle Größen zur Erklärung von Unterhaltungs- und/oder Narrationsempfinden bei. Für Need for Entertainment ergeben sich überhaupt keine Zusammenhänge mit den interessierenden Konstrukten. Unabhängig von der Art der Unterhaltungsmessung sprechen die ausgewählten Texte mehr und weniger unterhaltungsorientierte Vpn gleichermaßen an. Außerdem hat die Unterhaltungsorientierung keinen Einfluss auf die Einschätzung, inwiefern ein Text eine Geschichte oder narrativ ist. Eine gewisse Erklärungskraft kommt dem Konstrukt Need for Cognition zu. Mit wachsendem NfC steigt auch tendenziell das Unterhaltungserleben moderat an (für Unterhaltung nach Appel et al. r=.162; je zweiseitig signifikant bei p≤.05). Dieser Befund kann zum großen Teil auf die Auswahl der Texte zurückgeführt werden. Denn betrachtet man die Daten für die Stimulus-Varianten, denen Schwere Stunde zugrunde liegt, alleine, steigt der Zusammenhang deutlich an (r=.521; .zweiseitig signifikant bei p≤.01) und lässt sich sogar mit der ‚kritischen‗ Unterhaltungsmessung nach Früh nachweisen (r=.286; zweiseitig signifikant bei p≤.05). Das wiederum lässt sich gut mit den Eigenschaften des Textes zur Deckung bringen. Denn, wie im Kapitel zur Stimulus-Auswahl beschrieben, ist der literarische Text von Thomas Mann der 103 Ergebnisse ‚schwerere‗ von beiden. Sein Point ist nicht so offensichtlich und erfordert mehr kognitive Ressourcen, um entdeckt zu werden, was eben offenbar vor allem Rezipienten anspricht, die generell Freude am Denken und Problemlösen haben. Ein direkter, linearer Zusammenhang mit den Narrationseinschätzungen lässt sich aber nicht beobachten. Menschen, die gerne oder weniger gerne intensiv nachdenken, scheinen sich nicht systematisch in ihren Vorstellungen von den Inhalten der Begriffe ‚narrativ‗ und ‚Geschichte‗ zu unterscheiden. Tab. 6: Zusammenhänge von Personenmerkmalen und Presence mit dem Unterhaltungsempfinden und den Narrationseinschätzungen Unterhaltung Unterhaltung nach Früh nach Appel NEnt NfC PrintMedienAffinität thematisches Interesse Presence -.064 p=.450 N=141 .142 p=.089 N=145 -.168* p=.043 N=145 .311** p=.000 N=144 .070 p=.401 N=145 -.095 p=.261 N=142 .164* p=.049 N=146 .090 p=.281 N=146 .621** p=.000 N=145 .406** p=.000 N=146 Geschichte .015 p=.862 N=142 .031 p=.712 N=146 .093 p=.266 N=146 .157 p=.060 N=145 .196* p=.018 N=146 narrativ -.107 p=.207 N=142 -.047 p=.581 N=142 .084 p=.323 N=142 -.004 p=.958 N=141 .180* p=.032 N=142 ** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant. ** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant. Ein nicht sehr ausgeprägter, aber interessanter Zusammenhang (r=-.168; p≤.05) ergibt sich auch für die Print-Medien-Affinität55 der Vpn und das Unterhaltungserleben. Denn anders als man erwarten könnte, wird die Beziehung mit negativen Vorzeichen ausgewiesen. Je weniger jemand also generell Print-Medien zu Unterhaltungszwecken heranzieht, desto besser unterhält er sich (tendenziell) mit den ausgegebenen Texten, also in einer Situation, in der das Medium eigentlich nicht den eigenen Gewohnheiten entgegenkommt. Eine mögliche Erklärung wäre, dass print-affine Leser einen größeren Pool von Vergleichstexten heranziehen können und den Unterhaltungsgehalt der Stimuli daher kritischer bewerten. Als diejenigen, die viel 55 Der Index für die Print-Medien-Affinität drückt aus, wie sehr eine Vp in der Freizeit textuelle Medien gegenüber audio-(visuellen) Medien bevorzugt. Um den Index zu bilden, wurden zunächst die Werteskalen der Variablen umgedreht, die die Rangordnung der Medien ‚Bücher‗, ‚Hörbücher‗, ‚Internet‗, ‚Zeitschriften/Illustrierte‗, ‚Radio‗ und ‚Fernsehen‗ abbilden, sodass hohe Rangplätze auch hohen Werten entsprachen. Im Anschluss wurde zunächst der Mittelwert aus den Rängen für ‚Hörbücher‗, ‚Radio‗ und ‚Fernsehen‗ gebildet und vom Mittelwert, der sich aus den Rängen für die Medien ‚Bücher‗, ‚Zeitschriften/Illustrierte‗ und ‚Internet‗ ergibt, abgezogen. Der Index lässt sich damit durch folgende Formel ausdrücken: Print-Medien-Affinität tisch Werte zwischen + 5 und – 5 annehmen. Um den standardisierten Index zu erhalten, der Werte zwischen +1 und -1 liefert, wird der Wert 5 entsprechend durch das ausgewiesene Ergebnis dividiert. 104 Ergebnisse Zeit mit Fernsehen und Co. verbringen. Was damit aber noch nicht erklärt ist, ist der Umstand, dass dieser Zusammenhang ausnahmsweise einmal exklusiv mit dem Unterhaltungsindex nach Früh besteht. Für die Geschichts- und Narrationseinschätzung ist Print-Medien-Affinität ebenfalls wieder nicht relevant. Der mit deutlichem Abstand stärkste Einfluss auf das Unterhaltungserleben geht anhand der gegebenen Daten vom thematische Interesse der Vpn aus. Unabhängig davon, mit welchem Index man das Konstrukt erfasst, hängt das Unterhaltungserleben demnach eindeutig davon ab, ob man den Inhalt des dargebotenen Stimulus (im weitesten Sinne) interessant findet und ob er in etwa den Inhalten entspricht, die man selbst gewöhnlich (freiwillig) rezipiert. Dabei unterscheiden sich die beiden Beziehungen allerdings erheblich in ihrer Stärke. Nach Früh können Zweifel am Zusammenhang zwar auch hochsignifikant zurückgewiesen werden, die beiden Größen beeinflussen einander aber eher auf mittlerem Niveau (r=.311, p≤.001). Nach Appel hingegen muss von einem starken, bis sehr starken Zusammenhang ausgegangen werden (r=.621, p≤.001). Interessanter als der Vergleich zwischen den Unterhaltungsindizes ist allerdings der Vergleich mit den Narrationseinstufungen: Hier zeigen sich keine Einflüsse des thematischen Interesses, was noch einmal bekräftigt, dass Unterhaltung und Narration weniger miteinander verbunden sind, als es die Ausgangsthese dieser Arbeit annahm. Es fällt allerdings auch auf, dass die Entscheidung gegen eine Zusammenhangsannahme hier aufgrund sehr unterschiedlicher Irrtumswahrscheinlichkeiten gefallen ist (p=.06 für die Klassifizierung eines Textes als ‚Geschichte‗; p=.958 für Vergabe des Attributs ‚narrativ‗). Die Entscheidung darüber ob etwas, ‚narrativ‗ ist wird somit wahrscheinlich einiges unabhängiger von persönlichen Präferenzen – sprich objektiver – getroffen als die Entscheidung, ob etwas eine Geschichte ist oder nicht. Neben den erhobenen Persönlichkeitsmerkmalen der Vpn (den Traits) wurde mit der wahrgenommenen Presence auch eine Zustandsmessung (ein State) mit in die Korrelationsmatrix aufgenommen. Die Items zur Presence-Messung waren aufgrund der engen theoretischen Bezüge zu narratologischen Diegese-Konzepten und zum Mental Situation Model narrativen Textverstehens mit in den Fragebogen integriert worden. Und in der Tat zeigen sich diese Bezüge auch empirisch: Präsenzerleben ist das einzige erhobene Konstrukt, was sowohl mit Unterhaltung (allerdings wieder nur gemessen nach Appel et al.; .r=.406; p≤.001) als auch mit der Einstufungen eines Textes als ‚Geschichte‗ (r=.196; p=.018) und als ‚narrativ‗ (r=.180; p=.032) signifikant korreliert. Von Bedeutung ist dieses Ergebnis vor allem vor dem Hintergrund, dass in Kapitel 3.3 – scheinbar paradoxerweise hierzu – für das Merkmal Welt kein signifikanter Einfluss auf die Narrationseinschätzungen festgestellt werden konnte, detailarme Texte in der Stichprobe sogar die prototypischeren Geschichten sind (MohneWelt=4.72 vs. MmitWelt=4.5). Das Paradox lässt durch die Studien auflösen, die bereits im Zusammenhang mit 105 Ergebnisse dem ‚book problem‗ erwähnt wurden und die herausgefunden haben, dass Präsenzerleben oft weniger von Merkmalen des Mediums als von Personenmerkmalen abhängt (vgl. z.B. Mögerle et al. 2006; s.o.). Entsprechendes konnte auch mit den gesammelten Daten bestätigt werden: Präsenzerleben hängt signifikant vom thematischen Interesse (r=.267; zweiseitig signifikant zu p≤.01) und (wenn auch schwächer als erwartet) vom ebenfalls erhobenen räumlichen Vorstellungsvermögen der Vpn ab (r=.201; zweiseitig signifikant zu p≤.01). Die schwache aber signifikante Korrelation von Presence und Narrations- und Geschichtseinschätzung und der gleichzeitig ausbleibende Einfluss textueller Details stützen somit die Annahmen, dass die bildliche Vorstellung einer Textwelt zwar ein prototypisches, aber kein notwendiges Merkmal von Geschichten/narrativen Texten ist (vgl. Rinck 2000) und dass dieser Textwelt nur schwer beizukommen ist, dass sie – ihrem Namen zum Trotz – eben nicht unbedingt im Text gesucht werden kann (vgl. Ryan 1980). Insgesamt zeigen auch die Zusammenhänge mit den als Kontrollgrößen erhobenen Situations- und Personenmerkmalen, dass Narration und Unterhaltungserleben – entgegen der ursprünglichen Annahmen – nicht notwendigerweise viel miteinander zu tun haben. Es konnten einige Einflussfaktoren identifiziert werden, die beim Entstehen von Unterhaltungserleben eine Rolle spielen, mit einer Ausnahme aber keine, die die Beurteilung, ob ein Text eine Geschichte oder narrativ ist, beeinflussen. Presence ist die einzige Größe, die sowohl mit dem Unterhaltungserleben als auch mit den beiden Narrationseinschätzungen Beziehungen vorweisen kann. Da das Vorzeichen in allen Fällen positiv ist, drängt sich dadurch aber die Befürchtung auf, dass es sich bei der im vorherigen Kapitel festgestellten schwachen Beziehung zwischen Unterhaltung und der Geschichtseinschätzung sogar nur um eine Scheinkorrelation handelt – also im Grunde doch überhaupt kein Zusammenhang zwischen den Konstrukten besteht. Eine partielle Korrelation von Appels Index und der Einstufung des Textes als Geschichte, bei der Presence als Kontrollvariable konstant gehalten wird schafft Klarheit: In der Tat fällt der Wert des Koeffizienten dabei noch geringer aus, an der Tatsache, dass generelle ein schwacher, aber signifikanten Zusammenhang zwischen den Werten nach Appels Unterhaltungsindex und der Wahrnehmung eines Textes als Geschichte vorliegt, ändert sich aber nichts (partielles r=.215 statt r=.272; beide Male signifikant zu p≤.01). Im Großen und Ganzen tragen die zusätzlich erhobenen Faktoren also wenig zur Klärung des Verhältnisses zwischen Narration/Geschichte und dem Unterhaltungserlebenen bei. 9.6 Zusammenfassung Insgesamt bestätigen die gesammelten Ergebnisse mehr als deutlich, dass man weit, weit mehr als eine Untersuchung wie diese durchfürhen muss, um das Wesen von Narration oder das Verhältnis von Narration und Unterhaltung zu ergründen. 106 Ergebnisse Wichtig ist, dass die Manipulations-Checks zunächst positiv bestätigt haben, dass sich die ausgesuchten Eigenschaften durchaus variieren lassen, also dass die Manipulationen die erzielten Veränderungen in der Wahrnehmung tatsächlich auch erzeugen. Zumindest die drei exemplarisch ausgewählten Narrationsmerkmale Welt, Point und Handlungen lassen sich damit also nicht nur theoretisch operational definieren, diese Definitionen können – wenn auch mit gewissen Schwierigkeiten – tatsächlich in der Forschungspraxis umgesetzt werden. Die RQ1 konnte demnach positiv beantwortet werden. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass der erzielte Effekt oft nicht dem Aufwand der Manipulation entspricht bzw. Unterschiede sich teilweise leichter durch die Auswahl unterschiedlicher Texte als durch Eingriffe in diese erzielen lassen. Vor allem das Merkmal Point erweist sich teilweise als nahezu manipulationsresistent. Insgesamt hätten die Eingriffe wahrscheinlich durchaus noch stärker sein dürfen, ohne dass dadurch die Natürlichkeit der Rezeptionssituation (und damit letztendlich die externe Validität des Experiments) gefährdet worden wäre. Auf dem Weg zur Beantwortung der zweiten Forschungsfrage (RQ2), hat sich zunächst gezeigt, dass es sinnvoll ist, diese und die weiteren Forschungsfragen in zwei Teile aufzuspalten. Denn anhand der gesammelten Daten konnte nicht nur belegt werden, dass die Einschätzung, ob ein Text ‚narrativ‗ oder eine ‚Geschichte‗ ist – entgegen dem Konzept der Narrativität – von den Vpn relativ unabhängig davon getroffen wird, ob man das Produkt auch für eine ‚gute Geschichte‗ hält. Es hat sich vor allem auch gezeigt, dass die Begriffe ‚narrativ‗ und ‚Geschichte‗ für die meisten Vpn offensichtlich nicht exakt das gleiche Konstrukt bezeichnen. Denn zwischen der Einstufungen der Texte als ‚narrativ‗ und als ‚prototypische Geschichte‗ besteht zwar eine eindeutige und starkte Beziehung, die Korrelation ist aber bei weitem nicht perfekt (r=.459). Deswegen erscheint es angebracht, sie getrennt zu betrachten, also die Froschungsfragen jeweils einmal für den Aspekt ‚narrativ‗ und einmal für den Aspekt ‚Geschichte‗ zu beantworten. Und in der Tat fallen die Antworten für die beiden Teilaspekte im Falle der RQ2 sehr unterschiedlich aus: Während die drei ausgewählten Merkmale gemeinsam durchaus in der Lage sind, einen nicht unerheblichen Teil an der Geschichten-Intuition der Rezipienten hochsignifikant zu erklären (11,8 Prozent bzw. 9,9 Prozent im korrigierten Modell), führt die entsprechende Überprüfung für die Bewertung eines Textes als ‚narrativ‗ ins Leere. Die Irrtumswahrscheinlichkeit fällt auf Ebene des Gesamtmodell zu hoch aus, um mit dem gemeinsamen Vorhandensein der drei Merkmale die Vergabe des Adjektivs ‚narrativ‗ auch nur ansatzweise erklären zu können. Allerdings lässt sich auch mit Blick auf den Aspekt ‚Geschichte‗ nur die Hypothese H1c bestätigen: Handlungen tragen offensichtlich in erheblichem Maße dazu bei, in einem Text eine prototypische Geschichte zu sehen. Der Unterschied, den Detailreichtum oder das Vorhandensein außergewöhnlicher Inhalte hervorrufen, fällt hingegen nicht 107 Ergebnisse signifikant aus. Für die Vergabe des Attributs ‚narrativ‗ spielen weder Handlungen, noch Detailreichtum, noch das Vorhandensein eines Story Points eine Rolle. H1a und H1b müssen also sowohl für den Aspekt ‚Geschichte‗ als auch für en Aspekt ‚narrativ‗ zurückgewiesen werden. Widmet man sich der Beziehung zwischen Narration und Unterhaltung, muss eine noch herbere Enttäuschung eingesteckt werden: Mit den zwei gerechneten Regressionsmodellen muss die Antwort auf RQ3 lauten, dass die drei Merkmale Welt, Point und Handlungen keinen signifikanten Anteil daran haben, dass Unterhaltungsempfinden der Befragten zu erklären. Das bestätigt sich auch in den varianzanalytischen Einzeluntersuchungen für jedes Merkmal: Detailreichtum und die Anwesenheit von Handlungen erzeugen keinen signifikanten Unterschied im Unterhaltungserleben. Für den Point wird zwar ein Unterschied auf ausreichendem Niveau ausgegeben, allerdings resultiert dieser allein aus den Daten für den Basis-Text Bed and Breakfast, bei dem die Manipulation des Point als gescheitert angesehen werden muss. Betrachtet man die Werte für die Stimuli, bei denen die Manipulation gelungen ist, hingegen alleine, kann sehr eindeutig nicht davon ausgegangen werden, dass die Anwesenheit außergewöhnlicher Inhalte in der Population zu einem im Unterhaltungserleben führt. Demnach sind alle drei Hypothesen H2a, b und c zurückzuweisen. Weder Handlungen, noch Detailreichtum noch außergewöhnliche Inhalte beeinflussen das Unterhaltungserleben derart, dass man auch für die Population auf einen Zusammenhang schließen könnte. Da aber nur drei Merkmale aus dem angeführten Katalog überprüft wurden und sich noch dazu nur eines davon als relevantes Merkmale von Geschichten bestätigen ließ, wäre es vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses immer noch denkbar, dass trotzdem generell eine starke Beziehung zwischen Narration und Unterhaltung besteht, man sich nur eben bezüglich der Bausteine des Narrationskonzepts geirrt hat. Überprüft man aber die Beziehung der beiden Konstrukte unabhängig von den vorgeschlagenen Merkmalen, zerschlägt sich auch diese Hoffnung: Lediglich zwischen der Wahrnehmung eines Textes als Geschichte und dem Unterhaltungsindex nach Appel besteht ein schwacher bis mittlerer Zusammenhang. Wie narrativ ein Text eingestuft wird spielt hingegen überhaupt keine Rolle für seinen Unterhaltungswert. Die Grundannahme dieser Arbeit – Unterhaltung hänge maßgeblich vom Faktor Narration ab – muss aufgrund der Datenlage also eindeutig zurückgewiesen werden. Zwar besteht eine positiver Zusammenhang zwischen der Beurteilung eines Textes als prototypische Geschichte und dem Unterhaltungserleben, diese ist aber a) nicht besonders stark ausgeprägt, b) hinsichtlich der für sie relevanten Merkmale unbestimmt geblieben und c) spricht vor allem einseitig den Aspekt ‚Freude‗ an und nicht das komplexere, theoriegeleitete Konstrukt von Unterhaltung, das Früh vorschlägt und das zum Rahmen für diese Arbeit erhoben wurde. Zur Beantwortung der letzten Forschungsfrage (RQ4) tragen die erhobenen Daten nur mäßig bei. So können für das Unterhaltungserleben zwar Einflüsse der Rezeptionsmotivation, 108 Ergebnisse der Tendenz, mit der man sich Print-Medien zuwendet, der Freude an kognitiven Herausforderungen, des thematischen Interesses und des Präsenzerlebens festgestellt werden. Allerdings sprechen mit Ausnahme des thematischen Interesses und der Print-Medien-Affinität alle erhobenen Größen wieder ausschließlich das Unterhaltungserleben nach Appel, also nur den hedonistischen Aspekt der Freude bei der Rezeption an, was den Erklärungsgehalt der anderen Konstrukte innerhalb des gewählten Theorierahmens – der TDU – erheblich herabsetzt. Außerdem ist Presence die einzige der erhobenen Größen, für die auch (immerhin schwache) Zusammenhänge mit der Vorstellung von einer prototypischen Geschichte und der Wahrnehmung eines Textes als ‚narrativ‗ festgestellt werden können. Damit ist aber nicht nur wenigstens ein Bindeglied zwischen Unterhaltungsempfinden und Narrationseinschätzungen gefunden. Mit diesem Zusammenhang lässt sich auch das potenzielle Narrationsmerkmal Textwelt erheblich rehabilitieren: Zu einer prototypischen Geschichte scheint es sehr wohl zu gehören, dass der Rezipient ein Bild von der Diegese, in der sie spielt, im Kopf hat, nur hängt diese Textwelt eben nicht notwendigerweise vom Detailreichtum des Medienangebots ab. 109 10. Fazit und Ausblick Geschichten bzw. narrative Medien gelten als besonders wirkmächtige Medien. Vor allem wird ihnen intuitiv ein hohes Unterhaltungspotenzial zugeschrieben. Entsprechend stellen narrative Medienangebote einen Großteil der Untersuchungsobjekte der Unterhaltungsforschung. Interessanterweise werden sie dort allerdings nur selten explizit unter dem Aspekt der Narration betrachtet. Wie eng die Beziehung zwischen dem narrativen Charakter von Medienangeboten und dem Unterhaltungserleben der Rezipienten tatsächlich ist, ist bislang kaum untersucht worden. Vor allem liegen fast keine Studien vor, die auf der Ebene einzelner Merkmale evaluieren, ob genau das, was eine Geschichte zu einer Geschichte bzw. einen narrativen Text zu einem narrativen Text macht, auch das ist, was positiv auf den Unterhaltungswert des Medienangebotes wirkt. Die vorliegende Arbeit sollte daher zur Klärung genau dieser Frage – ob Narrationsfaktoren per se auch Unterhaltungsfaktoren sind – beitragen. Um diese Frage aber auf empirischem Wege sinnvoll beantworten zu können, muss zunächst herausgefunden werden, was Narrationsfaktoren sind, also welche Merkmale dazu beitragen, dass ein Text als narrativ bzw. als Geschichte wahrgenommen wird und wie diese Merkmale gemessen werden können. Der Fokus der Arbeit lag deshalb vor allem auf einer intensiven theoretischen Auseinandersetzung mit dem Konstrukt ‚Narration‗ und mit seiner Operationalisierbarkeit. Dabei hat sich zunächst gezeigt, dass es in der Kommunikationswissenschaft zwar durchaus in mehreren Bereichen thematisiert wird, Narration aber nur sehr selten der eigentliche Gegenstand des Erkenntnisinteresses ist. Erst in den letzten Jahren hat sich innerhalb der Medienwirkungsforschung eine ernsthafte ‚Narrationsforschung‗ herausgebildet, die das Konstrukt explizit ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt. Allerdings gehen die Ansätze hier mit Bezügen zu Kultivierung, Transportation etc. im Grunde immer schon einen Schritt zu weit, indem sie direkt bei den Wirkungen von Narration und nicht bei der Validierung ihrer Merkmale ansetzen. Insgesamt stärken die in diesem Bereich gesammelten Überlegungen so zwar das Bild von narrativen Medien als besonders wirkmächtigen und vor allem unterhaltungsfördernden Medien, zur Bestimmung der konstitutiven Merkmale des Gegenstands tragen sie aber bislang nur wenig bei. Gehaltvoller ist in dieser Hinsicht der Blick in die literatur- und filmwissenschaftliche Narratologie und die kognitiven Wissenschaften. Die Narratologie stellt zunächst eine Terminologie bereit, mit der der Forschungsgegenstand präziser gefasst werden kann. Insbesondere sollte zwischen Narration und Geschichte unterschieden werden. Eine Geschichte stellt den Inhalt eines narrativen Medienangebotes dar, die Narration (im engeren Sinne) umfasst die Ebene seiner Vermittlung. Beide manifestieren sich (zumindest theoretisch) durch Merkmale im narrativen Diskurs, der Erzählung. Damit sind zwei Ebenen vorgegeben, auf denen separat 110 Fazit und Ausblick nach Merkmalen gesucht werden kann. Da Wissenschaftler aber zunehmend die Ansicht vertreten, für narrative Medien sei es wesentlich, dass sie neben einer Geschichte auch eine Textwelt repräsentieren, wurde die Suche auf inhaltlicher Ebene zusätzlich um den Merkmalskomplex ‚Diegese‗ erweitert. Für die drei narrativen Aspekte ‚Geschichte‗, ‚Diegese‗ und ‚Vermittlung‗ existieren in den untersuchten Wissenschaften eine Vielzahl von Merkmalsvorschlägen, die mehr oder weniger gleichermaßen plausibel nebeneinander stehen. Außerdem lassen sich für die Formulierungen vieler dieser Narrationsmerkmale sehr markante strukturelle Parallelen zu Überlegungen aus der Unterhaltungsforschung nachweisen. Auf theoretischer Ebene spricht somit in der Tat viel für eine enge Beziehung zwischen dem narrativen Charakter von Medienangeboten und dem Unterhaltungserleben der Rezipienten. Insgesamt ist der Ertrag, der am Ende der Literatursichtung steht, damit aber beinahe schon zu reich. Denn die schiere Menge potenzieller Merkmale macht es schwer, hinreichend prägnante Definitionen für die Konstrukte ‚Narration‗ und ‚Geschichte‗ zu formulieren. Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht erscheint es damit dringend nötig, diese Vorschläge an den konkreten Wahrnehmungen der Rezipienten zu messen, um zu entscheiden, welche Merkmale in realen Rezeptionssituationen tatsächlich maßgeblich daran beteiligt sind, ein Medienangebot als narrativ bzw. als Geschichte zu erleben und so die Komplexität der Definitionen ggf. reduzieren zu können. Allerdings zeigt sich bereits auf theoretischer Ebene, dass einige Merkmale nur schwer oder gar nicht operational zu bestimmen sind und ihr tatsächlicher Einfluss entsprechend nicht oder nur ungenau ermittelt werden kann. Eines der größten Probleme ist, dass sich zeigen lässt, dass sich – entgegen der strukturalistischen Auffassung – nicht alle Merkmale tatsächlich auch im narrativen Diskurs manifestieren müssen, um als gegeben betrachtet zu werden. So lassen sich z.B. für eines der scheinbar offensichtlichsten Narrationsmerkmale – die Anwesenheit eines Erzählers – auf textueller Ebene keine zwingend notwendigen Indikatoren finden. In der Forschungspraxis ergaben sich weitere Schwierigkeiten. In einem quasiexperimentellen Versuchsdesign mit N=146 Versuchspersonen wurden die Merkmale Textwelt (verstanden als Detailreichtum), Point (operational definiert als außergewöhnliche/nichtalltägliche Inhalte) und Handlungen (verstanden als motivierte, singuläre Zustandsveränderungen) exemplarisch auf ihren Einfluss an der Wahrnehmung eines Textes als narrativ bzw. als prototypische Geschichte und auf ihren Beitrag am Unterhaltungserleben getestet. Die Vorbereitung gestaltete sich teilweise problematisch: Sucht man für ein Versuchsdesign mit möglichst hoher externer Validität in natürlichen Erzählungen (Texte die unter den Bezeichnungen ‚Kurzgeschichte‗ oder ‚Roman‗ veröffentlicht sind) nach den festgelegten Indikatoren der drei Merkmale, wird man zwar in der Tat schnell fündig, in den meisten probeweise herangezogenen Texten erweisen sich die Merkmale aber als nicht manipulierbar, da sie sich praktisch nicht voneinander isolieren lassen. Vor allem in Texten, die starken Genrekonventionen folgen 111 Fazit und Ausblick (z.B. klassische Arzt-, oder Science-Fiction-Erzählungen), scheinen die ausgeführten Handlungen, die beschriebenen Details und das, was den Inhalt außergewöhnlich macht, einen Komplex zu bilden, den man nicht in seine Einzelteile auflösen kann, ohne die Erzählung künstlich wirken zu lassen oder unverständlich zu machen. Außerdem sind in vielen Texten Handlungen derart dominant, dass kaum Material übrig bleib, wenn man sie entfernt. Insgesamt ist es zwar nicht unmöglich, Texte zu finden, an denen die theoretischen Vorschläge getestet werden können, die Suche gestaltet sich allerding ggf. recht langwierig. Nach allen Schwierigkeiten bei der Suche nach geeignetem Stimulus-Material zeigt sich dafür aber, dass sich durch Eingriffe gemäß der Operationalisierungsvorschriften tatsächlich gut auf die Wahrnehmung der Rezipienten einwirken lässt: Detailarme Textwelten können schlechter vorgestellt werden als detailreiche, Texte ohne motivierte Zustandsveränderungen wirken signifikant statischer als andere und Texte, deren Point eliminiert wurde, werden insgesamt als weniger außergewöhnlich eingestuft als Texte mit Point. Insgesamt ist es damit zwar ein langer Weg, die theoretischen Vermutungen aus der Narratologie und den kognitiven Wissenschaften hinreichend valide in die forschungspraktische Tat umzusetzen, zumindest für die drei ausgesuchten Merkmale ist es aber möglich. Inhaltlich konnten mit die erhobenen Daten zudem einige wichtige theoretische Überlegungen bestätigt werden: So ist eine Trennung zwischen den Konstrukten ‚Narration‗ und ‚Geschichte‗ nicht nur aus analytischen Gründen sinnvoll, sie deckt sich auch mit den Wahrnehmungen der Rezipienten. Was als prototypische Geschichte eingestuft wird, ist zwar auch tendenziell narrativ, die Begriffe werden aber nicht synonym gebraucht und die vorgeschlagenen Merkmale sprechen sie in unterschiedlichem Maße an. Außerdem werden beide Begriffe weitgehend unabhängig von der Beurteilung der Qualität des Textes vergeben. Vor allem aber ließ sich ein Stück weit klären, was dafür verantwortlich ist, dass der Inhalt eines Medienangebots als Geschichte wahrgenommen wird: Anhand der vorliegenden Daten sind zwar weder Story Points noch eine detailreich geschilderte Textwelt von Bedeutung für das Konstrukt einer prototypischen Geschichte. Handlungen konnten dafür aber definitiv als konstitutives Merkmal bestätigt werden. Ihr Vorhandensein erzeugt nicht nur einen signifikanten Unterschied, der Unterschied überschreitet auch genau das mittlere Skalenniveau (Mohne=3.39/Mmit=4.72), sodass man in der Tat sagen kann, ein Text mit Handlungen wird tendenziell als Geschichte eingestuft; ein Text, der keine Handlungen erkennen lässt, wird hingegen tendenziell nicht als Geschichte wahrgenommen. Berücksichtigt man zudem – wenn auch auf Grund gewisser messtheoretischer Schwierigkeiten mit Vorbehalt – die Ergebnisse der Regressionsanalyse, lässt sich allein mit dem einen Merkmal Handlungen bereits ein nicht unerheblicher Anteil an der Varianz der gesamten Geschichtenintuition der Rezipienten erklären. Handlungen sind also nicht nur ein Merkmal von Geschichten, sie sind ein ausgesprochen zentrales, vielleicht sogar das Merkmal von Geschichten. Was einen Text allerdings ‚narrativ‗ 112 Fazit und Ausblick macht, liegt auch nach dieser Untersuchung noch völlig im Dunkeln. Keines der drei Merkmale – auch nicht der Point, der theoretisch die Ebene narrativer Vermittlung ansprechen sollte – konnte als Einflussfaktor identifiziert werden. Insgesamt zeigt sich sowohl für das Konstrukt ‚Geschichte‗ als auch für ‚narrativ‗, dass der durchschnittliche Rezipient bei der Vergabe der Begriffe einiges toleranter ist als die analytischen Überlegungen der Wissenschaft. In Bezug auf die eigentliche Ausgangsthese, dass ein enger Zusammenhang zwischen dem narrativen Charakter von Medienangeboten und dem empfundenen Unterhaltungserleben besteht, liefern die erhobenen Daten relativ ernüchternde Ergebnisse. Zwar kann ein positiver Zusammenhang zwischen der Beurteilung eines Textes als prototypische Geschichte und dem Unterhaltungsempfinden nachgewiesen werden, dieser ist aber zum einen nicht besonders stark ausgeprägt und besteht zum anderen nur für eine ‚naive‗, wenig theoriegeleitete Erfassung von Unterhaltung, die sich vor allem einseitig am Aspekt ‚Freude‗ orientiert. Wird das Konstrukt mit Items erhoben, die explizit die Prämissen der gegenwärtig wohl fundiertesten Unterhaltungstheorie – der triadisch-dynamischen Unterhaltungstheorie nach Früh – abbilden, besteht der Zusammenhang nicht. Außerdem ist weitgehend unbestimmt geblieben, auf welchen Faktoren der Zusammenhang beruht. So beeinflussen trotz der teils engen strukturellen Bezüge, die sich auf theoretischer Ebene erarbeiten ließen, weder die Anwesenheit von Handlungen, noch Detailreichtum, noch außergewöhnliche Inhalte das Unterhaltungserleben. Ebenso spielen die erhobenen Persönlichkeitsfaktoren keine vermittelnde Rolle. Ein kleiner gemeinsamer Nenner konnte allerdings im Präsenz-Erleben identifiziert werden. Die plastische Vorstellung einer Textwelt scheint sowohl Anteil am Unterhaltungserleben als auch – wenn auch deutlich weniger ausgeprägt – an der Einschätzung, ob ein Text eine prototypische Geschichte ist, zu haben. Da diese Vorstellung aber relativ unabhängig vom Detailreichtum entsteht, ist auch auf empirischer Ebene ein Beleg gegeben, dass sich das Phänomen Narration nicht vollständig in Textmerkmalen erschöpft. Vom Empfinden, wie narrativ ein Text ist, ist der Unterhaltungsgehalt gänzlich unabhängig. Die untersuchten Narrationsfaktoren – vor allem auch die als solche bestätigten Handlungen – sind insgesamt also nicht per se Unterhaltungsfaktoren. Unabhängig von der Beziehung zwischen Narration und Unterhaltung hat diese Arbeit insgesamt vor allem gezeigt, dass eine empirische Erfassung des Konstruktes Narration – eine empirische Narratologie, wenn man so will – dringend nötig ist. Denn auch, wenn wir intuitiv erkennen, wann wir es mit einem narrativen Medienangebot zu tun haben, sind wir offensichtlich noch weit davon entfernt, erklären zu können, warum das so ist. Die Vorschläge, die auf theoretischer Ebene dafür vorliegen, sind recht zahlreich und zeichnen ein komplexes Bild vom Gesamtsyndrom Narration. Am Ende dieser Arbeit stehen entsprechend noch viele offene Fragen. Zunächst einmal konnten aus forschungsökonomischen Gründen nicht alle interessanten Merkmalskandidaten auch empirisch auf ihren Gehalt geprüft werden. Insbesondere die neoformalistische Annahme, dass sich Narration als Wechselspiel von Information und Rätsel 113 Fazit und Ausblick vollzieht, erscheint – wenn auch aufwendig zu testen – sehr vielversprechend, um bestimmen zu können, was die bislang noch nicht erklärte Ebene narrativer Vermittlung ausmacht. Vor dem Hintergrund, dass sich viele, unter analytischen Gesichtspunkten formulierte Vorschläge aus Sicht der durchschnittlichen Mediennutzer als zu streng erwiesen haben, erscheint das weite Feld des Narrationsbegriffs zudem ein Bereich zu sein, für den sich zunächst einmal auch qualitative Forschung empfiehlt. So können parallel zu den Überlegungen aus Narratologie und kognitiven Wissenschaften weitere testbare Merkmalsvorschläge gesammelt werden, die direkt beim Rezipienten ansetzen und unmittelbar Bezug zu alltäglichem Medienhandeln haben. Außerdem sollte künftige Forschung an der Feststellung ansetzen, dass sich Narration nicht vollständig als textuelles Phänomen erfassen lässt. Das kann geschehen, indem man sich verstärkt der Erfassung der kognitiven Schemata zuwendet, die im Kopf der Rezipienten narratives Verstehen steuern – also versucht, konkrete Einblicke in die ‚black box‗ zu gewinnen – und prüft, wie diese Schemata mit dem diskursivem Material interagieren. Das kann aber auch bedeuten, dass man das Verständnis von Narration generell ausweitet. So gibt es erste Überlegungen, wonach Narration nicht nur als Summe verschiedener Eigenschaften eines Medienangebots, sondern auch als Rezeptionsmodalität gefasst werden kann (Suckfüll/Matthes/Market 2002), also als eine Strategie, mit der ein Rezipient an ein Medium herantritt. Ähnlich wie ein Rezipient gemäß der TDU souverän die Entscheidung trifft, ein Medienangebot zur Unterhaltung zu nutzen, kann er demnach mehr oder weniger selbstständig entscheiden, ob er sich in einen narrativen Rezeptionsmodus fallen lassen möchte. Ein Medienangebot ist demnach nicht narrativ, es wird vom Rezipienten narrativiert. 114 Quellenverzeichnis A Abbott, H. P. (2008): The Cambridge Introduction to Narrative. Cambridge: Cambridge University Press. Andringa, E. (1996): Effects of ‚Narrative Distance‗ on Readers' Emotional Involvement and Response. In: Poetics, 23 (6): 431–452. Appel, M.; Koch, E.; Schreier, M. & Groeben, N. (2002): Aspekte des Leseerlebens. Skalenentwicklung. In: Zeitschrift für Medienpsychologie, 14 (4): 149–154. B Backhaus, K.; Erichson, B.; Plinke, W. & Weiber, R. (2005): Multivariate Analysemethoden. Eine anwendungsorientierte Einführung. Berlin: Springer. Bal, M. (2004): Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. 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Dafür bin ich auf die Unterstützung von Freiwilligen angewiesen, die Lust haben, den Text zu lesen und im Anschluss noch einen ca. 10-minütigen Fragebogen im Internet auszufüllen (Genauere Hinweise dazu finden Sie innen). Als zusätzlichen Anreiz und als kleines Dankeschön für die Teilnahme werden unter allen, die sich nach der Lektüre durch den Fragebogen klicken, 20 BestChoiceUniversalgutscheine im Wert von je 10 Euro verlost, die bei mehr als 70 Partnern (u.a. Amazon.de, Cineplex, H&M…) eingelöst werden können. Außerdem stelle ich denjenigen, die neugierig geworden sind, wozu das Ganze überhaupt gut war, gerne Hintergrundinformationen zu den Zielen und Ergebnissen der Studie zur Verfügung. Schon einmal vielen Dank an alle Teilnehmer! Annika Hamachers A Bei Fragen können Sie mich unter annika.hamachers@uni-muenster.de gerne kontaktieren! 127 Anhang Herzlichen Dank für Ihr Interesse! Wenn Sie mich bei meiner Studie unterstützen möchten, lesen Sie bitte zunächst vollständig den im Folgenden abgedruckten Text. Lesen Sie dabei ganz entspannt in Ihrem eigenen Tempo. Wann und wo Sie den Text lesen ist im Grunde egal, Sie sollten nur darauf achten, dass Sie möglichst unmittelbar im Anschluss an das Lesen, die Möglichkeit haben, ins Internet zu gehen und den Fragebogen auszufüllen. Zum Fragebogen gelangen Sie zwischen dem 29.November und dem 12. Dezember 2010 unter http://www.unipark.de/uc/Leseerleben/. Sämtliche gesammelte Daten bleiben natürlich anonym und werden ausschließlich zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet. Ich bedanke mich schon jetzt ganz herzlich bei allen Teilnehmern! [Stimulustext] Damit wäre der erste Schritt geschafft! Rufen Sie nach Möglichkeit bitte jetzt direkt den Fragebogen unter http://www.unipark.de/uc/Leseerleben/ auf. 128 Anhang Stimulus A: Bed and Breakfast (Original) Der dicht fallende Regen wurde von beißend kalten Windböen als weißer Schleier vor sich her gepeitscht, sickerte ihm unter den Kragen und durchnässte den groben Pullover. Er fror, stapfte aber stoisch durch matschige Pfützen auf das Licht zu, das hinter schmutzigen Scheiben flackerte und ihn von weitem schon angelockt hatte. In Nächten wie diesen nahm man sogar das Risiko auf sich, Menschen zu begegnen. Es war eine Kirche, die aus der verwüsteten Einöde emporragte, die das Unglück aus dem Land gemacht hatte. In ihren zersprungenen und dann mit Planen abgeklebten Fenstern flackerte ein unstetes Licht. Der nahegelegene Friedhof war hoffnungslos verwildert und die gemauerte Umfriedung entweder eingestürzt oder eingerissen um Baumaterial zu erhalten. Die umliegenden Häuser waren nur noch Ruinen, durch die der Wind pfiff. Er umrundete die Kirche langsam einige Male. Zwei der drei Eingänge waren mit Steinen aus der Friedhofsmauer unbeholfen zugemauert worden. Im dritten war die leichte Tür entfernt, achtlos liegengelassen und durch ein massives Holzbollwerk ersetzt worden, das stur dem Wetter trotzte. Das Dach der Kirche zeugte von zahlreichen Ausbesserungen mit den verschiedensten Ziegeln und wenig handwerklichem Geschick. Dies war weniger ein Haus Gottes als eine Festung. Der Wanderer nährte sich langsam der massiven Tür und schlug mit einer bandagierten Faust dagegen. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Zu dem bereits getrockneten Blut gesellte sich frisches und weichte den Verband auf, den er trotz des Regens hatte einigermaßen trocken halten können. Hinter der verschlossenen Tür konnte er jemanden fluchen hören. Dann rasselten schwere Ketten und ein altes Schloss quietschte protestierend. „Keine hastigen Bewegungen, Fremder!―, befahl eine knarrende Stimme. Langsam schwang die Tür auf und das erste, was der er sah, war die Mündung einer Schrotflinte, die sich auf ihn richtete. „Was willst du?―, fragte die kleine bucklige Gestalt schroff, die im Türrahmen stand und mit verkniffenem Gesicht zu ihm aufblickte. Der Kerl war klein, aber dafür auch etwa so breit wie hoch. Er trug einen zerschlissenen Mantel mit hochgezogener Kapuze, und fingerlose Handschuhe. „Ich suche einen trockenen Platz, wo ich meinen Schlafsack hinlegen kann.― Der Kerl kicherte gurgelnd und musste dann husten. Anscheinend führte er ansonsten ein recht humorloses Leben. „Warum sollten wir dich hier reinlassen, Fremder?―, krächzte er dann und musterte den Ankömmling eingehend. Sie waren also mindestens zu zweit. Gut zu wissen. „Vielleicht habe ich ja etwas, was ihr gebrauchen könnt?― Das Männchen grinste und sagte: „Kann man nie wissen, zeig her!― „Lass mich aber rein dazu, sonst wird mein ganzes Gepäck nass.― Er überlegte einen Moment und trat dann schlurfend zu Seite. Die Schrotflinte wies immer noch auf den Ankömmling, als dieser die Schwelle in den Vorraum der Kirche übertrat. Er schüttelte sich einmal und das Wasser perlte von seinem Mantel. Es war ein guter Mantel, wie der kleine Kerl zweifellos bemerkte. Noch wenig geflickt und offenbar wasserdicht. Der Wanderer stellte mit einem leisen Ächzen seinen großen Rucksack ab und schnürte ihn auf. Unter den misstrauischen Blicken des anderen und mit einer Schrotflinte im Nacken wühlte er hastig mit der unversehrten Hand in den Tiefen des Rucksacks herum. Schließlich drehte er sich um und hielt dem Buckligen ein Glas entgegen. Als dieser erkannte, um 129 Anhang was es sich handelte, hellte sich sein Gesicht auf und er streifte hastig die Kapuze herunter. Gierig griff er nach dem Glas, aber der Wanderer zog die Hand rasch zurück. „Was ist jetzt?―, wollte er wissen. „Jaja, schon gut! Du kannst hier bleiben.― Er schnappte sich gierig das Glas und stieß die Tür in den eigentlichen Kirchenraum auf. „Du glaubst nie, was er dabeihat! Kuck dir das an!― Er watschelte begeistert in die Kirche hinein, aber der Wanderer blieb nahe beim Eingang stehen, verschnürte wieder sorgfältig seinen Rucksack und wartete. Nach kurzer Zeit unterbrach eine zweite Stimme wütend das begeisterte Geschnatter des Buckligen. „Verdammt noch mal, behalt ihn im Auge du Volltrottel! Hat dir einer ins Hirn geschissen?― Der Bucklige wirbelte herum und hätte aus einem Reflex heraus fast abgedrückt, aber der Neue lehnte friedlich neben der Tür und musterte den Kircheninnenraum. Es war keine große Kirche, eine Dorfkirche eben. Die hohen Fenster waren weitgehend zerbrochen und darum mit Folien abgeklebt oder zugemauert worden. Die Bankreihen waren teilweise verschwunden. In einer Ecke des Raumes lag ein Haufen Lumpen oder Abfall und in der Mitte, wo einmal der Mittelgang gewesen war, brannte ein munteres Feuer auf dem bloßen Steinboden. Neben dem Aufstieg zur Kanzel war die Tür zur Sakristei und aus dieser kam soeben der zweite Bewohner der Kirche, der den farbigen Wortschatz hatte. In einer Hand hielt er einen Revolver, in der anderen ein altes Fleischerbeil. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass wir nich' jeden hergelaufnen Wichser hier reinlassen, du Trottel!― herrschte er den Buckligen an und schlug ihm unsanft auf den Hinterkopf, dass die Schrotflinte bedenklich zuckte. „Aber kuck dir das an!―, jammerte der Geschlagene kleinlaut. „Er hat Pfirsiche!― Der Große riss ihm das Glas aus der Hand und starrte es ungläubig an. „Ich hab bestimmt schon seit 'm Unglück keine Pfirsiche mehr gesehn…―, flüsterte er und leckte sich die Lippen. Der Wanderer grinste. Sein Schlafplatz war ihm sicher. „Na schön Fremder. Is 'n fairer Handel―, sagte der Große nach einer Weile und fixierte den Neuankömmling. „Aber lass dein' Waffenladen schön da hinten liegen.― Er wedelte mit dem Revolver herum und der Wanderer knöpfte betont langsam seinen Mantel auf. Als er ihn öffnete, hob der Große überrascht die Augenbrauen. Der Fremde trug einen Revolver und seitlich in einem Futteral am rechten Bein eine abgesägte Schrotflinte. In einem Futteral auf der anderen Seite steckte ein Messer und über seiner Brust kreuzten sich zwei Patronengürtel, die allerdings fast leer waren. Er schnürte langsam alle Holster und Futterale auf und legte sie neben seinen Rucksack, dann löste er seinen Schlafsack und warf ihn in hohem Bogen neben das Feuer. „Du trägst ne Menge Metall mit dir rum―, meinte der Große. „Das Leben is' gefährlich geworden.― Der Große grinste plötzlich und steckte seine Waffe in den speckigen Gürtel. „Stimmt, Fremder. Aber heut Nacht soll das nich' unser Problem sein.― Der Große hieß Tom und der Bucklige Phillip, das war auch schon alles, was an Informationen aus ihnen herauszuholen war. Im Moment saßen sie ihrem Gast am Feuer gegenüber und stopften gierig die Pfirsiche in sich hinein. Es war eigentlich eine Schande, die kostbaren Früchte so einfach zu opfern. Es war schwer gewesen, überhaupt an sie ran zu kom130 Anhang men. Andererseits war diese Nacht wirklich zu beschissen, um sie im Freien zu verbringen und bevor er seinen Tabak zum Tausch geopfert hätte, hätte er sich eher den Arm abgehackt. „Wo hast'n die Pfirsiche her?― fragte Tom und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Phillip trank den Rest des Glases leer und grinste wie ein zufriedenes Baby. „Im Süden gibt‘s manchmal Gewächshäuser―, antwortete der Fremde vage. „Echte Gewächshäuser? Mit Glas un' so?―, Tom beugte sich neugierig vor, aber der Fremde nickte nur. „Biste weit im Süden gewesen?― Wieder nickte er lediglich. Dann sagte er doch noch: „Bis zum Meer.― „Echt? Ich war noch nie am Meer, nich' mal früher. Wie is' das Meer?― „Tot.― Der Fremde starrte in die Flammen und holte schließlich ein Päckchen aus seinem Mantel, den er immer noch trug. Er griff hinein und fing an, sich geschickt eine Zigarette zu drehen. Tom sah ihm eine Weile zu, dann stieß er Phillip in die Seite. „Hol mal was zu Essen und was zum Rauchen!― Phillip stand auf und watschelte Richtung Sakristei davon, er war es offenbar gewohnt, herumkommandiert zu werden. Der Wanderer zündete sich gerade die Zigarette mit einem brennenden Scheit an, als der Bucklige zurückkam. „Wir laden dich ein, Fremder―, erklärte Tom. „So'n Schlafplatz is'n bisschen wenig für 'n ganzes Glas Pfirsiche.― „Und wir ham ja genug!―, erklärte Phillip und handelte sich dafür einen rüden Stoß von Tom ein. Hatte sich da gerade jemand verplappert? Trotzdem grinsten ihn beide an und Phillip stellte einen Topf ins Feuer. Der Wanderer grinste zurück, paffte zufrieden an seiner Zigarette und wärmte sich auf. Langsam wurde sogar sein Pullover wieder trocken, der Abend wurde immer besser. Schließlich nahm Tom den Deckel vom Topf, verteilte vier Teller und fing an, die dicke Brühe auszuteilen. Es roch nicht mal schlecht, kein Vergleich zu dem, was er die letzten Wochen gegessen hatte. Es waren sogar Fleischbrocken drin. „Wieso vier Teller?―, fragte der Fremde. „Wir kriegen noch Gesellschaft―, Tom grinste auf eine Art und Weise, die ihm gar nicht gefiel. „Hey, 's gibt Essen!―, schrie Phillip. Es raschelte hinter ihm und der Fremdling drehte sich überrascht um. Aus dem Haufen Lumpen, der ihm beim Reinkommen schon aufgefallen war, erhob sich eine schmale Gestalt und trottete auf das Feuer zu. Es war eine junge Frau, eigentlich eher ein Mädchen. Sie war barfuß, ihre Beine waren bis zu den Knien nackt und bläulich von der Kälte. Sie trug einen zusammengenähten Fetzen Stoff um den Körper geschlungen und starrte dumpf vor sich, ohne aber anscheinend etwas wahrzunehmen. Sie ließ sich neben das Feuer plumpsen, nahm ihren Teller und fing an zu essen. Sie musste sich an der heißen Brühe verbrennen, aber sie zeigte keine Regung. „Wer ist sie?―, fragte der Wanderer. Irgendwie glaubte er nicht, eine Antwort zu erhalten, wenn er sie selbst fragen würde. „Das is' Tanja―, erklärte Tom und blies auf sein Essen. „Noch nie von ihr gehört? Sie is' berühmt in der Gegend hier.― 131 Anhang Phillip kicherte hämisch und verbrannte sich dann den Mund an einem Löffel Brühe. Der Wanderer starrte das verwahrloste Wesen neben sich an. Wolfskinder mussten ähnlich aussehen. „Sie is' die `verrückte Tanja, die nie genug kriegt`, oder?― Tom lachte und fasste ihr unter den Stofffetzen. „Oder?― „M-hm!―, machte das Mädchen und aß stoisch weiter. Tom zog die Hand zurück und winkte gelangweilt ab. „Glaub mir, sie steht drauf, wenn man sie hart ran nimmt!― Tom nickte um seine Worte zu bekräftigen, während Phillip gluckste und dabei Essen ins Feuer spuckte. Der Wanderer nahm einen Löffel Brühe. Ihn ging das eigentlich nichts an, sie hatten sich ihm gegenüber doch anständig verhalten. „Willste auch mal?―, fragte Tom. „Was?― Der Wanderer schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Sie ficken. Kostet aber extra, is' im Preis nicht inbegriffen.― Er grinste schmierig und sagte dann: „Zeig dich mal, wir haben vielleicht heute noch 'n Kunden.― Völlig ruhig stand Tanja auf und wickelte den Stofffetzen von sich. Sie war darunter tatsächlich nackt. Es musste ihr bei diesem Wetter und so weit weg vom Feuer ständig eiskalt sein. Auf Toms Gestikulieren hin drehte sie sich einmal um sich selbst. „Na? Ich geb zu, sie is'n bisschen mager, aber wir päppeln sie grad wieder auf.― Mager war eine glatte Untertreibung: KZ-Häftlinge konnten nicht schlimmer ausgesehen haben. „Was meinste? Gegen dein` Tabak kannst sie die ganze Nacht haben.― Der Wanderer schüttelte langsam den Kopf. „Danke, aber ich häng an meinem Tabak.― Tom zuckte die Achseln „Musste selbst wissen. Aber dir entgeht was.― Das Essen schmeckte jetzt nicht mehr so recht, aber der Wanderer würgte es trotzdem runter. Immerhin wusste er nicht, wann er wieder etwas bekommen würde. Die ganze Zeit ging ihm das Mädchen durch den Kopf. Sie hatte sich nach dieser `Vorführung` wieder eingewickelt und war zu ihrem Lumpenhaufen zurückgetrottet. Der Himmel wusste, wie lange sie schon so vor sich hin vegetierte. Tom und Phillip versanken den Rest des Abends in Schweigen und der Wanderer hatte nicht die Absicht, es zu brechen. Irgendwann breitete er seinen Schlafsack aus und schlüpfte, noch in Pullover und Hose, hinein. Seine beiden Gastgeber genehmigten sich zum Ausklang des Tages noch ein Pfeifchen und taten es ihm dann wortlos gleich. Der Wanderer verfluchte sich innerlich, als er aufwachte. Er hatte in Gesellschaft dieser beiden Gestalten gar nicht erst einschlafen wollen. Aber niemand hielt ihm ein Messer an die Kehle und sein Gepäck sah ebenfalls unangetastet aus. Der Wanderer drehte sich wieder herum und schloss die Augen. Der Rest der Nacht floss zäh vorüber. Er lag wach in seinem Schlafsack, starrte an die Decke und wartete auf den ersten Schimmer des Morgens. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Das Essen war gut gewesen und der Boden trocken. Aber er hatte in der Nähe dieser Gastgeber keine Ruhe gefunden und hätte nass und hungrig unter freiem Himmel wahrscheinlich eine erfreulichere Nacht verbracht. Als die Decken raschelten und Tom sich aufrichtete, tat er so, als wäre er ebenfalls gerade 132 Anhang eben erst aufgewacht. „Na, gut geschlafen?―, fragte Tom. Er grinste und kratzte sich unter den Achseln. Er erwartete wohl keine Antwort, sondern stand auf und brachte Philip mit Fußtritten ebenfalls auf die Beine. „Geh raus, die Fallen kontrollieren!―, herrschte er ihn an. Dann stapfte er zu dem Lumpenhaufen und scheuchte auch Tanja auf. Sie kroch aus dem schimmligen Haufen hervor, wickelte sich in einen zerschlissenen Mantel und trottete langsam mit bloßen Füßen nach draußen, um Wasser von irgendeinem Brunnen zu holen. Der Wanderer glitt aus seinem Schlafsack und schnürte ihn sorgfältig zusammen. Er wollte so früh wie möglich aufbrechen und dieses Irrenhaus verlassen. Nach einer Weile kehrte Tanja mit einem alten Putzeimer voll Wasser zurück und schüttete es in das Taufbecken neben dem Altar. Tom trat daran, zog sein zerschlissenes Hemd aus und wusch sich unter vernehmlichem Schnauben und Prusten. Phillip kam mit leeren Händen zurück. „Heut Nacht ham sich sogar die Ratten nich' rausgetraut―, meinte er mit bekümmerter Miene. „Macht nichts, dann gibt's heut eben vegetarisch.― Tom machte einen gut gelaunten Eindruck und wurde von Phillip am Becken abgelöst. „Du auch, Tanja―, schnauzte Tom sie an. „Sonst holen sich deine Kunden noch die Krätze bei dir!― In ihrem stoischen Gang schlurfte sie zum Becken und gehorchte. „Willst du schon los?―, fragte Tom, als er mit neuem Hemd und Hose aus der Sakristei kam und den Wanderer beim Packen sah. „Ist noch ein weiter Weg―, meinte dieser mit einem kurzen Blick zu seinem Gastgeber. Unter Toms ausgeblichenem Pullover war eine deutliche Wölbung an seiner Hüfte. „Wohin gehts'n?―, wollte er wissen. „Westen―, antwortete der Wanderer kurz angebunden. Tom lachte amüsiert. „Ich seh schon, bist einer vonnen Geheimnisvollen.― Tanja trottete an Tom vorbei, griff sich ein schmuddeliges Teil von ihrem Lumpenhaufen und trocknete sich ab. „Wie viel für sie?―, hörte der Wanderer sich fragen. Tom stutzte, dann lächelte er. „Also doch noch Lust gekriegt?― Phillip, der gerade vom Becken kam, kicherte, warf ein feuchtes Handtuch achtlos auf den Lumpenhaufen und setzte sich auf eine Kirchenbank. „Sie is' was ganz besondres, unsre Tanja!― Er grinste schmierig und ein bisschen irre. Neben ihm auf der Bank lag die Schrotflinte. „Nein―, hörte sich der Wanderer wieder sagen, „ich will sie mitnehmen.― Toms Augen wurden zu kleinen Schlitzen und seine Hand näherte sich der Wölbung an seiner Hüfte. „Das kannste vergessen―, sagte er leise. „Sie wäre bei mir besser dran als bei euch.― Die Waffen des Wanderers lagen neben seinem gepackten Rucksack. „Sie bleibt hier. Mein letztes Wort!― Er sah kurz zu dem Buckligen hin. Die Flinte war irgendwie näher an ihn herangerutscht. Der Wanderer grinste plötzlich schief. „Na schön, was kostet denn einmal?― Tom nickte mit dem Kinn zu dem leeren Pfirsichglas vom gestrigen Abend. „Haste noch davon?― Der Fremde lächelte und nickte. „Moment―, sagte er und kniete sich neben seinen Rucksack, um ihn aufzuschnüren. Überraschend, dass Phillip diesmal schneller schaltete als 133 Anhang Tom. „Pass auf‘!―, Schrie er alarmiert und packte seine Flinte. Tom griff hastig nach seinem Fleischerbeil am Gürtel und machte einen Satz auf den Fremden zu, der gerade noch den Revolver packen konnte, der neben seinem Rucksack lag. Er warf sich zur Seite, um Tom zwischen sich und Phillips Flinte zu bringen und schoss. Tom stieß einen gellenden Schrei aus und wurde zur Seite gewirbelt. Der hastig gezielte Schuss hatte ihn aber nur in die Schulter getroffen. Phillip schrie zornig auf und hob die Flinte, aber ein weiterer Schuss des Wanderers traf ihn ins Bein und er fiel fluchend um. Der Wanderer stand auf. Blut tropfte von seinem Revolver. Er umklammerte ihn mit seiner verletzten Hand und der Rückstoß hatte die Wunde wieder aufgerissen. Phillip fischte auf dem Boden nach seiner Flinte, die ihm beim Sturz aus der Hand gefallen und unter die Kirchenbank gerutscht war, und fluchte dabei lauthals „Du Wichser, ich mach dich fertig, du Wichser! Ich mach dich fertig!― Ehe er die Flinte erreichen konnte, war der Fremde mit schnellen Schritten bei ihm und versetzte ihm einen Tritt gegen seine Schusswunde. Der Bucklige wimmerte auf und krümmte sich zusammen. Der Fremde drehte sich alarmiert um und sah gerade noch, wie Tom mit erhobenem Beil, schreiend wie ein Berserker, auf ihn zustürmte. Er hob den Revolver, aber es klickte nur. Er machte einen Schritt nach hinten, von Tom weg, stolperte über Phillip und fiel zu Boden. Tom stand über ihm, mit erhobener Waffe. Hastig fasste der Fremde unter seinen Pullover an den Gürtel und zog einen spitz gefeilten Schraubenzieher hervor. Gerade als Tom schreiend das Beil auf ihn niederfahren lassen wollte, rammte er ihm das Werkzeug mit aller Kraft in den Fuß. Tom schrie schrill und das Beil grub sich tief in die Kirchenbank. Der Fremde gab Tom noch einen Tritt zwischen die Beine, so dass er japsend umfiel, und rappelte sich auf. Phillip hatte mittlerweile die Flinte zu fassen gekriegt, aber der Wanderer trat ihm auf die Hand und nahm sie ihm mühelos ab. Dann rammte er ihm den Kolben der Flinte hart ins Gesicht. Man hörte Knochen krachen und ein Gurgeln, dann verlor der kleine Widerling das Bewusstsein. Tom starrte mit hasserfüllten Augen zu dem Fremden auf. „Wir ham dich hier aufgenomm`, Arschloch! So revanchierste dich?―, zischte er wütend und robbte über den Boden von ihm weg. Der Angesprochene zuckte die Achseln. „Tanja, zieh dir was an, ich bring dich von hier weg.― Das Mädchen hatte die ganze Zeit neben ihrem Lumpenhaufen gestanden und das Geschehen reglos beobachtet. Nun blickte sie den Fremden mit den Augen eines toten Fisches an. Dann nickte sie langsam und wühlte nach Kleidern in ihrem Lumpenberg. Der Wanderer trat zu seinem Rucksack und legte sorgfältig seine Holster an. Er ließ Tom dabei nicht aus den Augen, der ihn immer noch hasserfüllt anstarrte und sich einen blutigen Lappen auf die Schulter presste. Unter seinem Fuß bildete sich eine dunkle Lache. Phillip röchelte und bäumte sich zuckend auf. Tom robbte zu ihm hin und wischte ihm das Blut aus dem Gesicht, drehte dann seinen Kopf zur Seite. Der Fremde beobachtete seine Bemühungen reglos. Dann fluchte Tom laut. „Er ist tot, du Wichser!―, heulte er und tatsächlich rannen ihm Tränen übers Gesicht. „Er ist an seinem eigenen Blut erstickt… der Blitz soll dich treffen!!― Er presste den Kopf des Toten an seine Brust, wimmerte leise und wiegte sich hin und her. Tanja stand nackt, nur in einen zerschlissenen Mantel gehüllt, da, 134 Anhang und sah zu den beiden rüber, bewegte sich aber nicht. Der Reisende packte fertig, dann richtete er sich auf und ging hinüber in die Sakristei. Er war neugierig, was die beiden im Lauf der Zeit für das Mädchen bekommen hatten. Der kleine Raum war voll gestopft mit allen möglichen Sachen. Manches davon konnte man wirklich gebrauchen. Er nahm einige Feuerzeuge an sich, eine Stabtaschenlampe, ein Paar Handschuhe und eine Wollmütze, außerdem noch Socken und eine Tasche mit Nähzeug. Dann fand er einen Verbandskasten. Er setzte sich an einen mit Pornoheftchen übersäten Schreibtisch und wickelte langsam seinen Verband von der Hand. Das verkrustete Blut machte die Sache nicht einfacher. Außerdem war er Rechtshänder und musste sich mit der Linken verbinden, weswegen er öfter von vorne anfangen musste. Die Schnittwunde verlief quer über die Handfläche und sah entzündet aus. Fluchend schraubte er ein Fläschchen Jod auf. Der Schmerz war ungeheuer, als er die Wunde desinfizierte. Als er mit frischem Verband wieder in den Kirchenraum trat, hatte sich an der Szene nichts geändert. Tanja stand immer noch wie eine Marionette im Raum, deren Spieler eingeschlafen war. Tom hielt Philip im Arm und weinte. Fluchend ging der Wanderer zurück in die Sakristei und packte einen Rucksack mit Vorräten und einem Schlafsack für Tanja. Wenn er sie in diesem Zustand bis zur Siedlung mitschleifen musste, würde die Wanderung Wochen dauern. Er musste sie wie ein kleines Kind behandeln: zog ihr eine Hose an, einen dicken Sweater und den Parka, dann band er ihr die Stiefel und hängte ihr den Rucksack um. Tom sah ihm die ganze Zeit stumm zu. Der Fremde erwiderte seinen Blick. Dann hielt er Tanja, ohne den Blick abzuwenden, drei Feldflaschen hin. „Mach die draußen voll.― Gehorsam nahm sie die Flaschen und schlurfte nach draußen. Tom sah ihr nach, dann blickte er wieder den Fremden an. „Bringst dus jetzt zu Ende?― Der Fremde holte tief Luft. „Ich hab nichts gegen euch, jeder versucht zu überleben, so gut es eben geht – aber ich konnte euch das Mädchen nicht weiter so behandeln lassen.― Tom grinste plötzlich und entblößte eine Reihe gelblicher Zähne. „Markier hier nicht den Dicken! Wenn du wirklich noch 'n Glas Pfirsiche gehabt hättest, hättste sie gefickt und wärst weitergegangen, ohne 'n Gedanken an sie zu verschwenden!― Der Wanderer holte tief Luft, konnte darauf aber nichts erwidern. Er schulterte seinen Rucksack und drehte sich um, schickte sich an, die Kirche zu verlassen. Nur aus einer bloßen Ahnung heraus warf er an der Tür noch einen Blick zurück. Er sah lediglich eine rasche Bewegung, dann wirbelte er herum. Sein Arm zuckte nach vorne, in der Hand eine kleine Pistole aus der Manteltasche. Er zielte kurz und schoss. Nur ein kleiner roter Punkt erschien auf Toms Wange und er sah den Wanderer mit einem erstaunten Ausdruck im Gesicht an. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand und er sackte langsam über Phillip zusammen. Der Wanderer verließ die Kirche und sah Tanja mit den Feldflaschen an einer Pumpe stehen. „Gehen wir!―, meinte er nur und sie trottete hinter ihm her. Sie wanderten den ganzen Tag durch die verwüstete Landschaft, vorbei an alten, verfallenen Bauernhöfen und schließlich eine Autobahn entlang, die von verrosteten Autowracks gesäumt war, in denen noch die Reste der Fahrer saßen. Tanja schien von nichts um sich herum Notiz zu nehmen, sondern folgte dem Fremden wortlos. Als die Nacht hereinbrach 135 Anhang und ein leichter Nieselregen einsetzte, beschloss er, dass es Zeit war zu rasten. Er schichtete ein Häufchen Holz auf und breitete seinen Schlafsack aus und Tanja tat es ihm nach kurzem, dumpfem Starren gleich. Er schnürte einen Beutel Trockenfleisch auf und reichte ihr ein paar Streifen. Sie kauten schweigend und spülten das salzige Fleisch mit Wasser runter. Er schaute missmutig in den Himmel. „Wird eine ungemütliche Nacht―, meinte er, aber sie reagierte nicht. Er zog seine Stiefel aus, wickelte sie in eine Plastiktüte und schob sie unten in seinen Schlafsack, bevor er ebenfalls hineinkroch. Tanja glotzte eine Weile, dann tat sie es ihm gleich. Er erwachte, als sich ein Gewicht auf ihn senkte. Es war noch dunkel. Der Regen hatte aufgehört, stattdessen peitschte der Wind schmutzige Wolken über den Himmel. Ein ungesund gelber Mond schien in Tanjas Gesicht, die auf ihrem Retter kauerte und ihn anstarrte. Reglos erwiderte er den Blick. Tanja war nicht schwer, mit einem kräftigen Aufbäumen könnte er sie mit Sicherheit abwerfen. Aber er steckte bis zum Hals in seinem Schlafsack und müsste anschließend umständlich seine Hände befreien. Tanja andererseits hatte eines seiner Messer in der Hand. Und seine Waffen lagen gegen die Nässe eingewickelt im Rucksack. „Was soll das?―, fragte er leise. Sie antwortete nicht. „Tanja?― Ihr Gesicht zuckte, sie beugte sich ein Stückchen zu ihm herunter und zischte etwas Unverständliches. Er tastete nach dem Messer, das er stets in einem Futteral am Bein trug. Langsam zog er es heraus, setze die Spitze an die Innenseite des Schlafsacks, stach zu und hoffte, dass Tanja das Reißen des Materials nicht hörte. „Du hast ihn getötet!―, wimmerte sie. Sie starrte ihn mit irrem Blick an, ihren Mund zu einer tierhaften Grimasse verzerrt. „Du hast meinen Bruder umgebracht!―, heulte sie auf und Speichel sprühte ihm ins Gesicht. Sie hob das Messer mit beiden Händen hoch über ihren Kopf. In diesem Moment bäumte der Angegriffene sich auf und warf das schmächtige Mädchen ab. Er hörte, wie sie in eine Pfütze klatsche, rollte sich beiseite und zerrte heftig an dem Messer. Mit einem hässlichen Geräusch schlitzte er den Schlafsack auf und bekam gerade noch rechtzeitig den Arm hoch. Tanja zischte böse wie eine in die Enge getriebene Katze und stürzte sich wieder auf ihn. In der Dunkelheit sah er sie nicht deutlich, konnte wegen des Schlafsacks immer noch nicht ausweichen und sie hieb ihm das Messer in den zur Abwehr erhobenen Arm. Er schrie auf, als die Klinge über den Knochen schrammte und ließ das eigene Messer fallen. Wieder holte Tanja aus. Er warf sich zur Seite und fischte mit der unversehrten Linken nach seinem Messer. Der Hieb ging über ihn hinweg und das Mädchen fiel, vom eigenen Schwung mitgerissen, über ihn in den Matsch. Sie keuchte und prustete. In der Dunkelheit griff er sein Messer zuerst an der Klinge und schnitt sich in die Hand. Fluchend rollte er sich herum und sah, wie Tanja sich mit schlammverschmiertem Gesicht, in dem sich Verzweiflung, Bosheit, Angst und Hass gleichermaßen widerspiegelten, auf ihn stürzte. Er konnte dem Messer gerade so weit ausweichen, dass es ihm lediglich einen oberflächlichen Schnitt an der Seite beibrachte, bevor sie in seine empor gerichtete Klinge fiel. Sie stieß die Luft aus und brach auf ihm zusammen. 136 Anhang Blut sickerte aus ihrem Mund und besudelte seinen Pullover. Eine Weile sah sie ihn noch an. Als ihr letzte Gesicht den Ausdruck unbekümmerter Jugend angenommen hatte, war sie tot. Am Morgen versorgte er seinen geschundenen Arm und den Schnitt am Oberkörper so gut es ging und fertigte sich aus einem abgeschnittenen Streifen von Tanjas Parka eine Schlinge. Er brauchte ziemlich lange, um mit der Linken seine vom nächtlichen Kampf verdreckte und durchweichte Kleidung zu wechseln, das Feuer zu löschen, den noch unversehrten Schlafsack Tanjas zusammenzurollen und seinen Rucksack zu packen. Er hatte keinen Spaten dabei und war auch nicht in der Lage, mit bloßen Händen eine Grube zu graben. Darum beschränkte er sich darauf, Tanjas Hände vor dem Körper zu falten und den Parka über sie zu breiten. Ein paar Sekunden lang sah er auf sie hinunter. Als er sich abwandte und weitermarschierte, setzte der Regen wieder ein. - Ende – Stimulus B: Bed and Breakfast (ohne Welt) Der dicht fallende Regen wurde von beißend kalten Windböen als weißer Schleier vor sich her gepeitscht, sickerte ihm unter den Kragen und durchnässte den groben Pullover. Er fror, stapfte aber stoisch durch matschige Pfützen auf das Licht zu, das hinter schmutzigen Scheiben flackerte und ihn von weitem schon angelockt hatte. In Nächten wie diesen nahm man sogar das Risiko auf sich, Menschen zu begegnen. Es war eine Kirche, die aus der verwüsteten Einöde emporragte, die das Unglück aus dem Land gemacht hatte. In ihren zersprungenen und dann mit Planen abgeklebten Fenstern flackerte ein unstetes Licht. Der nahegelegene Friedhof war hoffnungslos verwildert und die gemauerte Umfriedung entweder eingestürzt oder eingerissen um Baumaterial zu erhalten. Die umliegenden Häuser waren nur noch Ruinen, durch die der Wind pfiff. Er umrundete dasie Kirche Gebäude langsam einige Male. Zwei der drei Eingänge waren mit Steinen aus der Friedhofsmauer unbeholfen zugemauert worden. Im dritten war die leichte Tür entfernt, achtlos liegengelassen und durch ein massives Holzbollwerk ersetzt worden, das stur dem Wetter trotzte. Das Dach der Kirche zeugte von zahlreichen Ausbesserungen mit den verschiedensten Ziegeln und wenig handwerklichem Geschick. Dies war weniger ein Haus Gottes als eine Festung. Der Wanderer nährte sich langsam der massiven Tür und schlug mit einer bandagierten Faust dagegen. Unwillkürlich Er zzuckte er zusammen. Zu dem bereits getrockneten Blut gesellte sich frisches und weichte den Verband auf, den er trotz des Regens hatte einigermaßen trocken halten können. Hinter der verschlossenen Tür Er kkonnte er jemanden fluchen hören. Dann hörte er rasselten schwere Ketten und ein altes Schloss quietschte protestierend. „„Keine hastigen Bewegungen, Fremder!―, befahl eine knarrende Stimme. Langsam schwang die Tür auf und das erste, was der er sah, war die Mündung einer Schrotflinte, die sich auf ihn richtete. „„Was willst du?―, fragte die kleine bucklige Gestalt schroff, die im Türrahmen stand und mit verkniffenem Gesicht zu ihm aufblickte. Der Kerl war klein, aber dafür auch etwa so breit wie hoch. Er trug einen zerschlissenen Mantel mit hochgezogener Kapuze, und fingerlose Handschuhe. „„Ich suche einen trockenen Platz, wo ich meinen Schlafsack hinlegen kann.― Der Kerl kicherte gurgelnd und musste dann husten. Anscheinend führte er ansonsten ein 137 Anhang recht humorloses Leben. „„Warum sollten wir dich hier reinlassen, Fremder?―, krächzte er dann und musterte den Ankömmling eingehend. Sie waren also mindestens zu zweit. Gut zu wissen. „„Vielleicht habe ich ja etwas, was ihr gebrauchen könnt?― Der Mannas Männchen grinste und sagte: „„Kann man nie wissen, zeig her!― „„Lass mich aber rein dazu, sonst wird mein ganzes Gepäck nass.― Er überlegte einen Moment und trat dann schlurfend zu Seite. Die Schrotflinte wies immer noch auf den Ankömmling, als dieser die Schwelle in den Vorraum des Gebäudesr Kirche übertrat. Er schüttelte sich einmal und das Wasser perlte von seinem Mantel. Es war ein guter Mantel, wie der kleine Kerl zweifellos bemerkte. Noch wenig geflickt und offenbar wasserdicht. Der Wanderer stellte mit einem leisen Ächzen seinen großen Rucksack ab und schnürte ihn auf. Unter den misstrauischen Blicken des anderen und mit einer der Schrotflinte im Nacken wühlte er hastig mit der unversehrten Hand in den Tiefen desim Rucksacks herum. Schließlich drehte er sich um und hielt dem Buckligen anderen ein Glas entgegen. Als dieser erkannte, um was es sich handelte, hellte sich sein Gesicht auf und er streifte hastig die Kapuze herunter. Er Gierig griff er nach dem Glas, aber der Wanderer zog die Hand rasch zurück. „„Was ist jetzt?―, wollte er wissen. „„Jaja, schon gut! Du kannst hier bleiben.― Er schnappte sich gierig das Glas und stieß die Tür in den eigentlichen Kirchenraum auf. „„Du glaubst nie, was er dabeihat! Kuck dir das an!― Er watschelte ging begeistert in die Kirche hinein, aber der Wanderer blieb nahe beim Eingang stehen, verschnürte wieder sorgfältig seinen Rucksack und wartete. Nach kurzer Zeit unterbrach eine zweite Stimme wütend das begeisterte Geredeschnatter des BuckligenMannes, der geöffnet hatte. „„Verdammt noch mal, behalt ihn im Auge du Volltrottel! Hat dir einer ins Hirn geschissen?― Der Bucklige erste wirbelte drehte sich um herum und hätte aus einem Reflex heraus fast abgedrückt, aber der Neue lehnte friedlich an der Wandneben der Tür und musterte den KircheninnenraumInnenraum. Es war keine große Kirche, eine Dorfkirche eben. Die hohen Fenster waren weitgehend zerbrochen und darum mit Folien abgeklebt oder zugemauert worden. Die Bankreihen waren teilweise verschwunden. In einer Ecke des Raumes lag ein Haufen Lumpen oder Abfall und in der Mitte, wo einmal der Mittelgang gewesen war, brannte ein munteres Feuer auf dem bloßen Steinboden. Der zweite Bewohner, der den farbigen Wortschatz hatte, kam soeben Neben dem Aufstieg zur Kanzel war die Tür zur aus einem anderen Raum.Sakristei und aus dieser kam soeben der zweite Bewohner der Kirche, der den farbigen Wortschatz hatte. In einer Hand hielt er einen Revolver, in der anderen ein altes Fleischerbeil. „„Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass wir nich' jeden hergelaufnen Wichser hier reinlassen, du Trottel!― herrschte er den Buckligen an und schlug ihm unsanft auf den Hinterkopf, dass die Schrotflinte bedenklich zuckte. „„Aber kuck dir das an!―, jammerte der Geschlagene kleinlaut. „„Er hat Pfirsiche!― Der Große riss ihm das Glas aus der Hand und starrte es ungläubig an. „„Ich hab bestimmt schon seit 'm Unglück keine Pfirsiche mehr gesehn…―, flüsterte er und leckte sich die Lippen. Der Wanderer grinste. Sein Schlafplatz war ihm sicher. „„Na schön Fremder. Is 'n fairer Handel―, sagte der Große nach einer Weile und fixierte den Neuankömmling. „„Aber lass dein' Waffenladen schön da hinten liegen.― Er wedelte mit dem Revolver herum und der Wanderer knöpfte betont langsam seinen Mantel auf. Als er ihn öffnete, hob der Große überrascht die Augenbrauen. Der Fremde trug einen Revolver und seitlich in einem Futteral am rechten Bein eine abgesägte Schrot138 Anhang flinte. In einem Futteral auf der anderen Seite steckte ein Messer und über seiner Brust kreuzten befanden sich zwei Patronengürtel, die allerdings fast leer waren. Er schnürte langsam alle Holster und Futterale auf und legte sie neben seinen Rucksackzur Seite, dann löste er seinen Schlafsack und warf ihn in hohem Bogen neben das Feuer. „„Du trägst ne Menge Metall mit dir rum―, meinte der Große. „„Das Leben is' gefährlich geworden.― Der Große grinste plötzlich und steckte seine Waffe in den speckigen Gürtel. „„Stimmt, Fremder. Aber heut Nacht soll das nich' unser Problem sein.― Der Große hieß Tom und der Bucklige Phillip, das war auch schon alles, was an Informationen aus ihnen herauszuholen war. Im Moment saßen sie ihrem Gast am Feuer gegenüber und stopften sie gierig die Pfirsiche in sich hinein. Es war eigentlich eine Schande, die kostbaren Früchte so einfach zu opfern. Es war schwer gewesen, überhaupt an sie ran zu kommen. Andererseits war diese Nacht wirklich zu beschissen, um sie im Freien zu verbringen und bevor er seinen Tabak zum Tausch geopfert hätte, hätte er sich eher den Arm abgehackt. „„Wo hast'n die Pfirsiche her?― fragte Tom und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Phillip trank den Rest des Glases leer und grinste wie ein zufriedenes Baby. „„Im Süden gibt‘s manchmal Gewächshäuser―, antwortete der Fremde vage. „„Echte Gewächshäuser? Mit Glas un' so?―, Tom beugte sich neugierig vor, aber der Fremde nickte nur. „„Biste weit im Süden gewesen?― Wieder nickte er lediglich. Dann sagte er doch noch: „„Bis zum Meer.― „„Echt? Ich war noch nie am Meer, nich' mal früher. Wie is' das Meer?― „„Tot.― Der Fremde starrte in die Flammen und holte schließlich ein Päckchen aus seinem Mantel, den er immer noch trug. Er griff hinein und fing an, sich geschickt eine Zigarette zu drehen. Tom sah ihm eine Weile zu, dann stieß er Phillip in die Seite. „„Hol mal was zu Essen und was zum Rauchen!― Phillip stand auf und watschelte Richtung Sakristei davon, er war es offenbar gewohnt, herumkommandiert zu werden. Der Wanderer zündete sich gerade die Zigarette mit einem brennenden Scheit an, als der Bucklige andere zurückkam. „„Wir laden dich ein, Fremder―, erklärte Tom. „„So'n Schlafplatz is'n bisschen wenig für 'n ganzes Glas Pfirsiche.― „„Und wir ham ja genug!―, erklärte Phillip und handelte sich dafür einen rüden Stoß von Tom ein. Hatte sich da gerade jemand verplappert? Trotzdem grinsten ihn beide an und Phillip stellte einen Topf ins Feuer. Der Wanderer grinste zurück, paffte zufrieden an seiner Zigarette und wärmte sich auf. Langsam wurde sogar sein Pullover wieder trocken, der Abend wurde immer besser. Schließlich nahm Tom den Deckel vom Topf, verteilte vier Teller und fing an, die dicke Brühe auszuteilen. Es roch nicht mal schlecht, kein Vergleich zu dem, was er die letzten Wochen gegessen hatte. Es waren sogar Fleischbrocken drin. „„Wieso vier Teller?―, fragte der Fremde. „„Wir kriegen noch Gesellschaft―, Tom grinste auf eine Art und Weise, die ihm gar nicht gefiel. „„Hey, 's gibt Essen!―, schrie Phillip. Es raschelte hinter ihm und der Fremdling drehte sich überrascht um. Aus dem Haufen Lumpen, der ihm beim Reinkommen schon aufgefallen war,Hinter ihm erhob sich eine schmale Gestalt und trottete auf das Feuer zu. Es war eine junge Frau, eigentlich eher ein Mädchen. Sie war barfuß, ihre Beine waren bis zu den Knien nackt und bläulich von der Kälte. Sie trug einen zusammengenähten Fetzen Stoff um den Körper geschlungen und 139 Anhang starrte dumpf vor sich, ohne aber anscheinend etwas wahrzunehmen. Sie ließ sich neben das Feuer plumpsen, nahm ihren Teller und fing an zu essen. Sie musste sich an der heißen Brühe verbrennen, aber sie zeigte keine Regung.. „„Wer ist sie?―, fragte der Wanderer. Irgendwie glaubte er nicht, eine Antwort zu erhalten, wenn er sie selbst fragen würde. „„Das is' Tanja―, erklärte Tom und blies auf sein Essen. „„Noch nie von ihr gehört? Sie is' berühmt in der Gegend hier.― Phillip kicherte hämisch und verbrannte sich dann den Mund an einem Löffel Brühe. Der Wanderer starrte das verwahrloste Wesen neben sich an. Wolfskinder mussten ähnlich aussehen. „„Sie is' die `verrückte Tanja, die nie genug kriegt`, oder?― Tom lachte und fasste ihr unter dien StofffetzenKleidung. „„Oder?― „„M-hm!―, machte das Mädchen und aß stoisch weiter. Tom zog die Hand zurück und winkte gelangweilt ab. „„Glaub mir, sie steht drauf, wenn man sie hart ran nimmt!― Tom nickte um seine Worte zu bekräftigen, während Phillip gluckste und dabei Essen ins Feuer spuckte. Der Wanderer nahm einen Löffel Brühe. Ihn ging das eigentlich nichts an, sie hatten sich ihm gegenüber doch anständig verhalten. „„Willste auch mal?―, fragte Tom. „„Was?― Der Wanderer schreckte aus seinen Gedanken hoch. „„Sie ficken. Kostet aber extra, is' im Preis nicht inbegriffen.― Er grinste schmierig und sagte dann: „„Zeig dich mal, wir haben vielleicht heute noch 'n Kunden.― Völlig ruhig Tanja stand Tanja auf und wickelte den Stofffetzenihr Kleider von sich. Sie war darunter tatsächlich nackt. Es musste ihr bei diesem Wetter und so weit weg vom Feuer ständig eiskalt sein. Auf Toms Gestikulieren hin drehte sie sich einmal um sich selbst. „„Na? Ich geb zu, sie is'n bisschen mager, aber wir päppeln sie grad wieder auf.― Mager war eine glatte Untertreibung: KZ-Häftlinge konnten nicht schlimmer ausgesehen haben. „„Was meinste? Gegen dein` Tabak kannst sie die ganze Nacht haben.― Der Wanderer schüttelte langsam den Kopf. „„Danke, aber ich häng an meinem Tabak.― Tom zuckte die Achseln „„Musste selbst wissen. Aber dir entgeht was.― Das Essen schmeckte jetzt nicht mehr so recht, aber der Wanderer würgte es trotzdem runter. Immerhin wusste er nicht, wann er wieder etwas bekommen würde. Die ganze Zeit ging ihm das Mädchen durch den Kopf. Sie hatte sich nach dieser `Vorführung` wieder eingewickelt und war zu ihrem Lumpenhaufen zurückgetrottet. Der Himmel wusste, wie lange sie schon so vor sich hin vegetierte. Tom und Phillip versanken den Rest des Abends in Schweigen und der Wanderer hatte nicht die Absicht, es zu brechen. Irgendwann breitete er seinen Schlafsack aus und schlüpfte, noch in Pullover und Hose, hinein. Seine beiden Gastgeber genehmigten sich zum Ausklang des Tages noch ein Pfeifchen und taten es ihm dann wortlos gleich. Der Wanderer verfluchte sich innerlich, als er aufwachte. Er hatte in Gesellschaft dieser beiden Gestalten gar nicht erst einschlafen wollen. Aber niemand hielt ihm ein Messer an die Kehle und sein Gepäck sah ebenfalls unangetastet aus. Der Wanderer drehte sich wieder herum und schloss die Augen. Der Rest der Nacht floss zähging vorüber. Er lag wach in seinem Schlafsack, starrte an die Decke und wartete auf den ersten Schimmer des Morgens. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Das Essen war gut gewesen und der Boden trocken. Aber er hatte in der Nähe dieser Gastgeber keine Ruhe gefunden und hätte nass und hungrig unter freiem Himmel wahrscheinlich eine erfreulichere Nacht verbracht. 140 Anhang Als die Decken raschelten und Tom sich aufrichtete, tat er so, als wäre er ebenfalls gerade eben erst aufgewacht. „„Na, gut geschlafen?―, fragte Tom. Er grinste und kratzte sich unter den Achseln. Er erwartete wohl keine Antwort, sondern stand auf und brachte Philip mit Fußtritten ebenfalls auf die Beine. „„Geh raus, die Fallen kontrollieren!―, herrschte er ihn an. Dann stapfte er zu dem Lumpenhaufen und scheuchte er auch Tanja auf. Sie kroch aus dem schimmligen Haufen hervor, wickelte sich in einen zerschlissenen Mantel und trottete langsam mit bloßen Füßen nach draußendavon, um Wasser von irgendeinem Brunnen zu holen. Der Wanderer glitt aus seinem Schlafsack und schnürte ihn sorgfältig zusammen. Er wollte so früh wie möglich aufbrechen und dieses Irrenhaus verlassen. Nach einer Weile kehrte Tanja mit einem alten Putzeimer voll Wasser zurück und schüttete es in das Taufbecken neben dem Altar. Tom trat daran, zog sein zerschlissenes Hemd aus und wusch sich unter vernehmlichem Schnauben und Prusten. Phillip kam mit leeren Händen zurück. „„Heut Nacht ham sich sogar die Ratten nich' rausgetraut―, meinte er mit bekümmerter Miene. „„Macht nichts, dann gibt's heut eben vegetarisch.― Tom machte einen gut gelaunten Eindruck und wurde von Phillip am Becken abgelöst. „„Du auch, Tanja―, schnauzte Tom sie an. „„Sonst holen sich deine Kunden noch die Krätze bei dir!― In ihrem stoischen Gang schlurfte sSie ging zum Becken und gehorchte. „„Willst du schon los?―, fragte Tom, als er mit neuem Hemd und Hose aus der Sakristei kam und den Wanderer beim Packen sah. „„Ist noch ein weiter Weg―, meinte dieser mit einem kurzen Blick zu seinem Gastgeber. Unter Toms ausgeblichenem Pullover war eine deutliche Wölbung an seiner Hüfte. „„Wohin gehts'n?―, wollte er wissen. „„Westen―, antwortete der Wanderer kurz angebunden. Tom lachte amüsiert. „„Ich seh schon, bist einer vonnen Geheimnisvollen.― Tanja trottete an Tom vorbei, griff sich ein schmuddeliges Teil von ihrem Lumpenhaufenihren Kleidern und trocknete sich ab. „„Wie viel für sie?―, hörte der Wanderer sich fragen. Tom stutzte, dann lächelte er. „„Also doch noch Lust gekriegt?― Phillip, der gerade vom Becken kam, kicherte, warf ein feuchtes Handtuch achtlos auf den Lumpenhaufen und setzte sich auf eine Kirchenbank. „„Sie is' was ganz besondres, unsre Tanja!― Er grinste schmierig und ein bisschen irre. Neben ihm auf der Bank lag die Schrotflinte. „„Nein―, hörte sich der Wanderer wieder sagen, „„ich will sie mitnehmen.― Toms Augen wurden zu kleinen Schlitzen und seine Hand näherte sich der Wölbung an seiner Hüfte. „„Das kannste vergessen―, sagte er Tom leise. „„Sie wäre bei mir besser dran als bei euch.― Die Waffen des Wanderers lagen neben seinem gepackten Rucksack. „„Sie bleibt hier. Mein letztes Wort!― Er sah kurz zu dem Buckligen anderen hin. Die Flinte war irgendwie näher an ihn herangerutscht. Der Wanderer grinste plötzlich schief. „„Na schön, was kostet denn einmal?― Tom nickte mit dem Kinn zu dem leeren Pfirsichglas vom gestrigen Abend. „„Haste noch davon?― Der Fremde lächelte und nickte. „„Moment―, sagte er und kniete sich neben seinen Rucksack, um ihn aufzuschnüren. Überraschend, dass Phillip diesmal schneller schaltete als Tom. „„Pass auf‘!―, Schrie er alarmiert und packte seine Flinte. Tom griff hastig nach seinem Fleischerbeil am Gürtel und machte einen Satz auf den Fremden zu, der gerade noch den Revolver packen konnte, der neben seinem Rucksack lag. Er warf sich zur Seite, um Tom 141 Anhang zwischen sich und Phillips Flinte zu bringen und schoss. Tom stieß einen gellenden Schrei aus und wurde zur Seite gewirbelt. Der hastig gezielte Schuss hatte ihn aber nur in die Schulter getroffen. Phillip schrie zornig auf und hob die Flinte, aber ein weiterer Schuss des Wanderers traf ihn ins Bein und er fiel fluchend um. Der Wanderer stand auf. Blut tropfte von seinem Revolver. Er umklammerte ihn mit seiner verletzten Hand und der Rückstoß hatte die Wunde wieder aufgerissen. Phillip fischte auf dem Boden nach seiner Flinte, die ihm beim Sturz aus der Hand gefallen und unter die Kirchenbank gerutscht war, und fluchte dabei lauthals „„Du Wichser, ich mach dich fertig, du Wichser! Ich mach dich fertig!― Ehe er die Flinte erreichen konnte, war der Fremde mit schnellen Schritten bei ihm und versetzte ihm einen Tritt gegen seine Schusswunde. Der Bucklige wimmerte auf und krümmte sich zusammen. Der Fremde drehte sich alarmiert um und sah gerade noch, wie Tom mit erhobenem Beil, schreiend wie ein Berserker, auf ihn zustürmte. Er hob den Revolver, aber es klickte nur. Er machte einen Schritt nach hinten, von Tom weg, stolperte über Phillip und fiel zu Boden. Tom stand über ihm, mit erhobener Waffe. Hastig fasste der Fremde unter seinen Pullover an den Gürtel und zog der Fremde einen spitz gefeilten Schraubenzieher hervor. Gerade als Tom schreiend das Beil auf ihn niederfahren lassen wollte, rammte er ihm das Werkzeug mit aller Kraft in den Fuß. Tom schrie schrill und das Beil grub sich tief in die KirchenbankBank. Der Fremde gab Tom noch einen Tritt zwischen die Beine, so dass er japsend umfiel, und rappelte sich auf. Phillip hatte mittlerweile die Flinte zu fassen gekriegt, aber der Wanderer trat ihm auf die Hand und nahm sie ihm mühelos ab. Dann rammte er ihm den Kolben der Flinte hart ins Gesicht. Man hörte Knochen krachen und ein Gurgeln, dannPhillip verlor der kleine Widerling das Bewusstsein. Tom starrte mit hasserfüllten Augen zu dem Fremden auf. „„Wir ham dich hier aufgenomm`, Arschloch! So revanchierste dich?―, zischte er wütend und robbte über den Boden von ihm weg. Der Angesprochene zuckte die Achseln. „„Tanja, zieh dir was an, ich bring dich von hier weg.― Das Mädchen hatte das Geschehen die ganze Zeit neben ihrem Lumpenhaufen gestanden und das Geschehen reglos beobachtet. Nun blickte sie den Fremden mit den Augen eines toten Fisches an. Dann nickte sie langsam und wühlte nach Kleidern in ihrem Lumpenberg. Der Wanderer trat zu seinem Rucksack und legte sorgfältig seine Holster an. Er ließ Tom dabei nicht aus den Augen, der ihn immer noch hasserfüllt anstarrte und sich einen blutigen Lappen auf die Schulter presste. Unter seinem Fuß bildete sich eine dunkle Lache. Phillip röchelte und bäumte sich zuckend auf. Tom robbte zu ihm hin und wischte ihm das Blut aus dem Gesicht, drehte dann seinen Kopf zur Seite. Der Fremde beobachtete seine Bemühungen reglos. Dann fluchte Tom laut. „„Er ist tot, du Wichser!―, heulte er und tatsächlich rannen ihm Tränen übers Gesicht. „„Er ist an seinem eigenen Blut erstickt… der Blitz soll dich beim Scheißen treffen!!― Er presste den Kopf des Toten an seine Brust, wimmerte leise und wiegte sich hin und her. Tanja stand nackt, nur in einen zerschlissenen Mantel gehüllt, da, und sah zu den beiden rüber, bewegte sich aber nicht. Der Reisende packte fertig, dann richtete er sich auf und ging hinüber in die Sakristeiden Nebenraum. Er war neugierig, was die beiden im Lauf der Zeit für das Mädchen bekommen hatten. Der kleine Raum war voll gestopft mit allen möglichen Sachen. Manches davon konnte man wirklich gebrauchen. Er nahm einige Feuerzeuge an sich, eine Stabtaschenlampe, ein Paar Handschuhe und eine Wollmütze, außerdem noch Socken und eine Tasche mit Nähzeug. Dann fand er einen Verbandskasten. Er setzte sich an einen mit Pornoheftchen übersäten Schreibtisch und wickelte langsam seinen Verband von der Hand. Das verkrustete Blut machte die Sache nicht einfacher. Außerdem war er Rechtshänder und musste sich mit der Linken verbinden, weswegen er öfter von vorne anfangen musste. 142 Anhang Die Schnittwunde verlief quer über die Handfläche und sah entzündet aus. Fluchend Er schraubte er ein Fläschchen Jod auf. Der Schmerz war ungeheuer, als er die Wunde desinfizierte. Als er mit frischem Verband wieder in den anderen KirchenrRaum trat, hatte sich an der Szene nichts geändert. Tanja stand immer noch wie eine Marionette im Raum, deren Spieler eingeschlafen war. Tom hielt Philip im Arm und weinte. Fluchend ging der Wanderer zurück in die den NebenraumSakristei und packte einen Rucksack mit Vorräten und einem Schlafsack für Tanja. Wenn er sie in diesem Zustand bis zur Siedlung mitschleifen musste, würde die Wanderung Wochen dauern. Er musste sie wie ein kleines Kind behandeln: zog ihr eine Hose an, einen dicken Sweater und den Parka, dann band er ihr die Stiefel und hängte ihr den Rucksack um. Tom sah ihm die ganze Zeit stumm zu. Der Fremde erwiderte seinen Blick. Dann hielt er Tanja, ohne den Blick abzuwenden, drei Feldflaschen hin. „„Mach die draußen voll.― Gehorsam nahm sie die Flaschen und schlurfte nach draußen. Tom sah ihr nach, dann blickte er wieder den Fremden an. „„Bringst dus jetzt zu Ende?― Der Fremde holte tief Luft. „„Ich hab nichts gegen euch, jeder versucht zu überleben, so gut es eben geht – aber ich konnte euch das Mädchen nicht weiter so behandeln lassen.― Tom grinste plötzlich und entblößte eine Reihe gelblicher Zähne. „„Markier hier nicht den Dicken! Wenn du wirklich noch 'n Glas Pfirsiche gehabt hättest, hättste sie gefickt und wärst weitergegangen, ohne 'n Gedanken an sie zu verschwenden!― Der Wanderer holte tief Luft, konnte darauf aber nichts erwidern. Er schulterte seinen Rucksack und drehte sich um, schickte sich an, die das Kirche Gebäude zu verlassen. Nur aus einer bloßen Ahnung heraus warf er an der Tür noch einen Blick zurück. Er sah lediglich eine rasche Bewegung, dann wirbelte er herum. Sein Arm zuckte nach vorne, in der Hand eine kleine Pistole aus der Manteltasche. Er zielte kurz und schoss. Nur ein kleiner roter Punkt erschien auf Toms Wange und er sah den Wanderer mit einem erstaunten Ausdruck im Gesicht an. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand und er sackte langsam über Phillip zusammen. Der Wanderer verließ die Kirchedas Gebäude und sah Tanja mit den Feldflaschen an einer Pumpe stehen. „„Gehen wir!―, meinte er nur und sie trottete hinter ihm her. Sie wanderten den ganzen Tag. durch die verwüstete Landschaft, vorbei an alten, verfallenen Bauernhöfen und schließlich eine Autobahn entlang, die von verrosteten Autowracks gesäumt war, in denen noch die Reste der Fahrer saßen. Tanja schien von nichts um sich herum Notiz zu nehmen, sondern folgte dem Fremden wortlos. Als die Nacht hereinbrach und ein leichter Nieselregen einsetzte, beschloss er, dass es Zeit war zu rasten. Er schichtete ein Häufchen Holz auf und breitete seinen Schlafsack aus und Tanja tat es ihm nach kurzem, dumpfem Starren gleich. Er schnürte einen Beutel Trockenfleisch auf und reichte ihr ein paar Streifen. Sie kauten schweigend und spülten das salzige Fleisch mit Wasser runter. Er schaute missmutig in den Himmel. „„Wird eine ungemütliche Nacht―, meinte er, aber sie reagierte nicht. Er zog seine Stiefel aus, wickelte sie in eine Plastiktüte und schob sie unten in seinen Schlafsack, bevor er ebenfalls hineinkroch. Tanja glotzte eine Weile, dann tat sie es ihm gleich. Er erwachte, als sich ein Gewicht auf ihn senkte. Es war noch dunkel. Der Regen hatte aufgehört, stattdessen peitschte der Wind schmutzige Wolken über den Himmel. Ein ungesund gelber Mond schien in Tanjas Gesicht, diekauerte auf ihrem Retter kauerte und starrte ihn anstarrte. Reglos erwiderte er den Blick. Tanja war nicht schwer,M mit einem kräftigen Aufbäumen könnte er sie mit Sicherheit abwerfen. Aber er steckte bis zum Hals in seinem Schlafsack und müsste anschließend 143 Anhang umständlich seine Hände befreien. Tanja andererseits hatte eines seiner Messer in der Hand. Und seine Waffen lagen gegen die Nässe eingewickelt im Rucksack. „„Was soll das?―, fragte er leise. Sie antwortete nicht. „„Tanja?― Ihr Gesicht zuckte, sie beugte sich ein Stückchen zu ihm herunter und zischte etwas Unverständliches. Er tastete nach dem Messer, das er stets in einem Futteral am Bein trug. Langsam zog er es heraus, setze die Spitze an die Innenseite des Schlafsacks, stach zu und hoffte, dass Tanja das Reißen des Materials nicht hörte. „„Du hast ihn getötet!―, wimmerte sie. Sie starrte ihn mit irrem Blick an, ihren Mund zu einer tierhaften Grimasse verzerrt. „„Du hast meinen Bruder umgebracht!―, heulte sie auf und Speichel sprühte ihm ins Gesicht. Sie hob das Messer mit beiden Händen hoch über ihren Kopf. In diesem Moment bäumte der Angegriffene sich auf und warf das schmächtige Mädchen ab. Er hörte, wie sie in eine Pfütze klatsche, rollte sich beiseite und zerrte heftig an dem Messer. Mit einem hässlichen GeräuschEr schlitzte er den Schlafsack auf und bekam gerade noch rechtzeitig den Arm hoch. Tanja zischte böse wie eine in die Enge getriebene Katze und stürzte sich wieder auf ihn. In der Dunkelheit sah er sie nicht deutlich, konnte wegen des Schlafsacks immer noch nicht ausweichen und sie hieb ihm das Messer in den zur Abwehr erhobenen Arm. Er schrie auf, als die Klinge über den Knochen schrammte und ließ das eigene Messer fallen. Wieder holte Tanja aus. Er warf sich zur Seite und fischte mit der unversehrten Linken nach seinem Messer. Der Hieb ging über ihn hinweg und das Mädchen fiel, vom eigenen Schwung mitgerissen, über ihn in den Matsch. Sie keuchte und prustete. In der Dunkelheit griff er sein Messer zuerst an der Klinge und schnitt sich in die Hand. Fluchend rollte er sich herum und sah, wie Tanja sich mit schlammverschmiertem Gesicht, in dem sich Verzweiflung, Bosheit, Angst und Hass gleichermaßen widerspiegelten, auf ihn stürzte. Er konnte dem Messer gerade so weit ausweichen, dass es ihm lediglich einen oberflächlichen Schnitt an der Seite beibrachte, bevor sie in seine empor gerichtete Klinge fiel. Sie stieß die Luft aus und brach auf ihm zusammen. Blut sickerte aus ihrem Mund und besudelte seinen Pullover. Eine Weile sah sie ihn noch an. Als ihr Gesicht den Ausdruck unbekümmerter Jugend angenommen hatte, war sie tot. Am Morgen versorgte er seinen geschundenen Arm und den Schnitt am Oberkörper so gut es ging und fertigte sich aus einem abgeschnittenen Streifen von Tanjas Parka eine Schlinge. Er brauchte ziemlich lange, um mit der Linken seine vom nächtlichen Kampf verdreckte und durchweichte Kleidung zu wechseln, das Feuer zu löschen, den noch unversehrten Schlafsack Tanjas zusammenzurollen und seinen Rucksack zu packen. Er hatte keinen Spaten dabei und war auch nicht in der Lage, mit bloßen Händen eine Grube zu graben. Darum beschränkte er sich darauf, Tanjas Hände vor dem Körper zu falten und den Parka über sie zu breiten. Ein paar Sekunden lang sah er auf sie hinunter. Als eEr wand sich abwandte und weitermarschierte weiter, setzte der Regen wieder ein. - Ende – 144 Anhang Stimulus C: Bed and Breakfast (ohne Point) Der dicht fallende Regen wurde von beißend kalten Windböen als weißer Schleier vor sich her gepeitscht, sickerte ihm unter den Kragen und durchnässte den groben Pullover. Er fror, stapfte aber stoisch durch matschige Pfützen auf das Licht zu, das hinter schmutzigen Scheiben flackerte und ihn von weitem schon angelockt hatte. In Nächten wie diesen nahm man sogar das Risiko auf sich, Menschen zu begegnen. Es war eine Kirche, die aus der verwüsteten Einöde emporragte, die das Unglück aus dem Land gemacht hatte. In ihren zersprungenen und dann mit Planen abgeklebten Fenstern flackerte ein unstetes Licht. Der nahegelegene Friedhof war hoffnungslos verwildert und die gemauerte Umfriedung entweder eingestürzt oder eingerissen um Baumaterial zu erhalten. Die umliegenden Häuser waren nur noch Ruinen, durch die der Wind pfiff. Er umrundete die Kirche langsam einige Male. Zwei der drei Eingänge waren mit Steinen aus der Friedhofsmauer unbeholfen zugemauert worden. Im dritten war die leichte Tür entfernt, achtlos liegengelassen und durch ein massives Holzbollwerk ersetzt worden, das stur dem Wetter trotzte. Das Dach der Kirche zeugte von zahlreichen Ausbesserungen mit den verschiedensten Ziegeln und wenig handwerklichem Geschick. Dies war weniger ein Haus Gottes als eine Festung. Der Wanderer nährte sich langsam der massiven Tür und schlug mit einer Faust dagegen. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Hinter der verschlossenen Tür konnte er jemanden fluchen hören. Dann rasselten schwere Ketten und ein altes Schloss quietschte protestierend. „Keine hastigen Bewegungen, Fremder!―, befahl eine knarrende Stimme. Langsam schwang die Tür auf und das erste, was er sah, war die Mündung einer Schrotflinte, die sich auf ihn richtete. „Was willst du?―, fragte die kleine bucklige Gestalt schroff, die im Türrahmen stand und mit verkniffenem Gesicht zu ihm aufblickte. Der Kerl war klein, aber dafür auch etwa so breit wie hoch. Er trug einen zerschlissenen Mantel mit hochgezogener Kapuze, und fingerlose Handschuhe. „Ich suche einen trockenen Platz, wo ich meinen Schlafsack hinlegen kann.― Der Kerl kicherte gurgelnd und musste dann husten. Anscheinend führte er ansonsten ein recht humorloses Leben. „Warum sollten wir dich hier reinlassen, Fremder?―, krächzte er dann und musterte den Ankömmling eingehend. Sie waren also mindestens zu zweit. Gut zu wissen. „Vielleicht habe ich ja etwas, was ihr gebrauchen könnt?― Das Männchen grinste und sagte: „Kann man nie wissen, zeig her!― „Lass mich aber rein dazu, sonst wird mein ganzes Gepäck nass.― Er überlegte einen Moment und trat dann schlurfend zu Seite. Die Schrotflinte wies immer noch auf denDer Ankömmling, als dieser übertrat die Schwelle in den Vorraum der Kirche übertrat. Er schüttelte sich einmal und das Wasser perlte von seinem Mantel. Es war ein guter Mantel, wie der kleine Kerl zweifellos bemerkte. Noch wenig geflickt und offenbar wasserdicht. Der Wanderer stellte mit einem leisen Ächzen seinen großen Rucksack ab und schnürte ihn auf. Unter den misstrauischen Blicken des anderen und mit einer Schrotflinte im Nacken wühlte er hastig mit der unversehrten Hand in den Tiefen des Rucksacks herum. Schließlich drehte er sich um und hielt dem Buckligen ein Glas entgegen. Als dieser erkannte, um was es sich handelte, hellte sich sein Gesicht auf und er streifte hastig die Kapuze herunter. Gierig griff er nach dem Glas, aber der Wanderer zog die Hand rasch zurück. „Was ist jetzt?―, wollte er wissen. „Jaja, schon gut! Du kannst hier bleiben.― Er schnappte sich gierig das Glas und stieß die Tür in den eigentlichen Kirchenraum auf. „Du glaubst nie, was er dabeihat! Kuck dir das an!― Er watschelte begeistert in die Kirche hinein, aber der Wanderer blieb nahe beim Eingang stehen, verschnürte wieder sorgfältig seinen Rucksack und wartete. Nach kurzer Zeit 145 Anhang unterbrach eine zweite Stimme wütend das begeisterte Geschnatter des Buckligen. „Verdammt noch mal, behalt ihn im Auge du Volltrottel! Hat dir einer ins Hirn geschissen?― Der Bucklige wirbelte herum und hätte aus einem Reflex heraus fast abgedrückt, aber der Neue lehnte friedlich neben der Tür und musterte den Kircheninnenraum. Es war keine große Kirche, eine Dorfkirche eben. Die hohen Fenster waren weitgehend zerbrochen und darum mit Folien abgeklebt oder zugemauert worden. Die Bankreihen waren teilweise verschwunden. In einer Ecke des Raumes lag ein Haufen Lumpen oder Abfall und in der Mitte, wo einmal der Mittelgang gewesen war, brannte ein munteres Feuer auf dem bloßen Steinboden. Neben dem Aufstieg zur Kanzel war die Tür zur Sakristei und aus dieser kam soeben der zweite Bewohner der Kirche, der den farbigen Wortschatz hatte. In einer Hand hielt er einen Revolver, in der anderen ein altes Fleischerbeil. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass wir nich' jeden hergelaufnen Wichser hier reinlassen, du Trottel!― herrschte er den Buckligen an und schlug ihm unsanft auf den Hinterkopf, dass die Schrotflinte bedenklich zuckte.. „Aber kuck dir das an!―, jammerte der Geschlagene kleinlaut. „Er hat Pfirsiche!― Der Große riss ihm das Glas aus der Hand und starrte es ungläubig an. „Ich hab bestimmt schon seit 'm Unglück keine Pfirsiche mehr gesehn…―, flüsterte er und leckte sich die Lippen. Der Wanderer grinste. Sein Schlafplatz war ihm sicher. „Na schön Fremder. Is 'n fairer Handel―, sagte der Große nach einer Weile und fixierte den Neuankömmling. „Aber lass dein' Waffenladen schön da hinten liegen.― Er wedelte mit dem Revolver herum und dDer Wanderer knöpfte betont langsam seinen Mantel auf. Als er ihn öffnete, hob der Große überrascht die Augenbrauen. Der Fremde trug einen Revolver und seitlich in einem Futteral am rechten Bein eine abgesägte Schrotflinte. In einem Futteral auf der anderen Seite steckte ein Messer und über seiner Brust kreuzten sich zwei Patronengürtel, die allerdings fast leer waren. Er schnürte langsam alle Holster und Futterale auf und legte sie neben seinen Rucksack, dann löste er seinen Schlafsack und warf ihn in hohem Bogen neben das Feuer. „Du trägst ne Menge Metall mit dir rum―, meinte der Große. „Das Leben is' gefährlich geworden.― Der Große grinste plötzlich und steckte seine Waffe in den speckigen Gürtel. „Stimmt, Fremder. Aber heut Nacht soll das nich' unser Problem sein.― Der Große hieß Tom und der Bucklige Phillip, das war auch schon alles, was an Informationen aus ihnen herauszuholen war. Im Moment saßen sie ihrem Gast am Feuer gegenüber und stopften gierig die Pfirsiche in sich hinein. Es war eigentlich eine Schande, die kostbaren Früchte so einfach zu opfern. Es war schwer gewesen, überhaupt an sie ran zu kommen. Andererseits war diese Nacht wirklich zu beschissen, um sie im Freien zu verbringen und bevor er seinen Tabak zum Tausch geopfert hätte, hätte er sich eher den Arm abgehackt.. „Wo hast'n die Pfirsiche her?― fragte Tom und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Phillip trank den Rest des Glases leer und grinste wie ein zufriedenes Baby. „Im Süden gibt‘s manchmal Gewächshäuser―, antwortete der Fremde vage. „Echte Gewächshäuser? Mit Glas un' so?―, Tom beugte sich neugierig vor, aber der Fremde nickte nur. „Biste weit im Süden gewesen?― Wieder nickte er lediglich. Dann sagte er doch noch: „Bis zum Meer.― „Echt? Ich war noch nie am Meer, nich' mal früher. Wie is' das Meer?― „Tot.― Der Fremde starrte in die Flammen und holte schließlich ein Päckchen aus seinem Mantel, 146 Anhang den er immer noch trug. Er griff hinein und fing an, sich geschickt eine Zigarette zu drehen. Tom sah ihm eine Weile zu, dann stieß er Phillip in die Seite. „Hol mal was zu Essen und was zum Rauchen!― Phillip stand auf und watschelte Richtung Sakristei davon, er war es offenbar gewohnt, herumkommandiert zu werden. Der Wanderer zündete sich gerade die Zigarette mit einem brennenden Scheit an, als der Bucklige zurückkam. „Wir laden dich ein, Fremder―, erklärte Tom. „So'n Schlafplatz is'n bisschen wenig für 'n ganzes Glas Pfirsiche.― „Und wir ham ja genug!―, erklärte Phillip und handelte sich dafür einen rüden Stoß von Tom ein. Hatte sich da gerade jemand verplappert? Trotzdem grinsten ihn beide an und Phillip stellte einen Topf ins Feuer. Der Wanderer grinste zurück, paffte zufrieden an seiner Zigarette und wärmte sich auf. Langsam wurde sogar sein Pullover wieder trocken, der Abend wurde immer besser. Schließlich nahm Tom den Deckel vom Topf, verteilte vier Teller und fing an, die dicke Brühe auszuteilen. Es roch nicht mal schlecht, kein Vergleich zu dem, was er die letzten Wochen gegessen hatte. Es waren sogar Fleischbrocken drin. „Wieso vier Teller?―, fragte der Fremde. „Wir kriegen noch Gesellschaft―, Tom grinste auf eine Art und Weise, die ihm gar nicht gefiel.. „Hey, 's gibt Essen!―, schrie Phillip. Es raschelte hinter ihm und der Fremdling drehte sich überrascht um. Aus dem Haufen Lumpen, der ihm beim Reinkommen schon aufgefallen war, erhob sich eine schmale Gestalt und trottete auf das Feuer zu. Es war eine junge Frau, eigentlich eher ein Mädchen. Sie war barfuß, ihre Beine waren bis zu den Knien nackt und bläulich von der Kälte. Sie trug einen zusammengenähten Fetzen Stoff um den Körper geschlungen und starrte dumpf vor sich, ohne aber anscheinend etwas wahrzunehmen. Sie ließ sich neben das Feuer plumpsen, nahm ihren Teller und fing an zu essen. Sie musste sich an der heißen Brühe verbrennen, aber sie zeigte keine Regung. „Wer ist sie?―, fragte der Wanderer. Irgendwie glaubte er nicht, eine Antwort zu erhalten, wenn er sie selbst fragen würde.. „Das is' Tanja―, erklärte Tom und blies auf sein Essen. „Noch nie von ihr gehört? Sie is' berühmt in der Gegend hier.― Phillip kicherte hämisch und verbrannte sich dann den Mund an einem Löffel Brühe. Der Wanderer starrte das verwahrloste Wesen neben sich an. Wolfskinder mussten ähnlich aussehen.. „Sie is' die `verrückte Tanja, die nie genug kriegt`, oder?.― Tom lachte und fasste ihr unter den Stofffetzen. „Oder?― „M-hm!―, machte das Mädchen und aß stoisch weiter. Tom winkte gelangweilt ab. „Glaub mir, sie steht drauf, wenn man sie hart ran nimmt!― Tom nickte um seine Worte zu bekräftigen, während Phillip gluckste und dabei Essen ins Feuer spuckte. Der Wanderer nahm einen Löffel Brühe. Ihn ging das eigentlich nichts an, sie hatten sich ihm gegenüber doch anständig verhalten. „Willste auch mal?―, fragte Tom. „Was?― Der Wanderer schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Sie ficken. Kostet aber extra, is' im Preis nicht inbegriffen.― Er grinste schmierig und sagte dann: „Zeig dich mal, wir haben vielleicht heute noch 'n Kunden.― Völlig ruhig stand Tanja auf und wickelte den Stofffetzen von sich. Sie war darunter tatsächlich nackt. Es musste ihr bei diesem Wetter und so weit weg vom Feuer ständig eiskalt sein. Auf Toms Gestikulieren hin drehte sie sich einmal um sich selbst. „Na? Ich geb zu, sie is'n bisschen mager, aber wir päppeln sie grad wieder auf.― Mager war eine glatte Untertreibung: KZ-Häftlinge konnten nicht schlimmer ausgesehen haben. 147 Anhang „Was meinste? Gegen dein` Tabak kannst sie die ganze Nacht haben.― Der Wanderer schüttelte langsam den Kopf. „Danke, aber ich häng an meinem Tabak.― Tom zuckte die Achseln „Musste selbst wissen. Aber dir entgeht was.― Das Essen schmeckte jetzt nicht mehr so recht, aber der Wanderer würgte es trotzdem runter. Immerhin wusste er nicht, wann er wieder etwas bekommen würde. Die ganze Zeit ging ihm das Mädchen durch den Kopf. Sie hatte sich nach dieser `Vorführung` wieder eingewickelt und war zu ihrem Lumpenhaufen zurückgetrottet. Der Himmel wusste, wie lange sie schon so vor sich hin vegetierte. Tom und Phillip versanken den Rest des Abends in Schweigen und der Wanderer hatte nicht die Absicht, es zu brechen. Irgendwann breitete er seinen Schlafsack aus und schlüpfte, noch in Pullover und Hose, hinein. Seine beiden Gastgeber genehmigten sich zum Ausklang des Tages noch ein Pfeifchen und taten es ihm dann wortlos gleich. Der Wanderer verfluchte sich innerlich, als er aufwachte. Er hatte in Gesellschaft dieser beiden Gestalten gar nicht erst einschlafen wollen. Aber niemand hielt ihm ein Messer an die Kehle und sein Gepäck sah ebenfalls unangetastet aus. Der Wanderer drehte sich wieder herum und schloss die Augen. Der Rest der Nacht floss zäh vorüber. Er lag wach in seinem Schlafsack, starrte an die Decke und wartete auf den ersten Schimmer des Morgens. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Das Essen war gut gewesen und der Boden trocken. Aber er hatte in der Nähe dieser Gastgeber keine Ruhe gefunden und hätte nass und hungrig unter freiem Himmel wahrscheinlich eine erfreulichere Nacht verbracht. Als die Decken raschelten und Tom sich aufrichtete, tat er so, als wäre er ebenfalls gerade eben erst aufgewacht.. „Na, gut geschlafen?―, fragte Tom. Er grinste und kratzte sich unter den Achseln. Er erwartete wohl keine Antwort, sondern stand auf und brachte Philip mit Fußtritten ebenfalls auf die Beine. „Geh raus, die Fallen kontrollieren!―, herrschte er ihn an. Dann stapfte er zu dem Lumpenhaufen und scheuchte auch Tanja auf. Sie kroch aus dem schimmligen Haufen hervor, wickelte sich in einen zerschlissenen Mantel und trottete langsam mit bloßen Füßen nach draußen, um Wasser von irgendeinem Brunnen zu holen. Der Wanderer glitt aus seinem Schlafsack und schnürte ihn sorgfältig zusammen. Er wollte so früh wie möglich aufbrechen und dieses Irrenhaus verlassen. Nach einer Weile kehrte Tanja mit einem alten Putzeimer voll Wasser zurück und schüttete es in das Taufbecken neben dem Altar. Tom trat daran, zog sein zerschlissenes Hemd aus und wusch sich unter vernehmlichem Schnauben und Prusten. Phillip kam mit leeren Händen zurück. „Heut Nacht ham sich sogar die Ratten nich' rausgetraut―, meinte er mit bekümmerter Miene.. Tom machte einen gut gelaunten Eindruck und wurde von Phillip am Becken abgelöst.. „Du auch, Tanja―, schnauzte Tom sie an. „Sonst holen sich deine Kunden noch die Krätze bei dir!― In ihrem stoischen Gang schlurfte sie zum Becken und gehorchte.. „Willst du schon los?―, fragte Tom, als er mit neuem Hemd und Hose aus der Sakristei kam und den Wanderer beim Packen sah.. „Ist noch ein weiter Weg―, meinte dieser mit einem kurzen Blick zu seinem Gastgeber. Unter Toms ausgeblichenem Pullover war eine deutliche Wölbung an seiner Hüfte. „Wohin gehts'n?―, wollte er wissen.. „Westen―, antwortete der Wanderer kurz angebunden. Tom lachte amüsiert. „Ich seh schon, bist einer vonnen Geheimnisvollen.― Tanja trottete an Tom vorbei, griff sich ein schmuddeliges Teil von ihrem Lumpenhaufen und trocknete sich ab. 148 Anhang „Wie viel für sie?―, hörte der Wanderer sich fragen. Tom stutzte, dann lächelte er. „Also doch noch Lust gekriegt?― Phillip, der gerade vom Becken kam, kicherte, warf ein feuchtes Handtuch achtlos auf den Lumpenhaufen und setzte sich auf eine Kirchenbank. „Sie is' was ganz besondres, unsre Tanja!― Er grinste schmierig und ein bisschen irre. Neben ihm auf der Bank lag die Schrotflinte. „Nein―, hörte sich der Wanderer wieder sagen, „ich will sie mitnehmen.― Toms Augen wurden zu kleinen Schlitzen und seine Hand näherte sich der Wölbung an seiner Hüfte. „Das kannste vergessen―, sagte er leise. „Sie wäre bei mir besser dran als bei euch.― Die Waffen des Wanderers lagen neben seinem gepackten Rucksack. „Sie bleibt hier. Mein letztes Wort!― Er sah kurz zu dem Buckligen hin. Die Flinte war irgendwie näher an ihn herangerutscht. Der Wanderer grinste plötzlich schief. „Na schön, was kostet denn einmal?― Tom nickte mit dem Kinn zu dem leeren Pfirsichglas vom gestrigen Abend. „Haste noch davon?― Der Fremde lächelte und nickte. „Moment―, sagte er und kniete sich neben seinen Rucksack, um ihn aufzuschnüren. Überraschend, dass Phillip diesmal schneller schaltete als Tom. „Pass auf‘!―, Schrie er alarmiert und packte seine Flinte. Tom griff hastig nach seinem Fleischerbeil am Gürtel und machte einen Satz auf den Fremden zu, der gerade noch den Revolver packen konnte, der neben seinem Rucksack lag. Er warf sich zur Seite, um Tom zwischen sich und Phillips Flinte zu bringen und schoss. Tom stieß einen gellenden Schrei aus und wurde zur Seite gewirbelt. Der hastig gezielte Schuss hatte ihn aber nur in die Schulter getroffen. Phillip schrie zornig auf und hob die Flinte, aber ein weiterer Schuss des Wanderers traf ihn ins Bein und er fiel fluchend um. Der Wanderer stand auf. Blut tropfte von seinem Revolver. Er umklammerte ihn mit seiner verletzten Hand und der Rückstoß hatte die Wunde wieder aufgerissen. Phillip fischte auf dem Boden nach seiner Flinte, die ihm beim Sturz aus der Hand gefallen und unter die Kirchenbank gerutscht war, und fluchte dabei lauthals „Du Wichser, ich mach dich fertig, du Wichser! Ich mach dich fertig!― Ehe er die Flinte erreichen konnte, war der Fremde mit schnellen Schritten bei ihm und versetzte ihm einen Tritt gegen seine Schusswunde. Der Bucklige wimmerte auf und krümmte sich zusammen. Der Fremde drehte sich alarmiert um und sah gerade noch, wie Tom mit erhobenem Beil, schreiend wie ein Berserker, auf ihn zustürmte. Er hob den Revolver, aber es klickte nur. Er machte einen Schritt nach hinten, von Tom weg, stolperte über Phillip und fiel zu Boden. Tom stand über ihm, mit erhobener Waffe. Hastig fasste der Fremde unter seinen Pullover an den Gürtel und zog einen spitz gefeilten Schraubenzieher hervor. Gerade als Tom schreiend das Beil auf ihn niederfahren lassen wollte, rammte er ihm das Werkzeug mit aller Kraft in den Fuß. Tom schrie schrill und das Beil grub sich tief in die Kirchenbank. Der Fremde gab Tom noch einen Tritt zwischen die Beine, so dass er japsend umfiel, und rappelte sich auf. Phillip hatte mittlerweile die Flinte zu fassen gekriegt, aber der Wanderer trat ihm auf die Hand und nahm sie ihm mühelos ab. Dann rammte er ihm den Kolben der Flinte hart ins Gesicht. Man hörte Knochen krachen und ein Gurgeln, dann verlor der kleine Widerling das Bewusstsein. Tom starrte mit hasserfüllten Augen zu dem Fremden auf. „Wir ham dich hier aufgenomm`, Arschloch! So revanchierste dich?―, zischte er wütend und robbte über den Boden von ihm weg. Der Angesprochene zuckte die Achseln. „Tanja, zieh dir was an, ich bring dich von hier weg.― 149 Anhang Das Mädchen hatte die ganze Zeit neben ihrem Lumpenhaufen gestanden und das Geschehen reglos beobachtet. Nun blickte sie den Fremden mit den Augen eines toten Fisches an. Dann nickte sie langsam und wühlte nach Kleidern in ihrem Lumpenberg. Der Wanderer trat zu seinem Rucksack und legte sorgfältig seine Holster an. Er ließ Tom dabei nicht aus den Augen, der ihn immer noch hasserfüllt anstarrte und sich einen blutigen Lappen auf die Schulter presste. Unter seinem Fuß bildete sich eine dunkle Lache. Phillip röchelte und bäumte sich zuckend auf. Tom robbte zu ihm hin und wischte ihm das Blut aus dem Gesicht, drehte dann seinen Kopf zur Seite. Der Fremde beobachtete seine Bemühungen reglos. Dann fluchte Tom laut. „Er ist tot, du Wichser!―, heulte er und tatsächlich rannen ihm Tränen übers Gesicht. „Er ist an seinem eigenen Blut erstickt… der Blitz soll dich beim Scheißen treffen!!― Er presste den Kopf des Toten an seine Brust, wimmerte leise und wiegte sich hin und her. Tanja stand nackt, nur in einen zerschlissenen Mantel gehüllt, da, und sah zu den beiden rüber, bewegte sich aber nicht. Der Reisende packte fertig, dann richtete er sich auf und ging hinüber in die Sakristei. Er war neugierig, was die beiden im Lauf der Zeit für das Mädchen bekommen hatten. Der kleine Raum war voll gestopft mit allen möglichen Sachen. Manches davon konnte man wirklich gebrauchen. Er nahm einige Feuerzeuge an sich, eine Stabtaschenlampe, ein Paar Handschuhe und eine Wollmütze, außerdem noch Socken und eine Tasche mit Nähzeug. Dann fand er einen Verbandskasten. Er setzte sich an einen mit Pornoheftchen übersäten Schreibtisch und wickelte langsam seinen Verband von der Hand. Das verkrustete Blut machte die Sache nicht einfacher. Außerdem war er Rechtshänder und musste sich mit der Linken verbinden, weswegen er öfter von vorne anfangen musste. Die Schnittwunde verlief quer über die Handfläche und sah entzündet aus. Fluchend schraubte er ein Fläschchen Jod auf. Der Schmerz war ungeheuer, als er die Wunde desinfizierte. Als er mit frischem Verband wieder in den Kirchenraum trat, hatte sich an der Szene nichts geändert. Tanja stand immer noch wie eine Marionette im Raum, deren Spieler eingeschlafen war. Tom hielt Philip im Arm und weinte. Fluchend ging der Wanderer zurück in die Sakristei und packte einen Rucksack mit Vorräten und einem Schlafsack für Tanja. Wenn er sie in diesem Zustand bis zur Siedlung mitschleifen musste, würde die Wanderung Wochen dauern. Er musste sie wie ein kleines Kind behandeln: zog ihr eine Hose an, einen dicken Sweater und den Parka, dann band er ihr die Stiefel und hängte ihr den Rucksack um. Tom sah ihm die ganze Zeit stumm zu. Der Fremde erwiderte seinen Blick. Dann hielt er Tanja, ohne den Blick abzuwenden, drei Feldflaschen hin. „Mach die draußen voll.― Gehorsam nahm sie die Flaschen und schlurfte nach draußen. Tom sah ihr nach, dann blickte er wieder den Fremden an. „Bringst dus jetzt zu Ende?― Der Fremde holte tief Luft. „Ich hab nichts gegen euch, jeder versucht zu überleben, so gut es eben geht – aber ich konnte euch das Mädchen nicht weiter so behandeln lassen.― Tom grinste plötzlich und entblößte eine Reihe gelblicher Zähne. „Markier hier nicht den Dicken! Wenn du wirklich noch 'n Glas Pfirsiche gehabt hättest, hättste sie gefickt und wärst weitergegangen, ohne 'n Gedanken an sie zu verschwenden!― Der Wanderer holte tief Luft, konnte darauf aber nichts erwidern. Er, schulterte seinen Rucksack und drehte sich um., schickte sich an, die Kirche zu verlassen. Nur aus einer bloßen Ahnung heraus warf er an der Tür noch einen Blick zurück. Er sah lediglich eine rasche Bewegung, dann wirbelte er herum. Sein Arm zuckte nach vorne, in der Hand eine kleine Pistole aus der Manteltasche. Er zielte kurz und schoss. Nur ein kleiner roter Punkt erschien auf Toms Wange und er sah den Wanderer mit einem erstaunten Ausdruck im Gesicht an. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand und er sackte langsam über Phillip zusammen. 150 Anhang Der Wanderer verließ die Kirche und sah Tanja mit den Feldflaschen an einer Pumpe stehen. „Gehen wir!―, meinte er nur und sie trottete hinter ihm her. Sie wanderten den ganzen Tag durch die verwüstete Landschaft, vorbei an alten, verfallenen Bauernhöfen und schließlich eine Autobahn entlang, die von verrosteten Autowracks gesäumt war, in denen noch die Reste der Fahrer saßen. Tanja schien von nichts um sich herum Notiz zu nehmen, sondern folgte dem Fremden wortlos. Als die Nacht hereinbrach und ein leichter Nieselregen einsetzte, beschloss er, dass es Zeit war zu rasten. Er schichtete ein Häufchen Holz auf und breitete seinen Schlafsack aus und Tanja tat es ihm nach kurzem, dumpfem Starren gleich. Er schnürte einen Beutel Trockenfleisch auf und reichte ihr ein paar Streifen. Sie kauten schweigend und spülten das salzige Fleisch mit Wasser runter. Er schaute missmutig in den Himmel. „Wird eine ungemütliche Nacht―, meinte er, aber sie reagierte nicht. Er zog seine Stiefel aus, wickelte sie in eine Plastiktüte und schob sie unten in seinen Schlafsack, bevor er ebenfalls hineinkroch. Tanja glotzte eine Weile, dann tat sie es ihm gleich. Er erwachte, als sich ein Gewicht auf ihn senkte. Es war noch dunkel. Der Regen hatte aufgehört, stattdessen peitschte der Wind schmutzige Wolken über den Himmel. Ein ungesund gelber Mond schien in Tanjas Gesicht, die auf ihrem Retter kauerte und ihn anstarrte. Reglos erwiderte er den Blick. Tanja war nicht schwer, mit einem kräftigen Aufbäumen könnte er sie mit Sicherheit abwerfen. Aber er steckte bis zum Hals in seinem Schlafsack und müsste anschließend umständlich seine Hände befreien. Tanja andererseits hatte eines seiner Messer in der Hand. Und seine Waffen lagen gegen die Nässe eingewickelt im Rucksack. „Was soll das?―, fragte er leise. Sie antwortete nicht. „Tanja?― Ihr Gesicht zuckte, sie beugte sich ein Stückchen zu ihm herunter und zischte etwas Unverständliches. Er tastete nach dem Messer, das er stets in einem Futteral am Bein trug. Langsam zog er es heraus, setze die Spitze an die Innenseite des Schlafsacks, stach zu und hoffte, dass Tanja das Reißen des Materials nicht hörte. „Du hast ihn getötet!―, wimmerte sie. Sie starrte ihn mit irrem Blick an, ihren Mund zu einer tierhaften Grimasse verzerrt. „Du hast meinen Bruder umgebracht!―, heulte sie auf und Speichel sprühte ihm ins Gesicht. Sie hob das Messer mit beiden Händen hoch über ihren Kopf. In diesem Moment bäumte der Angegriffene sich auf und warf das schmächtige Mädchen ab. Er hörte, wie sie in eine Pfütze klatsche, rollte sich beiseite und zerrte heftig an dem Messer. Mit einem hässlichen Geräusch schlitzte er den Schlafsack auf und bekam gerade noch rechtzeitig den Arm hoch. Tanja zischte böse wie eine in die Enge getriebene Katze und stürzte sich wieder auf ihn. In der Dunkelheit sah er sie nicht deutlich, konnte wegen des Schlafsacks immer noch nicht ausweichen und sie hieb ihm das Messer in den zur Abwehr erhobenen Arm. Er schrie auf, als die Klinge über den Knochen schrammte und ließ das eigene Messer fallen. Wieder holte Tanja aus. Er warf sich zur Seite und fischte mit der unversehrten Linken nach seinem Messer. Der Hieb ging über ihn hinweg und das Mädchen fiel, vom eigenen Schwung mitgerissen, über ihn in den Matsch. Sie keuchte und prustete. In der Dunkelheit griff er sein Messer zuerst an der Klinge und schnitt sich in die Hand. Fluchend rollte er sich herum und sah, wie Tanja sich mit schlammverschmiertem Gesicht, in dem sich Verzweiflung, Bosheit, Angst und Hass gleichermaßen widerspiegelten, auf ihn stürzte. Er konnte dem Messer gerade so weit ausweichen, dass es ihm lediglich einen oberflächlichen Schnitt an der Seite beibrachte, bevor sie in seine empor gerichtete Klinge fiel. Sie stieß die Luft aus und brach auf ihm zusammen. 151 Anhang Blut sickerte aus ihrem Mund und besudelte seinen Pullover. Eine Weile sah sie ihn noch an. Als ihr Gesicht den Ausdruck unbekümmerter Jugend angenommen hatte, war sie tot. Am Morgen versorgte er seinen geschundenen Arm und den Schnitt am Oberkörper so gut es ging und fertigte sich aus einem abgeschnittenen Streifen von Tanjas Parka eine Schlinge. Er brauchte ziemlich lange, um mit der Linken seine vom nächtlichen Kampf verdreckte und durchweichte Kleidung zu wechseln, das Feuer zu löschen, den noch unversehrten Schlafsack Tanjas zusammenzurollen und seinen Rucksack zu packen. Er hatte keinen Spaten dabei und war auch nicht in der Lage, mit bloßen Händen eine Grube zu graben. Darum beschränkte er sich darauf, Tanjas Hände vor dem Körper zu falten und den Parka über sie zu breiten. Ein paar Sekunden lang sah er auf sie hinunter. Als er sich abwandte und weitermarschierte, setzte der Regen wieder ein. Stimulus D: Schwere Stunde (Original) Er stand vom Schreibtisch auf, von seiner kleinen, gebrechlichen Schreibkommode, stand auf wie ein Verzweifelter und ging mit hängendem Kopfe in den entgegengesetzten Winkel des Zimmers zum Ofen, der lang und schlank war wie eine Säule. Er legte die Hände an die Kacheln, aber sie waren fast ganz erkaltet, denn Mitternacht war lange vorbei, und so lehnte er, ohne die kleine Wohltat empfangen zu haben, die er suchte, den Rücken daran, zog hustend die Schöße seines Schlafrockes zusammen, aus dessen Brustaufschlägen das verwaschene Spitzenjabot heraushing, und schnob mühsam durch die Nase, um sich ein wenig Luft zu verschaffen; denn er hatte den Schnupfen wie gewöhnlich. Das war ein besonderer und unheimlicher Schnupfen, der ihn fast nie völlig verließ. Seine Augenlider waren entflammt und die Ränder seiner Nasenlöcher ganz wund davon, und in Kopf und Gliedern lag dieser Schnupfen ihm wie eine schwere, schmerzliche Trunkenheit. Oder war an all der Schlaffheit und Schwere das leidige Zimmergewahrsam schuld, das der Arzt nun schon wieder seit Wochen über ihn verhängt hielt? Gott wußte, ob er wohl daran tat. Der ewige Katarrh und die Krämpfe in Brust und Unterleib mochten es nötig machen, und schlechtes Wetter war über Jena, seit Wochen, seit Wochen, das war richtig, ein miserables und hassenswertes Wetter, das man in allen Nerven spürte, wüst, finster und kalt, und der Dezemberwind heulte im Ofenrohr, verwahrlost und gottverlassen, daß es klang nach nächtiger Heide im Sturm und Irrsal und heillosem Gram der Seele. Aber gut war sie nicht, diese enge Gefangenschaft, nicht gut für die Gedanken und den Rhythmus des Blutes, aus dem die Gedanken kamen… Das sechseckige Zimmer, kahl, nüchtern und unbequem, mit seiner geweißten Decke, unter der Tabaksrauch schwebte, seiner schräg karierten Tapete, auf der oval gerahmte Silhouetten hingen, und seinen vier, fünf dünnbeinigen Möbeln, lag im Lichte der beiden Kerzen, die zu Häupten des Manuskripts auf der Schreibkommode brannten. Rote Vorhänge hingen über den oberen Rahmen der Fenster, Fähnchen nur, symmetrisch geraffte Kattune; aber sie waren rot, von einem warmen, sonoren Rot, und er liebte sie und wollte sie niemals missen, weil sie etwas von Üppigkeit und Wollust in die unsinnlich-enthaltsame Dürftigkeit seines Zimmers brachten… Er stand am Ofen und blickte mit einem raschen und schmerzlich angestrengten Blinzeln hinüber zu dem Werk, von dem er geflohen war, dieser Last, diesem Druck, dieser Gewissensqual, diesem Meer, das auszutrinken, dieser furchtbaren Aufgabe, die sein Stolz und 152 Anhang sein Elend, sein Himmel und seine Verdammnis war. Es schleppte sich, es stockte, es stand—schon wieder, schon wieder! Das Wetter war schuld und sein Katarrh und seine Müdigkeit. Oder das Werk? Die Arbeit selbst? Die eine unglückselige und der Verzweiflung geweihte Empfängnis war? Er war aufgestanden, um sich ein wenig Distanz davon zu verschaffen, denn so oft bewirkte die räumliche Entfernung vom Manuskript, daß man Übersicht gewann, einen weiteren Blick über den Stoff, und Verfügungen zu treffen vermochte. Ja, es gab Fälle, wo das Erleichterungsgefühl, wenn man sich abwendete von der Stätte des Ringens, begeisternd wirkte. Und das war eine unschuldigere Begeisterung, als wenn man Likör nahm oder schwarzen, starken Kaffee… Die kleine Tasse stand auf dem Tischchen. Wenn sie ihm über das Hemmnis hülfe? Nein, nein, nicht mehr! Nicht der Arzt nur, auch ein zweiter noch, ein Ansehnlicherer, hatte ihm dergleichen behutsam widerraten: der andere, der dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst… Stille herrschte im Hause. Nur der Wind war hörbar, der die Schloßgasse hinuntersauste, und der Regen, wenn er prickelnd gegen die Fenster getrieben ward. Alles schlief, der Hauswirt und die Seinen, Lotte und die Kinder. Und er stand einsam wach am erkalteten Ofen und blinzelte gequält zu dem Werk hinüber, an das seine kranke Ungenügsamkeit ihn glauben ließ… Sein weißer Hals ragte lang aus der Binde hervor, und zwischen den Schößen des Schlafrocks sah man seine nach innen gekrümmten Beine. Sein rotes Haar war aus der hohen und zarten Stirn zurückgestrichen, ließ blaß geäderte Buchten über den Schläfen frei und bedeckte die Ohren in dünnen Locken. An der Wurzel der großen, gebogenen Nase, die unvermittelt in eine weißliche Spitze endete, traten die starken Brauen, dunkler als das Haupthaar, nahe zusammen, was dem Blick der tiefliegenden, wunden Augen etwas tragisch Schauendes gab. Gezwungen, durch den Mund zu atmen, öffnete er die dünnen Lippen, und seine Wangen, sommersprossig und von Stubenluft fahl, erschlafften und fielen ein… Nein, es mißlang, und alles war vergebens! Die Armee! Die Armee hätte gezeigt werden müssen! Die Armee war die Basis von allem! Da sie nicht vors Auge gebracht werden konnte—war die ungeheure Kunst denkbar, sie der Einbildung aufzuzwingen? Und der Held war kein Held; er war unedel und kalt! Die Anlage war falsch, und die Sprache war falsch, und es war ein trockenes und schwungloses Kolleg in Historie, breit, nüchtern und für die Schaubühne verloren! Gut, es war also aus. Eine Niederlage. Ein verfehltes Unternehmen. Bankerott. Er wollte es Körnern schreiben, dem guten Körner, der an ihn glaubte, der in kindischem Vertrauen seinem Genius anhing. Er würde höhnen, flehen, poltern—der Freund; würde ihn an den Carlos gemahnen, der auch aus Zweifeln und Mühen und Wandlungen hervorgegangen und sich am Ende, nach aller Qual, als ein weithin Vortreffliches, eine ruhmvolle Tat erwiesen hat. Doch das war anders gewesen. Damals war er der Mann noch, eine Sache mit glücklicher Hand zu packen und sich den Sieg daraus zu gestalten. Skrupel und Kämpfe? O ja. Und krank war er gewesen, wohl kränker als jetzt, ein Darbender, Flüchtiger, mit der Welt Zerfallener, gedrückt und im Menschlichen bettelarm. Aber jung, ganz jung noch! Jedesmal, wie tief auch gebeugt, war sein Geist geschmeidig emporgeschnellt, und nach den Stunden des Harms waren die anderen des Glaubens und des inneren Triumphes gekommen. Die kamen nicht mehr, kamen kaum noch. Eine Nacht der flammenden Stimmung, da man auf einmal in einem genialisch leidenschaftlichen Lichte sah, was werden könnte, wenn man immer solcher Gnade genießen dürfte, mußte bezahlt werden mit einer 153 Anhang Woche der Finsternis und der Lähmung. Müde war er, siebenunddreißig erst alt und schon am Ende. Der Glaube lebte nicht mehr, der an die Zukunft, der im Elend sein Stern gewesen. Und so war es, dies war die verzweifelte Wahrheit: Die Jahre der Not und der Nichtigkeit, die er für Leidens- und Prüfungsjahre gehalten, sie eigentlich waren reiche und fruchtbare Jahre gewesen; und nun, da ein wenig Glück sich herniedergelassen, da er aus dem Freibeutertum des Geistes in einige Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung eingetreten war, Amt und Ehren trug, Weib und Kinder besaß, nun war er erschöpft und fertig. Versagen und verzagen—das war's, was übrigblieb. Er stöhnte, preßte die Hände vor die Augen und ging wie gehetzt durch das Zimmer. Was er da eben gedacht, war so furchtbar, daß er nicht an der Stelle zu bleiben vermochte, wo ihm der Gedanke gekommen war. Er setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien hängen und starrte trüb auf die Diele nieder. Das Gewissen… wie laut sein Gewissen schrie! Er hatte gesündigt, sich versündigt gegen sich selbst in all den Jahren, gegen das zarte Instrument seines Körpers. Die Ausschweifungen seines Jugendmutes, die durchwachten Nächte, die Tage in tabakrauchiger Stubenluft, übergeistig und des Leibes uneingedenk, die Rauschmittel, mit denen er sich zur Arbeit gestachelt—das rächte, rächte sich jetzt! Und rächte es sich, so wollte er den Göttern trotzen, die Schuld schickten und dann Strafe verhängten. Er hatte gelebt, wie er leben mußte, er hatte nicht Zeit gehabt, weise, nicht Zeit, bedächtig zu sein. Hier, an dieser Stelle der Brust, wenn er atmete, hustete, gähnte, immer am selben Punkt dieser Schmerz, diese kleine, teuflische, stechende, bohrende Mahnung, die nicht schwieg, seitdem vor fünf Jahren in Erfurt das Katarrhfieber, jene hitzige Brustkrankheit, ihn angefallen—was wollte sie sagen? In Wahrheit, er wußte es nur zu gut, was sie meinte—mochte der Arzt sich stellen wie er konnte und wollte. Er hatte nicht Zeit, sich mit kluger Schonung zu begegnen, mit milder Sittlichkeit hauszuhalten. Was er tun wollte, mußte er bald tun, heute noch, schnell… Sittlichkeit? Aber wie kam es zuletzt, daß die Sünde gerade, die Hingabe an das Schädliche und Verzehrende ihn moralischer dünkte als alle Weisheit und kühle Zucht? Nicht sie, nicht die verächtliche Kunst des guten Gewissens waren das Sittliche, sondern der Kampf und die Not, die Leidenschaft und der Schmerz! Der Schmerz… Wie das Wort ihm die Brust weitete! Er reckte sich auf, verschränkte die Arme; und sein Blick, unter den rötlichen, zusammenstehenden Brauen, beseelte sich mit schöner Klage. Man war noch nicht elend, ganz elend noch nicht, solange es möglich war, seinem Elend eine stolze und edle Benennung zu schenken. Eins war not: Der gute Mut, seinem Leben große und schöne Namen zu geben! Das Leid nicht auf Stubenluft und Konstipation zurückzuführen! Gesund genug sein, um pathetisch sein—um über das Körperliche hinwegsehen, hinwegfühlen zu können! Nur hierin naiv sein, wenn auch sonst wissend in allem! Glauben, an den Schmerz glauben können… Aber er glaubte ja an den Schmerz, so tief, so innig, daß etwas, was unter Schmerzen geschah, diesem Glauben zufolge weder nutzlos noch schlecht sein konnte. Sein Blick schwang sich zum Manuskript hinüber, und seine Arme verschränkten sich fester über der Brust… Das Talent selbst— war es nicht Schmerz? Und wenn das dort, das unselige Werk, ihn leiden machte, war es nicht in der Ordnung so und fast schon ein gutes Zeichen? Es hatte noch niemals gesprudelt, und sein Mißtrauen würde erst eigentlich beginnen, wenn es das täte. Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten. Denn das Talent, meine Herren und Damen dort unten, weithin im Parterre, das Talent ist nichts Leichtes, nichts Tändelndes, 154 Anhang es ist nicht ohne weiteres ein Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, ein kritisches Wissen um das Ideal, eine Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst schafft und steigert. Und den Größten, den Ungenügsamsten ist ihr Talent die schärfste Geißel… Nicht klagen! Nicht prahlen! Bescheiden, geduldig denken von dem, was man trug! Und wenn nicht ein Tag in der Woche, nicht eine Stunde von Leiden frei war—was weiter? Die Lasten und Leistungen, die Anforderungen, Beschwerden, Strapazen gering achten, klein sehen,—das war's, was groß machte! Er stand auf, zog die Dose und schnupfte gierig, warf dann die Hände auf den Rücken und schritt so heftig durch das Zimmer, daß die Flammen der Kerzen im Luftzuge flatterten… Größe! Außerordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel? Gekannt sein,—gekannt und geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzet von Ichsucht, die ihr nichts wißt von der Süßigkeit dieses Traumes und Dranges! Ichsüchtig ist alles Außerordentliche, sofern es leidet. Mögt ihr selbst zusehen, spricht es, ihr Sendungslosen, die ihr's auf Erden so viel leichter habt! Und der Ehrgeiz spricht: Soll das Leiden umsonst gewesen sein? Groß muß es mich machen!… Die Flügel seiner großen Nase waren gespannt, sein Blick drohte und schweifte. Seine Rechte war heftig und tief in den Aufschlag seines Schlafrockes geschoben, während die Linke geballt herniederhing. Eine fliegende Röte war in seine hageren Wangen getreten, eine Lohe, emporgeschlagen aus der Glut seines Künstleregoismus, jener Leidenschaft für sein Ich, die unauslöschlich in seiner Tiefe brannte. Er kannte ihn wohl, den heimlichen Rausch dieser Liebe. Zuweilen brauchte er nur seine Hand zu betrachten, um von einer begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt zu werden, in deren Dienst er alles, was ihm an Waffen des Talentes und der Kunst gegeben war, zu stellen beschloß. Er durfte es, nichts war unedel daran. Denn tiefer noch als diese Ichsucht lebte das Bewußtsein, sich dennoch bei alldem im Dienste vor irgend etwas Hohem, ohne Verdienst freilich, sondern unter einer Notwendigkeit, uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern. Und dies war seine Eifersucht: daß niemand größer werde als er, der nicht auch tiefer als er um dieses Hohe gelitten. Niemand!… Er blieb stehen, die Hand über den Augen, den Oberkörper halb seitwärts gewandt, ausweichend, fliehend. Aber er fühlte schon den Stachel dieses unvermeidlichen Gedankens in seinem Herzen, des Gedankens an ihn, den anderen, den Hellen, Tastseligen, Sinnlichen, Göttlich-Unbewußten, an den dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte… Und wieder, wie stets, in tiefer Unruhe, mit Hast und Eifer, fühlte er die Arbeit in sich beginnen, die diesem Gedanken folgte: das eigene Wesen und Künstlertum gegen das des anderen zu behaupten und abzugrenzen… War er denn größer? Worin? Warum? War es ein blutendes Trotzdem, wenn er siegte? Würde je sein Erliegen ein tragisches Schauspiel sein? Ein Gott, vielleicht—ein Held war er nicht. Aber es war leichter, ein Gott zu sein als ein Held!—Leichter… Der andere hatte es leichter! Mit weiser und glücklicher Hand Erkennen und Schaffen zu scheiden, das mochte heiter und quallos und quellend fruchtbar machen. Aber war Schaffen göttlich, so war Erkenntnis Heldentum, und beides war der, ein Gott und ein Held, welcher erkennend schuf! Der Wille zum Schweren… Ahnte man, wieviel Zucht und Selbstüberwindung ein Satz, ein strenger Gedanke ihn kostete? Denn zuletzt war er unwissend und wenig geschult, ein dumpfer und schwärmender Träumer. Es war schwerer, einen Brief des Julius zu schreiben, als die beste Szene zu machen,—und war es nicht darum auch fast schon das Höhere?—Vom ersten rhythmischen Drange innerer Kunst nach Stoff, Materie, Möglichkeit des 155 Anhang Ergusses—bis zum Gedanken, zum Bilde, zum Worte, zur Zeile: welch Ringen! welch Leidensweg! Wunder der Sehnsucht waren seine Werke, der Sehnsucht nach Form, Gestalt, Begrenzung, Körperlichkeit, der Sehnsucht hinüber in die klare Welt des anderen, der unmittelbar und mit göttlichem Mund die besonnten Dinge bei Namen nannte. Dennoch, und jenem zum Trotz: Wer war ein Künstler, ein Dichter gleich ihm, ihm selbst? Wer schuf, wie er, aus dem Nichts, aus der eigenen Brust? War nicht als Musik, als reines Urbild des Seins ein Gedicht in seiner Seele geboren, lange bevor es sich Gleichnis und Kleid aus der Welt der Erscheinungen lieh? Geschichte, Weltweisheit, Leidenschaft: Mittel und Vorwände, nicht mehr, für etwas, was wenig mit ihnen zu schaffen, was seine Heimat in orphischen Tiefen hatte. Worte, Begriffe: Tasten nur, die sein Künstlertum schlug, um ein verborgenes Saitenspiel klingen zu machen… Wußte man das? Sie priesen ihn sehr, die guten Leute, für die Kraft der Gesinnung, mit welcher er die oder jene Taste schlug. Und sein Lieblingswort, sein letztes Pathos, die große Glocke, mit der er zu den höchsten Festen der Seele rief, sie lockte viele herbei… Freiheit… Mehr und weniger, wahrhaftig, begriff er darunter als sie, wenn sie jubelten. Freiheit—was hieß das? Ein wenig Bürgerwürde doch nicht vor Fürstenthronen? Laßt ihr euch träumen, was alles ein Geist mit dem Worte zu meinen wagt? Freiheit wovon? Wovon zuletzt noch? Vielleicht sogar noch vom Glück, vom Menschenglück, dieser seidenen Fessel, dieser weichen und holden Verpflichtung… Vom Glück… Seine Lippen zuckten; es war, als kehrte sein Blick sich nach innen, und langsam ließ er das Gesicht in die Hände sinken… Er war im Nebenzimmer. Bläuliches Licht floß von der Ampel, und der geblümte Vorhang verhüllte in stillen Falten das Fenster. Er stand am Bette, beugte sich über das süße Haupt auf dem Kissen… Eine schwarze Locke ringelte sich über die Wange, die von der Blässe der Perlen schien, und die kindlichen Lippen waren im Schlummer geöffnet… Mein Weib! Geliebte! Folgtest du meiner Sehnsucht und tratest du zu mir, mein Glück zu sein? Du bist es, sei still! Und schlafe! Schlag jetzt nicht diese süßen, langschattenden Wimpern auf, um mich anzuschauen, so groß und dunkel, wie manchmal, als fragtest und suchtest du mich! Bei Gott, bei Gott, ich liebe dich sehr! Ich kann mein Gefühl nur zuweilen nicht finden, weil ich oft sehr müde vom Leiden bin und vom Ringen mit jener Aufgabe, welche mein Selbst mir stellt. Und ich darf nicht allzusehr dein, nie ganz in dir glücklich sein, um dessentwillen, was meine Sendung ist… Er küßte sie, trennte sich von der lieblichen Wärme ihres Schlummers, sah um sich, kehrte zurück. Die Glocke mahnte ihn, wie weit schon die Nacht vorgeschritten, aber es war auch zugleich, als zeigte sie gütig das Ende einer schweren Stunde an. Er atmete auf, seine Lippen schlossen sich fest; er ging und ergriff die Feder… Nicht grübeln! Er war zu tief, um grübeln zu dürfen! Nicht ins Chaos hinabsteigen, sich wenigstens nicht dort aufhalten! Sondern aus dem Chaos, welches die Fülle ist, ans Licht emporheben, was fähig und reif ist, Form zu gewinnen. Nicht grübeln: Arbeiten! Begrenzen, ausschalten, gestalten, fertig werden… Und es wurde fertig, das Leidenswerk. Es wurde vielleicht nicht gut, aber es wurde fertig. Und als es fertig war, siehe, da war es auch gut. Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, rangen sich neue Werke hervor, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer saust, dem sie entfischt ist. 156 Anhang Stimulus E: Schwere Stunde (ohne Welt) Er stand vom Schreibtisch auf, von seiner kleinen, gebrechlichen Schreibkommode, stand auf wie ein Verzweifelter und ging mit hängendem Kopfe in den entgegengesetzten Winkel des Zimmers zum Ofen, der lang und schlank war wie eine Säule. Er legte die Hände an die Kacheln, aber sie waren fast ganz erkaltet, denn Mitternacht war lange vorbei, und so lehnte er, ohne die kleine Wohltat empfangen zu haben, die er suchte, den Rücken daran , zog hustend die Schöße seines Schlafrockes zusammen, aus dessen Brustaufschlägen das verwaschene Spitzenjabot heraushing, und schnob mühsam durch die Nase, um sich ein wenig Luft zu verschaffen; denn er hatte den Schnupfen wie gewöhnlich. Das war ein besonderer und unheimlicher Schnupfen, der ihn fast nie völlig verließ. Seine Augenlider waren entflammt und die Ränder seiner Nasenlöcher ganz wund davon, undI in Kopf und Gliedern lag dieser Schnupfen ihm wie eine schwere, schmerzliche Trunkenheit. Oder war an all der Schlaffheit und Schwere das leidige Zimmergewahrsam schuld, das der Arzt nun schon wieder seit Wochen über ihn verhängt hielt? Gott wußte, ob er wohl daran tat. Der ewige Katarrh und die Krämpfe in Brust und Unterleib mochten es nötig machen, und schlechtes Wetter war über Jena, seit Wochen, seit Wochen, das war richtig, ein miserables und hassenswertes Wetter, das man in allen Nerven spürte, wüst, finster und kalt, und der Dezemberwind heulte im Ofenrohr, verwahrlost und gottverlassen, daß es klang nach nächtiger Heide im Sturm und Irrsal und heillosem Gram der Seele.. Aber g Gut war sie nicht, diese enge Gefangenschaft, nicht gut für die Gedanken und den Rhythmus des Blutes, aus dem die Gedanken kamen… Da Das sechseckige Zimmer, kahl, nüchtern und unbequem, mit seiner geweißten Decke, unter der Tabaksrauch schwebte, seiner schräg karierten Tapete, auf der oval gerahmte Silhouetten hingen, und seinen vier, fünf dünnbeinigen Möbeln, lag im Lichte der beiden Kerzen, die zu Häupten des Manuskripts auf der Schreibkommode brannten.lag das Manuskript. Rote Vorhänge hingen über den oberen Rahmen der Fenster, Fähnchen nur, symmetrisch geraffte Kattune; aber sie waren rot, von einem warmen, sonoren Rot, und er liebte sie und wollte sie niemals missen, weil sie etwas von Üppigkeit und Wollust in die unsinnlich-enthaltsame Dürftigkeit seines Zimmers brachten… Er stand am Ofen und blickte mit einem raschen und schmerzlich angestrengten Blinzeln hinüber zu dem Werk, von dem er geflohen war, dieser Last, diesem Druck, dieser Gewissensqual, diesem Meer, das auszutrinken, dieser furchtbaren Aufgabe, die sein Stolz und sein Elend, sein Himmel und seine Verdammnis war. Es schleppte sich, es stockte, es stand—schon wieder, schon wieder! Das Wetter war schuld und sein Katarrh und seine Müdigkeit. Oder das Werk? Die Arbeit selbst? Die eine unglückselige und der Verzweiflung geweihte Empfängnis war? Er war aufgestanden, um sich ein wenig Distanz davon zu verschaffen, denn so oft bewirkte die räumliche Entfernung vom Manuskript, daß man Übersicht gewann, einen weiteren Blick über den Stoff, und Verfügungen zu treffen vermochte. Ja, es gab Fälle, wo das Erleichterungsgefühl, wenn man sich abwendete von der Stätte des Ringens, begeisternd wirkte. Und das war eine unschuldigere Begeisterung, als wenn man Likör nahm oder schwarzen, starken Kaffee… Die kleine Tasse stand daauf dem Tischchen. Wenn sie ihm über das Hemmnis hülfe? Nein, nein, nicht mehr! Nicht der Arzt nur, auch ein zweiter noch, ein Ansehnlicherer, hatte ihm dergleichen behutsam widerraten: der andere, der dort, 157 Anhang in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst… Stille herrschte im Hause. Nur der Wind war hörbar, der die Schloßgasse hinuntersauste, und der Regen, wenn er prickelnd gegen die Fenster getrieben ward. Alles schlief, der Hauswirt und die Seinen, Lotte und die Kinder. Und er stand einsam wach am erkalteten Ofen und blinzelte gequält zu dem Werk hinüber, an das seine kranke Ungenügsamkeit ihn glauben ließ… Sein weißer Hals ragte lang aus der Binde hervor, und zwischen den Schößen des Schlafrocks sah man seine nach innen gekrümmten Beine. Sein rotes Haar war aus der hohen und zarten Stirn zurückgestrichen, ließ blaß geäderte Buchten über den Schläfen frei und bedeckte die Ohren in dünnen Locken. An der Wurzel der großen, gebogenen Nase, die unvermittelt in eine weißliche Spitze endete, traten die starken Brauen, dunkler als das Haupthaar, nahe zusammen, was dem Blick der tiefliegenden, wunden Augen etwas tragisch Schauendes gab. Gezwungen, durch den Mund zu atmen, öffnete er die dünnen Lippen, und seine Wangen, sommersprossig und von Stubenluft fahl, erschlafften und fielen ein… Nein, es mißlang, und alles war vergebens! Die Armee! Die Armee hätte gezeigt werden müssen! Die Armee war die Basis von allem! Da sie nicht vors Auge gebracht werden konnte—war die ungeheure Kunst denkbar, sie der Einbildung aufzuzwingen? Und der Held war kein Held; er war unedel und kalt! Die Anlage war falsch, und die Sprache war falsch, und es war ein trockenes und schwungloses Kolleg in Historie, breit, nüchtern und für die Schaubühne verloren! Gut, es war also aus. Eine Niederlage. Ein verfehltes Unternehmen. Bankerott. Er wollte es Körnern schreiben, dem guten Körner, der an ihn glaubte, der in kindischem Vertrauen seinem Genius anhing. Er würde höhnen, flehen, poltern—der Freund; würde ihn an den Carlos gemahnen, der auch aus Zweifeln und Mühen und Wandlungen hervorgegangen und sich am Ende, nach aller Qual, als ein weithin Vortreffliches, eine ruhmvolle Tat erwiesen hat. Doch das war anders gewesen. Damals war er der Mann noch, eine Sache mit glücklicher Hand zu packen und sich den Sieg daraus zu gestalten. Skrupel und Kämpfe? O ja. Und krank war er gewesen, wohl kränker als jetzt, ein Darbender, Flüchtiger, mit der Welt Zerfallener, gedrückt und im Menschlichen bettelarm. Aber jung, ganz jung noch! Jedesmal, wie tief auch gebeugt, war sein Geist geschmeidig emporgeschnellt, und nach den Stunden des Harms waren die anderen des Glaubens und des inneren Triumphes gekommen. Die kamen nicht mehr, kamen kaum noch. Eine Nacht der flammenden Stimmung, da man auf einmal in einem genialisch leidenschaftlichen Lichte sah, was werden könnte, wenn man immer solcher Gnade genießen dürfte, mußte bezahlt werden mit einer Woche der Finsternis und der Lähmung. Müde war er, siebenunddreißig erst alt und schon am Ende. Der Glaube lebte nicht mehr, der an die Zukunft, der im Elend sein Stern gewesen. Und so war es, dies war die verzweifelte Wahrheit: Die Jahre der Not und der Nichtigkeit, die er für Leidens- und Prüfungsjahre gehalten, sie eigentlich waren reiche und fruchtbare Jahre gewesen; und nun, da ein wenig Glück sich herniedergelassen, da er aus dem Freibeutertum des Geistes in einige Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung eingetreten war, Amt und Ehren trug, Weib und Kinder besaß, nun war er erschöpft und fertig. Versagen und verzagen—das war's, was übrigblieb. Er stöhnte, preßte die Hände vor die Augen und ging wie gehetzt durch das Zimmer. Was er da eben gedacht, war so furchtbar, daß er nicht an der Stelle zu bleiben vermochte, wo ihm der Gedanke gekommen war. Er setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien hängen und starrte trüb auf die Diele nieder. 158 Anhang Das Gewissen… wie laut sein Gewissen schrie! Er hatte gesündigt, sich versündigt gegen sich selbst in all den Jahren, gegen das zarte Instrument seines Körpers. Die Ausschweifungen seines Jugendmutes, die durchwachten Nächte, die Tage in tabakrauchiger Stubenluft, übergeistig und des Leibes uneingedenk, die Rauschmittel, mit denen er sich zur Arbeit gestachelt—das rächte, rächte sich jetzt! Und rächte es sich, so wollte er den Göttern trotzen, die Schuld schickten und dann Strafe verhängten. Er hatte gelebt, wie er leben mußte, er hatte nicht Zeit gehabt, weise, nicht Zeit, bedächtig zu sein. Hier, an dieser Stelle der Brust, wenn er atmete, hustete, gähnte, immer am selben Punkt dieser Schmerz, diese kleine, teuflische, stechende, bohrende Mahnung, die nicht schwieg, seitdem vor fünf Jahren in Erfurt das Katarrhfieber, jene hitzige Brustkrankheit, ihn angefallen—was wollte sie sagen? In Wahrheit, er wußte es nur zu gut, was sie meinte—mochte der Arzt sich stellen wie er konnte und wollte. Er hatte nicht Zeit, sich mit kluger Schonung zu begegnen, mit milder Sittlichkeit hauszuhalten. Was er tun wollte, mußte er bald tun, heute noch, schnell… Sittlichkeit? Aber wie kam es zuletzt, daß die Sünde gerade, die Hingabe an das Schädliche und Verzehrende ihn moralischer dünkte als alle Weisheit und kühle Zucht? Nicht sie, nicht die verächtliche Kunst des guten Gewissens waren das Sittliche, sondern der Kampf und die Not, die Leidenschaft und der Schmerz! Der Schmerz… Wie das Wort ihm die Brust weitete! Er reckte sich auf, verschränkte die Arme; und sein Blick, unter den rötlichen, zusammenstehenden Brauen, beseelte sich mit schöner Klage. Man war noch nicht elend, ganz elend noch nicht, solange es möglich war, seinem Elend eine stolze und edle Benennung zu schenken. Eins war not: Der gute Mut, seinem Leben große und schöne Namen zu geben! Das Leid nicht auf Stubenluft und Konstipation zurückzuführen! Gesund genug sein, um pathetisch sein—um über das Körperliche hinwegsehen, hinwegfühlen zu können! Nur hierin naiv sein, wenn auch sonst wissend in allem! Glauben, an den Schmerz glauben können… Aber er glaubte ja an den Schmerz, so tief, so innig, daß etwas, was unter Schmerzen geschah, diesem Glauben zufolge weder nutzlos noch schlecht sein konnte. Sein Blick schwang sich zum Manuskript hinüber, und seine Arme verschränkten sich fester über der Brust… Das Talent selbst— war es nicht Schmerz? Und wenn das dort, das unselige Werk, ihn leiden machte, war es nicht in der Ordnung so und fast schon ein gutes Zeichen? Es hatte noch niemals gesprudelt, und sein Mißtrauen würde erst eigentlich beginnen, wenn es das täte. Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten. Denn das Talent, meine Herren und Damen dort unten, weithin im Parterre, das Talent ist nichts Leichtes, nichts Tändelndes, es ist nicht ohne weiteres ein Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, ein kritisches Wissen um das Ideal, eine Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst schafft und steigert. Und den Größten, den Ungenügsamsten ist ihr Talent die schärfste Geißel… Nicht klagen! Nicht prahlen! Bescheiden, geduldig denken von dem, was man trug! Und wenn nicht ein Tag in der Woche, nicht eine Stunde von Leiden frei war—was weiter? Die Lasten und Leistungen, die Anforderungen, Beschwerden, Strapazen gering achten, klein sehen,—das war's, was groß machte! Er stand auf, zog die Dose und schnupfte gierig, warf dann die Hände auf den Rücken und schritt so heftig durch das Zimmer, daß die Flammen der Kerzen im Luftzuge flattertenging auf und ab… Größe! Außerordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel? Gekannt sein,—gekannt und geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzet von Ichsucht, die ihr nichts wißt von der Süßigkeit dieses Traumes und Dranges! Ichsüchtig ist alles Außeror159 Anhang dentliche, sofern es leidet. Mögt ihr selbst zusehen, spricht es, ihr Sendungslosen, die ihr's auf Erden so viel leichter habt! Und der Ehrgeiz spricht: Soll das Leiden umsonst gewesen sein? Groß muß es mich machen!… Die Flügel seiner großen Nase waren gespannt, sein Blick drohte und schweifte. Seine Rechte war heftig und tief in den Aufschlag seines Schlafrockes geschoben, während die Linke geballt herniederhing. Eine fliegende Röte war in seine hageren Wangen getreten, eine Lohe, emporgeschlagen aus der Glut seines Künstleregoismus, jener Leidenschaft für sein Ich, die unauslöschlich in seiner Tiefe brannte. Er kannte ihn wohl, den heimlichen Rausch dieser Liebe. Zuweilen brauchte er nur seine Hand zu betrachten, um von einer begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt zu werden, in deren Dienst er alles, was ihm an Waffen des Talentes und der Kunst gegeben war, zu stellen beschloß. Er durfte es, nichts war unedel daran. Denn tiefer noch als diese Ichsucht lebte das Bewußtsein, sich dennoch bei alldem im Dienste vor irgend etwas Hohem, ohne Verdienst freilich, sondern unter einer Notwendigkeit, uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern. Und dies war seine Eifersucht: daß niemand größer werde als er, der nicht auch tiefer als er um dieses Hohe gelitten. Niemand!… Er blieb stehen, die Hand über den Augen, den Oberkörper halb seitwärts gewandt, ausweichend, fliehend. Aber er fühlte schon den Stachel dieses unvermeidlichen Gedankens in seinem Herzen, des Gedankens an ihn, den anderen, den Hellen, Tastseligen, Sinnlichen, Göttlich-Unbewußten, an den dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte… Und wieder, wie stets, in tiefer Unruhe, mit Hast und Eifer, fühlte er die Arbeit in sich beginnen, die diesem Gedanken folgte: das eigene Wesen und Künstlertum gegen das des anderen zu behaupten und abzugrenzen… War er denn größer? Worin? Warum? War es ein blutendes Trotzdem, wenn er siegte? Würde je sein Erliegen ein tragisches Schauspiel sein? Ein Gott, vielleicht—ein Held war er nicht. Aber es war leichter, ein Gott zu sein als ein Held!—Leichter… Der andere hatte es leichter! Mit weiser und glücklicher Hand Erkennen und Schaffen zu scheiden, das mochte heiter und quallos und quellend fruchtbar machen. Aber war Schaffen göttlich, so war Erkenntnis Heldentum, und beides war der, ein Gott und ein Held, welcher erkennend schuf! Der Wille zum Schweren… Ahnte man, wieviel Zucht und Selbstüberwindung ein Satz, ein strenger Gedanke ihn kostete? Denn zuletzt war er unwissend und wenig geschult, ein dumpfer und schwärmender Träumer. Es war schwerer, einen Brief des Julius zu schreiben, als die beste Szene zu machen,—und war es nicht darum auch fast schon das Höhere?—Vom ersten rhythmischen Drange innerer Kunst nach Stoff, Materie, Möglichkeit des Ergusses—bis zum Gedanken, zum Bilde, zum Worte, zur Zeile: welch Ringen! welch Leidensweg! Wunder der Sehnsucht waren seine Werke, der Sehnsucht nach Form, Gestalt, Begrenzung, Körperlichkeit, der Sehnsucht hinüber in die klare Welt des anderen, der unmittelbar und mit göttlichem Mund die besonnten Dinge bei Namen nannte. Dennoch, und jenem zum Trotz: Wer war ein Künstler, ein Dichter gleich ihm, ihm selbst? Wer schuf, wie er, aus dem Nichts, aus der eigenen Brust? War nicht als Musik, als reines Urbild des Seins ein Gedicht in seiner Seele geboren, lange bevor es sich Gleichnis und Kleid aus der Welt der Erscheinungen lieh? Geschichte, Weltweisheit, Leidenschaft: Mittel und Vorwände, nicht mehr, für etwas, was wenig mit ihnen zu schaffen, was seine Heimat in orphischen Tiefen hatte. Worte, Begriffe: Tasten nur, die sein Künstlertum schlug, um ein verborgenes Saitenspiel klingen zu machen… Wußte man das? Sie priesen ihn sehr, die guten Leute, für die Kraft der Gesinnung, mit welcher er die oder jene Taste schlug. Und sein Lieblingswort, sein letztes Pathos, die große Glocke, mit der er zu den höchsten Fes160 Anhang ten der Seele rief, sie lockte viele herbei… Freiheit… Mehr und weniger, wahrhaftig, begriff er darunter als sie, wenn sie jubelten. Freiheit—was hieß das? Ein wenig Bürgerwürde doch nicht vor Fürstenthronen? Laßt ihr euch träumen, was alles ein Geist mit dem Worte zu meinen wagt? Freiheit wovon? Wovon zuletzt noch? Vielleicht sogar noch vom Glück, vom Menschenglück, dieser seidenen Fessel, dieser weichen und holden Verpflichtung… Vom Glück… Seine Lippen zuckten; es war, als kehrte sein Blick sich nach innen, und langsam ließ er das Gesicht in die Hände sinken… Er war im Nebenzimmer. Bläuliches Licht floß von der Ampel, und der geblümte Vorhang verhüllte in stillen Falten das Fenster. Er stand am Bette, beugte sich über das süße Haupt auf dem Kissen… Eine schwarze Locke ringelte sich über die Wange, die von der Blässe der Perlen schien, und die kindlichen Lippen waren im Schlummer geöffnet… Mein Weib! Geliebte! Folgtest du meiner Sehnsucht und tratest du zu mir, mein Glück zu sein? Du bist es, sei still! Und schlafe! Schlag jetzt nicht diese süßen, langschattenden Wimpern auf, um mich anzuschauen, so groß und dunkel, wie manchmal, als fragtest und suchtest du mich! Bei Gott, bei Gott, ich liebe dich sehr! Ich kann mein Gefühl nur zuweilen nicht finden, weil ich oft sehr müde vom Leiden bin und vom Ringen mit jener Aufgabe, welche mein Selbst mir stellt. Und ich darf nicht allzusehr dein, nie ganz in dir glücklich sein, um dessentwillen, was meine Sendung ist… Er küßte sie, trennte sich von der lieblichen Wärme ihres Schlummers, sah um sich, kehrte zurück. Die Glocke mahnte ihn, wie weit schon die Nacht vorgeschritten, aber es war auch zugleich, als zeigte sie gütig das Ende einer schweren Stunde an. Er atmete auf, seine Lippen schlossen sich fest; er ging und ergriff die Feder… Nicht grübeln! Er war zu tief, um grübeln zu dürfen! Nicht ins Chaos hinabsteigen, sich wenigstens nicht dort aufhalten! Sondern aus dem Chaos, welches die Fülle ist, ans Licht emporheben, was fähig und reif ist, Form zu gewinnen. Nicht grübeln: Arbeiten! Begrenzen, ausschalten, gestalten, fertig werden… Und es wurde fertig, das Leidenswerk. Es wurde vielleicht nicht gut, aber es wurde fertig. Und als es fertig war, siehe, da war es auch gut. Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, rangen sich neue Werke hervor, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer saust, dem sie entfischt ist. Stimulus F: Schwere Stunde (ohne Point) Er stand vom Schreibtisch auf, von seiner kleinen, gebrechlichen Schreibkommode, stand auf wie ein Verzweifelter und ging mit hängendem Kopfe in den entgegengesetzten Winkel des Zimmers zum Ofen, der lang und schlank war wie eine Säule. Er legte die Hände an die Kacheln, aber sie waren fast ganz erkaltet, denn Mitternacht war lange vorbei, und so lehnte er, ohne die kleine Wohltat empfangen zu haben, die er suchte, den Rücken daran, zog hustend die Schöße seines Schlafrockes zusammen, aus dessen Brustaufschlägen das verwaschene Spitzenjabot heraushing, und schnob mühsam durch die Nase, um sich ein wenig Luft zu verschaffen; denn er hatte den Schnupfen wie gewöhnlich. 161 Anhang Das war ein besonderer und unheimlicher Schnupfen, der ihn fast nie völlig verließ. Seine Augenlider waren entflammt und die Ränder seiner Nasenlöcher ganz wund davon, und in Kopf und Gliedern lag dieser Schnupfen ihm wie eine schwere, schmerzliche Trunkenheit. Oder war an all der Schlaffheit und Schwere das leidige Zimmergewahrsam schuld, das der Arzt nun schon wieder seit Wochen über ihn verhängt hielt? Gott wußte, ob er wohl daran tat. Der ewige Katarrh und die Krämpfe in Brust und Unterleib mochten es nötig machen, und schlechtes Wetter war über Jenadieser Stadt, seit Wochen, seit Wochen, das war richtig, ein miserables und hassenswertes Wetter, das man in allen Nerven spürte, wüst, finster und kalt, und der Dezemberwind heulte im Ofenrohr, verwahrlost und gottverlassen, daß es klang nach nächtiger Heide im Sturm und Irrsal und heillosem Gram der Seele. Aber gut war sie nicht, diese enge Gefangenschaft, nicht gut für die Gedanken und den Rhythmus des Blutes, aus dem die Gedanken kamen… Das sechseckige Zimmer, kahl, nüchtern und unbequem, mit seiner geweißten Decke, unter der Tabaksrauch schwebte, seiner schräg karierten Tapete, auf der oval gerahmte Silhouetten hingen, und seinen vier, fünf dünnbeinigen Möbeln, lag im Lichte der beiden Kerzen, die zu Häupten des Manuskripts auf der Schreibkommode brannten. Rote Vorhänge hingen über den oberen Rahmen der Fenster, Fähnchen nur, symmetrisch geraffte Kattune; aber sie waren rot, von einem warmen, sonoren Rot, und er liebte sie und wollte sie niemals missen, weil sie etwas von Üppigkeit und Wollust in die unsinnlich-enthaltsame Dürftigkeit seines Zimmers brachten… Er stand am Ofen und blickte mit einem raschen und schmerzlich angestrengten Blinzeln hinüber zu dem Werk, von dem er geflohen war, dieser Last, diesem Druck, dieser Gewissensqual, diesem Meer, das auszutrinken, dieser furchtbaren Aufgabe, die sein Stolz und sein Elend, sein Himmel und seine Verdammnis war. Es schleppte sich, es stockte, es stand—schon wieder, schon wieder! Das Wetter war schuld und sein Katarrh und seine Müdigkeit. Oder das Werk? Die Arbeit selbst? Die eine unglückselige und der Verzweiflung geweihte Empfängnis war? Er war aufgestanden, um sich ein wenig Distanz davon zu verschaffen, denn so oft bewirkte die räumliche Entfernung vom Manuskript, daß man Übersicht gewann, einen weiteren Blick über den Stoff, und Verfügungen zu treffen vermochte. Ja, es gab Fälle, wo das Erleichterungsgefühl, wenn man sich abwendete von der Stätte des Ringens, begeisternd wirkte. Und das war eine unschuldigere Begeisterung, als wenn man Likör nahm oder schwarzen, starken Kaffee… Die kleine Tasse stand auf dem Tischchen. Wenn sie ihm über das Hemmnis hülfe? Nein, nein, nicht mehr! Nicht der Arzt nur, auch ein zweiter noch, ein Ansehnlicherer, hatte ihm dergleichen behutsam widerraten: der andere, der dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst… Stille herrschte im Hause. Nur der Wind war hörbar, der die Schloßgasse Straße hinuntersauste, und der Regen, wenn er prickelnd gegen die Fenster getrieben ward. Alles schlief, der Hauswirt und die Seinen, Lotte seine Frau und die Kinder. Und er stand einsam wach am erkalteten Ofen und blinzelte gequält zu dem Werk hinüber, an das seine kranke Ungenügsamkeit ihn glauben ließ… Sein weißer Hals ragte lang aus der Binde hervor, und zwischen den Schößen des Schlafrocks sah man seine nach innen gekrümmten Beine. Sein rotes Haar war aus der hohen und zarten Stirn zurückgestrichen, ließ blaß geäderte Buchten über den Schläfen frei und bedeckte die Ohren in dünnen Locken. An der Wurzel der großen, gebogenen Nase, die unvermittelt in eine weißliche Spitze endete, traten die starken Brauen, dunkler als das Haupthaar, nahe zusammen, was dem Blick der tiefliegenden, 162 Anhang wunden Augen etwas tragisch Schauendes gab. Gezwungen, durch den Mund zu atmen, öffnete er die dünnen Lippen, und seine Wangen, sommersprossig und von Stubenluft fahl, erschlafften und fielen ein… Nein, es mißlang, und alles war vergebens! Die Armee! Die Armee hätte gezeigt werden müssen! Die Armee war die Basis von allem! Da sie nicht vors Auge gebracht werden konnte—war die ungeheure Kunst denkbar, sie der Einbildung aufzuzwingen? Und der Held war kein Held; er war unedel und kalt! Die Anlage war falsch, und die Sprache war falsch, und es war ein trockenes und schwungloses Kolleg in Historie, breit, nüchtern und für die Schaubühne verloren! Gut, es war also aus. Eine Niederlage. Ein verfehltes Unternehmen. Bankerott. Er wollte es Körnern seinem Verleger schreiben, dem guten Körner, der an ihn glaubte, der in kindischem Vertrauen seinem Genius anhing. Er würde höhnen, flehen, poltern—der Freund; würde ihn an den Carlosfrühere Stücke gemahnen, dier auch aus Zweifeln und Mühen und Wandlungen hervorgegangen und sich am Ende, nach aller Qual, als ein weithin Vortreffliches, eine ruhmvolle Tat erwiesen hatten. Doch das war anders gewesen. Damals war er der Mann noch, eine Sache mit glücklicher Hand zu packen und sich den Sieg daraus zu gestalten. Skrupel und Kämpfe? O ja. Und krank war er gewesen, wohl kränker als jetzt, ein Darbender, Flüchtiger, mit der Welt Zerfallener, gedrückt und im Menschlichen bettelarm. Aber jung, ganz jung noch! Jedesmal, wie tief auch gebeugt, war sein Geist geschmeidig emporgeschnellt, und nach den Stunden des Harms waren die anderen des Glaubens und des inneren Triumphes gekommen. Die kamen nicht mehr, kamen kaum noch. Eine Nacht der flammenden Stimmung, da man auf einmal in einem genialisch leidenschaftlichen Lichte sah, was werden könnte, wenn man immer solcher Gnade genießen dürfte, mußte bezahlt werden mit einer Woche der Finsternis und der Lähmung. Müde war er, siebenunddreißig erst alt und schon am Ende. Der Glaube lebte nicht mehr, der an die Zukunft, der im Elend sein Stern gewesen. Und so war es, dies war die verzweifelte Wahrheit: Die Jahre der Not und der Nichtigkeit, die er für Leidens- und Prüfungsjahre gehalten, sie eigentlich waren reiche und fruchtbare Jahre gewesen; und nun, da ein wenig Glück sich herniedergelassen, da er aus dem Freibeutertum des Geistes in einige Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung eingetreten war, Amt und Ehren trug, Weib und Kinder besaß, nun war er erschöpft und fertig. Versagen und verzagen—das war's, was übrigblieb. Er stöhnte, preßte die Hände vor die Augen und ging wie gehetzt durch das Zimmer. Was er da eben gedacht, war so furchtbar, daß er nicht an der Stelle zu bleiben vermochte, wo ihm der Gedanke gekommen war. Er setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien hängen und starrte trüb auf die Diele nieder. Das Gewissen… wie laut sein Gewissen schrie! Er hatte gesündigt, sich versündigt gegen sich selbst in all den Jahren, gegen das zarte Instrument seines Körpers. Die Ausschweifungen seines Jugendmutes, die durchwachten Nächte, die Tage in tabakrauchiger Stubenluft, übergeistig und des Leibes uneingedenk, die Rauschmittel, mit denen er sich zur Arbeit gestachelt—das rächte, rächte sich jetzt! Und rächte es sich, so wollte er den Göttern trotzen, die Schuld schickten und dann Strafe verhängten. Er hatte gelebt, wie er leben mußte, er hatte nicht Zeit gehabt, weise, nicht Zeit, bedächtig zu sein. Hier, an dieser Stelle der Brust, wenn er atmete, hustete, gähnte, immer am selben Punkt dieser Schmerz, diese kleine, teuflische, stechende, bohrende Mahnung, die nicht schwieg, seitdem vor fünf Jahren in Erfurt das Katarrhfieber, jene hitzige Brustkrankheit, ihn angefallen—was wollte sie sagen? In Wahrheit, er wußte es nur zu 163 Anhang gut, was sie meinte—mochte der Arzt sich stellen wie er konnte und wollte. Er hatte nicht Zeit, sich mit kluger Schonung zu begegnen, mit milder Sittlichkeit hauszuhalten. Was er tun wollte, mußte er bald tun, heute noch, schnell… Sittlichkeit? Aber wie kam es zuletzt, daß die Sünde gerade, die Hingabe an das Schädliche und Verzehrende ihn moralischer dünkte als alle Weisheit und kühle Zucht? Nicht sie, nicht die verächtliche Kunst des guten Gewissens waren das Sittliche, sondern der Kampf und die Not, die Leidenschaft und der Schmerz! Der Schmerz… Wie das Wort ihm die Brust weitete! Er reckte sich auf, verschränkte die Arme; und sein Blick, unter den rötlichen, zusammenstehenden Brauen, beseelte sich mit schöner Klage. Man war noch nicht elend, ganz elend noch nicht, solange es möglich war, seinem Elend eine stolze und edle Benennung zu schenken. Eins war not: Der gute Mut, seinem Leben große und schöne Namen zu geben! Das Leid nicht auf Stubenluft und Konstipation zurückzuführen! Gesund genug sein, um pathetisch sein—um über das Körperliche hinwegsehen, hinwegfühlen zu können! Nur hierin naiv sein, wenn auch sonst wissend in allem! Glauben, an den Schmerz glauben können… Aber er glaubte ja an den Schmerz, so tief, so innig, daß etwas, was unter Schmerzen geschah, diesem Glauben zufolge weder nutzlos noch schlecht sein konnte. Sein Blick schwang sich zum Manuskript hinüber, und seine Arme verschränkten sich fester über der Brust… Das Talent selbst— war es nicht Schmerz? Und wenn das dort, das unselige Werk, ihn leiden machte, war es nicht in der Ordnung so und fast schon ein gutes Zeichen? Es hatte noch niemals gesprudelt, und sein Mißtrauen würde erst eigentlich beginnen, wenn es das täte. Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten. Denn das Talent, meine Herren und Damen dort unten, weithin im Parterre, das Talent ist nichts Leichtes, nichts Tändelndes, es ist nicht ohne weiteres ein Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, ein kritisches Wissen um das Ideal, eine Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst schafft und steigert. Und den Größten, den Ungenügsamsten ist ihr Talent die schärfste Geißel… Nicht klagen! Nicht prahlen! Bescheiden, geduldig denken von dem, was man trug! Und wenn nicht ein Tag in der Woche, nicht eine Stunde von Leiden frei war—was weiter? Die Lasten und Leistungen, die Anforderungen, Beschwerden, Strapazen gering achten, klein sehen,—das war's, was groß machte! Er stand auf, zog die Dose und schnupfte gierig, warf dann die Hände auf den Rücken und schritt so heftig durch das Zimmer, daß die Flammen der Kerzen im Luftzuge flatterten… Größe! Außerordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel? Gekannt sein,—gekannt und geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzet von Ichsucht, die ihr nichts wißt von der Süßigkeit dieses Traumes und Dranges! Ichsüchtig ist alles Außerordentliche, sofern es leidet. Mögt ihr selbst zusehen, spricht es, ihr Sendungslosen, die ihr's auf Erden so viel leichter habt! Und der Ehrgeiz spricht: Soll das Leiden umsonst gewesen sein? Groß muß es mich machen!… Die Flügel seiner großen Nase waren gespannt, sein Blick drohte und schweifte. Seine Rechte war heftig und tief in den Aufschlag seines Schlafrockes geschoben, während die Linke geballt herniederhing. Eine fliegende Röte war in seine hageren Wangen getreten, eine Lohe, emporgeschlagen aus der Glut seines Künstleregoismus, jener Leidenschaft für sein Ich, die unauslöschlich in seiner Tiefe brannte. Er kannte ihn wohl, den heimlichen Rausch dieser Liebe. Zuweilen brauchte er nur seine Hand zu betrachten, um von einer begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt zu werden, in deren Dienst er alles, was ihm an Waffen des Talentes und der Kunst gegeben war, zu stellen beschloß. Er durfte es, 164 Anhang nichts war unedel daran. Denn tiefer noch als diese Ichsucht lebte das Bewußtsein, sich dennoch bei alldem im Dienste vor irgend etwas Hohem, ohne Verdienst freilich, sondern unter einer Notwendigkeit, uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern. Und dies war seine Eifersucht: daß niemand größer werde als er, der nicht auch tiefer als er um dieses Hohe gelitten. Niemand!… Er blieb stehen, die Hand über den Augen, den Oberkörper halb seitwärts gewandt, ausweichend, fliehend. Aber er fühlte schon den Stachel dieses unvermeidlichen Gedankens in seinem Herzen, des Gedankens an ihnsie, dien anderen, dien Hellen, Tastseligen, Sinnlichen, Göttlich-Unbewußten, an den dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte… Und wieder, wie stets, in tiefer Unruhe, mit Hast und Eifer, fühlte er die Arbeit in sich beginnen, die diesem Gedanken folgte: das eigene Wesen und Künstlertum gegen das ders anderen zu behaupten und abzugrenzen… Waren sie er denn größer? Worin? Warum? War es ein blutendes Trotzdem, wenn er siegte? Würde je sein ihr Erliegen ein tragisches Schauspiel sein? Ein GottGötter, vielleicht—ein Helden waren sie er nicht. Aber es war leichter, ein Gott zu sein als ein Held!—Leichter… Dier anderen hatten es leichter! Mit weiser und glücklicher Hand Erkennen und Schaffen zu scheiden, das mochte heiter und quallos und quellend fruchtbar machen. Aber war Schaffen göttlich, so war Erkenntnis Heldentum, und beides war der, ein Gott und ein Held, welcher erkennend schuf! Der Wille zum Schweren… Ahnte man, wieviel Zucht und Selbstüberwindung ein Satz, ein strenger Gedanke ihn sie kostete? Denn zuletzt waren sie er unwissend und wenig geschult, ein dumpfer und schwärmender Träumer. Es war schwerer, einen Brief des Juliusetwas Philosophisches zu schreiben, als die beste Szene zu machen,—und war es nicht darum auch fast schon das Höhere?—Vom ersten rhythmischen Drange innerer Kunst nach Stoff, Materie, Möglichkeit des Ergusses—bis zum Gedanken, zum Bilde, zum Worte, zur Zeile: welch Ringen! welch Leidensweg! Wunder der Sehnsucht waren seine Werke, der Sehnsucht nach Form, Gestalt, Begrenzung, Körperlichkeit, der Sehnsucht hinüber in die klare Welt desr anderen, dier unmittelbar und mit göttlichem Mund die besonnten Dinge bei Namen nannten. Dennoch, und jenenm zum Trotz: Wer war ein Künstler, ein Dichter gleich ihm, ihm selbst? Wer schuf, wie er, aus dem Nichts, aus der eigenen Brust? War nicht als Musik, als reines Urbild des Seins ein Gedicht in seiner Seele geboren, lange bevor es sich Gleichnis und Kleid aus der Welt der Erscheinungen lieh? Geschichte, Weltweisheit, Leidenschaft: Mittel und Vorwände, nicht mehr, für etwas, was wenig mit ihnen zu schaffen, was seine Heimat in orphischen Tiefen hatte. Worte, Begriffe: Tasten nur, die sein Künstlertum schlug, um ein verborgenes Saitenspiel klingen zu machen… Wußte man das? Sie priesen ihn sehr, die guten Leute, für die Kraft der Gesinnung, mit welcher er die oder jene Taste schlug. Und sein Lieblingswort, sein letztes Pathos, die große Glocke, mit der er zu den höchsten Festen der Seele rief, sie lockte viele herbei… Freiheit… Mehr und weniger, wahrhaftig, begriff er darunter als sie, wenn sie jubelten. Freiheit—was hieß das? Ein wenig Bürgerwürde doch nicht vor Fürstenthronen? Laßt ihr euch träumen, was alles ein Geist mit dem Worte zu meinen wagt? Freiheit wovon? Wovon zuletzt noch? Vielleicht sogar noch vom Glück, vom Menschenglück, dieser seidenen Fessel, dieser weichen und holden Verpflichtung… Vom Glück… Seine Lippen zuckten; es war, als kehrte sein Blick sich nach innen, und langsam ließ er das Gesicht in die Hände sinken… Er war im Nebenzimmer. Bläuliches Licht floß von der Ampel, und der geblümte Vorhang verhüllte in stillen Falten das Fens165 Anhang ter. Er stand am Bette, beugte sich über das süße Haupt auf dem Kissen… Eine schwarze Locke ringelte sich über die Wange, die von der Blässe der Perlen schien, und die kindlichen Lippen waren im Schlummer geöffnet… Mein Weib! Geliebte! Folgtest du meiner Sehnsucht und tratest du zu mir, mein Glück zu sein? Du bist es, sei still! Und schlafe! Schlag jetzt nicht diese süßen, langschattenden Wimpern auf, um mich anzuschauen, so groß und dunkel, wie manchmal, als fragtest und suchtest du mich! Bei Gott, bei Gott, ich liebe dich sehr! Ich kann mein Gefühl nur zuweilen nicht finden, weil ich oft sehr müde vom Leiden bin und vom Ringen mit jener Aufgabe, welche mein Selbst mir stellt. Und ich darf nicht allzusehr dein, nie ganz in dir glücklich sein, um dessentwillen, was meine Sendung ist… Er küßte sie, trennte sich von der lieblichen Wärme ihres Schlummers, sah um sich, kehrte zurück. Die Glocke mahnte ihn, wie weit schon die Nacht vorgeschritten, aber es war auch zugleich, als zeigte sie gütig das Ende einer schweren Stunde an. Er atmete auf, seine Lippen schlossen sich fest; er ging und ergriff die Feder… Nicht grübeln! Er war zu tief, um grübeln zu dürfen! Nicht ins Chaos hinabsteigen, sich wenigstens nicht dort aufhalten! Sondern aus dem Chaos, welches die Fülle ist, ans Licht emporheben, was fähig und reif ist, Form zu gewinnen. Nicht grübeln: Arbeiten! Begrenzen, ausschalten, gestalten, fertig werden… Und es wurde fertig, das Leidenswerk. Es wurde vielleicht nicht gut, aber es wurde fertig. Und als es fertig war, siehe, da war es auch gut. Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, rangen sich neue Werke hervor, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer saust, dem sie entfischt ist. Stimulus G: Schwere Stunde (ohne Handlungen) Er stand vonm seinem Schreibtisch entferntauf, von seiner kleinen, gebrechlichen Schreibkommode, stand daauf wie ein Verzweifelter, und ging mit hängendem Kopfe imn den entgegengesetzten Winkel des Zimmers amzum Ofen, der lang und schlank war wie eine Säule. Seine Hände lagen auf den Er legte die Hände an die Kacheln, aber sie waren fast ganz erkaltet, denn Mitternacht war lange vorbei, und so lehnte er, ohne die kleine Wohltat empfangen zu haben, die er suchte, den Rücken daran, zog hustend die Schöße seines Schlafrockes zusammen, aus dessen Brustaufschlägen das verwaschene Spitzenjabot heraushing, und schnob mühsam durch die Nase, um sich ein wenig Luft zu verschaffen; denn er hatte den Schnupfen wie gewöhnlich. Das war ein besonderer und unheimlicher Schnupfen, der ihn fast nie völlig verließ. Seine Augenlider waren entflammt und die Ränder seiner Nasenlöcher ganz wund davon, und in Kopf und Gliedern lag dieser Schnupfen ihm wie eine schwere, schmerzliche Trunkenheit. Oder war an all der Schlaffheit und Schwere das leidige Zimmergewahrsam schuld, das der Arzt nun schon wieder seit Wochen über ihn verhängt hielt? Gott wußte, ob er wohl daran tat. Der ewige Katarrh und die Krämpfe in Brust und Unterleib mochten es nötig machen, und schlechtes Wetter war über Jena, seit Wochen, seit Wochen, das war richtig, ein miserables und hassenswertes Wetter, das man in allen Nerven spürte, wüst, finster und kalt, 166 Anhang und der Dezemberwind heulte ununterbrochen im Ofenrohr, verwahrlost und gottverlassen, daß es klang nach nächtiger Heide im Sturm und Irrsal und heillosem Gram der Seele. Aber gut war sie nicht, diese enge Gefangenschaft, nicht gut für die Gedanken und den Rhythmus des Blutes, aus dem die Gedanken kamen… Das sechseckige Zimmer, kahl, nüchtern und unbequem, mit seiner geweißten Decke, unter der Tabaksrauch schwebte, seiner schräg karierten Tapete, auf der oval gerahmte Silhouetten hingen, und seinen vier, fünf dünnbeinigen Möbeln, lag im Lichte der beiden Kerzen, die zu Häupten des Manuskripts auf der Schreibkommode brannten. Rote Vorhänge hingen über den oberen Rahmen der Fenster, Fähnchen nur, symmetrisch geraffte Kattune; aber sie waren rot, von einem warmen, sonoren Rot, und er liebte sie und wollte sie niemals missen, weil sie etwas von Üppigkeit und Wollust in die unsinnlich-enthaltsame Dürftigkeit seines Zimmers brachten… Er stand am Ofen und blickte mit einem raschen und schmerzlich angestrengten Blinzeln hinüber zu dem Werk, von dem er geflohen war, dieser Last, diesem Druck, dieser Gewissensqual, diesem Meer, das auszutrinken, dieser furchtbaren Aufgabe, die sein Stolz und sein Elend, sein Himmel und seine Verdammnis war. Es schleppte sich, es stockte, es stand—schon wieder, schon wieder! Das Wetter war schuld und sein Katarrh und seine Müdigkeit. Oder das Werk? Die Arbeit selbst? Die eine unglückselige und der Verzweiflung geweihte Empfängnis war? Er war aufgestanden, um sich ein wenig Distanz davon zu verschaffen, denn so oft bewirkte die räumliche Entfernung vom Manuskript, daß man Übersicht gewann, einen weiteren Blick über den Stoff, und Verfügungen zu treffen vermochte. Ja, es gab Fälle, wo das Erleichterungsgefühl, wenn man sich abwendete von der Stätte des Ringens, begeisternd wirkte. Und das war eine unschuldigere Begeisterung, als wenn man Likör nahm oder schwarzen, starken Kaffee… Die kleine Tasse stand auf dem Tischchen. Wenn sie ihm über das Hemmnis hülfe? Nein, nein, nicht mehr! Nicht der Arzt nur, auch ein zweiter noch, ein Ansehnlicherer, hatte ihm dergleichen behutsam widerraten: der andere, der dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte. Der war weise. Der wußte zu leben, zu schaffen; mißhandelte sich nicht; war voller Rücksicht gegen sich selbst… Stille herrschte im Hause. Nur der Wind war hörbar, der die Schloßgasse hinuntersauste, und der Regen, wenn er prickelnd gegen die Fenster getrieben ward. Alles schlief, der Hauswirt und die Seinen, Lotte und die Kinder. Und er stand einsam wach am erkalteten Ofen und blinzelte gequält zu dem Werk hinüber, an das seine kranke Ungenügsamkeit ihn glauben ließ… Sein weißer Hals ragte lang aus der Binde hervor, und zwischen den Schößen des Schlafrocks sah man seine nach innen gekrümmten Beine. Sein rotes Haar war aus der hohen und zarten Stirn zurückgestrichen, ließ blaß geäderte Buchten über den Schläfen frei und bedeckte die Ohren in dünnen Locken. An der Wurzel der großen, gebogenen Nase, die unvermittelt in eine weißliche Spitze endete, traten die starken Brauen, dunkler als das Haupthaar, nahe zusammen, was dem Blick der tiefliegenden, wunden Augen etwas tragisch Schauendes gab. Gezwungen, durch den Mund zu atmen, öffnete hatte er die dünnen Lippen geöffnet, und seine Wangen, sommersprossig und von Stubenluft fahl, sahen erschlafften und eingefallen ausfielen ein… Nein, es mißlang, und alles war vergebens! Die Armee! Die Armee hätte gezeigt werden müssen! Die Armee war die Basis von allem! Da sie nicht vors Auge gebracht werden konnte—war die ungeheure Kunst denkbar, sie der Einbildung aufzuzwingen? Und der Held war kein Held; er war unedel und kalt! Die Anlage war falsch, und die Sprache war 167 Anhang falsch, und es war ein trockenes und schwungloses Kolleg in Historie, breit, nüchtern und für die Schaubühne verloren! Gut, es war also aus. Eine Niederlage. Ein verfehltes Unternehmen. Bankerott. Er wollte es Körnern schreiben, dem guten Körner, der an ihn glaubte, der in kindischem Vertrauen seinem Genius anhing. Er würde höhnen, flehen, poltern—der Freund; würde ihn an den Carlos gemahnen, der auch aus Zweifeln und Mühen und Wandlungen hervorgegangen und sich am Ende, nach aller Qual, als ein weithin Vortreffliches, eine ruhmvolle Tat erwiesen hat. Doch das war anders gewesen. Damals war er der Mann noch, eine Sache mit glücklicher Hand zu packen und sich den Sieg daraus zu gestalten. Skrupel und Kämpfe? O ja. Und krank war er gewesen, wohl kränker als jetzt, ein Darbender, Flüchtiger, mit der Welt Zerfallener, gedrückt und im Menschlichen bettelarm. Aber jung, ganz jung noch! Jedesmal, wie tief auch gebeugt, war sein Geist geschmeidig emporgeschnellt, und nach den Stunden des Harms waren die anderen des Glaubens und des inneren Triumphes gekommen. Die kamen nicht mehr, kamen kaum noch. Eine Nacht der flammenden Stimmung, da man auf einmal in einem genialisch leidenschaftlichen Lichte sah, was werden könnte, wenn man immer solcher Gnade genießen dürfte, mußte bezahlt werden mit einer Woche der Finsternis und der Lähmung. Müde war er, siebenunddreißig erst alt und schon am Ende. Der Glaube lebte nicht mehr, der an die Zukunft, der im Elend sein Stern gewesen. Und so war es, dies war die verzweifelte Wahrheit: Die Jahre der Not und der Nichtigkeit, die er für Leidens- und Prüfungsjahre gehalten, sie eigentlich waren reiche und fruchtbare Jahre gewesen; und nun, da ein wenig Glück sich herniedergelassen, da er aus dem Freibeutertum des Geistes in einige Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung eingetreten war, Amt und Ehren trug, Weib und Kinder besaß, nun war er erschöpft und fertig. Versagen und verzagen—das war's, was übrigblieb. Er stöhnte, preßte die Hände vor die Augen und ging wie gehetzt durch das Zimmer. Was er da eben gedacht, war so furchtbar, daß er nicht an der Stelle zu bleiben vermochte, wo ihm der Gedanke gekommen war. Er setzte sich auf einen Stuhl an der Wand, ließ die gefalteten Hände zwischen den Knien hängen und starrte trüb auf die Diele nieder. Das Gewissen… wie laut sein Gewissen schrie! Er hatte gesündigt, sich versündigt gegen sich selbst in all den Jahren, gegen das zarte Instrument seines Körpers. Die Ausschweifungen seines Jugendmutes, die durchwachten Nächte, die Tage in tabakrauchiger Stubenluft, übergeistig und des Leibes uneingedenk, die Rauschmittel, mit denen er sich zur Arbeit gestachelt—das rächte, rächte sich jetzt! Und rächte es sich, so wollte er den Göttern trotzen, die Schuld schickten und dann Strafe verhängten. Er hatte gelebt, wie er leben mußte, er hatte nicht Zeit gehabt, weise, nicht Zeit, bedächtig zu sein. Hier, an dieser Stelle der Brust, wenn er atmete, hustete, gähnte, immer am selben Punkt dieser Schmerz, diese kleine, teuflische, stechende, bohrende Mahnung, die nicht schwieg, seitdem vor fünf Jahren in Erfurt das Katarrhfieber, jene hitzige Brustkrankheit, ihn angefallen—was wollte sie sagen? In Wahrheit, er wußte es nur zu gut, was sie meinte—mochte der Arzt sich stellen wie er konnte und wollte. Er hatte nicht Zeit, sich mit kluger Schonung zu begegnen, mit milder Sittlichkeit hauszuhalten. Was er tun wollte, mußte er bald tun, heute noch, schnell… Sittlichkeit? Aber wie kam es zuletzt, daß die Sünde gerade, die Hingabe an das Schädliche und Verzehrende ihn moralischer dünkte als alle Weisheit und kühle Zucht? Nicht sie, nicht die verächtliche Kunst des guten Gewissens waren das Sittliche, sondern der Kampf und die Not, die Leidenschaft und der Schmerz! 168 Anhang Der Schmerz… Wie das Wort ihm die Brust weitete! Er reckte sich auf, verschränkte die Arme; und sein Blick, unter den rötlichen, zusammenstehenden Brauen, beseelte sich mit schöner Klage. Man war noch nicht elend, ganz elend noch nicht, solange es möglich war, seinem Elend eine stolze und edle Benennung zu schenken. Eins war not: Der gute Mut, seinem Leben große und schöne Namen zu geben! Das Leid nicht auf Stubenluft und Konstipation zurückzuführen! Gesund genug sein, um pathetisch sein—um über das Körperliche hinwegsehen, hinwegfühlen zu können! Nur hierin naiv sein, wenn auch sonst wissend in allem! Glauben, an den Schmerz glauben können… Aber er glaubte ja an den Schmerz, so tief, so innig, daß etwas, was unter Schmerzen geschah, diesem Glauben zufolge weder nutzlos noch schlecht sein konnte . Sein Blick schwang sich zum Manuskript hinüber, und seine Arme verschränkten sich fester über der Brust… Das Talent selbst— war es nicht Schmerz? Und wenn das dort, das unselige Werk, ihn leiden machte, war es nicht in der Ordnung so und fast schon ein gutes Zeichen? Es hatte noch niemals gesprudelt, und sein Mißtrauen würde erst eigentlich beginnen, wenn es das täte. Nur bei Stümpern und Dilettanten sprudelte es, bei den Schnellzufriedenen und Unwissenden, die nicht unter dem Druck und der Zucht des Talentes lebten. Denn das Talent, meine Herren und Damen dort unten, weithin im Parterre, das Talent ist nichts Leichtes, nichts Tändelndes, es ist nicht ohne weiteres ein Können. In der Wurzel ist es Bedürfnis, ein kritisches Wissen um das Ideal, eine Ungenügsamkeit, die sich ihr Können nicht ohne Qual erst schafft und steigert. Und den Größten, den Ungenügsamsten ist ihr Talent die schärfste Geißel… Nicht klagen! Nicht prahlen! Bescheiden, geduldig denken von dem, was man trug! Und wenn nicht ein Tag in der Woche, nicht eine Stunde von Leiden frei war—was weiter? Die Lasten und Leistungen, die Anforderungen, Beschwerden, Strapazen gering achten, klein sehen,—das war's, was groß machte! Er stand auf, zog die Dose und schnupfte gierig, warf dann die Hände auf den Rücken und schritt so heftig durch das Zimmer, daß die Flammen der Kerzen im Luftzuge flatterten… Größe! Außerordentlichkeit! Welteroberung und Unsterblichkeit des Namens! Was galt alles Glück der ewig Unbekannten gegen dies Ziel? Gekannt sein,—gekannt und geliebt von den Völkern der Erde! Schwatzet von Ichsucht, die ihr nichts wißt von der Süßigkeit dieses Traumes und Dranges! Ichsüchtig ist alles Außerordentliche, sofern es leidet. Mögt ihr selbst zusehen, spricht es, ihr Sendungslosen, die ihr's auf Erden so viel leichter habt! Und der Ehrgeiz spricht: Soll das Leiden umsonst gewesen sein? Groß muß es mich machen!… Die Flügel seiner großen Nase waren gespannt, sein Blick drohte und schweifte. Seine Rechte war heftig und tief in den Aufschlag seines Schlafrockes geschoben, während die Linke geballt herniederhing. Eine fliegende Röte war in seine hageren Wangen getreten, eine Lohe, emporgeschlagen aus der Glut seines Künstleregoismus, jener Leidenschaft für sein Ich, die unauslöschlich in seiner Tiefe brannte. Er kannte ihn wohl, den heimlichen Rausch dieser Liebe. Zuweilen brauchte er nur seine Hand zu betrachten, um von einer begeisterten Zärtlichkeit für sich selbst erfüllt zu werden, in deren Dienst er alles, was ihm an Waffen des Talentes und der Kunst gegeben war, zu stellen beschloß. Er durfte es, nichts war unedel daran. Denn tiefer noch als diese Ichsucht lebte das Bewußtsein, sich dennoch bei alldem im Dienste vor irgend etwas Hohem, ohne Verdienst freilich, sondern unter einer Notwendigkeit, uneigennützig zu verzehren und aufzuopfern. Und dies war seine Eifersucht: daß niemand größer werde als er, der nicht auch tiefer als er um dieses Hohe gelitten. Niemand!… Er blieb stehen,hielt die Hand über den Augen, den Oberkörper halb seitwärts gewandt, ausweichend, fliehend. Aber er fühlte schon wieder einmal den Stachel dieses 169 Anhang unvermeidlichen Gedankens in seinem Herzen, des Gedankens an ihn, den anderen, den Hellen, Tastseligen, Sinnlichen, Göttlich-Unbewußten, an den dort, in Weimar, den er mit einer sehnsüchtigen Feindschaft liebte… Und wieder, wie stets, in tiefer Unruhe, mit Hast und Eifer, fühlte er die Arbeit in sich beginnen, die diesem Gedanken folgte: das eigene Wesen und Künstlertum gegen das des anderen zu behaupten und abzugrenzen… War er denn größer? Worin? Warum? War es ein blutendes Trotzdem, wenn er siegte? Würde je sein Erliegen ein tragisches Schauspiel sein? Ein Gott, vielleicht—ein Held war er nicht. Aber es war leichter, ein Gott zu sein als ein Held!—Leichter… Der andere hatte es leichter! Mit weiser und glücklicher Hand Erkennen und Schaffen zu scheiden, das mochte heiter und quallos und quellend fruchtbar machen. Aber war Schaffen göttlich, so war Erkenntnis Heldentum, und beides war der, ein Gott und ein Held, welcher erkennend schuf! Der Wille zum Schweren… Ahnte man, wieviel Zucht und Selbstüberwindung ein Satz, ein strenger Gedanke ihn kostete? Denn zuletzt war er unwissend und wenig geschult, ein dumpfer und schwärmender Träumer. Es war schwerer, einen Brief des Julius zu schreiben, als die beste Szene zu machen,—und war es nicht darum auch fast schon das Höhere?—Vom ersten rhythmischen Drange innerer Kunst nach Stoff, Materie, Möglichkeit des Ergusses—bis zum Gedanken, zum Bilde, zum Worte, zur Zeile: welch Ringen! welch Leidensweg! Wunder der Sehnsucht waren seine Werke, der Sehnsucht nach Form, Gestalt, Begrenzung, Körperlichkeit, der Sehnsucht hinüber in die klare Welt des anderen, der unmittelbar und mit göttlichem Mund die besonnten Dinge bei Namen nannte. Dennoch, und jenem zum Trotz: Wer war ein Künstler, ein Dichter gleich ihm, ihm selbst? Wer schuf, wie er, aus dem Nichts, aus der eigenen Brust? War nicht als Musik, als reines Urbild des Seins ein Gedicht in seiner Seele geboren, lange bevor es sich Gleichnis und Kleid aus der Welt der Erscheinungen lieh? Geschichte, Weltweisheit, Leidenschaft: Mittel und Vorwände, nicht mehr, für etwas, was wenig mit ihnen zu schaffen, was seine Heimat in orphischen Tiefen hatte. Worte, Begriffe: Tasten nur, die sein Künstlertum schlug, um ein verborgenes Saitenspiel klingen zu machen… Wußte man das? Sie priesen ihn sehr, die guten Leute, für die Kraft der Gesinnung, mit welcher er die oder jene Taste schlug. Und sein Lieblingswort, sein letztes Pathos, die große Glocke, mit der er zu den höchsten Festen der Seele rief, sie lockte viele herbei… Freiheit… Mehr und weniger, wahrhaftig, begriff er darunter als sie, wenn sie jubelten. Freiheit—was hieß das? Ein wenig Bürgerwürde doch nicht vor Fürstenthronen? Laßt ihr euch träumen, was alles ein Geist mit dem Worte zu meinen wagt? Freiheit wovon? Wovon zuletzt noch? Vielleicht sogar noch vom Glück, vom Menschenglück, dieser seidenen Fessel, dieser weichen und holden Verpflichtung… Vom Glück… Seine Lippen zuckten; es war, als kehrte sein Blick sich nach innen, und langsam ließ er das Gesicht in die Hände sinken… Er war im Nebenzimmer. Bläuliches Licht floß von der Ampel, und der geblümte Vorhang verhüllte in stillen Falten das Fenster. Er stand am Bette, beugte sich über das süße Haupt auf dem Kissen… Eine schwarze Locke ringelte sich über die Wange, die von der Blässe der Perlen schien, und die kindlichen Lippen waren im Schlummer geöffnet… Mein Weib! Geliebte! Folgtest du meiner Sehnsucht und tratest du zu mir, mein Glück zu sein? Du bist es, sei still! Und schlafe! Schlag jetzt nicht diese süßen, langschattenden Wimpern auf, um mich anzuschauen, so groß und dunkel, wie manchmal, als fragtest und suchtest du mich! Bei Gott, bei Gott, ich liebe dich sehr! Ich kann mein Gefühl nur zuweilen nicht finden, weil ich oft sehr müde vom Leiden bin und vom Ringen mit jener Aufgabe, welche mein Selbst mir stellt. Und ich darf nicht allzusehr dein, nie ganz in dir glücklich sein, um dessentwillen, was meine Sendung ist… 170 Anhang Er küßte sie, trennte sich von der lieblichen Wärme ihres Schlummers, sah um sich, kehrte zurück. Die Glocke mahnte ihn, wie weit schon die Nacht vorgeschritten, aber es war auch zugleich, als zeigte sie gütig das Ende einer schweren Stunde an. Er atmete auf, seine Lippen schlossen sich fest; er ging und ergriff die Feder… Nicht grübeln! Er war zu tief, um grübeln zu dürfen! Nicht ins Chaos hinabsteigen, sich wenigstens nicht dort aufhalten! Sondern aus dem Chaos, welches die Fülle ist, ans Licht emporheben, was fähig und reif ist, Form zu gewinnen. Nicht grübeln: Arbeiten! Begrenzen, ausschalten, gestalten, fertig werden… Und es wurde fertig, das Leidenswerk. Es wurde vielleicht nicht gut, aber es wurde fertig. Und als es das Leidenswerk fertig war, siehe, da war es auch gut. Und aus seiner Seele, aus Musik und Idee, sollten sich noch vielerangen sich neue Werke hervorringen, klingende und schimmernde Gebilde, die in heiliger Form die unendliche Heimat wunderbar ahnen ließen, wie in der Muschel das Meer saust, dem sie entfischt ist. 171 Anhang Anhang 2: Fragebogen Liebe Teilnehmerin, lieber Teilnehmer, herzlichen Dank, dass Sie mich bei meiner Untersuchung unterstützen. Im Folgenden bitte ich Sie nun, ein paar Einschätzungen zum gerade gelesenen Text abzugeben und Fragen zu Ihrer Person zu beantworten. Bitte lesen Sie die Fragen und Ausfüllanweisungen dazu aufmerksam durch und antworten Sie ehrlich. Und keine Sorge: Ich möchte nicht Sie testen, sondern etwas über den Text herausfinden. Es gibt also keine falschen Antworten, Antworten Sie am besten möglichst spontan. Alle Angaben bleiben selbstverständlich anonym und werden streng vertraulich behandelt. Auch dienen die dank Ihrer Unterstützung gewonnenen Daten ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken. Bei Fragen oder Problemen können Sie sich jederzeit unter der auf dem Booklet angegebenen EMailadresse an die Versuchsleiterin wenden. Stimulusdefinition 172 Anhang Rezeptionssituation Unterhaltung I (nach Früh et al.2004) 173 Anhang Unterhaltung II (nach Appel et al. 2002) Thematisches Interesse (nach Wirth/Schramm/Böcking 2008) Manipulation-Check „Point“ Manipulation-Check „Handlung“ Presence (nach Wirth/Schramm/Böcking 2008; Appel et al. 2002) 174 Anhang Point-Kontrolle (nur bei Stimulus D-G) Narrativität I Narrativität II (nur wenn Narrativität I ≥ 4) Narrativität III 175 Anhang Need for Cognition (nach Bless et al. 1994) 176 Anhang Räumliches Vorstellungsvermögen (nach Wirth/Schramm/Böcking 2008) Need for Entertainment (nach Brock/Livingston 2004) Medienpräferenzen 177 Anhang Demographische Angaben Studium j/n Studienfach Dank und Incentive 178 View publication stats