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PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE FAKULTÄT DER UNIVERSITÄT BASEL DEUTSCHES SEMINAR Polyphonie, Intertextualität und problematisiertes Erzählen bei Grimmelshausen und Raabe LIZENTIATSARBEIT vorgelegt von Regula Hohl Basel, Dezember 1996 Referent: Prof.Dr.Martin Stern Korreferent: Prof.Dr.Karl Pestalozzi 2 VORBEMERKUNG Prof.Dr.Martin Stern bin ich für interessante Literaturhinweise, kritische Fragen und die ermutigende Art, in der er die Entstehung der vorliegenden Studie begleitet hat, herzlich dankbar. Dr.des.Beatrice Mall-Grob danke ich für ein sehr anregendes Gespräch über eine provisorische Fassung. Für einzelne im Text erwähnte Hinweise bin ich Prof.Dr.Balz Engler, Prof.Dr. Monika Fludernik, Prof.Dr.Hartwig Isernhagen und Prof.Dr.Karl Pestalozzi verbunden. ERKLÄRUNG Ich habe die Hilfe empfangen, die ich erwähnt und verdankt habe. Diese Lizentiatsarbeit wurde noch nie vorher zur Begutachtung eingereicht. Ich bezeuge mit meiner Unterschrift, daß meine Angaben über die bei der Abfassung meiner Lizentiatsarbeit benützten Hilfsmittel, über die mir zuteil gewordene Hilfe sowie über frühere Begutachtung meiner Lizentiatsarbeit in jeder Hinsicht der Wahrheit entsprechen und vollständig sind. 3 Inhalt 0. Einführung: Umbruchszeiten und ihr Niederschlag in der erzählenden Literatur 4 0.1. Zwei Umbruchszeiten 6 0.2. Zwei Autoren: Biographisches 11 0.3. Zwei Rezeptionsgeschichten 13 0.4. Werke: Themen und formale Aspekte 16 1. Polyphonie im Text 22 1.1. Erzählen im Krieg 24 1.2. Frauenerzählung und Männerstimmen 27 1.3. Männerstimmen sprechen aus Courasche 31 1.4. Männerstimmen schaffen den Rahmen 33 1.5. Männerworte in weiblichen Biographien 37 1.6. Männerstimmen um den Text herum 40 2. Polyphonie der Texte: Intertextualität 44 2.1. Genres und Themen 45 2.1.1. Schelmenroman: Subversive Vielfalt und eindeutige Moral 46 2.1.2. Anstand und Diesseitigkeit: Aufkommende Bürgerlichkeit bei Grimmelshausen 49 2.1.3. Vielfalt der Genres: explizite Problematisierung bei Raabe 52 2.2. Sprachen und Sprachkritik 55 2.3. Fremde Texte: Zitat und Kritik des Zitierens 61 3. Polyphonie über den Text hinaus: Autor, Erzähler und Leser 67 3.1. Persönliche Erzähler 71 3.2. Hilflose Erzähler und mitarbeitende Leser 76 3.3. Lesende Erzähler und erzählende Leser: Mehrfachperspektive und Sproßroman 82 3.4. Autor und Publikum 86 Bibliographie 95 1. Primärliteratur 95 2. Sekundärliteratur 95 2.1. Zu Grimmelshausen 95 2.2. Zu Raabe 99 2.3. Zur allgemeinen Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte 101 Bibliographischer Anhang 102 1. Zu Grimmelshausens Quellen 102 2. Zum Einfluß Grimmelshausens 103 3. Zu Raabes Quellen 103 4. Zu Erzähler und Leser bei Raabe 106 Endnoten 107 4 0. Einführung: Umbruchszeiten und ihr Niederschlag in der erzählenden Literatur - Was sollte aus ihr, der Welt, werden, wenn jeder es vermöchte, den anderen ruhig aussprechen zu lassen? Eine recht objektive Welt, aber eine vielleicht doch etwas zu ruhige – so etwas wie ein Universalkirchhof, voll sehr weise im Lapidarstil redender Leichensteine. Der Herr erhalte uns also im recht fröhlichen Kriege gegeneinander, solange es ihm gefällt, uns überhaupt zu erhalten. WILHELM RAABE Der Dichtung ist oft prophetische Kraft zugeschrieben worden, und literaturwissenschaftliche und kulturgeschichtliche Studien haben den wesentlichen Gehalt dieses anspruchsvollen Postulats bestätigt. Die kritische Verarbeitung und Beurteilung der eigenen Zeit durch Philosophen und Kulturkritiker kann wegen zu großer Nähe zum Objekt fehlgehen, da sie zeitliche Distanz braucht. Dagegen ist oft festzustellen, daß "Dichtung", Literatur, fiction den Abstand nicht nötig hat, sondern aus unmittelbar empfindender Nähe Aktuelles und Kommendes, Umbrüche, Mentalitätsänderungen und Paradigmenwechsel ausdrücken kann. Dies geschieht nicht vorrangig in intellektueller Deutung und theoretischer Artikulation, sondern in verarbeitender Darstellung. Diese Darstellung muß nicht völlig mit den bewußten politischen und weltanschaulichen Positionen übereinstimmen, die der Dichter oder die Dichterin1 im Werk oder außerhalb vertritt; unbewußte Wahrnehmungen und Widersprüche können sich bei einer entsprechenden Sensibilität im Werk zutage arbeiten. Dies schließt natürlich kritische Reflexion, je nach intellektuellem Temperament, nicht aus. Aber die ästhetische Widerspiegelung kann davon fast unabhängig geschehen, wenn in geistigen Umbruchszeiten alte und neue Ideen und Paradigmen während einer gewissen Zeit nebeneinander existieren, ob nun die bewußten Ansichten der Schreibenden mit dem progressiven oder dem konservativen Strom schwimmen. So treten in literarischen (und anderen) Kunstwerken Umbrüche und Krisen zuweilen besonders früh und authentisch zutage. Ein zentrales erzählerisches "Krisensymptom", das ein sensibles Bewußtsein für solche Umbrüche anzeigt, ist die Polyphonie oder Dialogizität, wie sie der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin als konstitutiv für den modernen Roman seit dem 16.Jahrhundert beschrieben hat. Während im Epos, wo der Erzähler und alle Figuren fraglos eine Weltsicht teilen, zentripetale Kräfte überwiegen, bildet der Roman die Widersprüche und Vielfältigkeiten der Welt unvereinfacht ab: 5 The novel is the only developing genre and therefore it reflects more deeply, more essentially, more sensitively and rapidly, reality itself in the process of its unfolding. (Bachtin 1981, S.7). In diesem Sinne ist Dostojewskij, der die polyphone, dialogische Schreibweise auf einen Höhepunkt gebracht hat, der moderne Romanschriftsteller schlechthin. Bachtin zeigt in Problems of Dostoevsky’s Poetics, wie lange die Literaturkritik, mit ihren Analysen der Dichtung hinterherschreibend, mit diesem zukunftsweisenden Aspekt von Dostojewskijs Romanen nicht zu Rande kam, bis Bachtin mit dem Terminus "Polyphonie" etwas Wesentliches in Dostojewskijs Werk begrifflich faßbar machte: After my book [...] the ideas of polyphonic dialogue, unfinalizability etc. were very widely developed. This is explained [...] above all [...] by those changes in reality itself which Dostoevsky (in this sense prophetically) succeeded in revealing earlier than the others. (Bachtin 1984, S.19f.) Dieses "prophetische Aufzeigen" geschieht durch dialogische Aufspaltung, die die vielfältigen Widersprüche der in Rußland spät, aber heftig eingetretenen (kapitalistischen) Moderne widerspiegeln. Jede Hauptfigur in Dostojewskijs Romanen hat eine eigene Weltsicht, die von der des Erzählers nicht dominiert wird, und es ist unmöglich, einen Diskurs als vorherrschend oder vom Erzähler "gebilligt" herauszustellen. Um trotzdem griffige Interpretationen herstellen zu können, werden einzelne Stimmen isoliert: Any acquaintance with the voluminous literature on Dostoevsky leaves the impression that one is dealing not with a single author-artist who wrote novels, but with a number of philosophical statements by several author-thinkers. For the purposes of critical thought, Dostoevsky’s work has been broken down in a series of disparate, contradictory philosophical stances, each defended by one or another character. (Bakthin 1984, p.5). Diese Interpretationen sind dann natürlich miteinander durchaus unvereinbar. So wird eine kritische Mehrstimmigkeit die Folge der künstlerischen Polyphonie; die Buntheit der Forschungsstandpunkte widerspiegelt den Reichtum des Werks, ohne daß aber dessen Vielfalt und Vieldeutigkeit als solche bemerkt und geschätzt würde. Solche Widersprüche prägen auch das Werk und die Rezeptionsgeschichte der beiden Autoren, deren Werk im Zentrum der vorliegenden Studie steht: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und Wilhelm Raabe. Beide lebten in zeitgenössischen Situationen, in denen die "öffentliche Meinung" und die gesellschaftlichen Strukturen im Umbruch waren, und beide waren ausreichend sensibel und souverän – und vielleicht innerlich gespalten – um diese Widersprüche nicht zu verdrängen. Erzählerische Komplizierungen, die sich in einer großen 6 Buntheit der Forschungsstandpunkte widerspiegeln, sind die Folge. Teilweise ist die "altmodische" Sicht irgendeines Themas, die von neuen Paradigmen abgelöst zu werden beginnt, bereits subversiv, und schreibend artikuliert der Autor Unbehagen am Neuen, oder es wird ein überfälliger Fortschritt als subversives Neues in den Text eingeschrieben. Im letzteren Fall verstärkt sich die Spannung dadurch, daß der konventionelle Diskurs stärker ausgebildet ist und über ein geläufiges Repertoire von Formen und Topoi verfügt, während der subversive Diskurs erst im Entstehen ist, was ihn interessanter macht, aber auch schwächt. Solche Polyphonie ist die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen Grimmelshausen und Raabe, die sie natürlich auch mit anderen teilen. Als ich ihr nachzugehen begann, stellte ich aber fest, daß sie bei weitem nicht die einzige ist; formale und thematische Analogien häuften sich geradezu. Dies könnte auf Einfluß zurückgeführt werden, da einerseits Grimmelshausens Werk stark und vielfältig nachwirkte und -wirkt (vgl. Auswahlbibliographie 2 im Anhang) und andererseits Raabes extensive Zitiertechnik dazu geführt hat, daß Jeffrey L. Sammons beklagen muß: "Influence has been rather a plague in Raabe studies" (Sammons 1987, S.152). Aber gerade angesichts der Vielfalt von Autoren, die Raabe offen und versteckt zitiert, wäre das bloße Aufspüren von Zitaten kein echter Beitrag zu einer adäquaten Erklärung für die signifikanten Ähnlichkeiten zwischen vielen Werken Grimmelshausens und Raabes2. Hingegen haben einerseits die geistesgeschichtlichen Umbruchsituationen, in denen die beiden Autoren schrieben, und andererseits das menschliche und schriftstellerische Temperament, mit dem sie auf "polyphone" Zeitläufte reagierten, viel Analoges. Zu verfolgen, wie sich dies in vergleichbaren Aspekten im erzählerischen Werk niederschlägt, ist die hauptsächliche Absicht des Folgenden3. Um den Vergleich weiter zu situieren, seien einführend zeitgeschichtliche, biographische und rezeptionsgeschichtliche Parallelen skizziert. 0.1. Zwei Umbruchszeiten 1650 wie 1870 sind Daten, die in Umbruchszeiten in der europäischen Geistesgeschichte liegen, und in beiden Schwellenzeiten kompliziert sich die Situation für deutsche Schriftsteller durch die besondere politische und literarische Situation Deutschlands nach dem Dreißigjährigen Krieg bzw. nach der Reichsgründung. Die Umbruchszeit um 1650 erlebt einen Paradigmenwechsel, den viele Historiker als den entscheidenden Bruch zwischen der Moderne und dem, was vorher liegt, ansehen: die 7 Durchsetzung des kopernikanisch-galileischen Weltbildes, des empirischen Paradigmas und des cartesianischen Rationalismus mit der Mechanisierung der Welt als wichtiger Folge. Der Wissenschaftshistoriker Stephen Toulmin4 begründet den durchschlagenden Erfolg des neuen Paradigmas mit der Unsicherheit, den die unlösbaren konfessionellen Konflikte der vorausgehenden hundert Jahre geschaffen hatten. Reformation und Gegenreformation und die mit der Ermordung Heinrichs von Navarra 1610 evident und mit dem Dreißigjährigen Krieg mehr als handgreiflich gewordene Unmöglichkeit, die beiden zu versöhnen, schufen eine große Ungewißheit und entsprechende Sehnsüchte nach einem Ersatz für die fast unmöglich gewordene konfessionell religiöse Absolutheit. Dies führt nach 1640 zu einer "politics of certainty" (Toulmin 1990, S.69): der neue Rationalismus sollte die Geborgenheit versprechen, die die sich zerfleischenden Kirchen kaum mehr bieten konnten. Descartes spricht in einer charakteristischen Passage von seinem "extrême désir d’apprendre à distinguer le vrai d’avec le faux, pour voir clair mes actions, et marcher avec assurance dans cette vie." (zitiert nach Stierle 1984a, S.323). Dieses Sicherheitsstreben erklärt die außergewöhnlich rasche Übernahme der rationalistischen Weltsicht, die bald weitreichende Konsequenzen hatte. Der cartesianische Dualismus, der urteilendes Subjekt und materielles Objekt trennt, verwirklicht sich unmittelbar im Entstehen zweier neuer philosophischer Schulen: derjenigen, die sich dem Objekt zuwendet, also der empiristischen Richtung, und derjenigen, die Descartes folgend alles auf die Denkfähigkeit des Subjektes gründet, die Schule der Rationalisten. (Gaede 1978, S.27). Beiden Richtungen ist die Abwertung der Transzendenz und die Konzentration auf das Endliche gemeinsam: Die Urteilshaltung [wird] zum Grundprinzip der neuen Metaphysik der Subjektivität. Descartes hat das wiederholt deutlich gemacht. Für ihn ist "die allgemeine Befriedigung des Geistes" von "der ganzen Kraft unseres Intellektes auf ein richtiges Urteil" abhängig. Die Begrenzung des Denkens auf das Endliche, die mit der Urteilshaltung gegeben ist, bedeutet den Triumph der Analyse über die Synthese und bewirkt mit dem Verzicht auf die Synthese das sich in allen Bereichen seit Ende des Mittelalters etablierende Prinzip der Partikularität. (Gaede 1978, S.28). Diese Haltung bereitet die moderne Subjektivität vor, da das anschauende und urteilende Subjekt ins Zentrum rückt. Scheinbar in paradoxem Verhältnis zu dieser Partikularität steht die angestrebte rationale Objektivität, die das Konkrete, empirisch Faßbare abwertet. In einer reduktiven Ausdörrung der Welt, in der nur noch die im rationalen Urteil vorgenommene Abstraktion zählt, nehmen Philosophie und Geschichtsschreibung um 1650 Abschied vom Mündlichen, 8 Besonderen, Lokalen, Exotischen, Persönlichen und Zeitgebundenen (vgl. Toulmin 1990, S.3035). Alle diese Dinge hatten Montaigne, den Stephen Toulmin als den großen RenaissanceGegenpart zu Descartes sieht, noch ungeheuer fasziniert, während sie für Descartes nicht beachtenswert sind. Für ihn zählt nur die aus Anschauung gewonnene Abstraktion: Der Weg des Denkens führt aus der Welt und aus der Kommunikation mit den Menschen zur letzten kommunikationslosen Gewißheit, die zum Grund eines monologischen, linearen, methodischen Diskurses wird, der zugleich der Zielpunkt ist. (Stierle 1984a, S.326) Diese "kommunikationslose Gewißheit" hat kein Bedürfnis nach dialogischem Austausch oder gar Auseinandersetzung. Die Kirchen versteiften sich in fatal ähnlicher Weise auf eine Abwertung des Diesseits: Der erbitterte Streit um das Seelenheil führt dazu, daß die Toleranz der Humanisten und ihre diesseitsbezogene Lebensphilosophie in Ansätzen stecken blieben. Im Barock [...] dominiert die Betrachtung der Welt "sub specie aeternitatis". (Bauer 1994, S.72). Im Werk Grimmelshausens lassen sich zahlreiche implizite Gegenpositionen zu dieser Entwicklung feststellen5. Dabei handelt es sich, wie oben ausgeführt, nicht um explizite Kritik an neuen Weltbildern, die so früh, sozusagen noch während des Paradigmenwechsels, kaum möglich gewesen wäre, sondern um Gestaltung entsprechender Erfahrungen: Die sich im 17. Jahrhundert durchsetzende cartesianische Trennung wird als Erkenntniskrise ein in zahllosen Einzelsituationen und in der Gesamttendenz der Werke Grimmelshausens gestaltetes6 Hauptmotiv. (Gaede 1989, S.9, meine Hervorhebungen). In dieser Darstellung bleibt das Konkrete mit seinen Widersprüchen erhalten: Wo der stoisch beeinflußte Philosoph [des Barock] den Ausweg in die Dinglosigkeit abstrakter Allgemeinheit gehen kann, bleibt der Dichter an die konkrete Natur seiner Gegenstände und die Widersprüchlichkeit der sie beschreibenden Urteile gebunden. (Gaede 1978, S.33). In einem Paradox, das dem zwischen Empirismus und Rationalismus analog ist, wird trotzdem noch eine Gesamtschau der Welt angestrebt in einem Systemdenken, in dem sich christlich-kosmische Vorstellungen stärker mit naturwissenschaftlichen Elementen verbinden und das etwa vom 14. bis zum 17./18. Jahrhundert herrscht: dem astrologisch-alchimistischen. (Weydt 1979, S.69). "Verbinden" ist hier das wichtige Wort; es geht darum, zu erkennen, daß die nur endlich genommenen Dinge ebenso betrügen wie der "Wahn" der reinen Abstraktion. Die erzählerische Polyphonie ist eine strukturelle Form des Widerstand gegen solche Vereinheitlichungen. Sie 9 ist per se subversiv, da Vielfalt der Standpunkte in einem rationalistisch oder konfessionell verhärteten Weltbild unmöglich ist: "The polyphonic project is incompatible with a monoideational framework of the ordinary sort." (Bachtin 1984, S.78). Wenn mehrere Stimmen nebeneinander stehenbleiben, ist das ein logischer Widerspruch, in sich ein Angriff auf die angenommene Sicht der Welt, in der "die Methode [...] an die Stelle dialogischer Vielfalt" (Stierle 1984a, S.328) tritt. Ein Standpunkt muß nach dem methodischen Wahrheitsfindungsprozeß als "Der Richtige" erweisen und damit die anderen ausschließen. Ein solchermaßen für richtig befundener, rationaler Diskurs erhält dann einen autonomen Wert, der nicht vom Prestige eines Verfassers unter andern Verfassern abhängt; absolute evidente Wahrheiten brauchen keine persönliche Legitimation, da sie nicht auf persönlicher Erfahrung oder ererbter Weisheit beruhen. "Scientific discourses began to be received for themselves, in the anonymity of an established truth. The author-function faded away." (Foucault 1988, S.203). Dagegen haben fiktionale Texte weiterhin, ja erst recht Autoren, Erzähler, die durch Pseudonyme, Rahmenerzählungen, Herausgeberfiktionen usw. – wie sie bei Grimmelshausen ja so auffällig sind – zusehends hervortreten. Das Werk von Wilhelm Raabe zeigt überraschend ähnliche Komplikationen und Perspektivierungen, die die Komplexität der Übergangszeit widerspiegeln, in der er schrieb. Nach 1850 erleben Europa und Nordamerika eine rasche Entwicklung zum fortgeschrittenen Kapitalismus und schwerer Industrialisierung. Die Konsequenzen für Natur und Gesellschaft sind einschneidend: beginnende Umweltzerstörung und schärfer akzentuierte Klassenunterschiede mit der Entstehung eines Lumpenproletariats. In Deutschland, das im 19. wie schon im 17. Jahrhundert gesellschaftlich rückständig ist, erfolgen diese Entwicklungen spät, aber mit einzigartiger Geschwindigkeit: Within the lifetime of one generation the country made the transition from a postfeudal to a monopoly capitalist economy, virtually omitting the phase of laissez-faire capitalism that was so artistically productive in France and England. Clearly the cultural shock of this rapid change was much greater than elsewhere. (Bullivant 1976, S.269). Dieser Schock – Raabe spricht vom "Wirbel des Übergangs der deutschen Nation aus einem Bauernvolk in einen Industriestaat" (BA16, 114)7 – ist auch an der Nostalgie abzulesen, mit der viele Kulturkritiker und Schriftsteller auf die vorkapitalistischen Zeiten zurückblicken. Der Fortschritt ist aber ebenfalls faszinierend, so daß "die Verspätung Deutschlands [...] im 19. Jahrhundert eine instabile Zwischenstellung zwischen Erinnerung und Erwartung [hervorruft]" 10 (Plessner 1994, S.15). Eine neue politische Generation glaubt ans Machbare, an den erarbeiteten Fortschritt: Eine jüngere Generation löst die der Reichsgründung ab. An deren Stelle, die [...] noch selbstverständlich getragen waren von der Tradition und den Anschauungen des Neuhumanismus und der deutschen Klassik, tritt die Generation, die in dem Glauben, das Reich sei nur durch Blut und Eisen geschaffen, die reine Macht überbewertet und verabsolutiert. (Oppermann 1970, S.100). In einem der cartesianischen Wende vergleichbaren Umschwung flüchtet man aus der Ungewißheit einer Übergangszeit nach vorn in dogmatisch sturen Fortschritt. Raabes Aphorismus "Der Horizont des Geschlechts, das nach 1870 gekommen ist, ist nicht weiter geworden." (Hoppe 1960, S.132) bezeugt sein Bewußtsein für die Begrenztheit dieser Haltung. Der "deutsche Sonderweg" wird ähnlich wie nach 1650 auch in der politischen Verspätung spürbar. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges holt Deutschland erst jetzt nach, was viele europäische Staaten bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erstmals erreichten: die Entstehung und hohe Zeit des sprachlich einheitlichen Nationalstaates. Die Ähn-lichkeiten zwischen den Epochen sind also nicht zufällig, sondern beruhen darauf, daß sie die Entstehungs- und eine Reifezeit desselben Phänomens darstellen. Dieser Zusammenhang gilt aber nicht nur für die deutsche Politik; auch in der westlichen Wissenschaftsund Philosophiegeschichte trägt das späte 19. Jahrhundert die Früchte des 17.: Initially, the 17th-century revolution in natural science and philosophy had no direct effect on medicine or engineering: the new scientists helped design a few devices, such as vacuum pumps, ship’s chronometers, and microscopes; but, as Bacon had foreseen, it was a long time before the theoretical light of 17th-century science yielded an equal harvest of practical fruit. [...] It took until after 1850. (Toulmin 1990, S.15). Daß unter diesen Früchten einige sehr zweifelhafte wuchsen, ist heute ein Gemeinplatz8. Nicht nur die Natur hatte zu leiden; besonders vergiftete Äpfel vom Baum der neuen Erkenntnisweisen reiften auch für den Menschen schon kurz nach 1600 und wieder in der angeheizten Industrieproduktion vor 1914: neue Waffen. Im Dreißigjährigen Krieg gelang mit dem schnelleren Zündnadelgewehr zum erstenmal so etwas wie eine industrielle Art des Tötens9, und die Aufrüstung Deutschlands nach 1870/71 bereitete den Ersten Weltkrieg, den ersten modernen Massenkrieg vor. Beide Nachkriegszeiten, ab 1648 und ab 1871, waren Tummelfelder für Arrivisten, Profiteure und Neureiche, gekennzeichnet vom moralischen Verfall, der im akzentuierten Kapitalismus solcher Zeiten hervortritt, und den Raabe wie Grimmelshausen unermüdlich geißeln10. 11 0.2. Zwei Autoren: Biographisches Grimmelshausen und Raabe haben neben gewissen geistesgeschichtlichen Analogien ihrer Epochen sehr viel Vergleichbares in ihrem schriftstellerisches Temperament. Obwohl die Lebensläufe natürlich höchst verschieden und sehr unterschiedlich dokumentiert sind, weisen sie einige parallele Züge auf, die das Schreiben der beiden möglicherweise mitgeprägt haben11. Zum ersten blieben beide trotz großer Begabung literarische Autodidakten ohne Universitätsabschluß, was vor allem für einen bürgerlichen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts sehr ungewöhnlich war. Grimmelshausen wurde durch den Krieg an einer geradlinigen Ausbildung verhindert, während es bei Raabe wohl psychologische Widerstände waren (wie natürlich überhaupt der große biographische Unterschied in Raabes äußerlich ausgesprochen ereignislosem Leben liegt12). Bei beiden ersetzte jedenfalls umso intensiveres privates Lesen die formellen Studien13, und man ist versucht, ihre extensive Zitattechnik mindestens teilweise mit diesem kompensierten Manko zu erklären. Auch die Freiheit des Umgangs mit dem verwendeten Material und der Reichtum unorthodoxer Verknüpfungen sind sicher durch diese unakademischen Lebensläufe gefördert worden, und so gilt auch für Raabe, was über Grimmelshausen gesagt worden ist: beide zählen "zu den wenigen ganz großen, weil originären Lesern unter den Schriftstellern [ihrer] Epoche[n]" (Wiedemann 1976, S.719). Andererseits haben es beide geschafft, sich schließlich eine bürgerliche Existenz zu sichern. Raabe brachte seine Familie trotz unablässigen Klagen über Publikum und Verleger mit Schreiben durch und konnte seinen Vorsatz verwirklichen, die Mitgift seiner Frau nie anzutasten; Grimmelshausen war nach dem Krieg fast zwanzig Jahre lang ein seßhafter Bürger als "Schaffner", Gastwirt, Schultheiß und Erfolgsautor. So gelang beiden, was sie ihren umgetriebenen Heldinnen und Helden oft versagen: die Sicherung der anständigen Existenz in gesellschaftlicher Anerkennung nach wirren Jahren. In auffälligem Widerspruch zu dieser angestrebten und über Umwege erreichten bürgerlichen Sicherheit steht aber eine allgemein kritische Haltung14. Raabes Ausfälle gegen das Bürgertum und das "Säkulum" im allgemeinen sind bekannt, ebenso seine Distanz zur deutschen Selbstgefälligkeit und Kriegsbegeisterung in den Jahren nach 1870/1. Grimmelshausens simplicianische Figuren trauen eigentlich keiner Gesellschaftsschicht, und die Ehe, das Symbol 12 bürgerlicher Lebensstabilisierung schlechthin, gelingt ihnen trotz eifriger Bemühungen denkbar schlecht. Diesen Pessimismus an der Zensur vorbeizuschmuggeln, mag Grimmelshausens Erzählen kompliziert haben15, wie es bei Raabe die Notwendigkeit tat, die ökonomische "Zensur" seiner (Zeitschriften-)Verleger zu überwinden. Raabe steckte in einem trilemma: fidelity to his own artistic originality, desire to affect the public and even be a preceptor to the nation, and the need to earn money from his pen. (Sammons 1992, S.36). Die Lösungen, die er gefunden hat, sind umso bewundernswerter: Es sollte deutlicher gesagt werden, daß die [...] ‘doppelte Buchführung’ Raabes eine hoch zu schätzende Leistung war. In der scharfen Konkurrenz der sich ständig vermehrenden literarischen Produktion des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts war es ein Kunststück, durch Stoff und Form auch notorische Schnell- und Einmalleser zu attrahieren und dennoch Probleme anzudeuten, die [...] unter die Haut gehen. (Stern 1994, S.12). Eine solche zwiespältige Haltung gegenüber der eigenen Lebenswelt, der man kritisch gegenübersteht, obwohl man ihr angehört, in familiäre und politische Verantwortung eingespannt, und in der man auch Erfolg haben will oder muß, trägt in hohem Grad zur erzählerischen Polyphonie bei. Als innere Spannung ist sie Grimmelshausen der spärlichen biographischen Dokumente wegen natürlich kaum nachzuweisen; Raabe deutet sie mindestens an: "Es stecken eine Menge Gegensätze in mir, und seit frühster Jugend habe ich mich selbstquälerisch mit ihrer Analyse beschäftigt." (BAE2, 67), und Georg Lukács hat der Untersuchung dieser Gegensätze den Weg gewiesen: Die Werke entscheiden. Aber die hier gezeigten Widersprüche deuten auf die grundlegende Problematik in der Persönlichkeit und im Schaffen Raabes hin – eine Problematik, die freilich ebenfalls aus der Analyse klargelegt werden muß. (Lukács 1968, S.45). Die kritische Stimme ist also nie die einzige, wird nie polemisch oder plakativ erhoben16, sondern bleibt eine von vielen; konservative und konventionelle Stimmen sind genauso auszumachen. Diese grundsätzliche, sozusagen latente Kritikbereitschaft kann man auch als skeptisch bezeichnen. Gewisse Formen der Weltabkehr in Raabes Leben und Werk – etwa seine Verweigerungen dem modischen Literaturbetrieb gegenüber – muten wie eine moderne Version der simplicianisch-barocken Weltverachtung an (sein Lieblingsausdruck "Säkulum" ist wohl nicht zufällig barock-latinisierend), und sind genauso zwiespältig: man kann bei aller Askese doch nicht von der Welt lassen oder zumindest nicht davon, sich über sie auszulassen. Aber 13 beide Autoren sehen praktisch-konkret, im "Hier und Jetzt", kaum Möglichkeiten, durch ihre Kritik die Welt zu verbessern. Grimmelshausens Gerede von den überzuckerten belehrenden Pillen, die er mit seinen Texten verabreichen will, steht in auffälligem Gegensatz zu den tatsächlichen Lebensläufen, die er schildert. So ist der Rückzug aus der Welt – Georg Lukács hat bei Raabe von "Entsagung" gesprochen (Lukács 1968, S.54f.) – aus sinnlosen politischen, literarischen und anderen Betriebsamkeiten, die letzte Konsequenz der Kritik, aber auch die Haltung, die Kritik erst möglich macht17. 0.3. Zwei Rezeptionsgeschichten Die Rezeptionsgeschichten von Grimmelshausen und Raabe haben wichtige problematische Züge gemeinsam. Einerseits hat die Vielstimmigkeit ihrer Texte wie bei Dostojewskij eine Polyphonie in der Rezeption zur Folge gehabt, in der sich die vertretenen Meinungen gegenseitig relativieren; andererseits sind Mißverständnisse und Einseitigkeiten zu verzeichnen, die bis zum ideologischen Mißbrauch gehen. Theodor Verweyen erstellt eine Liste von Interpretationsansätzen zum Simplicissimus, die irgendein übergreifendes, einheitsstiftendes Prinzip herauszuarbeiten versuchen18 und kommentiert deren Unvereinbarkeit: Die Feststellung [...] daß der rapide Zuwachs des Wissens über den Autor gerade den Verlust seiner ‘Identität’ herbeigeführt habe, ist ebenso paradox wie von beunruhigender Aktualität geblieben. (Verweyen 1990, S.195)19. Allerdings: Vorwürfe gegen die Forschung, die in einem solchen Fall schnell zur Hand sind, wollen sich hier nicht einstellen. Sie scheint weniger die Schuldige, als die Geprellte zu sein. Sie hat solide und angespannt gearbeitet und [...] hat doch kaum integrativ zu wirken vermocht, vielmehr eine merkwürdige dissoziative Kraft freigesetzt, die in der Sache selbst verborgen scheint. (Wiedemann 1976, S.708). Anders gesagt: Es entbehrt nicht der Komik, daß sich die Umkehrbarkeit der Betrachtungsweisen, die in der simplizianischen Schriften vorgeführt wird, auf die Sekundärliteratur [...] übertragen hat. (Bauer 1994, S.111). Grimmelshausen war sich dieser Problematik sehr wohl bewußt. Friedrich Gaede deutet eine Episode im 7. Kapitel des Seltzamen Springinsfeld als "aufschlußreiche[n] Rezeptionskommentar" (Gaede 1978, S.75). Der alte Simplicius narrt das Volk mit seiner "Gauckeltasche" (Spring 14 40ff.)20, einem Buch, auf dessen weißen Blättern verschiedene Dinge erscheinen, je nachdem, welcher "Leser" auf sie bläst. Grimmelshausen hat hier eine kleine geniale Satire auf die Simplicissimusrezeption geschaffen, die jeweils ihr Vorurteil in das Buch hineinbläst, um es als Urteil wieder herauszuholen. (Gaede 1978, S.75). Auch Raabe hat sich über die Art mokiert, mit der Literaturkritiker Literatur für ihre eigenen Zwecke benutzen: Ein wirklicher Autor ist der reine Tintenfisch. Er läßt nach seinem Abscheiden nur einen hartweichen Kern zurück. Der dient den kritischen Vögeln, ihren Schnabel daran zu wetzen. Auch Messer kann man an oder auf ihm putzen. (Hoppe 1960, S.126). Das oxymoronische Adjektiv "hartweich" ist die aufs äußerste konzentrierte Formulierung der Vielstimmigkeit, die so vielen verschiedenen Forschern erlaubt hat, ihre Schnäbel an Raabe zu schärfen und die die Wirkung seines Werks "ebenso mehrschichtig wie seine Arbeitsweise und seine Persönlichkeit" (Oppermann 1970, S.131) gemacht hat. Raabes Formulierung deutet noch eine zweite Problematik an, die seiner und Grimmels-hausens Rezeptionsgeschichte gemeinsam ist. Der nach dem "Abscheiden" zurückbleibende "Kern" enthält bei beiden Autoren – nach jeweils zeitgenössischem Maßstab – relativ wenig biographisches Material21. Dafür gibt es unbestreitbar autobiographische Elemente in den Simplicianischen Schriften, und etliche Erzählerfiguren bei Raabe sind als Projektionen des Autors erkennbar. Dies hat in ungewöhnlichem Umfang biographische Spekulationen ausgelöst und die Diskussion über die Identität von Autor und Erzählerfiguren angeregt. Schließlich hatte Raabe auch mit dem Schnabelwetzen recht. Allzuoft haben sein und Grimmelshausens Werk zu ideologischen Schärfungszwecken herhalten müssen: Die Forschungsgeschichte Grimmelshausens ist [...] insgesamt kein Ruhmesblatt der Germanistik. Bei der Deutung von wenigen Dichtern oder Werken spielte und spielt die jeweils herrschende Ideologie eine größere Rolle. (Mauser 1973, S.52). Karl Jürgen Ringel überschreibt seinen Forschungsbericht von 1971 pointiert: "Ein halbes Jahrhundert Raabe-Ferne durch Ideologie statt Wissenschaft." (Ringel 1971, S.141). Diese Ideologien waren meist konservativer Natur und brachten einseitig gemüthafte, den "Humor" oder das "Volkshafte" überbetonende, verfehlt nationalistische, deutschtümelnde und schließlich kompromißlos nationalsozialistische Interpretationen hervor22. Sie wurden möglich, da im Werk der beiden Autoren konventionelle und subversive Stimmen durcheinander gehen und 15 die Subversivität ein Subtext unter anderen bleibt, den man im Interesse einer ideologisch griffigen Interpretation auch überlesen kann. Grimmelshausens Ruf hat unter solchen Interpretationen nicht gelitten, während bei Raabe eine Wiederentdeckung – vornehmlich unter amerikanischen Germanisten – in vollem Gange ist23. Obwohl Georg Lukács als Einzelner schon 1940 die Spannung zwischen Raabes scharfem kritischen Blick und seiner Verhaftung in der Tradition unter marxistischen Prämissen beschrieben hat, erwiesen sich Vereinfachungen, die allein den gemütvollen, versöhnlichen Humoristen sehen, als sehr dauerhaft24. Dementsprechend gehört heute "die sinngemäße Versicherung, Raabe sei in Wirklichkeit ganz anders gewesen, zu den Exordialtopoi einschlägiger Forschungsbeiträge." (Detering 1990, S.11). Die kritische Polyphonie ist also immer noch im Gang. Bachtins Stimme erklingt darin allerdings noch sehr leise; sein Begriff der Polyphonie ist bisher weder auf Grimmelshausen noch auf Raabe gründlich angewendet worden. Wie Verweyen im oben zitierten Artikel ausführt, ist dies nicht nur deshalb unverständlich, weil das Dialogizitätskonzept des russischen Literaturwissenschaftlers besonders seit der Übernahme und Umakzentuierung in Julia Kristevas Intertextualitätskonzept nahezu den Rang eines literaturwissenschaftlichen Paradigmas gewonnen hat; vielmehr aus dem Grunde, weil sich M. Bachtins Theorie [...] vielleicht für einen neuen Versuch über das Simplicianische Erzählwerk Grimmelshausens und seine ‘Identität’ in besonderer Weise fruchtbar machen läßt25. (Verweyen 1990, S.199). Als einzigen Bachtin-orientierten Grimmelshausen-Interpreten erwähnt Verweyen Michele Bat-tafarano26. Der zitierte Artikel (Battafarano 1979) arbeitet allerdings mit dem anderen, populäreren Hauptkonzept Bachtins: der verkehrten Welt des Karnevals, die in Rabelais and His World beschrieben ist27. Der Blick von unten, den die im Sinne Bachtins karnevaleske Literatur auf die Gesellschaft richtet, ist zwar ein wichtiger Aspekt von Grimmelshausens und Raabes Texten, aber die Anwendung Bachtins kann doch "über solche semantischthematischen Orientierungen hinausgelangen" (Verweyen 1990, S.221, Anm. 21). Dies ist für die vorliegende Arbeit umso wichtiger, als Raabe zwar "von unten" oder mindestens "von außen" erzählt, aber keine karnevalistische, fröhlich-satirische Umkehrung der Welt inszeniert. Die Konzepte von Polyphonie und Dialogizität sind dagegen zentral für eine Analyse der grundlegenden Verwandtschaft der narrativen Symptome, die die Verarbeitung der zeitgeschichtlichen Spannungen in Grimmelshausens und Raabes Werk hervorbringt. In der Raabe-Forschung ist die Bachtin-Lücke beinahe vollständig. Obwohl sein reifes Werk der Epoche angehört, die Dostojewskijs ausgeprägte Polyphonie hervorbrachte und die 16 in Deutschland wie in Rußland vom selben verspäteten und heftigen Einbruch des Kapitalismus gekennzeichnet ist, erscheint Bachtin bisher in Raabe-Studien höchstens passim28. Einzelne Analysen von polyphonen Phänomenen, intertextuellen Bezugnahmen (unter den Stichworten "Zitate", "Parodie" und "Einfluß") und Erzählermanipulationen sind nicht in einem übergreifenden theoretischen Konzept verankert – worden. Auffallend häufig sind allerdings in solchen Studien – wie auch bei Grimmelshausen – die bei Bachtin so wichtigen musikalischen Metaphern29. Daß die interessanteste Verwandtschaft zwischen Grimmelshausen und Raabe, ihr polyphones Erzählen, in der Forschung zu beiden Schriftstellern erst beginnt, Aufmerksamkeit zu finden, erklärt mit, warum der Vergleich noch nie ausdrücklich gezogen worden ist, und die Spezialisierung unter den Germanisten mag das Ihre dazu beigetragen haben: nur drei Autoren (Arendt, Detering und Stern) tauchen in beiden Hauptteilen der Bibliographie zur vorliegenden Studie auf. Daß der Vergleich fällig ist, wird an zwei Dingen ersichtlich. Zum einen gibt es etliche Veröffentlichungen, in denen er sozusagen um Haaresbreite verpaßt wird, indem "zufällig" beide Autoren erwähnt, aber nicht nebeneinandergestellt werden, oder indem dieselben polyphonen "Vorväter" Rabelais, Cervantes und Sterne evoziert werden30. Zum anderen ist eine große Fülle von Material vorhanden, worin verschiedene hier getroffene Feststellungen für jeweils einen Autor erarbeitet werden. Der Versuch, einen Überblick zu gewinnen, gibt dem Folgenden stellenweise das Aussehen eines Forschungsberichts. 0.4. Werke: Themen und formale Aspekte Die Polyphonie, die als Antwort sensibler und kritischer Temperamente auf die Komplexität der geistesgeschichtlichen Situationen gelesen werden kann, in denen Grimmelshausen und Raabe schrieben, hat vielfältige thematische und formale Facetten. Die vorliegende Studie ist nach strukturellen Aspekten gegliedert. Diese formalen Phänomene "entzünden" sich aber an gewissen Themen in besonderem Maße. Dabei ist in allererster Linie der Krieg zu nennen. Der Krieg ist in Grimmelshausens und Raabes Werken konkret und als Metapher fast durchgehend gegenwärtig. Dies erklärt sich nicht allein daraus, daß beide in Nachkriegszeiten31 schrieben, denn neben der zurückblickenden Verarbeitung gäbe (und gibt) es ja auch die angeblich zukunftsorientierte, fortschrittsgläubige Verdrängung. Während Grimmelshausens Leben durch den Krieg allerdings grundlegend geprägt ist32, kennt Raabes Biographie gar kei- 17 ne solchen Erlebnisse33. Um so auffälliger ist seine konstante, beinahe obsessive Beschäftigung mit dem Krieg, der in erstaunlich vielen seiner Werke eine Rolle spielt. In 22 seiner 25 historischen Erzählungen werden ein Krieg oder eine Schlacht verwendet, um einführend die erzählte Zeit zu bestimmen34, wobei der Dreißigjährige und der Siebenjährige Krieg von herausragender Bedeutung sind: Aber da ist noch der Dreißigjährige Krieg, der dem Siebenjährigen vorangeht, und über den kommt kein deutscher Autor in einem historischen Werke, wenn er wirklich etwas sagen will, hinweg, ohne etwas von ihm zu sagen. (BA17, 11). Natürlich sind Kriege als greifbare Symbole und Verdichtungspunkte geschichtlicher Krisen wichtig für historisches Erzählen. Raabe setzt aber auch in anderen Texten häufig Kriege zur Charakterisierung vergangener oder gegenwärtiger Zeiten ein35. Er hat sogar in der kurzen Lebensskizze, die er 1906 einem Herausgeber lieferte, zwei Kriege bemüht, um "wirklich etwas" über sich selber zu sagen: Anno 1862 sah auch ich ein, daß es nicht gut sei, wenn der Mensch allein bleibe, heiratete Fräulein Bertha Emilie Wilhelmine Leiste und zog mit ihr nach Stuttgart. [...] Mit Freude, aber auch mit Wehmut gedenken zwei Greise heute noch an jene junge, gute sonnige Zeit. [...] Achtzehnhundertsiebenzig ging sie zu Ende, nicht durch den Krieg, sondern nach dem Wort im Buch Hiob: Vorüber geht es, ehe man es gewahr wird, und es verwandelt sich, ehe man es merkt. [...] Drei Dinge sind mir persönlich aus meinem Aufenthalt auf der Erde heute, wenn auch nicht die bemerkenswertesten, so doch merk-würdig. Ich komme noch aus den Tagen, wo in meines Vaters Haus an der Weser mit Stein, Stahl und dem "Plünnenkasten" Licht angezündet und Feuer gemacht wurde36. Ich habe einen Herrn gekannt, der noch seinen Zopf trug. Ich habe noch einen Mann gesehen, der im siebenjährigen Kriege mit dabeigewesen war. (BAE2, 469, meine Hervorhebungen). Dies sind sicher nicht zufällige Anekdoten (der letzte zitierte Satz bildet den Schluß von Raabes Text!). Raabe behandelt den Krieg immer völlig illusionslos, als wäre er, wie Grimmelshausen, als "kleiner Mann" selber dabeigewesen. Beide Autoren schreiben ausschließlich aus der Perspektive der Opfer, für die Krieg nicht ein vertret- oder gar wünschbares Mittel zum Zweck ist, sondern ein sinnloses, rein zerstörerisches Phänomen37, das außerdem nicht nur für den Menschen verheerende Folgen hat. So zeigt sich zum Beispiel Raabes Bewußtsein für die Folgen der cartesianischen Wende darin, wie er in der Erzählung Die Innerste auf den Dreißigjährigen Krieg als die Zeit verweist, in der die Natur und ihre Elementarwesen bösartig und "giftig" geworden sein sollen – "sie werden wohl ihre Gründe gehabt haben" (BA12, 109)38. Ähn- 18 lich vergiftet durch im Krieg erlittenes Unrecht sind auch gewisse Frauenfiguren in denjenigen Werken beider Autoren, die den "pragmatischen Nexus der Themen Krieg, Frau, Sünde" (Weydt 1979, S.84) gestalten. Die Anklage solcher Frauen gegen Sünden der kriegführenden Männer – die der üblichen Verdammung verderbter Verführerinnen und Hexen entgegensteht – bildet dabei einen ungewöhnlichen, subversiven Subtext. Als zerstörerisches Symptom der Polyphonie ist der Krieg bei Raabe wie bei Grimmelshausen eine überzeitliche Begleiterscheinung des Menschenlebens, eine geschichtliche Konstante39. Er bricht überall da aus, wo die Vielfalt der Meinungen in Form von ideologischen und Interessengegensätzen so unerträglich wird, daß man sie durch gewaltsames Austragen auszulöschen sucht. Ironischerweise erzeugen solche Versuche, fremde Stimmen auszurotten, eine neue Polyphonie, denn solange er nicht gewonnen und verloren ist, kompliziert der Krieg die Gesellschaft ungeheuer. Er verwirrt ihre Ordnungen und Werte, indem er Straftaten überlebensnotwendig oder Insubordination zur moralischen Pflicht macht, Hierarchien umkehrt, neue Rollen, Schichten40, Berufe und Zusammengehörigkeiten41 schafft. Diese verwirrende Vielfalt zeigt sich in den Texten von Raabe und Grimmelshausen – nicht nur, wenn es um Krieg geht – in der Behandlung von gewissen konventionellen ideologischen und moralischen Standpunkten, die zwar vorgetragen werden, aber von Stimmen durchsetzt sind, die andere Meinungen transportieren. Weltanschauungen, Perspektiven und Standpunkte spielen durcheinander, sind manchmal Satz um Satz gegeneinandergesetzt. Nicht nur die Figuren vertreten unvereinbare Ansichten; die erzählende Stimme läßt offen, wem zu trauen ist und stellt sich nicht immer klar auf die Seite einer Figur oder Figurengruppe. Diese Koexistenz von Sprachen und Diskursen ist nicht immer friedlich; beide Schriftsteller verwenden Krieg (wie Bachtin) auch als Metapher für Auseinandersetzung überhaupt42. Die Polyphonie im Text kann als subversiver Widerstand gelesen werden, der sich überall dort erhebt, wo ein zentraler Diskurs gegen abweichende Meinungen zu Felde zieht. So werden literarische und gesellschaftliche Tabus durch den Einbezug von unüblichen Themen oder Elementen fremder Genres verletzt und der patriarchalische oder bürgerliche Diskurs wird von subversiven (anklagenden oder provozierend unmoralischen) Stimmen durchsetzt. Zu dieser Subversivität gehört auch die auffällige Vermeidung konventioneller Topoi. So fehlt bei Grimmelshausen wie bei Raabe das Ideal der romantischen Liebe praktisch ganz43. 19 Dies entspricht einerseits gewissen Widersprüchen in der Geschichte des Romans: "The novel is a love story, although the greatest examples of the European novel are utterly devoid of the love element" (Bachtin 1981, S.9). Andererseits ist es ein Merkmal der "unteren" Literatur, die sich im Spätmittelalter und auch im Barock von der der Herrschenden unterscheiden läßt44. Zu dieser Einordnung passen auch die grobianischen Elemente bei Grimmelshausen und Raabes sozial- und literaturkritische Verweigerungen gegenüber den Verklärungstendenzen des poetischen Realismus. Auch die Natur wird nicht als bergender Zufluchtsort oder ungefährdeter locus amoenus geschildert, sondern als dem Zugriff des Menschen ausgeliefertes Opfer, genauso wie die Opferperspektive bei der Darstellung der Krieges mit Konventionen dissoniert, indem Heldentum, Heimatliebe und Fortschritt, die er fördern soll, nicht ausgemalt werden. Auch sonst zeigen Darstellungen des Krieges besonders häufig Polyphonie-Symptome, als ob die dem Krieg innewohnende Unberechenbarkeit bei allen Erzählern außer den plattesten Propagandisten ein glattes Beschreiben unmöglich machte. Seine Beschreibung erzwingt stilistische Experimente45: Die gewaltsame Zerstörung der christlichen Weltordnung, die Auflösung aller Werte durch den Krieg, erspart46 auch die literarische Tradition nicht. Die proteischen, facettenreichen Erscheinungen des Monstrums Krieg korrelieren so bei Grimmelshausen [...] mit unterschiedlichen Genre- und Stiltraditionen. (Battafarano 1988, S.58). Die Erfahrung eines Einzelnen kann dem Krieg nicht beikommen, und so sind Montageverfahren sehr häufig. Solche Intertextualität, Polyphonie der Texte, ist ein weiteres formales Merkmal, das Grimmelshausens und Raabes Texte gemeinsam haben. Unpassendes, subversiv Fremdes wird auf verschiedenen Ebenen, in der Form von Zitat und Anspielung auf fremde Werke, Genres und Sprachregister in außerordentlich reichem Maße in die Erzähltexte hereingeholt47, und beide Autoren machen "barock" verschwenderischen, paraphrasierenden und parodierenden Gebrauch vom synonymischen Reichtum der deutschen Sprachen und Stile48. Schließlich ist in der Beziehung der Erzählerfiguren zum Leser Polyphonie über den Text hinaus zu beobachten. Die Komplikationen polyphonen Erzählens werden vielfach thematisiert, indem Ich- und Er-Erzähler als erzählte Figuren ihre Probleme vor dem Leser ausbreiten. Textinterne Leser und Zuhörer, Rahmenerzähler, Herausgeber und Nachlaßverwalter treten sehr häufig auf, und in den Simplicianischen Schriften hängen in einer Art zusammen, die es erlauben, die Handlung um eine Personengruppe durch immer neue Erzähler-Augen zu 20 betrachten. Auch wenn formale Charakteristika des auktorialen Erzählgestus gewahrt bleiben, artikulieren diese Erzähler oft Zweifel an der eigenen Zuverlässigkeit oder suchen diese durch intertextuelle Verweise zu untermauern. Auslassungen, unerklärte Widersprüche und explizite Aufforderungen rufen nach der zusätzlichen Stimme von Leser oder Leserin; subversive Ansichten werden für aktive Rezipienten hörbar oder vorstellbar gemacht, indem verschieden stark determinierte Leerstellen dazu einladen, sie zu ergänzen. Einige besonders avancierte polyphone Erzähltechniken Raabes finden bei Grimmelshausen keine Entsprechung und können deshalb hier nicht besprochen werden49. Zusammen mit Techniken, die auch bei Grimmelshausen zu beobachten sind und im Folgenden analysiert werden sollen (die ambivalente Leserführung, die problematisierten Erzählerfiguren und die Zitattechnik), sind sie immer wieder untersucht und positiv als "modern" gewertet worden (vgl.Auswahlbibliographie 4 im Anhang). Dagegen haben Grimmelshausens Komplexität und Widersprüchlichkeit erst ansatzweise solche Deutungen erfahren, ja sind im Interesse einer spezifisch orientierten Gesamtsicht oft überspielt oder gar ausdrücklich negativ gesehen worden50. Auch die Forschung zu Grimmelshausens Zitattechnik ist, soweit ich sie zur Kenntnis genommen habe, noch nicht weit über die (allerdings sehr umfangreiche) philologische Grundlagenarbeit der Ermittlung ungekennzeichneter Zitate hinausgekommen. Die Zitattechnik steht bei beiden Autoren auch im Dienst einer reichen symbolischallegorischen Dimension, der jene Analysen nicht gerecht werden, die vor allem den vielfältigen mimetischen Realismus der Texte betonen. Für eine Diskussion des besonderen "Realismus" von Grimmelshausen und Raabe, der von "künstlichen", ja verfremdenden Elementen stark kompliziert wird, ist hier aber kein Platz, ebensowenig wie für die Analyse der auffällig entwickelten textimmanenten Poetik, mit der beide Autoren diese und andere Probleme reflektieren. Der Kontrast zwischen diesen formalen Neuerungen und der ansonsten oft fortschritts-skeptischen, im besten Sinne des Wortes konservativen Haltung von Grimmelshausen und Raabe zeigt vielleicht am deutlichsten die fundamentalen Spannungen, denen ihr Leben und Schreiben ausgesetzt war51. In der vergleichenden Untersuchung unter dem Aspekt der dreifachen Polyphonie (Polyphonie im Text, Polyphonie der Texte, Polyphonie über den Text hinaus) sollen sich die Werke mit ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten wechselseitig erhellen, wobei gewisse Aspekte des sehr reichen Materials jeweils nur angedeutet werden können. Dabei werden nicht abschließende Aussagen über einzelne Texte angestrebt (auch 21 wenn der erste Hauptteil aus der ausführlichen Analyse von zwei Erzählungen besteht), sondern Ansätze zu einer allgemeinen erzählerischen Physiognomie der Autoren. Damit hoffe ich einen Beitrag zu einer umfassenderen Deutung von Raabes und Grimmelshausens Werk zu leisten. 22 Kommentar zu den besprochenen Werken Der Ansatz der vorliegenden Studie würde idealerweise eine eingehende Betrachtung des Gesamtwerks beider Autoren verlangen, was im gegebenen Rahmen unmöglich war. Von Grimmelshausen wurden ausschließlich "simplicianische" Schriften beigezogen, vor allem diejenigen, die Grimmelshausen selber als zusammengehörig bezeichnet hat, d.h. Simplicissimus samt Continuatio, Courasche, Springinsfeld und Das Wunderbarliche Vogelnest. Varianten wie der "Ba-rock-Simplicissimus" von 1671 sind nicht berücksichtigt. Bei Raabe besteht die Auswahl unter seinen 68 Erzähltexten aus dem, was mir aufgrund bisheriger Lektüre relevant erscheint, wobei ich aus den reifen Werken der Braunschweiger Zeit nach 1870 einige wegen thematischen Verwandtschaften mit Grimmelshausen interessante Texte bevorzugte. Die frühen Romane samt der "Stuttgarter Trilogie" (Der Hungerpastor, Abu Telfan, Der Schüdderump), die bis vor einigen Jahren Raabes Popularität ausmachte, sind dagegen nur am Rande berücksichtigt. 1. Polyphonie im Text - the power of telling rather than being told JANE SMILEY - Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen Weil der Augenblick, in dem das Wort glücklich ausgesprochen wird, niemals der glückliche Augenblick ist. [...] Weil die Wörter zu spät kommen, oder zu früh. Weil es also ein anderer ist, immer ein anderer, der da redet, und weil der, von dem da die Rede ist, schweigt. HANS MAGNUS ENZENSBERGER Michail Bachtin beschreibt Iwan Karamasows großen Monolog, der die Legende vom Großinquisitor enthält, als "a monologue about a dialogue that is shot through with other voices" und fährt fort: None of these voices is louder than that of Christ, whose silence indicates the superficiality of the mechanical, phonic aspect of what we normally call voice. (Clark 1984, S.241). 23 In einem durchgehenden Text können also fremde, widersprüchliche, dialogisierende Stimmen vernehmbar gemacht werden, ohne daß sie akustisch oder schwarz auf weiß, mit Anführungszeichen oder Inquit-Formeln, gegenwärtig wären52. Karl Gutzkow hat den "Roman des Neben-einander" beschrieben, in dem "die Menschen, die zu einer erzählten Geschichte gehören, und die, die ihr eine widerstrahlte Beleuchtung geben" (zitiert nach Plumpe 1985, S.212) vorkommen. In Texten von Raabe, der Gutzkow schätzte, sind solche "Beleuchtungen" sehr häufig. In meiner persönlichen Erfahrung ist das Resultat, ähnlich wie die Diskussionen unter Dostojew-skijs Figuren, gelegentlich anstrengend oder enervierend zu lesen; die Leseerfahrung entspricht den Schwierigkeiten des Lebens in einer unübersehbar vielstimmigen Welt, die der Text abbildet. Dabei wird ein Problem der musikalischen Metapher "polyphon" oder "mehrstimmig" sichtbar: selbst wenn man auch von "Dissonanz" (Martini 1981, S.693) sprechen kann, weckt sie doch in starkem Maße Vorstellungen von Harmonie und Zusammenwirken. Oft kann aber von solchem friedlichen Sich-Ergänzen nicht die Rede sein; eher ist ein sorgfältig inszenierter Machtkampf ums Wort im Gang – denn Erzählen ist Macht. Dieser Aspekt der Mehrstimmigkeit wird in Courasche und Springinsfeld besonders deutlich. Raabe wie Grimmelshausen haben ihre polyphone Kunst allmählich entwickelt; beide beginnen mit einem Experiment, das verschiedene Stimmen blockweise nebeneinander stellt. Grimmelshausens erstes gedruckte Werk, der Satyrische Pilgram von 1667, präsentiert zu zwanzig ausgewählten Themen53 je "Satz", "Gegensatz" und "Nachklang" (eine weitere musikalische Metapher!), die von jedem Gegenstand alles Gute, alles Schlechte und drittens des Autors "Unmäßliche Meinung" (Pilgram 13) berichten. Damit zeigt dieser "Schwellentext [...], daß die Welt zu komplex geworden ist, um weiterhin auf binäre Schemata reduziert zu werden." (Bauer 1994, S.94). Das (noch) Skandalöse eines solchen Vorgehens ist im Vorwort angesprochen: Die jenige so kalt und warm aus einem Munde blasen: [...] und zugleich ein Ding schelten und loben dürffen [...sind] iederzeit so veracht als verhasst gewesen. (Pilgram 13). Im ein Jahr darauf erscheinenden Simplicissimus sind dann in einer erstaunlichen Entwicklung nicht mehr bloß "Schwarz und Weiß" (Simpl 96) konfrontiert, sondern unzählige "Farben" und Stimmen integriert. In der Courasche ist dann ein raffinierten Höhepunkt erreicht, wo in der Erzählung einer einzigen und scheinbar sehr parteiischen Stimme antagonistische Anschauungen einander beleuchten. 24 In Raabes polyperspektivischer Erzählung Drei Federn, die er als sein "erstes selbständiges Werk" (zitiert nach Martini 1981, S.704) bezeichnet hat, sprechen drei Personen "unter völligem Verzicht auf eine übergeordnete Erzählinstanz" (Oppermann 1970, S.72) in nacheinander angeordneten Berichten. Wie im Satyrischen Pilgram entsteht kein integrierter Text, da Raabe die "Form des polyperspektiven Erzählens [...] mit seinen Erzählmitteln" (Martini 1981, S.703) noch nicht bewältigt. Im reifen Werk wird dann die mehrfache Perspektive zu einem Hauptkennzeichen seines Stils. 1.1. Erzählen im Krieg - Wir haben eben hievon erzählt wie von einem Gespräch zwischen zweien und dreien; aber dem war nicht so für die, welchen damals ihren Jammer austauschten durch Wort, Tränen und Seufzen. Der ganze große Krieg redete mit hinein, und zwar von Augenblick zu Augenblick grimmiger. WILHELM RAABE Angesichts der literarischen Polyphonie, die der Krieg hervorbringt, ist erwähnenswert, daß sich Grimmelshausen und Raabe nie polyphon bzw. ambivalent über ihn äußern. Abscheu und zugleich resignierte Erkenntnis, daß er eine geschichtliche Konstante bilde, sind immer klar, und nie werden Vorstellungen wie Heroismus, Patriotismus oder auch nur Pflichterfüllung oder politische Zweckmäßigkeit mit ihm in Verbindung gebracht54. Ob die "getrillten" Bauern bei Grimmelshausen von kaiserlichen oder schwedischen Truppen überfallen werden, macht für sie keinen Unterschied; die Erwägungen der Feldherren, Strategen und Profiteure kommen nicht in das Gesichtsfeld der kleinen Leute, die ihretwegen sterben. Einige dieser Kleinen schaffen es zwar, in der Verwirrung der Zeiten sonst unmögliche Karrieren zu machen, indem sie sich den Großen anschließen oder ihre gewaltsamen Methoden übernehmen. Die meisten aber sind hilflose Opfer, die die Ziele und Interessen der kriegführenden "Großen" kaum durchschauen, geschweige denn beeinflussen oder für sich ausnutzen können. Auch Raabe hält sich in seinen historischen Erzählungen an die Ränder der Geschichte55. Er betrachtet die Ereignisse nicht nur von unten, sondern vermeidet auch "große" Schlachten, da in der Konnotation "welthistorisch" schon ein erster Ansatz zur Glorifizierung des Krieges liegen könnte: There is no counterpart in [Raabe’s] works to Tolstoy’s description of Borodino or Hugo’s panorama of Waterloo. His scenes tend to be secondary or even [...] trivial epi- 25 sodes in larger conflicts, a device that naturally intensifies the pathos and futility of these events. (Sammon 1987, S.122). Entsprechend der Vermeidung "großer" Ereignisse werden auch große Worte vermieden. Explizite Anklagen sind selten formuliert, ein Ruf wie "Nie wieder Krieg" undenkbar. Die wirkungsvollste Kritik am Krieg geschieht über die Beschreibung seiner Auswirkungen auf die Menschen, und diese Beschreibungen beziehen ihre Kraft außerdem hauptsächlich aus Brechungen und Auslassungen. So beginnt die bekannte Beschreibung des Überfalls auf den Bauernhof im Spessart mit dem angeblichen Widerwillen, diese Gräßlichkeiten überhaupt zu beschreiben: Wiewol ich nicht bin gesinnet gewesen / den Friedliebenden Leser / mit diesen Reitern / in meines Knans Hauß und Hof zu führen / weil es schlimm genug darinn hergehen wird: So erfordert jedoch die Folge meiner Histori / daß ich der lieben posterität hinderlasse / was vor Grausamkeiten in diesem unserm Teutschen Krieg hin und wieder verübet worden. (Simpl 17). Was die anschließende Schilderung eindrücklicher macht, als es jede flammende Anklage könnte, ist die naive Kinderstimme, die ohne zu verstehen berichtet, wie die Männer gefoltert und die Frauen geschändet werden. In der Schilderung der Qualen des Vaters, dem eine Ziege die salzbestreuten Fußsohlen leckt, klingt auf beinahe unerträgliche Weise der Zynismus des Folterers an: In Summa / es hatte jeder seine eigene invention, die Bauren zu peinigen [...]: Allein mein Knan war meinem damaligen Beduncken der glückseeligste / weil er mit lachendem Mund bekennete / was andere mit Schmertzen und jämmerlicher Weheklag sagen musten / und solche Ehre widerfuhr ihm ohne Zweiffel darumb / weil er der Haußvatter war (Simpl 19)56. Weitere Mißhandlungen werden der Phantasie des Lesers überlassen, der sich mit Grauen mehr vorstellen kann als das erzählte Ich: Von den gefangenen Weibern / Mägden und Töchtern / weiß ich sonderlich nichts zu sagen / weil mich die Krieger nicht zusehen liessen / wie sie mit ihnen umbgiengen. (Simpl 19). Dieser Text bezieht seine große Wirkung aus der Spannung zwischen verschiedenen Stimmen, nämlich dem Erzählinhalt, der Stimme, die ihn übermittelt, den anderen Stimmen, die diese Kinderstimme unfreiwillig evoziert, und den Ergänzungen, zu denen ihr mangelhaftes Verständnis den Leser zwingt: "This deliberate device of not understanding [...] functions in a way that it de-unifies the official language from below." (Sanden 1987, S.48). "Zwingen" scheint mir hier ein angemessenerer Ausdruck als das sonst gern gebrauchte "auffordern" oder 26 "anbie-ten", mit dem die Rezeptionstheorie üblicherweise solche Gesten beschreibt. Die Vielzahl der Stimmen bedeutet ja nicht, daß der Leser frei ist, "auf keiner Seite Partei [...] sondern auf jeder sein Vergnügen" (BA11, 309) zu nehmen. Das (moralische) Urteil ist zwar nicht ausgesprochen, aber als klar determinierte Leerstelle in den Text eingeschrieben. Der Leser wird doppelt aktiviert: einmal hat er sich die nur indirekt evozierten Greuel vorzustellen (ähnlich am Ende des 14. Kapitels), und dann ist es auch seine Sache, die entsprechende Anklage zu formulieren. Der Erzähler spricht das sich aufdrängende Urteil auch deshalb nicht aus, weil er auch zu berichten hat, wie er selbst mitschuldig geworden ist: "mitten in diesem Elend" (Simpl 19) hilft der ahnungslose Bub den Räubern Pferde tränken und Braten wenden. Diese Mitschuld der Erzähler ist nicht nur hier spürbar; die Kritik am Krieg, zu der der Leser aufgefordert ist, ist bei Grimmelshausen oft auch Selbstkritik; die Erzähler – und die Leser – gehören mit zu der beklagten und verspotteten Welt57. Bei Raabe äußern sich die Verwirrungen des Krieges ebenfalls in Vielstimmigkeit; so etwa in Höxter und Corvey, wo sich der Erzähler gleichsam vervielfacht, um eine Mord- und Brandnacht von einer Vielfalt von räumlichen und zeitlichen Standpunkten aus nachfühlbar zu machen. Er spricht nicht nur als auktorialer Erzähler im Imperfekt, sondern auch als realer Autor im Präsens von 1874 ("Es sind also gerade ungefähr zweihundert Jahre seit jenem Wintertage vergangen" (BA11, 261), als neutrale Erzählinstanz im historischen Präsens ("Großmutter und Enkelin sitzen an diesem Tisch einander gegenüber" BA11, 288), als Regisseur oder vor Ort gegenwärtiger Reporter mit dem Leser an der Hand im Präsens von 1673 ("wir warten auf einige Leute, die da kommen werden, um sich nach Huxar übersetzen zu lassen" (BA11, 263)), und als "Leser" ("wir malen uns in der Phantasie aus, wie sie vor dem Hause stand" (BA11, 287)) in einer nicht genau definierten "Lesegegenwart". Die chaotischen Ereignisse lassen ihn bedauern: "Zerrreißen, um an zwei Orten zugleich sein zu können, konnten wir uns leider nicht." (BA11, 307), aber auch wenn er nur immer von einem Ort berichten kann, ist er sich der Vielfalt ständig fast resigniert bewußt: Vermeintlich beständig bestrebt, seiner Pflicht als orientierungssicherer [...] Herr der Erzählung gerecht zu werden, scheint der Erzähler doch selbst mühsam um Orientierung zu ringen, gelegentlich gar an der Zumeßbarkeit ethischer Maßstäbe irre zu werden. (Schrader 1989, S.205f.). Es bleibt also wiederum dem Leser überlassen, moralische Schlußfolgerungen zu ziehen. Auch am Schluß seines letzten vollendeten Werks, der Erzählung Hastenbeck aus dem Siebenjähri- 27 gen Krieg, verzichtet Raabe auf eine abschließende Moral. Stattdessen erklärt die Wackerhahnsche, eine alte Marketenderin, warum sie nicht zu ihren ehemaligen Schützlingen Pold und Immeke ziehen will, die dank ihr heiraten konnten und eine Familie gegründet haben: "Die Hexe aus dem Landwehrturm, die nur ein totes Kind zu eigen auf dem Arm getragen [vgl. Anm. 65], nie eines gewaschen, getrocknet, gekämmt, gefüttert hatte, was für Großmuttergeschichten hätte die deinen Kindern zu erzählen gewußt, Immeke? Blut an den Schuhen, Blut hoch am Rock hinauf – [...] Ihr müßt mich lassen, wo ich bin. [...] Gottes Wunderwagen ist ein kurioser Wagen; hier bin ich von dem Fuhrmann abgeladen worden, wie er mich hat werden lassen. Wer will mit ihm rechten? Ich nicht!" (BA 19, 199). In dieser Bilanzziehung eines Frauenlebens im Krieg hört man das Eingeständnis eigener Schuld genauso wie die Klage über erlittenes Leid, und der Leser hat sich seinen eigenen Reim darauf zu machen: It would have been easy, too easy, to write a sermon at the close of Hastenbeck, championing the cultural arts of peace against the folly and cruelty of war, but Raabe refrained and left it to his readers to write their own sermon, if they chose, since they could do it quite as well as he. (Fairley 1959, S.85). Viele Rezipienten haben sich allerdings keine "Predigt" ergänzt, sondern Raabe als Patrioten zurechtgelesen. Seit dem Erscheinen 1898 gab es Interpretationen, die aus diesem komplexen Text (vgl. Ringel 1970, S.141-167) den leidenschaftlichen Patrioten Raabe sprechen hören wollten, und von ähnlichen Verdrehungen ist auch bei den im folgenden besprochenen Texten über Frauen im Krieg zu berichten. 1.2. Frauenerzählung und Männerstimmen Als großer Vervielfältiger und Verkehrer der Welt greift der Krieg in weibliche Lebensläufe besonders komplizierend ein. Er reißt Frauen aus der häuslichen und familiären Welt heraus, in der sie im 17. wie im späten 19. Jahrhundert zumeist leben. Um zu überleben, sind sie zu unkonventionellem Verhalten gezwungen: nach gewaltsamen Erfahrungen im Krieg werden sie manchmal selber gewalttätig oder ergreifen sonst verpönte oder nicht gegebene Möglichkeiten zur Selbständigkeit, zu Macht- und Lustgewinn. Der Krieg bildet daher einen geeigneten Erzählhintergrund für eine offene, ja verständnisvolle Darstellung von weiblichen Gestalten, 28 die sich außerhalb des gesellschaftlich Erlaubten bewegen, da solche "unweiblichen" oder "unsittlichen" Verhaltensweisen hier noch am ehesten verständlich sind. Aber es bleibt bei aller Glaubhaftigkeit der Kriegsfolgen ein heikler, ein subversiver Gedanke, daß eine "verdorbene", "gefallene" Frau Anhörung oder gar Mitgefühl verdienen könnte. Der konventionelle männliche Diskurs über Frauen, Männer und ihre Beziehungen zueinander, der über Jahrhunderte vorgeherrscht hat, stellt stark ausgeprägte Topoi für die Verurteilung von Frauen bereit, die konventionellen (männlichen) Vorstellungen von gesellschaftlich wünschenswerter Weiblichkeit nicht entsprechen; solche Gestalten selbst zu Wort kommen zu lassen, war fast immer heikel. Unter gewissen entschuldigenden Umständen, wie etwa im Krieg, ist es eher möglich, und eine unterschwellige Distanz zu herrschenden Vorurteilen (die oberflächlich gesehen durchaus vorrangig dargestellt sind) ist dann besonders interessant zu verfolgen. Dies gilt auch für zwei in Länge und Thematik gut vergleichbare Texte von Grim-melshausen und Raabe: Courasche und Die Innerste gehen in vergleichbarer Weise mit der uralten Mehr- und Mißstimmigkeit zwischen den Geschlechtern58 um und mit den Spannungen, die das Thema der sittenlosen Frau im (Dreißig- bzw. Siebenjährigen) Krieg hervorruft. Ihre Analyse soll daher exemplarisch für das polyphone Erzählen beider Autoren stehen. Für beide Texte gilt, was Jeffrey Sammons über Raabes Frauendarstellungen im allgemeinen schreibt: Raabe has doubtlessly not looked like a very fruitful topic for feminist inquiry59, though here, too, one might discover that curious split between the conventionality of his opinions and the more liberated imaginativeness of his figurations. (Sammons 1992, S.96) Diese "merkwürdige Spaltung" (Irmgard Roebling bezeichnet Raabes reife Romanform geradezu als "Spaltungsroman" (Roebling 1988)) herrscht ebenso bei Grimmelshausen. Die konventionellen "opinions" bestimmen oberflächlich gesehen den Text, in dem die tatsächlich vorgekommenen verdammenswerten Missetaten und Ausschweifungen (vor allem in Courasche) und die zwiespältigen Gefühle, die diese bei Männern auslösen (vor allem in Die Innerste60), ausführlich beschrieben werden. Beide Heldinnen werden von den Texten, die sie erstehen lassen – wie auch von konservativeren Literaturkritikern – verurteilt. Dagegen ist der subversive Standpunkt der schlimmen Frau, die sich rechtfertigt, immer wieder in Anspielungen und Einsprengseln als ein Subtext, als zusätzliche Stimme gegenwärtig. Ihn bringt eine wohl teilweise unbewußte "more liberated imaginativeness" des Autors hervor, weshalb er 29 nur indirekt formuliert werden kann oder darf, und leicht zu überlesen ist. Sein Inhalt könnte etwa so formuliert werden: Die "wilde" oder verwilderte Frau ist gefährlich und bösartig, weil ihr Leid getan worden ist. Ihr unheimliches Verdorbensein, ihre scheinbare Seelenlosigkeit und ihre unnatürliche Vermännlichung sind nicht mut- oder freiwillig; sie rühren nicht daher, daß die Frau elementar oder dämonisch triebhaft ist, sondern sind Männer-Schuld. Ein liebender, treuer Mann könnte die Frau vor der Verwilderung bewahren oder wieder erlösen. Diese (an-)klagende Stimme wird immer wieder direkt oder indirekt hörbar, ist aber auch immer eingerahmt, bedingt, überlagert und durchsetzt vom "männlichen", "konventionel-len" Sprechen, das die erwähnten Vorurteile, Klischees, moralisierenden (Ab-) Wertungen und Schuldzuweisungen den Frauen gegenüber transportiert. In diesem Hin und Her wird die Zwiespältigkeit der Autoren diesem Thema gegenüber manifest. Dies zeigt sich deutlich in den Anfängen der beiden Erzählungen, die berichten, wie denn die "gefallenen" Frauen zu dem geworden seien, was sie sind, und damit die zentrale Schuldfrage ansprechen. Die ersten Seiten von Raabes Text klingen dabei wie eine Erklärung zum resümierenden Rückblick, den Courasche im ersten Kapitel auf ihr Leben hält. Sie erzählt im weiteren ausführlich den Verlauf ihrer frühen Jahre, wie Raabe umgekehrt das schlimme Leben von Doris Radebrecker, die nach dem gefährlichen Fluß, an dem sie wohnt, "Die Innerste" genannt wird, bis zum Ende verfolgt. Bei aller Verschiedenheit des Tones ergänzen diese Anfänge einander auf die seltsamste Weise. Grimmelshausen setzt mit der angriffigen, scheinbar zynischen Verteidigung ein, Raabe liefert die Vorgeschichte und deutet den mildernden Umstand der Männer-Schuld an. Beide Eröffnungen führen zunächst das typische männliche Sprechen über die (gefallene) Frau vor. Dabei wird nicht nur von der Titelfigur berichtet, sondern über sie geredet und vor allem geurteilt. Dieses Urteilen wird sofort thematisiert und damit potentiell hinterfragt; so kommt die männliche Rede von Anfang an dominant, aber nicht allein daher und ist so echt gesprochenes Wort im Sinne Bachtins: "Forming itself in an atmosphere of the already spoken, the word is at the same time determined by what has not yet been said but which is needed and in fact anticipated by the answering word." (Bachtin 1981, S.280). In Courasche wird die verurteilende männliche Gesellschaft sogar personifiziert und durch direkte Anrede in den Text hereingeholt: Ja! (werdet ihr sagen / ihr Herren!) wer solte wol gemeint haben / daß sich die alte Schell einmal unterstehen würde dem künfftigen Zorn Gottes zu entrinnen? (Cour 13). 30 Die Herren sitzen also, Gottes Zorn vorwegnehmend, über Courasche zu Gericht. Bei Raabe erfolgt die Anklage indirekter, aber auch hier ist bei der moralischen Wertung vordringlich von der öffentlichen Meinung die Rede. Die konventionelle Sicht der Frau hat ja viel mit dem zu tun, was über sie gesagt werden könnte – man berichtet also nicht nur (meist übertreibend), was sie Verwerfliches getan hat, sondern vor allem, was darüber geredet werde. Das Besprochenwerden ist gleichsam potenziert, erfolgt aber vorerst nur metaphorisch, indem der verschmutzte Fluß als "Fräulein" apostrophiert wird: Es waren drei Fräulein vor etwa hundertzwanzig Jahren, und sie leben heute noch und heißen die Lein, die Ihme und die Innerste. [...] Die Innerste war die schlimmste. [...] Die Stadt Hannover hat zweifelsohne mancherlei zu erzählen von ihrer übeln Laune und Heimtücke. [Es sind] die schlimmsten Gerüchte von ihr im Schwange. (BA12, 103f.). Mit Raabes charakteristischer Engmaschigkeit der Widersprüche wird aber auch schon angedeutet, daß diese Gerüchte übertrieben sein könnten und daß die "Natur" einer Frau auch ursprünglich gut sein könnte: Es war ein gut Stück Verleumdung in jeglichem landläufigen Diktum. Die Leine war nicht besser als sie war, aber von Natur aus war sie jedenfalls besser als ihr Ruf. (BA12, 103). Außerdem wird der zu vertretende Standpunkt in einem typischen Erzähler-Rückzug schon im zweiten Satz im voraus relativiert: "Wer da meint, daß es anders hätte zugehen können, der erzähle es anders." (BA12, 103). "Die Innerste" kommt vorläufig nicht selbst zu Wort; Courasche dagegen schleudert ihren schlechten Ruf sofort als Angriffswaffe zur bessern Verteidigung den Anklägern entgegen. Wie Matthias Bauer schreibt, ist die Ausgangslage dieses Textes eine "dialogische und antagonistische Situation" (Bauer 1994, S.110). Dies hat nicht nur mit Simplicius zu tun, dem "zum Trutz" sie ihre Lebensbeschreibung veröffentlicht, sondern mit dem männlichen Publikum, an das sie sich vorwiegend wendet und dessen Sichtweise sie selber ausspricht, um sie zu bekämpfen. 31 1.3. Männerstimmen sprechen aus Courasche Die männlich-moralisierende Sichtweise ist nämlich mehr als nur eine feindliche Ansicht, sondern dominiert Courasches eigenes Sprechen; der Antagonismus liegt geradezu in der Figur. Daß der ganze Text ein Monolog Courasches ist, bedeutet nämlich noch nicht unbedingt, daß durchwegs ihre eigene Stimme zu Gehör kommt, wie etwa Siegfried Streller behauptet61, oder daß moralische Vorbehalte gegen ihr Leben nicht vorgebracht würden. Sie beginnt mit Worten, die über sie gesagt werden könnten, und auch ihr weiteres Erzählen ist ganz vom männlichen Diskurs über Frauen durchsetzt, voll von, in Bachtinscher Terminologie, "the speech of another" (Bachtin 1981, S.303)62. "Dialogue may be external (between two different people) or internal (between an earlier and a later self)" (Bachtin 1981, S.427) und kann auch zwischen zwei gleichzeitig existierenden Mentalitäten oder Ansichten in einer Person stattfinden. Linda E. Feldman hat für dieses weibliche Sprechen, das eigentlich Männer-Rede ist, weil es männliche Vorurteile transportiert, die Bezeichnung "Bauchreden" vorgeschlagen: Such ventriloquism63 originates, I suggest, in the acute tension existing between the allegedly free narrative of Courasche and the concatenation of male authority, as represented by the secretary-publisher-autor, framing her text. (Feldman 1991, S.74) Am Beginn steht also die Vorwegnahme der angenommenen männlichen Beurteilung des autobiographischen Unternehmens. Daß Courasche erzählen will, wird mißtrauisch betrachtet. Die "Herren" unterstellen ihr sofort bestimmte Motive (Buße und Reue), die ihre eigene Sicht dieser Frau bestätigen würden, und Courasche ist gezwungen, dies zu referieren. Indem sie ihren Lebensbericht so auffällig mit den (hier noch erkenntlich zitierten) Stimmen unfreundlicher Anderer beginnt, wird aber dieses Bauchreden wie das Verurteiltwerden auch thematisiert und damit in Frage gestellt. Wie bei Raabe, allerdings mit einer andern Technik, wird vor dem Kommenden gewarnt: auktorialer Erzähler und Ich-Erzählerin sind einseitig vom männlichen Diskurs geprägt und daher nicht völlig zuverlässig. Typisch für diese männliche Stimme, die vorwiegend aus Courasche spricht, während Raabe, dessen Titelfigur selten in direkter Rede zu hören ist, sie männlichen Nebenfiguren überträgt, sind unter anderem "masculine rationales for rape" (Feldman 1991, S.74), das heißt Darstellungen von Vergewaltigung als verdiente Demütigung oder sexueller Hochgenuß für die unterworfene Frau. Das erste wird im 12. Kapitel hörbar, wo sich eine Gruppe Offiziere drei Nächte lang an Courasche "müd gerammelt" hat und Courasche erst zu "lamentieren" an- 32 fängt, als auch noch die Knechte "vor der Herren Angesicht" drankommen sollen: "Ich hatte bißher alles mit Gedult gelitten / und gedacht / ich hätte es hiebevor verschuldet" (Cour 62). Im 6.Ka-pitel dagegen klingt die klassische Rechtfertigung des Vergewaltigers an: "Sie wollte es auch". Courasche wird von elf Reitern aufgegriffen und behandelt, "wie zu geschehen pflegt / welches mir zwar der schlechteste [= geringste] Kummer war". Daß dies nicht die ganze Wahrheit ist, hört man allerdings an der schadenfreudigen Fortsetzung: "Es wurde ihnen geseegnet / wie dem Hund das Gras / dann in dem sie ihre Viehische Begierden sättigten / wurden sie [...] überfallen." (Cour 35f.). In Erweiterung von Feldmans Ansatz lassen sich auch Courasches Unverschämtheiten im Sinne von "Ich bereue nichts" zu ihrem Bauchreden rechnen: in bitterer Herausforderung nimmt sie das Schlimme, das man von ihr sowieso sagt, vorweg und macht es mit verhärteter, "unweiblicher" Reuelosigkeit noch schockierender. Hierher gehören etwa die abwertenden Beschreibungen ihres von Alter, Ausschweifung und (Geschlechts-) Krankheit gezeichneten Gesichts, dessen Häßlichkeit als Strafe erscheint, obwohl die Tatsache, daß es nicht mehr verführerisch wirkt, nur im Zusammenhang mit lüsternen Männern ein Problem darstellt. Vermännlichung tritt hier in doppeltem Sinne ein: einerseits scheint Courasche für eine Frau ungewöhnlich hartgesotten und zynisch, andererseits übernimmt sie die männliche Beurteilung ihres eigenen Lebenslaufes. Auch Doris Radebrecker hat "eine fast männlich breite Stirn" (BA12, 155) und singt "das alte Harzschützenlied aus den Kriegen des vorigen Säkulums" (BA12, 161), d.h. aus dem 30jährigen Krieg (vgl. Anmerkungen in BA12, S.519), das "seltsam zu hören [ist] aus einem Weibermunde." Mit ihrer unzerstörbaren Spottlust entkommt sie sogar der Folter: "Als sie ihr mit der Tortur drohten, hat sie gelacht und sich wirklich davon weggelacht." (BA12, 181). Diese Vermännlichung (die als unnatürlich verdammt wird64) kann man auf den verderblichen Einfluß der Männer zurückführen, die Courasche und Doris nicht bloß äußerlich beherrschen, sondern auch ihr Denken und ihre Selbsteinschätzung so dominieren, daß ihnen nur Zynismus offenbleibt. So ist ihr "Bauchreden" als Folge des von Männern angezettelten und auch außerhalb der Schlachtfelder brutal geführten Krieges eine Anklage gegen die Kriegführenden65. Da es sich aber auch um den "Krieg der Geschlechter" handelt, ist die Anklage offenbar heikel – jedenfalls wird die Vorführung der verdorbenen weiblichen Stimme eingerahmt, vorbereitet und abgefedert durch eindeutig männliche Einführungen. "Ja! (werdet ihr sagen / ihr Herren!)" ist ja nicht der eigentliche Anfang der Courasche. 33 1.4. Männerstimmen schaffen den Rahmen Wie alle anderen Simplicianischen Schriften ist auch Courasche in zeitüblicher Form mit ausführlichen Paratexten versehen, die ebenfalls an der polyphonen Animosität, die den Erzähltext prägt, teilhaben66. Zunächst steht der lange Titel, in dem die auch Urheber des Textes identifiziert werden: Trutz Simplex: / Oder / Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung / Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche / Wie sie anfangs eine Rittmeisterin / hernach eine Hauptmännin / ferner eine Leutenantin / bald eine Marcketenderin Mußquetiererin / und letzlich eine Ziegeunerin abgegeben / Meisterlich agiret und ausbündig vorgestellet: eben so lustig / annemlich und nutzlich zu betrachten als Simplicissimus selbst. alles miteinander Von der Courasche eigner Person dem weit und breitbekannten Simplicissimo zum Verdruß und Widerwillen / dem Autori in die Feder dictirt, der sich vor dißmal nennet PHILARCHUS GROSSUS von Trommenheim / auf Griffsberg. gedruckt in Utopia / bei Felix Stratiot. (Cour 5). Hier wird Courasche als noch im Trotz von einem Mann bestimmte Verbrecherin eingeführt, und der Rest des Titels "defines Courasche in terms of her mates" (Feldman 1991, S.65). Diese Liste von Ehen zeichnet eine Linie nach, die der Romantext in dieser vereinfachten Form nicht bestätigt. Jedenfalls entspricht der soziale Abstieg in der ersten Hälfte der Erzählung nicht einfach dem moralischen. (Meid 1984, S.158f.). Der Titel macht also die Heldin schlechter, als sie ist. Dies mag der Sensationsgier des Lesers Genüge tun wollen; es beeinflußt aber unvermeidlich auch seine Interpretation des Folgenden. Vielleicht soll der seltsam offene Schluß durch die Andeutung von poetischer Gerechtigkeit im voraus getarnt werden. Courasche ist ja am Ende des Romans nicht "am Ende", d.h. in der Gosse gelandet oder gar elend gestorben, obwohl sich das in einem warnenden Nachwort gewiß recht eindrücklich anbringen ließe. Im Gegenteil, sie herrscht als Matriarchin über eine ziemlich erfolgreiche Zigeunerbande (wie auch Doris Radebrecker unter dem Räubergesindel in ihres Vaters Mühle "wie eine wilde Königin" (BA12, 166) obenan sitzt), und hat den frommen Simplicius wirkungsvoll diffamiert: "Simplex zu blamieren, ist die Autobiographie in der Tat geeignet." (Weydt 1979, S.83). Dieser "unpädagogisch" unkonventionelle Ausgang mag weniger auffallen, wenn die Lektüre vom Eindruck des Titels geprägt ist. Der Rest sind konventionelle Anpreisungen, die mit dem "utile dulci"-Topos und dem Hinweis auf den vorausgegangenen Bestseller allerdings sehr an einen modernen Klappentext erinnern, und schließlich sind Urheber, Verleger und Druckort angegeben. Das Pseudonym 34 des Autors, der hier als "ghostwriter" auftritt, ist als solches gekennzeichnet, aber durch den Druck als wichtiger hervorgehoben als der Rufname der Erzählerin, die als "Ertzbetrügerin" sowieso verdächtig ist. Courasches Stimme wird so im voraus abgeschwächt und diffamiert. Auf die Titelseite folgen der Kupfer mit dem Titel "Die Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courage"67 und eine "Erklärung" in Versen. Deren Überschrift geht von Mann zu Mann: der implizite Autor (wohl Philarchus) führt "die den geneigten [männlichen] Leser anredende Courage" (Cour 6) ein; die venia dicendi wird der Erzählerin ausdrücklich von einem Mann verliehen, während Grimmelshausen keins seiner anagrammatischen Pseudonyme weiblich gemacht hat. In den Versen selbst kommt aber schon der provozierende Trotz zum Ausdruck, mit dem Courasche die schlimmen Dinge, die man von ihr erwartet, noch zu übertreffen sucht. Sie erklärt in frommem Tonfall, sich von "der Thorheit Kram" (Cour 6) nun trennen zu wollen – aber "nicht [...] umb daß es mich gereue", sondern aus praktischen Erwägungen68. Die Ansprüche männlicher Tugendlehrer, die im Titel anklangen, werden gleichzeitig zitiert und unterlaufen. Nun folgt ein "kurtzer doch ausführlicher Innhalt [...] Der Merckwürdigsten Sachen eines jeden Capitels Dieser Lust und Lehrreichen Lebensbeschreibung" (Cour 7), dessen neutraler Ton auch in den nachfolgend aufgelisteten Kapitelüberschriften beibehalten wird. Sowohl die verurteilende männliche Stimme als auch die provozierende "Bauchrednerei" verschwinden zu einem großen Teil. Die Episoden über Courasches moralisch nicht gerechtfertigten Versuche, Recht zu bekommen oder Gewinn zu machen, sind stark reduziert, und was bleibt, ist der Lebenslauf einer herumgestoßenen, vom Schicksal und der männlichen Mitwelt erbärmlich behandelten Frau, eine Kette von Unglück und Demütigungen und immer wieder vergeblichen Versuchen, durch die Ehe Schutz und einen Platz in der Gesellschaft zu finden69. In der schlichten Aufzählung der Ereignisse, die mit dem rhetorischen Aufwand männlicher Moralpredigten kontrastiert, werden Leid und erlittene Gewalt, die dieses Leben prägen, faßbar70. Wieder wird Beschreibung zur Anklage, die Courasche selbst beabsichtigt, wenn sie ihren "Lebens-Lauff erzehlet" (Cour 7). Wie die Lektüre dieser Aufzählung von verurteilenden Stimmen beeinflußt sein kann, indem die wenigen moralisierenden Passagen unverhältnismäßig gewertet werden, zeigt das Beispiel von Volker Meid, der in den Kapitelüberschriften "deutliche Zeichen" für die "generelle moraldidaktische Tendenz" des Romans findet. (Meid 1984, S.161). In einem noch auffälli- 35 geren Kurzschluß behauptet Gerhart Teuscher, diese Überschriften stammten von Courasche selber. Er zählt alle schlimmen Streiche (nach dem Romantext) auf und schließt: Warum das alles aufzählen? Weil Courasche selbst [es] ausführlich und zufrieden ausbreitet und z.B. das XVIII. Kapitel überschreibt: "Gar zu übermachte Gottlosigkeit der gewissenlosen Courasche."(Teuscher 1984, S.103, meine Hervorhebung). Damit werden die grammatisch als Herausgeberkommentare markierten Texte (Courasche erscheint in der dritten Person) einfach Courasche selber zugeschrieben – was um so weniger überzeugt, als ja eine fiktive Herausgeberfigur existiert, deren Arbeit im Text selber beschrieben wird71. Die Kapitelüberschrift, die Teuscher so triumphierend zitiert, fällt außerdem erheblich aus dem Rahmen. Von 28 Überschriften im Text sind nur knapp die Hälfte (1-9 und 26-28) wörtlich identisch mit denen, die am Anfang aufgelistet werden; in den andern Fällen (10-17 und 19-25) sind sie im Textkörper gekürzt wiedergegeben, da die Zusammenfassungen im Inhaltverzeichnis offensichtlich vor allem der Vororientierung des Lesers dienen und später weniger nötig sind. Die Versionen im Text sind aber nicht nur kürzer, sondern ironisch-abschätzig gefärbt72, und zum 18. Kapitel steht im "kurtze[n] doch ausführliche[n] Innhalt": Die gewissenlose Courasche erkaufft von einem Musquetirer einen Spiritum Familiarem, empfindet darbey grosses Glück / und gehet ihr alles nach Wunsch und Willen von statten." (Cour 10). während im Text zu lesen ist "Das XVIII. Capitel. Gar zu übermachte Gottlosigkeit der gewissenlosen Courage" (Cour 94). Die männliche Herausgeberstimme benützt also ihre regelmäßigen Eingriffsmöglichkeiten im Text, um dem Leser, den Courasches vitales Erzählen faszinieren könnte, immer wieder an ihre Verworfenheit zu erinnern73. Die Innerste hat zwar keine vergleichbaren Paratexte, aber die Voraus-Diffamierung der Frauenstimme findet ebenfalls statt. Doris Radebrecker, über deren Verdorbenheit man von Anfang an viel hört, kommt selber, in direkter Rede, erst nach zwei Dritteln des Textes zu Wort. Da bricht sie, nachdem sie sich von einem alten Soldaten (und wahrscheinlich früheren Geliebten) drei Seiten lang hat moralische Vorhaltungen anhören müssen, aus, mit einem Schrei, der auch ein Geschluchz war: "Was habe ich denn mit euch? Was habe ich mit dir, Jochen Brand? Mit dem armen Tropf, dem Weichmaul, dem blöden Schäfer, der den tollen Bodenhagen spielte, hab ich’s. Was weißt du von mir und ihm? – Er hat mehr gekriegt als ihr anderen alle, und es war eine Zeit, da hätte er mich wohl zu einem lieben, guten Weibe machen können! Und jetzo soll er die Rechnung zahlen, der Müller von Sarstedt, und ihr – ihr sollt mich nicht umsonst die Innerste nennen!" (BA 12, 168). 36 Diese unverstellte Anklage kann natürlich nicht einfach so stehenbleiben. Nicht nur wird eine unvoreingenommene Aufnahme durch die vorausgegangenen 65 Seiten behindert, sondern Raabe führt die Erzählung in einer Weise weiter, die sowohl den Leser als auch den Zuhörer in der Geschichte sofort ablenkt: Der Korporal Brand sah die Jungfer Radebrecker mit einem grenzenlosen Erstaunen – mit offenem Munde an; aber draußen bellten von neuem die Hunde, und allerlei Stimmen ließen sich vernehmen. Es kamen allerlei Gäste des Buschmüllers. (Innerste 168f.) Damit schließt das Kapitel mit dem Ausblick auf eine belebte Versammlung von "Strolche[n], Halunken und Vagabunden des Jahres 1760" (BA12, 173). Brands Erstaunen bleibt ohne Antwort, Doris’ Trauer und Rachedurst ohne Erklärung. Die Anklage der Frau bleibt ein Kuriosum, über das man sich kurz verwundert und das man dann über "allerlei [interessanteren] Stimmen" vergißt. Männliches Reden behält das letzte Wort. Dies ist auch bei Grimmelshausen so – aber erst nach einem abschließenden Seitenhieb Courasches: Ich [...] vermeine nunmehr [...] dem Simplicissimo zu ewigen Spott genugsam geoffenbahrt zuhaben / von waserley haaren seine Beyschläfferin im Sauerbrunnen gewessen / deren Er sich vor aller Welt so herrlich gerühmet / glaube auch wol daß Er an andern orthen mehr / wann Er vermeint / Er habe eines schönen Frauen-Zimmers genossen / mit dergleichen Frantzösischen Huren: oder wohl gar mit GabelReuterinnen betrogen: und also gar des Teuffels Schwager worden sey. (Cour 148). Das kann "mann" natürlich genausowenig stehen lassen wie Doris Radebreckers Ausruf. Die anschließende "Zugab des [männlichen] Autors" ist denn auch eine Warnung an alle Männer, sich von stinkenden, schändlichen "Chimeris, Lupas, Medusen" und "Sirenen" nicht betören zu lassen, da "Hurenlieb" nur "Unreinigkeit, Schand, Spott, Armut und Elend, und, was das meiste ist, auch ein böss Gewissen" (Cour 148) einbringe. Damit ist Courasche abqualifiziert. Grimmelshausen hält aber noch eine Überraschung bereit. Der allerletzte Teil des Textes, "Warhafftige Ursach und kurtzgefaster Inhalt dieses Tractätleins", kehrt wieder zum neutral berichtenden Ton zurück, der schon in der ersten Inhaltsangabe herrschte, und stellt die männlich-tugendhafte Erhabenheit über Sünderinnen wieder sehr stark in Frage. Hans Wagener behauptet sogar, die "Zugab des Autors" werde durch den "objektive[n], sachliche[n] Ton dieser Zeilen" "eindeutig als ironisch entlarvt und in eine neue Distanz gerückt" (Wagener 1970, S.184). Es wird "vor der ganzen Welt" deutlich, daß Simplicius "kein Abscheuen getragen" habe, sich "mit einer so leichten Vettel" "zu besudeln" (Cour 149) und die so oft unter- 37 drückte einfache Tatsache, daß eine Hure nur durch ihre Kunden zur Hure wird, wird ganz klar formuliert: "massen daraus zu schliessen, daß Gaul als Gur / Bub als Hur / und kein Theil um ein Haar besser sey / als das ander" (Cour 149). Damit nimmt die Inhaltszusammenfassung Courasches eigene Worte in der Einleitung auf: Woraus aber die gantze erbare Welt abzunehmen / daß gemeiniglich Gaul als Gurr: Hurn und Buben eins Gelichters: und keins umb ein Haar besser als das andere sey; [...] und die Sünden und Sünder werden widerumb gemeiniglich durch Sünden und Sünder abgestrafft. (Cour 16). Die "bauchrednerische", männlich geprägte Selbsteinschätzung der liederlichen Frau wird zum Racheinstrument, um den Mann anzuschwärzen. Wer sich mit ihr abgegeben hat, muß selber schmutzig sein, ja ihre Rache steht sogar im Dienst der Vorsehung, die männliche Sünder durch weibliche Sünde bestraft! Diese Kühnheit ist im Schlußsatz der "Wahrhaftigen Ursach" allerdings abgeschwächt zur einfachen Rache von Schelmin an Schelm: "reibet ihm darneben trefflich ein / wie meisterlich sie ihn hingegen bezahlt / und betrogen habe." (Cour 149). Darin kann man unweibliche Rachsucht vernehmen, die auch in Die Innerste verurteilt wird, oder aber das Vorausgehende bestätigt finden, indem eben die Frau gerechtfertigterweise zurückzahlt, was ihr angetan worden ist. Die Offenheit des mehrstimmigen Textes bleibt also bis zum letzten Satz erhalten. 1.5. Männerworte in weiblichen Biographien Männliche Sünden, die durch verdorbene Frauen gestraft werden, geschehen in Courasche und Die Innerste nicht nur in Taten, sondern auch in Worten (die Gedanken verraten) und deren Unterlassung. Sprechen ist nicht nur erzähltechnisch, sondern auch in den Biographien der beiden Frauen wichtig, denn das starke Geschlecht hätte als solches eine erzieherische, ja geistliche Verantwortung, die über das Moralisieren hinausgehen sollte. Daß aber dieses bei gewissen "Herren" immer am Anfang steht, inkorrekterweise, als Vor-Urteil statt Urteil, noch vor Anhörung der "Haupt- oder General Beicht", thematisiert ja Courasche durch ihre Vorwegnahme: "Ja ihr Herren! [...] also werdet ihr euch über mich verwundern" (Cour 14). Es bringt ihr einen zynischen Triumph ein, daß sie diese Erwartungen nicht zu erfüllen gedenkt: "wann ich solches erfahre / so werde ich meines Alters vergessen / und mich entweder wider jung / oder gar zu Stücken lachen" (Cour 14) – aber der Triumph geht eigentlich auf ihre eigenen Kosten, denn er besteht darin, daß sie ein häßliches altes Weib geworden ist. Und diesen 38 Zustand genießt sie nicht nur nicht, ja sie wirft den Männern der Kirche vor, sie nicht rechtzeitig vor ihm gewarnt zu haben: Damal / damal / ihr Herrn Geistliche! wars Zeit / mich auf den jenigen Weeg zu weisen / den ich euern Raht nach jetzt erst antretten soll / als ich noch in der Blüt meiner Jugend / und in dem Stand meiner Unschuld lebte; [...] darumb gehet hin zu solcher Jugend / deren Hertzen noch nicht / wie der Courage, mit andern Bildnissen befleckt / und lehret / ermahnet / bittet / Ja beschweret sie / daß sie es aus Unbesonnenheit nimmermehr so weit soll kommen lassen / als die arme Courage gethan. (Cour 15f.). Dies kann Augenwischerei für den Zensor sein, eine Konzession an die Fiktion der Erbaulichkeit, die pikareske Dichtung ja so oft aufbaut; aber es spricht auch die Verzweiflung der Fehlgeleiteten daraus, die Frauenklage wird hörbar. Hier hätten die Männer einmal zum Guten, mit der Frau anstatt über sie, reden können und sollen. Aber Courasches Erziehung war lückenhaft. Schon an ihrer Geburt hatte unbeherrschte Männerlust ihren Anteil, da ihre Mutter, "ebenso arm als schön", bei einem (verheirateten) Grafen als "Staads Jungfer [...] der Gräffin aufgewartet" (Cour 54) hat und dann vom Grafen geschwängert wird74. Um den Makel der unehelichen Geburt zu verbergen, wird das "Lebuschka" oder "Libuschka" getaufte Mädchen ganz versteckt aufgezogen und wohl in "Frauenzimmerarbeit" ausgebildet, aber nicht mit moralischen Maßstäben oder sozialen Ordnungen konfrontiert: Ich wurde von der Gemeinschafft der Leut verwahrt wie ein schönes Gemähl75 vom Staub; [...] und weil ich mit andern Töchtern meines Alters keine Gespielschafft machen dorffte / sihe so vermehrten sich meine Grillen und Dauben / die der Fürwitz in meinem Hirn ausheckte / außer welchen ich mich auch mit sonst nicht bekümmerte. (Cour 18f.) So sind weder "Jungfrau" noch Ehre Begriffe, mit denen die Dreizehnjährige etwas anfangen kann76. Sie lernt allerdings bald deren Gegenteil kennen, als sie mit kindlicher Neugier mitverfolgt, "wie die Männer in der eingenommenen Stadt von den Uberwindern gemetzelt: die Weibsbilder genohtzüchtiget / und die Stadt selbst geplündert worden" (Cour 18), und sieht ein, daß das Leben einer Mätresse nicht lohne, "weil ich täglich bey der Armee so viel Huren sahe Preiß machen" (Cour 22). Ihre Erziehung hat ihr nicht die moralischen Grundlagen gegeben, um solche Eindrücke anders als nach den Gesetzen des Überlebens einzuordnen. Ihren er-wachenden erotischen Sehnsüchten hat sie höchstens pragmatische Vorsicht entgegenzusetzen, und unter den aufreizenden Umständen verliert auch diese bald ihre Kraft. So ist Libuschka froh, ihre Jungfräulichkeit "als ein schwerer unträglicher Last" loszuwerden, "weil mich nunmehr der Fürwitz verlassen." (Cour 26). Sie beklagt allerdings die Freiheit, die sie ver- 39 loren hat, weil sie sich ihr Kränzlein "liderlich [...] hinrauben" (Cour 27) hat lassen, ohne auf dem Schutz der Ehe zu bestehen. So hat sie "Marter und Sclaverey / die schwerer zu erdulden ist / als der Todt selbsten" ertragen müssen: "Darumb O ihr lieben Mägdgen! die ihr noch euer Ehr und Jungfrauschafft unversehrt erhalten habt / seyd gewarnet" (Cour 27). Ähnliche Versäumnisse lassen sich für den Lebenslauf der Doris Radebrecker erschließen77, deren verlotterter Vater ihren Lebenswandel auf eine Art beschreibt, die eher an einen zufriedenen Zuhälter denn an einen fürsorglichen Erzieher erinnert: "Es ist ein Prachtmädchen! sie tut es ihnen allen an, und wie sie sich auch wehren mögen, sie können nicht davon lassen. Der liebe Gott hat mich in Wahrheit mit einem guten Kinde gesegnet, und es ist immer noch, wie’s in dem Buche steht: ‘Wohl dem, der Freude an seinen Kindern erlebt.’" (BA12, 162f.) Welche Art von Erziehung solch ein "Prachtmädchen" hervorgebracht haben mag, ist leicht vorzustellen. Doris stellt den Zusammenhang selbst her: "Meinen Vater kennst du und meine Mutter hättest du kennen mögen, um das Teufelskleeblatt beisammen zu haben. [...] Hier in der Buschmühle bin ich geboren und auferzogen worden, und jetzt bin ich, wie ich bin, und wenn ich wie das wilde Wasser, die Innerste da vorm Fenster bin, so kann ich’s nicht ändern." (BA12, 168). Männliche "Machtworte" haben verheerende Wirkung im Leben von Doris und Libuschka; anstatt recht zu führen, bestimmt männliches Reden unheilvoll. Diese "Sprachhoheit der Männer" (Bauer 1994, S.113), die eben mehr als eine bloße Sprachregelung ist, drückt sich auch in den Namen aus, die sie den beiden Frauen geben. Nicht einmal den Decknamen "Janko", den sich Libuschka aus Angst vor Männern gegeben hat, um den Krieg als Junge ungeschändet zu über-stehen, kann sie durchsetzen. Sie wird in einem weiteren "Grad der Selbstentfremdung"(Berns 1990b, S.420) auf eine wahrscheinlich soldatensprachliche Bezeichnung für ihr Geschlecht um-getauft – das die meisten Männer an ihr ja einzig interessiert: Was mich zum allermeisten verdrosse / war diß / daß er mich nicht mehr Janco / auch nicht Libuschka sondern Courage nannte; denselben Namen ähmten andere nach / ohne daß sie dessen Ursprung wusten / sondern vermeinten mein Herr hiesse mich dessentwegen also / weil ich mit einer sonderbaren Resolution und unvergleichlichen Courage in die allerärgste Feinds-Gefahrn zu gehen pflegte / und also muste ich schlucken was schwer zu verdauen war. (Cour 26f.) In Courasches Reuelosigkeit mag man, wie oben angedeutet, eine verzweifelt-trotzige Reaktion auf dieses Bestimmtwerden sehen78, wie sie auch Doris Radebrecker in ihrem bereits zitierten Ausbruch ausdrückt: 40 "Er hat mehr gekriegt als ihr anderen alle [...] ! Und jetzo soll er die Rechnung zahlen, [...] und ihr – ihr sollt mich nicht umsonst die Innerste nennen!" (BA12, 168) Möglicherweise schwingt in dieser Erbitterung etwas von der Demütigung mit, wie Courasche auf das Geschlecht reduziert zu werden: der weibliche Schoß, den "Courasche" in vulgärer Weise bezeichnet, ist ja ein "Innerstes". Hier wird an die Verantwortung des Mannes erinnert, die ihm aus seiner Bestimmungsgewalt über die Frau erwächst. Er hat sie aber nicht wahrgenommen, d.h. das Mädchen nicht geheiratet, sondern sie – auch durch Sprache – in die Rolle der Verführerin gezwungen. Courasche formuliert analog: Ich konnte abermal des Nahmens Courage nicht los werden / wiewol ich ihn unter allen meinen Sachen am allerwolfeilsten hinweggeben hätte; dann meine alte [...] Kunden [...] ritten mir zu gefallen in die Stadt und fragten mir mit solchem Nahmen nach / welchen auch die Kinder auf der Gassen ehender als das Vatter unser lerneten / und eben darum wiese ich meinen Galanen die Feigen. (Cour 51, meine Hervorhebung). In diesem obszönen Reden aus dem Mund einer obszön benannten Frau wird wiederum männliche Gewalt hörbar, die sich auch der Sprache bemächtigt hat, mit der die Frau ihr Geschlecht bezeichnet. 1.6. Männerstimmen um den Text herum - It is peculiarly ironic that Courasche, who suffers keenly and repeatedly at the hands of men in Grimmelshausen’s work, has also been singularly ill-used by literary critics. JOHN WESLEY JACOBSON Die Abstempelung, ja Unterwerfung der Frau durch die Namengebung wird von den meisten Forschern in einem "bemerkenswerten Unisono germanistischer Arbeiten" (Hillen 1992, S.859) indirekt mitgemacht; auch hier ist "das Bild der Frau in der Geschichte [...] die Geschichte ihrer Verunglimpfungen" (Hillen 1992, S.849). So verharmlost Matthias Bauer die Demütigung, die der Rufname "Courasche" bedeutet: Zunächst empfindet die Ich-Erzählerin die Titulatur, die einerseits auf ihre Tapferkeit, andererseits aber auch auf ihre sexuelle Hemmungslosigkeit anspielt, als Auszeichnung. Mehr und mehr verwandelt sich der Name jedoch in ein Stigma, das die Gegner der Courasche in ihren Schmähreden als Scheltwort verwenden. (Bauer 1994, S.113). Angesichts der oben zitierten Äußerung Courasches muß dies einfach als falsch bezeichnet werden: es ist keine "auszeichnende "Titulatur", wenn eine Frau lebenslang "Madam Möse" gerufen wird, auch wenn nicht alle Verwender des Namens diese Bedeutung mitverstehen79. 41 Aber es ist dieser männlich aufgedrungene Name, den die Literaturgeschichte – ausgehend von einer Titelgebung, wie sie auch in Die Innerste vorliegt – weiterführt, und sei es nur als mißverstandenes Schimpfwort: "Der Name Courasche weist auf ihre Frechheit hin." (Ermatinger zitiert nach Hillen 1992, S.850). Dieser Name hat bis zu Brecht weitergewirkt80, während "Li-buschka", die Koseform des sagenhaft-königlichen Namens "Libussa"81, nur in spezialisierter Sekundärliteratur weiterlebt (einzig Wiedemann 1976, spricht von "Libuschka, genannt Courasche" anstatt von "Courasche" (S.720)). Aber auch sonst haben viele Forscher mit ihren Textanalysen in die männlich-konventionelle Rede des Textes eingestimmt. Einerseits wird Courasche mit moralisierenden Untertönen als negative Gegenfigur zu Simplicius ausgespielt, ohne daß ihre andere Erziehung und ihre prekäre Stellung als (meist) alleinstehende Frau im Krieg berücksichtigt werden, oder sie wird allegorisch zur Verkörperung des Bösen hochstilisiert (vgl. Feldges 1969, und "der Katalog der Verdammungsurteile [ließe] sich mühelos erweitern." (Hillen 1992, S.850)); andererseits wird auch Courasche auch literarisch an Simplicissimus gemessen und unterbewertet. Während Simplicius sich wandle, reife und bekehre, sei Courasches Bericht eindimensional. Rein quantitativ ist der Vergleich eines fünfbändigen Romans mit dem 100-Seiten-Buch Courasche sowieso fragwürdig, aber es ist keineswegs wahr, daß "unlike Simplicissimus, Courasche has no sophisticated multilayered structure." (Negus 1974, S.113). Solche (Vor-)Urteile mögen durchaus mit der moralischen Entrüstung zu tun haben, die Courasches Reuelosigketi hervorruft, und so reihen sich viele Germanisten unter die strengen "Herren!", gegen die sich Courasche verteidigen muß. Eine solche Dominanz männlicher Projektionen ist natürlich ein allgemeines Phänomen; Vorstellungen über Frauen haben seit jeher die Tatsachen verdrängt82: Die Geschichte der Bilder, der Entwürfe, der metaphorischen Ausstattung des Weiblichen ist ebenso materialreich wie die Geschichte der realen Frauen arm an überlieferten Fakten ist.(Di Maio 1987, S.230). Solche Entwürfe haben auch praktisch "beträchtliche Konsequenzen auf die reale Existenz der Frauen" (Di Maio 1987, S.230), wie etwa die Geschichte des Hexenwahns zeigt. Grimmelshausen dagegen entlarvt den mehrmals berichteten und auch von Forschern behaupteten83 Verdacht der Hexenhaftigkeit Courasches als Projektion, indem er etwa beschreibt, wie Courasches Verfolger gezwungen sind, von einer Anklage wegen Hexerei abzusehen, da sie sie soeben vergewaltigt haben und so gemäß der succubus/incubus-Lehre selbst zu Hexern gewor- 42 den wären: "die Einleitung eines Hexenprozesses / bedunckte sie / gereiche ihnen allen zu schlechter Ehr / weil sie sich meines Leibs teilhafftig gemacht." (Cour 63). In jüngerer Zeit sind einzelne Verteidigungsversuche, welche einseitig misogyne Lesarten relativieren oder kritisieren, nicht ausgeblieben84. Im Eifer, Courasche in Schutz zu nehmen, gehen sie aber kaum auf die eingangs erwähnte Spannung zwischen konventionellen und subversiven Ideen und deren narrative Konsequenzen ein85. John Wesley Jacobson etwa sieht "Grimmelshausen’s final attitude" (Jacobson 1966, S.161) in den Worten zusammengefaßt: "wann kein leichtfertiger Bub wäre, daß alsdann auch keine Huren seyn würden". Von einer "abschließenden Aussage" kann aber in einem derart komplexen Text nicht die Rede sein, schon weil die Geschichte von Courasche und den Männern ja im Springinsfeld noch einmal aus anderer Perspektive beleuchtet wird. Dies beachten aber auch Jacobsons Kritiker nicht, die sich vor allem darauf stützen kann, daß er weitgehend zeitgenössische Urteile über Frauen ignoriert und [...] darauf verzichtet, [den] Text auf [eine] mögliche allegorische Signifikanz hin zu befragen. [...] Die Gefahr eines hermeneutischen Sündenfalles in entgegengesetzter Richtung [ist aber] nicht zu übersehen: [...] die für einen Kontext etablierte Position als den ‘eigentlichen’ oder ‘tie-feren’ Sinn des Werkes in den Text zu transponieren." (Hillen 1992, S.851, meine Hervorhebung). Solche "Transpositionen" verraten wohl mehr über die Transponierer als über den interpretierten Text. Grimmelshausen hat zwar frauenfeindliche Quellen eingearbeitet, aber gerade da "sind die Belege umso bemerkenswerter, in denen sich Grimmelshausen [...] von der vorgegebenen Position absetzt" (Hillen 1992, S.855), und diese Distanznahme ist beim Thema Frauen und gar Hexen häufig übersehen worden86. Entsprechend dieser Tendenz ist auch die metaphorische Artikulation der Frauenstimme, die Raabe in Die Innerste vornimmt, überlesen worden. Wenn die Frau, in den Worten von Theodor Adorno, "mit der ungebändigten und der bergenden Natur oder mit der zu erobernden Fremde identifiziert" (zitiert nach Weigel 1990, S.20) wird, kann die Kritik an dem, was der Natur angetan wird, als Kritik des Unrechts an der Frau verstanden werden. Diese Übertragungsmöglichkeit suggeriert bereits der scheinbar einfache Titel mit seinen zwei Bedeutungsmöglichkeiten "Fluß" und "Doris". In der Einleitung ist nur vom Fluß Innerste die Rede, der gefährlich, bösartig geworden sein soll, seit ihn Pochwerke, Hüttenwerke und Flachsrotten verdreckt haben. Der Erzähler drückt Mitleid für diese ökologische Katastrophe aus und Verständnis dafür, daß die Innerste mit unberechenbaren Überschwemmungen "zurückschlägt", während solche Rachsucht ja bei Frauen als unweiblich, ja unnatürlich abgelehnt 43 wird (vgl. Anm.64). Das Schlimme, das dem Fluß angetan worden ist, wird aber mit Vergewaltigungsmetaphern beschrieben, die die Anteilnahme des Autors am Schicksal einer weiblichen Protagonistin unübersehbar machen: Selten aber auch geriet ein unschuldig hellblickend [...] Quellnixlein in schmutzigere Hände [...] als diese arme herzynische Najade oder Nymphe. [...] Wildemann nimmt sie beim Schopfe [...] tu[t] ihr alle erdenkliche Schande an. [... Sie wird] geschwängert [und von] unordentliche[n] Gelüste[n ergriffen]. (BA12, 104). Ohne daß eine Vergewaltigung beschrieben würde, wird Verständnis für ein wildes Mädchen suggeriert und eine subversive Leseanweisung für das Folgende gegeben: Doris Radebrecker, die "Die Innerste" genannt wird, ist als unschuldiges Mädchen auf die Welt gekommen, aber verderbt und vergewaltigt, ja geschwängert (im Text hat sie keine Kinder)87. Diese metaphorische Tarnung (selbst "Wildemann" ist eine geographische Bezeichnung) war für einen Brotschriftsteller im "viktorianischen" Deutschland natürlich nötig. Sie ist aber relativ einfach aufzudecken – und um so bemerkenswerter ist es, daß dies nicht geschehen ist. Doris ist für viele Germanisten das Böse schlechthin, genauso wie Courasche zur allegorischen "Hure Babylon" oder "Frau Welt" geworden ist. Benno von Wieses Beschreibung von Doris’ Tod unter dem Eis der winterlichen Innerste ist nur ein Beispiel: "Wohl aber geht das im elementaren Sinne Böse nunmehr selbst am Element, dem es zum Gleichnis diente, zugrunde". (von Wiese 1962, S.208). Daß hier einmal mehr die Männerstimme bevorzugt angehört und die metaphorisch getarnte Frauenstimme überhört wird, hat wahrscheinlich auch damit zu tun, daß einerseits die Vorstellung von der Frau als naturhaftem, elementarem, ja sogar seelenlosem Wesen und andererseits weibliche Metaphern für die Natur zu den typischen Inhalten des männlichkonventio-nellen Diskurses gehören. Auch der Körper der "Frau Welt" Courasche ist mit der Natur parallelisiert worden: As an expression of desire and power under absolutism, the ravishment of Frau Welt suggests the contemporaneous reterritorialization of the woman’s "low" body and the subjugation of "low" nature through the new masculine science. (Feldman 1991, S.79). Tatsächlich ist der wissenschaftliche Diskurs seit seinen Anfängen mit sexuellen Bildern durchsetzt, in denen die Eroberung der Natur zur Vergewaltigung wird88. In Francis Bacons Aufruf to disdain the "outer courts of nature" where multitudes of men have trodden and to find a trumpet that summoned men in making peace among themselves to turn "their united forces against the Nature of Things, to storm and occupy her castles and strongholds (zitiert nach Easlea 1981, S.84). 44 wird auch der Zusammenhang von Krieg und Vergewaltigung hörbar; Brian Easlea bezeichnet es als "an invitation to what might be seen, not altogether uncharitably, a gang rape of nature." (Easlea 1981, S.84). Die Natur wird in ähnlicher Weise wie die Frau Opfer von männlicher Eroberung, Reglementierung und Reduktion, und diese Gleichsetzung ist so selbstverständlich geworden, daß Raabes subversiver Gebrauch dieser Metaphern einfach überlesen werden kann. Umso bemerkenswerter ist, wie hellsichtig er die fatalen Kurzschlüsse formuliert, mit denen etwa die "unordentlichen Gelüste", die natürlicherweise zur einer Schwangerschaft gehören, den Frauen als sündige Triebhaftigkeit vorgeworfen werden, ob sie nun freiwillig oder gewaltsam schwanger geworden sind89. Auch für Die Innerste gilt, was Siegfried Streller schreibt: Die ganze Couraschegestalt [ist] ein Beispiel, wie Grimmelshausen als echter Dichter [...] in der Gestaltung an Probleme rührt, deren verändernde Erörterung erst im folgenden Jahrhundert beginnt. (Streller 1969, S.252). Der Komplexität von Texten, die wie Courasche und Die Innerste Probleme polyphon darstellt, ohne sie zu vereinfachen, sind trotz stattgehabter "Erörterung" offenbar auch heute noch nicht alle Leser gewachsen90. Bereits ist angetönt worden, wie auch fremde Texte ("wissenschaftliche" Autoritäten über Hexerei, klassische und Märchengestalten wie "Najaden" und "Nixen" und) in diese Vielstimmigkeit einbezogen werden. Ihr Beitrag soll im folgenden Teil untersucht werden. 2. Polyphonie der Texte: Intertextualität - Die Machart des Textes weist eine Reihe von bemerkenswerten Unstimmigkeiten und Stilbrüchen auf, die weder auf bloßem Zufall noch auf künstlerischem Mißgeschick beruhen können. MATTHIAS BAUER Den Begriff der Intertextualität hat Julia Kristeva aus dem Bachtinschen der Dialogizität entwickelt. Ich möchte aber nicht ihr universales Konzept (soweit ich es verstanden habe) übernehmen, demzufolge alle Texte zitieren und daher dezentriert und demontierbar sind, da es Bachtins Differenzierung von monologischen und polyphonen Texten gerade aufhebt (vgl. Pfister 1985). Der bewußte Bezug auf fremde Texte ist aber ein wesentliches Merkmal der Kunst von Grimmelshausens und Raabes, in der intertextuelle Beziehungen nicht die Auflösung des Textes bedeuten, sondern zu einem Reichtum beitragen, der eine seiner größten 45 Stärken bildet und als solche vom Autor geplant ist. Die unkonventionelle Mischung von Stilen und Genremerkmalen, das "Monströse", d.h. in der typisch satirischen Weise gemischt Zusammengesetzte ist ein wesentliche Merkmal diese Schreibens. Unter dieser Annahme sollen Verweise auf fremde Texte, aber auch Textsorten (Genres) und deren sprachliche Register als Aspekt der Polyphonie im Werk der beiden Autoren beschrieben und auf ihre Wirkungen hin untersucht werden91. 2.1. Genres und Themen Der Roman ist in Bachtins Sicht eine subversive Gattung, die andere, traditionellere Genres – auch erstarrte Romanformen, die den Namen eigentlich nicht verdienen – in Frage stellt, ja in sich aufnehmen kann: The novel can include, digest, devour other genres and still retain its status as a novel, but other genres cannot include novelistic elements without impairing their own identity as epics, odes or any other fixed genres. (Bachtin 1981, S.xxxii). Diese "verdauten" Genres können aber auch von außerhalb der "hohen Literatur" kommen: [The novel] will always insist on the dialogue between what a given system will admit as literature and those texts that are otherwise excluded from such a definition. (Bachtin 1981, S.xxxi). Ein solcher intertextueller Dialog hat vor allem bei Grimmelshausen auch eine gesellschaftliche Dimension: die normierten barocken Romangattungen entsprechen ja den Ständen, deren feste Ordnung durch hybride Genres indirekt in Frage gestellt wird. Dies entspricht auch einer allgemein rationalismuskritischen Haltung: Die sich als Urteilskritik ausdrückende Wendung gegen alle festen Bestimmtheiten und Abstraktionen ist zugleich die Wendung gegen alles normhafte Denken und muß sich deshalb auch als Gegenposition zur Normpoetik äußern. (Gaede 1978, S.79). Ganz besonders besitzt diese unkonventionelle Lebendigkeit der Schelmenroman, der für Grimmelshausen so wichtig ist und bei Raabe eine kleinere, aber charakteristische Rolle spielt. Dank seiner Offenheit hat er die Gattungsgeschichte entscheidend vorangetrieben: Ob in Frankreich oder England, Deutschland oder Rußland, Süd- oder Nordamerika – überall tauchen Schelmenromane bei der Entwicklung des modernen Romans an entscheidender Stelle auf. (Bauer 1994, S.3). Von seiner Anlage her lädt der Schelmenroman auch zu Transgressionen thematischer Art ein; Un-gehöriges gehört gerade dazu. Dabei sind gewisse heikle Themen oder die Weise, in der 46 sie behandelt werden, zukunftsweisend, wie die Ansätze der Frauen-Anhörung in Courasche und Die Innerste; andere Aspekte aber sind bei Grimmelshausen und erst recht Raabe geradezu altmodisch. Einmal mehr ist eine Spannung, die sich aus der Offenheit gegenüber Vergangenem und Aufkommendem ergibt, spürbar. Sie zeigt sich auch im vorurteilslosen Ausprobieren verschiedener, auch jeweils "unmoderner" Gattungen, im Erfinden neuer Genremuster und in einer ausgeprägten Skepsis modischen, kanonisierten Gattungen gegenüber. 2.1.1. Schelmenroman: Subversive Vielfalt und eindeutige Moral Der deutsche "niedere" Roman ist "reich an Mischformen und Abwandlungen" (Meid 1984, S.72), ein schwer einzugrenzendes Genre mit einer großen "Offenheit gegenüber allem möglichen empirischen Material" (Bauer 1994, S.97)92. In der Form der Schelmenbeichte steht diese Offenheit in einem ständigen Spannungsverhältnis mit der Moral, das ebenso zwischen erzählendem (bekehrtem) und erzähltem (sündigem) Ich wie zwischen lüsternem Publikum und gestrengem Zensor herrscht: It is inherent in the narrative situation that at least one of the two perspectives be somewhat compromised: either the scandalous doings of the rogue will be held up to scorn by the stern morality of the convert or the convert’s newly gained piety will be rendered suspect by virtue of the fact that he relates those doings with unvarnished gusto and obvious pleasure. (Riggan 1975, S.167). Diese Spannung hängt aber bei Raabe und Grimmelshausen nicht nur mit der Erzählsituation zusammen, sondern hat auch einen intertextuellen, generischen Aspekt. In den Simplicissimus sind zwei Traditionsstränge eingegangen. Die deutschen Versionen des spanischen Pikaroromans (Albertinus’ Gusman und der deutsche Lazarillo) sind "Sünder- und Büßergeschichten, [...] die soziale Implikationen ausklammer[n]" (Meid 1984, S.102). Diese frommen fiktiven Autobiographien nützen die Möglichkeiten zu "dialektische[m] Perspektivenspiel" (Meid 1984, S.102), wie sie Grimmelshausen entfaltet, nicht aus. Den Mut zu solchem Ausbreiten der Welt mit ihren vielfältigen Phänomenen und vielfältigen Meinungen hat ihm möglicherweise erst die Begegnung mit dem französischen roman comique (vor allem dem Francion von Sorel) gegeben (vgl. Koschlig 1977, S.87), der kein Bekehrungselement enthält, das die Erzählung begangener Sünden problematisieren würde. In einem drastischen Vergleich, der die heiklen Bereiche selbst als Metapher verwendet, sagt Sorel sogar, er wolle die Wirklichkeit nicht kastrieren, da dies den Text lächerlich und unglaubwürdig mache, 47 wie mit dem Menschlichen Leibe / welchen jedermann hasset und außlachet / wann er verschnitten ist. Ich habe schon vorhero gesagt / daß weil ich mir vorgenommen habe die Laster der Menschen zu tadeln / und ihre Thorheiten außzulachen / daß ich deßwegen viele Sachen gar natürlich beschreiben müste / damit sie viel mehr verlachet würden. (Aus der Übersetzung des Francion von 1662, die Grimmelshausen zur Verfügung stand, zitiert nach Meid 1984, S.102). Entsprechend rechtfertigt Simplicius Unschicklichkeiten mit dem Argument der Vollständigkeit, allerdings mit stärker moralisierendem Unterton: Günstiger Leser / ich erzehle diese Geschicht nicht darumb / damit Er viel darüber lachen solle / sondern damit meine Histori gantz seye / und der Leser zu Gemüt führe / was vor ehrbare Früchten von dem Tantzen zu gewarten seyen.(Simpl 97). In dieser Passage – die sich an einen Leser wendet, den man sich nach der vorhergehenden Gänsestall-Episode nicht anders als grinsend vorstellen kann – wird die Spannung, "die spezifische Reversibilität der Auffassungsperspektiven" (Bauer 1994, S.105) fühlbar, die sich Grimmelshausen mit der Kreuzung zweier Traditionen eingehandelt hat. Dieses diffizile Gleichgewicht zwischen Erzählen und Belehren hält Grimmelshausen aber nur in den beiden Meisterwerken Simplicissimus und Courasche, "which cannot be reduced to a critique of society from just one perspective." (Sanden 1987, S.52). In den späteren Schriften wird die moralische Perspektive zunehmend eindeutiger, was generische und thematische Konsequenzen hat. So berichtet im Springinsfeld zwar ein Ich-Erzähler wie Simplicius und Courasche; aber sein Schelmenbericht ist von einer Rahmenerzählung umgeben, die zehneinhalb Kapitel von 27 umfaßt und vom gereiften, lebensweisen, aber unverkennbar frommen Simplicius, dominiert wird, der auch Springinsfeld erst zum Erzählen bringt: So du dich nicht gescheuet hast / deinen aignen Lebenslauff aller Welt durch den offenen Truck vor Augen zulegen / so werde ich mich auch nit schämen / den meinigen hier im finstern zuerzehlen. (Spring 56). Was Springinsfeld "im finstern" – in einer "säkularisierten Anwendungsform der Beichtpraxis" (Berns 1990a, S.109) – zu berichten hat, ist finster. Seine Erzählung enthält kaum spaßige Episoden, und die pikanten (blamablen) will er im Gegensatz zu Courasche nicht berichten: Ich [wolte] lieber die Geschichten / so sich zwischen mir und ihr verloffen / verschwigen als offenbahr wissen; hat sie aber ihr Schreiber-Knecht auch in ihrem ehrbaren Lebenlauff entdeckt / so mag sie dort lesen wer will / ich mag einmahl mein aigne Guckgaugerey nicht selber ausblasen. (Spring 73). Was er aber um so stärker – und großenteils unbewußt – "selber ausbläst", ist die menschliche Verrohung, die der Krieg in seinem Leben angerichtet hat. Diese Welt – kein "üppig- 48 satirisches Genrebild" (Rötzer 1972, S.107), sondern eine Folge von Schlachten, Feldlagern und Hungerwintern – hat nichts Karnevalistisches an sich, an dem sich pikarisches Erzählvergnügen entzünden könnte; in der ermüdenden Unpersönlichkeit des Chronistentons werden die Austauschbarkeit der Menschen im Krieg und die Abstumpfung des Erzählers faßbar, den sein eigenes Leben in den Kampfpausen kaum zu interessieren vermag: Nachdem solcher Lerme wieder gestillt / weiß ich nichts denckwürdigs von mir zu erzehllen / ich wolte dann sagen wie ich leffeln gegangen [...] bis wir die Degen wieder in die Händ genommen. (Spring 100f.). Wie er einen verletzten Offizier umgebracht hat, erzählt er aber, ohne zu zögern: Ach Bruder sagte er / hilff mir! ja; gedachte ich / ietzt bin ich dein Bruder / aber vor einer Viertel Stund hettest du mich nicht gewürdigt / [...] darauff erwischte ich das Pferd beim Zaum und mit der andern Hand eine Pistole von seinem eignen Gewöhr / und endet damit den wenigen Rest seines bittenden Lebens. (Spring 82f.). Solche lakonischen Berichte, zusammen mit der Bemerkung gegen Schluß, er hätte "doch vil lieber noch länger Krieg haben mögen" (Spring 105), sind das Schockierende am Bericht des alten Soldaten, dessen Leben denn auch durch sein frommes Ende viel klarer verurteilt wird als etwa das der Courasche. Ohne ironische Brechungen schließt der Rahmenerzähler Philarchus den Text: Wie ich mir aber seithero sagen lassen / so hat [den Springinsfeld] der verwichne Mertz auffgeriben / nach dem er zuvor durch Simplicissimum [...] ein Christlich und bessers Leben zuführen bewögt worden; nahm also diser abenteurliche Springinsfeld [...] sein letztes ENDE93. (Spring 132). Auch bei Raabe ist der karnevaleske Spaß an der verkehrten oder obszönen Welt kaum zu finden94. Er respektiert den viktorianischen Schicklichkeitskodex der Familienblätter95, in denen er teilweise publizieren mußte und der auch die Rezeption des Simplicissimus in jenen Jahren prägte96. Seine pikareske (mit allen Genremerkmalen, vgl. Detering 1986) Erzählung Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michel Haas schockiert dagegen wie der Springinsfeld durch ihre "Finsternis". Wie andere von Raabes historischen Werken (Die Innerste, Das Odfeld, Hastenbeck) transponiert dieser Text grimmelshausensche Stimmen ins 18. Jahrhundert. Michel Haas wandert als Landläufer wider Willen durch die Welt, von Notwendigkeit und Unglück getrieben, ohne daß sein Überlebenskampf komische Seiten hätte, und zweifelt zuzeiten, ob nicht eigentlich der Teufel die Welt regiere, obwohl er seinen Bericht mit Bibelzitaten durchsetzt. Er lebt wie Hiob in der Spannung zwischen Gottvertrauen und fast blasphemischer Anklage, und wie bei Grimmelshausen speist sich diese Spannung aus zwei literarischen 49 Strängen. Neben einer düsteren Ausprägung der Schelmenbeichte ist auch die "reiche Tradition der pietistischen Kurz-(Auto-)Biographie des 17. und 18. Jahrhunderts" (Detering 1990, S.30) erkenntlich. Im Schlußwort finden sich die entsprechenden Widersprüche auf kleinstem Raum: Es möchte wohl jemand gedenken, ich sei ein Landläufer gewesen, weil ich so viele Herren gehabt; aber man richte mich nicht sogleich, und ein jeder, der wohl steht, sehe zu, daß er nicht falle! (BA2, 473). Hier herrscht eine Vieldeutigkeit, die an Courasche erinnert: der möglicherweise moralisch überhebliche Leser wird unter gleichzeitigem Zugeben der eigenen Verfehlungen attackiert97. 2.1.2. Anstand und Diesseitigkeit: Aufkommende Bürgerlichkeit bei Grimmelshausen Das Verschwinden des vergnügten Unanständigen im Springinsfeld und Grimmelshausens eindeutige Verurteilung dieses vergeudeten Lebens entsprechen einer allgemeinen Tendenz der Zeit. Konkretes und Irdisches, wie es im Schelmenroman so un-verschämt hervortritt, wird im der Nachfolge Descartes’ auch in der Literatur allmählich abgewertet98; ein noch bei Montaigne sehr intensives (und durchaus "enzyklopädisches") Interesse am Konkret-Menschlichen in jeder Form und jeder Lebenssphäre beginnt zu verblassen. Exotische Völker und ihre Sitten und schließlich auch die körperlichen Details des eigenen Lebens sind nicht mehr würdige Gegenstände des schriftlichen Diskurses: The early 17th century [...] saw a narrowing of scope for freedom of discussion and imagination, with the onset of a new insistence on "respectability" in thought or behaviour. [...] For Montaigne, "(life) experience" is the practical experience that each human individual accumulates [...]: for Descartes, "(mind) experience" is raw material from which each individual builds a cognitive map of the intelligible world "in the head". (Toulmin 1990, S.37-42). Wenn das Leben nur noch als "Rohmaterial" für Gedankengebäude dient, ist die pikareske Unverschämtheit gewisser Episoden in den Simplicianischen Schriften nicht nur altmodisch (auf Rabelais und die Renaissance-Autoren zurückblickend, mit denen zusammen Grimmelshausen bei Bachtin immer erwähnt wird, vgl. Anm.25), sondern unnötig und damit anstößig. Die Freiheit, die noch Shakespeares Umgang mit dem menschlichen Körper und seiner Sexualität, seinen verletzlichen, häßlichen, ja skatologischen Seiten kennzeichnete, verschwindet 50 zunehmend zugunsten einer bürgerlichen Anstandsmoral; die unvoreingenommene Neugier auf die Welt weicht Vorurteilen. Mit Bezug aufs Körperliche sind genau diese Begrenzungen noch in Raabes Werk zu spüren. Diese Veränderung ist in Grimmelshausens Werk nachvollziehbar. In den neun Jahren, in denen er publizierte, stellt sich immer mehr seine "moralisch-belehrende Absicht heraus." (Rötzer 1972, S.107). Zentripetale Kräfte werden stärker, die Texte eindeutiger. Nachdem die widersprüchliche Polyphonie im Satyrischen Pilgram nicht einmal einen fortlaufenden Text entstehen läßt, ist die Integration von unglaublich vielen Aspekten des Lebens im nachfolgend publizierten Simplicissimus gelungen, und Courasche, wo verschiedene Ansichten zu einem zentralen kontroversen Thema hörbar werden, stellt dann in gewissem Sinn einen Höhepunkt integrierter Vielstimmigkeit dar, während Springinsfeld bereits weniger interessant ist. Im trotz aneinandergereihten Schelmenstreichen ausgesprochen langweiligen Vogelnest schließlich "überwiegt von Anfang an der moralsatirische Ton, die abstrafende Wertung des Abfalls von christlicher Moral und Glauben." (Streller 1990, S.97). Die Erlebnisse der Erzähler werden immer sofort mit einer Etikette versehen, als ob sie nur um dieser angefügten Belehrungen willen überhaupt berichtet würden99. Im Zusammenhang dieser zunehmenden Eindeutigkeit bei Grimmelshausen ist das 1672 erschienene Rathstübel Plutonis interessant100. In diesem Text treffen sämtliche simplizianischen Hauptfiguren – nach einem versuchten Überfall ihrer Zigeuner auf Knan und Meuders Bauernhof stößt sogar Courasche dazu – zusammen und erörtern außerhalb eines Schwarzwaldkurorts in idyllischer Landschaft verschiedene Arten des Reichwerdens. Secundatus, ein "raisender Landbeschawender Cavallier" (Pluto 5), leitet das Gesprächs-Spiel. Während einer der reglementierten Diskussionsrunden verweist Meuder ihrem Ehemann, eine nicht salonfähige Bemerkung und wird ihrerseits für den Unterbruch der Sprechreihenfolge getadelt: Knan. Worvor ists / daß man viel Gelt umb delicate Speysen gibt; dann man macht ja so wol alß auß einem Haberbrey im Leib doch nur Dreck darauß. Meuder. Holla Knan / wie dörfft ihr vor so ansehenlichen Leuthen so unflätig reden? Ihr denckt gewiß ihr führet Mist auß. Secundatus. Großmuter / wann ihr mehr redet eh die Reyhe an euch komt / so müßt ihr ein Täpgen halten ["einen symbolischen Schlag mit dem Stock des Spielführers ‘aushal-ten’" (Boeckh 1959, S.351)]. (Pluto 20). 51 Hier wird die neue "respectability", der Anstand, spürbar, der der sonst so unbefangenen Bauersfrau in Gegenwart von "ansehenlichen Leuthen" in die Knochen fährt. Simplicius selbst weiß ihn zu wahren, indem er einen sehr unappetitlichen Sparvorschlag elegant umschreibt: Man hencke auch nicht zu viel an überflüssigen Haußraht / wie meine Wirtin [...] welche bey Tag die Supp in einem Haffen kochte / den sie bey Nacht an stat eines Kammer-Geschirrs brauchte. (Pluto 22). So schmuggelt diese lebenserfahrene Figur den Dreck (unwidersprochen!) zurück in die Diskussion. Dies erinnert an die "bodily revolts" (Sanden 1987, S.52), die Simplicius sich in Hanau und bei anderen Episoden des Simplicissimus zuschulden kommen läßt. In der stilisierten Diskussion ist die Kraft des romanhaften Erzählens, die Simplicius’ Bericht aus der Offenheit dem Körper gegenüber schöpft (vgl. Sanden 1987, S.51), aber nur noch angedeutet. Der vorgebliche Belehrungsprozeß (etwa wenn Simplicius lernen soll, seine "Leibesdünste" nicht unkontrolliert abgehen zu lassen) wird wie im Simplicissimus durch seine eigene Schilderung unterwandert; aber die zähmenden Kräfte sind nun stärker. Dies hat auch einen generischen Aspekt: die Polyphonie erscheint nicht mehr in krudem Nebeneinander, aber auch nicht in raffinierter Integration, sondern (einzigartig bei Grimmelshausen) in dramatischer Form, säuberlich auf Wechselreden verteilt. Durch diese Regulierung wird die Vielstimmigkeit gezähmt und entkräftet, denn The internal dialogism of authentic prose discourse [...] cannot [...] be fitted into the frame of any manifest dialogue [...]; it is not ultimately divisible into verbal exchanges possessing precisely marked boundaries. (Bachtin 1981, S.326). Der Text hat aber auch formale (vgl. Weydt 1979, S.94) und thematische (vgl.Anm.103) Eigenschaften außerliterarischen Gattungen, in denen polemische Auseinandersetzung in dafür vorgesehenen Formen kanalisiert wird101. Die bürgerliche Mentalität, zu der die neu aufkommende Anstandsmoral gehört, kennt paradoxerweise auch eine neue Zuwendung zum Diesseits. In einem Prozeß, den Arnold Hirsch in Bürgertum und Barock beschrieben hat102, werden zwar gewisse Aspekte des physischen Lebens aus dem literarischen Diskurs ausgeschlossen, andere aber drängen neu hinein. Während der höfische Barockroman und der klassische Pikaroroman – auch der Simplicissimus, der doch "angeblich ein weltweites, realistisches Bild seiner Zeit entwirft" (Hirsch 1979, S.5) – die Details der bürgerlich-häuslichen Welt in schöner Einigkeit völlig aussparen103, ist in den folgenden Simplicianischen Schriften die neue Wertschätzung des Diesseitigen immer stärker zu spüren, 52 jene Erfüllung des Diesseits mit diesseitigen Lebensaufgaben, welche die bürgerliche Sinngebung des Lebens im 18. Jahrhundert ausmachen [und] die die barockasketische Ausdeutung des Diesseits verhindert. (Hirsch, 1979 S.7). Allerdings ist eine gewisse Spannung schon im Simplicissimus auszumachen: [Im Simplicissimus ist] die Bereitschaft des Bürgers, die reale Welt als Erfahrungs- und Bewährungsraum anzunehmen, mit dem Glauben an die Hinfälligkeit der Welt eine feste Verbindung eingegangen [...]. Sie zeigt, welchen Anforderungen und Widersprüchen sich das Bürgertum im 17. Jahrhundert dadurch ausgesetzt sah, daß es von der Ökonomie – etwas eminent Irdischem und Hinfälligem! – ausgehend den Weg des Aufstiegs suchen mußte. (Mauser 1973, S.70f.). Auf kleinstem Raum drücken einige Kapitelüberschriften im Simplicissimus diese Zwiespältigkeit aus. Die frommen Erzählungen vom weltabgewandten Leben mit dem Einsiedel und dessen Tod sind mit Titeln versehen, die bürgerlich-diesseitiger nicht sein könnten, aber die häusliche Sparsamkeit auch schon ironisieren: Das 11.Capitel. Redet von Essenspeiß / Hausrath und andern nothwendigen Sachen / die man in diesem zeitlichen Leben haben muß. Das 12.Capitel. Vermerckt ein schöne Art seelig zu sterben / und sich mit geringem Unkosten begraben zu lassen. (Simpl 6). Im Rathstübel Plutonis wird dann das Thema des Reichwerdens fast durchgehend auf höchst bürgerliche Weise angegangen; neben Anspielungen auf die nötige Gewissenlosigkeit, die noch in die pikarische Welt passen würden, wird die Sparsamkeit in Küche und Keller zu einem zen-tralen Gesprächsgegenstand, der mit einem außerordentlichen Reichtum an häuslichen Details erörtert wird104. Die unsichtbaren Vogelnestträger schließlich berichten mit großer Ausführlichkeit von den Speisekammern und Kleiderschränken, zu denen sie sich Zugang verschaffen können, von Geldheiraten etc. So ist der allmähliche Übergang zum bürgerlichen Roman auch thematisch in Grimmelshausens Werk nachvollziehbar. 2.1.3. Vielfalt der Genres: explizite Problematisierung bei Raabe Grimmelshausen unterläuft Genrekonventionen, indem er bestehende Genres umkehrt (Coura-sche enthält die Memoiren einer nicht bekehrten pìcara105), variiert (Rathstübel) oder thematisch strapaziert (Simplicissimus) und neue erfindet (Satyrischer Pilgram). Solange der Roman und kleinere erzählende Gattungen so wenig theoretisiert waren wie im 17. Jahrhundert, waren solche Wagnisse kein "Problem". In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber war der Roman Gegenstand der etablierten Literaturtheorie geworden und nicht mehr bloß 53 ein nicht-aristotelischer Außenseiter. Dieses neue Prestige als kanonisierte Gattung begrenzt seine charakteristische Lebendigkeit, die er wie der Pikaro gerade seinem Platz am Rand der offiziellen Literatur bzw. Gesellschaft verdankt hatte: It is no accident that the novel – that heteroglot genre – has no canon; it is, however, like all artistic genres subject to the pressure of canonization, which at a primitive level is merely the compulsion to repeat. (Bachtin 1981, S.425). Um diesem "Wiederholungszwang" zu entkommen, siedelt sich Wilhelm Raabe ("Wir, der Autor, gehetzt mit allen Hunden der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts" (BA12, 220)) mit künstlerischem Gewinn am Rand der Konvention an: Eine Vielzahl von divergierenden Einflüssen führt bei Raabe zu einem fast vollständigen Rückzug aus dem Kulturbetrieb.[...] Damit geht die Ausbildung einer Erzählkunst einher, die sich gravierend von der des programmatischen Realismus unterscheidet und zu-gleich Formgebungen vorwegnimmt, die im 20. Jahrhundert als Krise der Erzählens vollständig aufbrechen. (Zirbs 1986, S.13). Zum diesem Rückzug gehört unter anderem das Erfinden nicht einzuordnender "ad hoc"-Genres und die Verwendung "unzeitgemäßer" Gattungen. Dies beginnt bereits mit dem Erstling Die Chronik der Sperlingsgasse; dann gibt es "Gespenstergeschichten" wie Die Innerste und Der alte Proteus, den Briefroman Nach dem großen Kriege106, eine betont polyperspektivische Berichtsammlung (Drei Federn), eine bearbeitete und kommentierte Grabrede aus dem Jahre 1609 und den bereits besprochenen Michel Haas (vgl.Anm.97). Dem populären Genre des historischen Romans prägt Raabe durch seine Zitattechnik einen ganz eigenen Stempel auf (vgl. Anm.127) und in Im alten Eisen und Meister Autor arbeitet er mit Genremustern des Märchens107. Viele dieser Gattungen schauen einerseits zurück auf die Romantik und ins 17. und 18. Jahrhundert und sind andererseits im 20. Jahrhundert wieder aufgenommen worden, so daß Raabes Vertrautheit mit der Tradition zusammengeht mit "prophetisch" modernen Zügen und einem ständigen "Unbehagen an der Konvention" im Kulturbetrieb der Gegenwart. Um zu betonen, daß seine Texte nicht modischen Schemata entsprächen, benützt er unter anderem Paratexte, die den literarischen Gepflogenheiten seiner Zeit in mehrfacher Hinsicht zuwiderlaufen. Ausführliche Paratexte (das heißt hier vor allem Überschriften) sind generell untypisch für den klassischen Realismus; Raabes Handhabung dieser Textelemente ist in gewissen Aspekten die des 17. und 18. Jahrhunderts – und zwar nicht nur in historischen Erzählungen, wo die langen Titel und die ausführlich resümierenden Kapitelüberschriften den literarischen Ge- 54 pflogenheiten der Epochen, entsprechen, aus denen berichtet wird108. Außerdem übernehmen die Titel selber gelegentlich in barockisierender Manier die typische modernere Funktion des ("Oder"-)Untertitels, das Genre zu definieren109. Ob in diesen Anlehnungen an Verfahren vergangener Jahrhunderte eine Reverenz an Grimmelshausen liegt, ist unmöglich zu entscheiden; jedenfalls bietet sie Gelegenheit, Dissidenz auszudrücken. Dasselbe gilt für die genre-ankündigenden Untertitel. Üblich wäre "Ein Roman", aber gerade von diesem zentralen Begriff distanziert sich Raabe, da die zeitgenössische Literaturkritik eine Form des Romans inthronisiert hatte, die seiner Kunst völlig zuwiderlief. Er bezeichnet nur zwei frühe Texte in den Untertiteln als Roman110, und im reifen Werk taucht dieses Wort bloß noch ironisierend bei Unruhige Gäste auf, dessen Untertitel "Ein Roman aus dem Säkulum" lautet111. Ins "Säkulum", in die abschätzig betrachtete Welt und ihren Literaturbetrieb, gehört der Roman eben, und davon hat sich Raabe ja ein Leben lang spöttisch (und frustriert) abzusetzen versucht. Er beginnt damit schon in der Chronik der Sperlingsgasse: "Ich male Bilder und bringe keine Handlung; ich rechne ab, ohne den alten Ton ausklingen zu lassen; [...] ich – schreibe keinen Roman!" (BA1, 75). Beim Schüdderump läßt sich an der Korrespondenz mit dem Verleger Westermann verfolgen (vgl. Lensing 1980), wie Raabe gegen diesen Untertitel kämpfte, auf dem Westermann bestand, obwohl Raabe ihn mitsamt den entsprechenden Publikumserwartungen durch das Motto von Bürger ironisiert: Ergötztet ihr / Nicht lieber euch am lächerlichen Tand / der Torheit? Oder an dem heitern Glück, / Womit am Schluß des drolligen Romans / Die Lieb ein leichtgenecktes Paar belohnt? – / Vielleicht! (BA8, 6). Dieselbe Verweigerung übt Raabe auch dem "Modegenre" (Schrader 1989, S.195) der Novelle gegenüber, wie sie von Erfolgsschriftsstellern wie Heyse und Jensen praktiziert wurde. Der "objektivierende Formanspruch" (Martini 1981, S.682), den Heyse normativ festgelegt hatte, ist mit Raabes polyphoner Weltsicht und Erzählweise nicht vereinbar. Entsprechend sind wieder nur zwei frühe Texte so untertitelt112. Um dem Roman und der Novelle zu "entkommen" erfindet Raabe zuweilen ganz einfach andere Genres, die er in den Untertiteln bezeichnet113 und von denen einige ironisch Bezug auf modische Literaturprodukte nehmen: "Eine internationale Liebesgeschichte" (Christoph Pechlin); "Eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte" (Der Lar) und der berühmte Untertitel von Stopfkuchen: "Eine See- und Mordgeschichte". Gegen solche Titelklischees hat er sich auch explizit verwahrt: "Eine ‘Weihnachtsgeschichte’ habe ich so wenig geschrieben wie einen Feuilletonsroman." (BA17, 414). 55 Seine eigenste Form hat Raabe in den zwischen 100 und 200 Seiten umfassenden späten "Erzählungen" gefunden114, von denen die sechs ersten sechs als Krähenfelder Geschichten herausgekommen sind, aber wie so oft hat die Forschung Raabe auch in dieser Hinsicht "zu-rechtgelesen". Es ist je nach Länge der Texte sehr viel von "Romanen" oder "Novellen" die Re-de, ob es sich nun um von Raabe anders oder gar nicht115 untertitelte Texte handelt. Als novellistisch betrachtete Charakteristika werden dabei immer lobend erwähnt oder ihr Fehlen getadelt116. Ein ähnliches Mißverständnis findet sich bei Eduard Klopfenstein, der Raabes oben zitierte Passage und die Äußerung "Ich schreibe keinen Roman und kann mich wenig um den schriftstellerischen Kontrapunkt bekümmern." (BA1, 15) folgendermaßen kommentiert: Was ist von solchen Äußerungen zu halten? Sind sie als bare Münze zu nehmen, und ist die Chronik tatsächlich schlecht geschrieben und komponiert? (Klopfenstein 1969, S.39). Wer sagt, er schreibe keinen Roman, konnte also noch 1969 in Gefahr kommen, als selbstherabsetzend mißverstanden zu werden! Kurz: "Das terminologische Problem sollte einmal bedacht werden." (Stern 1994, S.10). 2.2. Sprachen und Sprachkritik - Art is a magnificently organized generator of languages. JURIJ LOTMANN Grimmelshausen und Raabe setzen sich nicht nur mit thematischen und formalen Genrekonventionen auseinander, sondern bauen verschiedene Sprachen, Stilregister, Dialekte, literarische Jargons und Diskurse in ihre Erzähler- und Figurenrede ein117. Ihre Texte entfalten Polyphonie nicht nur zwischen verschiedenen Diskurs-Inhalten, sondern auch zwischen den diversen Textoberflächen-Merkmalen, die solche Diskurse kennzeichnen. Unter "Sprachkritik" soll hier also nicht das grundsätzliche Mißtrauen in das Verhältnis von Sprache und Realität diskutiert werden, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufbricht und bei Raabe sehr wohl zu beobachten ist118, sondern Kritik (durch die Dichtung119) am klischierten, unüberlegten oder ideologisch motivierten Gebrauch bzw. Mißbrauch von Stilen, der durch karikierend ungeeignete "mönströse" Verwendung ironisiert wird120. Bachtin nennt dies "Heteroglossia", aber es ist auch als manieristisch bezeichnet worden: Die "vollkommene", d.h. möglichst umfassende Darstellung "dieser unserer Zeit" durch eine vollständige Abbildung aller Sprachbereiche, auch der noch nicht literaturfähigen und verpönten Sprache, verleiht dem Erzählwerk, gemessen an den klassizistischen 56 Schönheitsvorstellungen [...], Züge eines "erschrecklichen Monstrums". [...] SprachMonstrosität als Ausdruck einer monströsen, labyrinthisch-chaotischen Welt, durch das poetische Ingenium in eine zugleich belustigende und sinnreiche "ordentliche Unordnung" gebracht – das ist das Verfahren manieristischer Kunst. (Breuer 1988, S.294f.). Auch Raabe ist "Manier" vorgeworfen worden, und für ihn wie für Grimmelshausen muß diese Einordnung differenziert werden: Grimmelshausens Schriften sind die abgestufte Antwort auf die Urteilshaltung, die dem [...] Denken der Barockzeit zugrundeliegt. Die nächste und letzte Stufe ist mit dem Manierismus erreicht: nicht mehr kritische Reflexion der Urteilshaltung, sondern bewußter Bruch und Gegensatz. (Gaede 1978, S.83) Grimmelshausen sucht so wenig wie Raabe diese verblüffende Wirkung um ihrer selbst willen, die für die Ästhetik des Manierismus typisch ist. Für beide ist Sprachvielfalt nicht nur naturalistische Mimikry, nicht bloßer Spaß an der paraphrasierend ausgespielten Vielfalt, sondern verfolgt häufig einen polemisch parodierenden Zweck: entlarvendes Nebeneinanderstellen in der Tradition der menippeischen Satire, das kommentarlos schon eine Kritik darstellt. "Languages throw light on each other; one language can, after all, see itself only in the light of another language." (Bachtin 1981, S.12). Daß solche Komplexität nötig ist, um der Wirklichkeit auch nur annähernd gerecht zu werden, formuliert Simplicius, als er sieben Fragen zu seinem Leben beantworten soll: Hierauff wolte ich mein gantzes Leben erzehlen / damit die Umbständ meiner seltzamen Begegnussen alles recht erleutern / und diese Fragen mit der Warheit fein verständlich unterscheiden könten; der Regiments-Schultheiß [aber] begehrte [...] nur eine kurtze runde antwort auff das / was gefragt würde. Demnach antwortet ich folgender gestalt / darauß man aber nichts eigentliches und gründliches fassen konte. (Simpl 174). Weder Grimmelshausen noch Raabe schreiben je "kurz und rund"; wie die Stilvielfalt, die selbst ein Stil wird, ihr Werk durchzieht, sollen einige Beispiele zur Sprache der Neureichen, der romantischen Liebe und zur Bildungssprache zeigen. In den Nachkriegszeiten, in denen Raabe und Grimmelshausen lebten, waren Aufsteigertum und Karrieremacherei verbreitet121, und für Neureiche aller Epochen ist ja kulturelles, das heißt auch sprachliches, Sich-Emporstilisieren typisch. Die ironische Denunziation solcher Machenschaften betreiben beide Schriftsteller mit grimmiger Intensität. Sehr deutlich verspottet sie das 2.Kapitel des Simplicissimus, wo Simplicius unter großem rhetorischem Aufwand und in hohem "Stylus" unter Beiziehung biblischer und historischer Exempel die 57 Bauernhütte seiner von Historie und Bibel gleichermaßen unberührten Eltern und seinen eigenen "Beruf" als Hüterbub durch eine ungeheure Exempelkette emporstilisiert, "über deren kontextuelle Unangemessenheit der Roman keinen Zweifel läßt" (Bunsch 1988, S.35). In dieser witzigen Passage (Simpl 9-14) ist Grimmelshausens behauptete Absicht, durch überzuckerte Pillen zu belehren, glänzend verwirklicht. Raabe artikulierte seinen "satirischen Haß gegen die kapitalistische Oberschicht", mit dem sein Bild "von Deutschland [...] vielfach den Marxschen Bestimmungen entspricht"122 (Lukács 1968, S.56) mit ähnlichen Mitteln. Indem er den Jargon der neureichen "Kanaille" übernimmt, um eine Soiree der Geldaristokratie zu beschreiben, gelingt ihm in Die Leute aus dem Walde eine brillante Satire auf einen Lebensstil, der vom Geldumlauf geprägt ist: Ehe wir uns den Einzelheiten hingeben, können wir den Totaleindruck in der Sprache der Zeit, der Börsensprache charakterisieren. Wir finden, daß die Stimmung der Gesellschaft im allgemeinen eine feste war und daß das Geschäft der Unterhaltung sich auf der soliden Bahn ruhigen Fortschritts bewegte, Komplimente und Schmeicheleien fanden mit den bestehenden Gegenkomplimenten Nehmer und Nehmerinnen. Nach Skandal vielseitige Nachfrage; Stadtklatschereien aber leider loco unverändert, fest – jedoch beliebt. Politik ziemlich schwankend, in Musik und Theater lebhaftes Geschäft, günstige Stimmung für den letzten Roman [!]; wissenschaftliche Fragen und Wahrheit still und flau. [...] Nach zwei Uhr sanken die Kurse der Unterhaltung; die Notierungen aus der letzten Stunde der Gesellschaft sind uns nicht zugegangen. (zitiert nach Lukács 1968, S.53f.). Raabe nimmt hier einen Alltagsjargon mit der ironischen Distanz zur Kenntnis, die ihn dem Leser zur Fremdsprache werden läßt und ihn befähigt, Absurdes in der Gesellschaft, die sich seiner bedient, zu erkennen. Genauso schlagend entlarvt er die Verbindung von Krieg und Geld: "Haben Sie sich wohl schon einmal das Wort ‘Kriegsschauplatz’ genauer überlegt? ... Schauplatz! S’ist wundervoll! Soldaten bezahlen die Hälfte...!" (BA13, 323) und bemerkt der (kriegsbegeisterten) "Gegenwart" vom "23. November 1873" nach einer Beschreibung von Kriegsschäden im 17. Jahrhundert, "daß das Wiederaufbauen, das Auf- und Einrichten zu allem übrigen stets auch viel Geld kostet." (BA11, 261) – wie um anzudeuten, daß seine Zeit höchstens wirtschaftlichen Argumenten gegen den Krieg zugänglich sei123. Ähnlich illusionslos betrachten beide Schriftsteller literarische Euphemismen für die menschliche Sexualität. "Romanen" im Sinn von "Liebesgeschichten" stand Raabe so mißtrauisch gegenüber wie Romanen im allgemeinen, und Grimmelshausen kennt praktisch keine positiven erotischen Beziehungen. Hier wird die zu kritisierende Sprache in Zusammenhang mit 58 dem verwendet, was sie tatsächlich bezeichnet; sie wird aber mit einer sachlichen Formulierung ihrer Denotate kontrastiert und so als unecht entlarvt. In Hanau verweigert Simplicius die gesellschaftlich erwartete sprachliche Reaktion, als er ein "Adelich Frauenzimmer" (Simpl 117) lobend beschreiben soll. Unter anderem nennt er sie einen Affen: "Unser Aff trägt sein Hindern bloß / diese Damen aber allbereit ihre Brüst / dann andere Mägdlein pflegten ja sonst solche zu bedecken." (Simpl 117), und so, instead of praising her beauty as a representational symbol for her place in society, he exposes her for what she is for the assembled courtiers: a sexual attraction. Nature, the lower sphere is brought to light124. (Sanden 1987, S.51). Die Sprachschichten werden noch mehr verkehrt, wenn Simplicius den Tanz als "das Praeludium Veneris (der ehrlich Tantz solt ich gesagt haben)" (Simpl 96) bezeichnet: gelehrt verschleierndes Latein wird für die Demaskierung verwendet, und "ehrliches" Deutsch für den Euphemismus, den man brauchen "sollte". Courasches durch die Außenseitersituation der Frau geschärfter Blick befähigt sie besonders zu solchen Ironien. Im 13. Kapitel wartet sie als "gräfliches Fräulein" auf einem Schloß auf einen Kavalier, der sie kurz vorher aus schlimmsten Erniedrigungen gerettet hat. Der junge Mann hält bei seinem ersten Besuch eine höchst elaborierte petrarkistische Rede an die "hoch-geborne schönste Dam", die ihn "wie ein andere ritterlich Penthasilea" entführt habe, so daß er nun "mit Leib und Seel" ihr Gefangener sei (Cour 66). Courasche hat keine Illusionen über den eigentlichen Zweck solcher Ergüsse: Dergleichen Sachen brachte der Schloßherr vor / mich zu dem jenigen zu persuadirn, wonach ich ohne das so sehr als er selbst verlangte; weil ich aber mehr in dergleichen Schulen gewesen und wohl wuste / daß man das jenige / was einem leicht ankommt / auch gering achtet / als stellte ich mich gar weit von seiner Meynung entfernet zu seyn. (Cour 67). Sie setzt also ihrerseits in ihrer Rolle als trauernde Witwe zu einer ebenso langen Rede an, die "güldene Promessen" erreicht – worauf sie "in alles einwilligt[e] / was er begehrte." (Cour 68). Die Kontrastierung von literarischen und sachlichen Beschreibungen der "Liebe" ist ausgesprochen entlarvend – nicht nur für die erotische Unersättlichkeit der Frau, sondern auch für den Sprachgebrauch, mit dem Männer ihr Verlangen als Anbetung einer keuschen Unerreichbaren kaschieren und willige Frauen zwingen, diese Fiktion mitzumachen. Besonders kraß ist der Ge-gensatz zwischen den Tränen, die Courasche hervorpreßt, "als wann mirs ein lauterer gründlicher Ernst gewesen" (Cour 67), und denen, die sie im vorherigen Kapitel vergießt. Nach Vergewaltigung und obszöner Quälerei durch ein ganzes Regiment hatte ihr Retter die Täter 59 gezwungen, Courasche auf Knien um Verzeihung zu bitten; sie "konte ihnen aber nur mit weinen vergeben." (Cour 65). Raabe ironisiert analog, wenn auch innerhalb engerer Schicklichkeitsgrenzen, wie die Prägung durch trivial gewordene literarische Muster den privaten erotischen Dialog bestimmt. Dabei tritt der Gartenlauben-Roman an die Stelle von Petrarca und Amadis. In Zum alten Proteus unterhalten sich zwei Verliebte, deren Eltern gegen ihre Verbindung sind, durch ein Gartengitter. Er seufzt: "Was will die ganze übrige Welt uns anhaben?" Ernesta trug ihren Namen nicht umsonst; – sie konnte sich leider nicht sanft aus den Armen des Geliebten losmachen, aber sie sagte, indem sie ihm durch das zierliche wenn auch solide Gartengitter die Hand leicht und doch fest auf das Herz, das heißt auf die in der Brusttasche über demselben ruhende Zigarrentasche legte: "Leider Gottes sehr viel!" (BA12, 211, meine Hervorhebungen) Jede einzelne der hier kursiv hervorgehobenen Phrasen wird im umgebenden Text durch eine (hier durch Unterstreichung markierte) Antwort, ein Adverb oder eine Paraphrase mit verheerender Wirkung ironisiert. Die scheinbare Redundanz, sicher Raabes auffälligstes Stilmerkmal, das seine Texte auch in kurzen Ausschnitten identifizierbar macht, ist so nicht eine bloß geschwätzige Häufung, sondern hat dialogische, distanzierende Wirkung: "Raabes ‘Schwellform’ suchte [...] Vielstimmigkeit im Erzählakt selbst." (Martini 1981, S.686). Solche Distanz zu literarischen Moden halten Raabes Erzähler auch in vielen Erweiterungen (hier kursiv hervorgehoben), die vom Adverb über das überraschende Adjektiv bis zum Nachsatz gehen: Es war wirklich eine wunderschöne Herbstnacht (BA8, 240). der im Reisehandbuch empfohlene Sonnenuntergang (BA10, 187) Die Villa Piepenschneider lag, wie wir angemerkt haben, im tiefsten nächtlichen Dunkel; der Püterichshof jedoch im Mondschein – wahrscheinlich eben der Poesie wegen. (BA12, 229). Solche beinahe brechtschen Verfremdungseffekte streben einen "Umschlag von Emotio in Ratio" (Helmers 1963, S.14) beim Leser an. Manchmal macht Raabe seine Verachtung für die verspotteten Stile auch explizit: "E n o r m, um das widerwärtige Reklamewort auch einmal und dazu noch gesperrt anzuwenden, war die Nachfrage." (BA15, 91), oder indem er eine parodistische Passage im Gartenlaubenstil kommentiert: So oder ungefähr so hätten wir berichten – schreiben müssen, wenn uns im geringsten daran gelegen wäre, [...] die Teilnahme unserer Leser in der gewöhnlichen Weise zu fesseln. (BA8, 194). 60 Wie bereits bei Raabes Umgang mit Titelklischees wird hier deutlich, daß polyphones "Roman"-Schreiben auch Selbstreferenz, Reflexion über den Diskurs im eigenen Genre bedeutet: "The novelistic discourse dominating a given epoch is itself turned into an object and becomes a means for refracting authorial intentions." (Bachtin 1981, S.309). Schließlich wird auch Gelehrsamkeit von beiden Autoren parodiert. Zur Ironisierung des hohen Stylus verwendet Grimmelshausen gern dessen wohl auffälligstes Stilmittel der "insistierenden Nennung" oder "anaphorischen Häufung" – an unpassenden Orten; der eröffnende Abschnitt des Simplicissimus enthält nur das erste von manchen "Wortfesten" und Exempelketten. Aber auch Raabe erlaubt sich solche Aufblähungen. Während in Das Odfeld eine Gruppe von Flüchtlingen durch eine Schlacht des Siebenjährigen Kriegs stolpert, gibt der Erzähler unvermittelt Folgendes von sich: Dolomit – Rautenspat, Braunbitterspat, Bitterkalk, Mineral, farblos oder gefärbt, besteht aus kohlensaurem Kalk mit kohlensaurer Magnesia, ist als Braunspat eisenhaltig und bildet als Gestein groteske Felsbildungen und ist höhlenreich, sagt heute die Wissenschaft oder das Konversationslexikon. (BA17, 143). Die für das Konversationslexikon – das eben dem Durchschnittsbürger "die Wissenschaft" mundgerecht macht – typische Reihung verschiedener Bezeichnungen wird völlig unwichtig angesichts der von Raabe hervorgehobenen Tatsache, daß das beschriebene Gestein Höhlen bildet. In eine solche verkriechen sich nämlich die Figuren gleich darauf und können so die Schlacht überleben. Die Distanz zwischen gemütlicher philiströser Bildung und verzweifelter Kriegswirklichkeit wird durch den sprachlich hybriden Einschub offensichtlich. Die hier exemplifizierte Sprachvielfalt prägt den Stil beider Autoren durchgehend bis in die Figurenrede. Die Figuren haben selten eine wirklich eigene Sprache; sie pflegen wie die Erzähler den beschriebenen "Schwellstil", reden im "Simplicianischen Stil" beziehungsweise im "raabeschen Idiolekt" mit seinen barocken Charakteristiken125. Sprach-Naturalismus ist nicht durchgehalten. Grimmelshausen verwendet zwar immer wieder Dialekte, aber dies bleiben Episoden; die Hauptfiguren sprechen durchgehend "mehrsprachiges" Deutsch. Raabe begnügt sich sogar damit, den Leser auf Dialektfärbungen hinzuweisen, die er nicht ausführt. In Zum Wilden Mann führt der Apotheker Kristeller mit einer Bäuerin "im landläufigen Dialekt eine Unterhaltung, die wir dem Leser nicht vorenthalten wollen, die Mundart freilich abgerechnet." (BA11, 170). Was die Bäuerin dann sagt, steht tatsächlich im unverkennbaren Raabe-Stil. In Fabian und Sebastian wird die radebrechende Sprechweise der in Malaysia aufgewachsenen 61 Konstanze Pelzmann ausführlich beschrieben (BA15, 56f. und 115f.), und doch spricht sie reines "Raabesch": "Wie schön war es auf Ihrem Felde, und nun komme ich niemals wieder so zu Ihnen hinaus wie früher; und Sie kommen noch immer nicht in die Stadt zu uns und besuchen den Onkel und mich, und wir würden uns doch so sehr darüber freuen. Nicht wahr?" (BA15, 116f.). Solche Inkongruenzen sind ein wichtiger Hinweis auf die Künstlichkeit oder Kunstfertigkeit eines Schreibens, das von platt reportierendem "Realismus" oder "Naturalismus" gleich weit entfernt ist. 2.3. Fremde Texte: Zitat und Kritik des Zitierens - European novel prose is born and shaped in the process of a free (that is, reformulating) translation of others’ works. MICHAIL BACHTIN Grimmelshausens und Raabes ungeheure Belesenheit schlägt sich nicht nur in ihrer kunstvollen Verwendung verschiedener Stile nieder; die Forschung hat relativ spät – vor allem bei Grimmelshausen – auch zu entdecken begonnen, wie vielfältig die Zitate aus und Anspielungen auf konkrete Werke sind, die die beiden in ihre Texte eingebaut haben (vgl. die Auswahlbibliographien 1 und 3 im Anhang), und wie zentral dies für ihr Erzählen ist126. Die distanzierende oder bestätigende Kraft intertextueller Verweise ist beiden Autoren so wichtig, daß sie sogar mit fiktiven Zitaten und Quellen spielen und Rahmenerzählungen und Herausgeber fingierter Dokumente vorschieben127. Bei Raabe wie bei Grimmelshausen ist die typische Form der intertextuellen Bezugnahme, die wie die Entzifferung der subversiven Stimmen im polyphonen Erzählen einen aktiven Leser fordert, das ungekennzeichnete oder nur schwach "markierte" Zitat128. Es teilt die Leser klar ein in die, die das Zitat als solches erkennen, und die andern; aber auch ein gekennzeichnetes Zitat ist für einen Leser, der die Quelle nicht nur dem Titel nach kennt, interessanter, da er sich einen weiteren bereichernden Zusammenhang erschließen kann. In jedem Fall ist nur einer eingeweihten Gruppe von Gebildeten, den wahren Lesern, die "volle" Lektüre 62 möglich: "Um davon mit vollem Verständnis nach innigem Bedürfnis zu reden, müßten wir so zu zweien und dreien zusammen sein." (BA17, 262). Da aber die Zitate nicht markiert, die fremden Texte ohne Signale ihrer Fremdheit in den eigenen integriert sind, kann man sie überlesen; eine einigermaßen naive Lektüre ist möglich, was bei beiden Autoren das Lesepublikum und ebenso das Risiko des Mißverständnisses (auch bei professionellen Lesern) vergrößert hat. Grimmelshausen ist lange als autodidaktischer Dorfpoet und Volksdichter verkannt worden, der seine ganze Bildung nur aus dem populären Lexikon von Tommaso Garzoni bezogen haben soll und "der eben deshalb so schöpferisch geworden sei, weil ihn ein stilles Leben im Schwarzwaldtal vor fast aller Berührung mit dem [...] literarischen Betrieb samt seinem Regel- und Nachahmungsglauben geschützt habe" (Weydt 1979, S.11). Die Fülle der von ihm und Raabe zitierten Werke und Autoren stellt aber höchste Anforderungen an die Belesenheit des Germanisten, der als idealer Leser solcher Zitattechnik gerecht werden will, und sie werden noch dadurch gesteigert, daß in sehr vielfältigen Formen zitiert wird: bloße Nennungen von Autoren, Figuren und Werken sind genauso wie Motive, plots, mehr oder weniger überformte Formulierungen und Textpassagen in den Text integriert. Dies in Kategorien wie "Wörtliches Zitat", "Paraphrase" und "Anspielung" auseinanderdividieren zu wollen, wäre kaum sinnvoll, obwohl genaue Untersuchungen der Überarbeitungsschritte und Abwandlungen natürlich interessante Einzelresultate ergeben haben129. Die Assimilation kann so gut gelingen, daß in extremen Fällen gerade montierte Passagen als besonders lebensechte Schilderungen im autobiographisch daherkommenden Text des Simplicissimus aufgefaßt werden, wie die Schilderung der Schlacht von Wittstock (Simpl 176-178), die erst spät als ausgedehntes Zitat aus einer zeitgenössischen Übersetzung von Sir Philip Sidneys Arcadia erkannt worden ist: Die Schlachtbeschreibung, die zunächst auch Ausdruck individueller Erlebnisse scheinen könnte, entpuppt sich als sorgfältig stilisiertes und z.T. nach konventionellen Mustern gearbeitetes Darstellungsmodell, ohne daß darum doch der vermittelte Wirklichkeitsgehalt an Eindringlichkeit verlöre. (Bunsch 1988, S.101). Dieter Breuer interpretiert diese Stilisierung so: "Dem Autor liegt offenbar mehr an der Darstellung kollektiver Erfahrung, nicht eigenen Erlebens." (Breuer 1988, S.288). Was zitiert ausgedrückt ist, kann repräsentativer und universaler wirken, da es von mehreren Stimmen bestätigt scheint; dies entspräche der mittelalterlich-barocken Tradition, auctores zur Untermauerung der eigenen Argumentation herbeizuziehen. Daß aber – auch bei Raabe – so viele Zitate nicht nur ungekennzeichnet bleiben, sondern sogar stark überformt und integriert 63 werden, zeigt wohl, daß die Autoren nicht primär daran interessiert sind, ihre Texte durch Verankerung im anerkannten Bildungsgut glaubwürdiger oder prestigeträchtiger zu machen: "Wir zitieren nicht, um zu zitieren und zu prangen" (Meyer 1961, S.23); entsprechend wird die eingearbeitete Gelehrsamkeit auch nicht wie bei manchen Zeitgenossen durch Fußnoten nachgewiesen130. Vielmehr ist der Zweck der Verweise eine Bereicherung des Texts durch Hinzuziehung weiterer Stimmen. Hans-Jürgen Schrader schreibt über Raabe, was auch für Grimmelshausen gelten könnte: Streng funktional für die planvolle Dichte der Verwebekunst, die die zentrifugalen Kräfte bändigt, ohne die Eindrücklichkeit der chaotischen Welterfahrung zu gefährden, ist das Spiel der aufeinander bezogenen Historienassoziationen, biblischen Typologien, literarischen Motive, Anspielungen und Zitate. [...] Sie sind dem sorgfältigen Leser zur Dechiffrierung, zum Nachdenken über die hintersinnigen Kontraste zwischen ursprünglicher und willkürlich-kontextueller Bedeutung aufgegeben. Fern eines Zurschaustellens von Belesenheit [...] sind sie auch gänzlich ungeeignet zur Befriedigung etwaiger Leserbedürfnisse auf klassische Erhebung oder sentenzhafte Normversicherung. (Schrader 1989, S.207). Das faszinierte Spiel mit den reichen Inhalten der überlieferten Bildung enthält also auch ein Element der Bildungskritik; der unkonventionelle Umgang mit dem Alten soll "freimachen von den Fesseln der Vergangenheit und den Boden für Neues bereiten." (Helmers 1978, S.80). Dazu gehört auch, daß Altes, das nicht bloß zum Paradieren und Bestätigen dient, neu gelesen wird: Die tradierten Formen wurden [bei Grimmelshausen] mit den sie tragenden Stoffkomplexen ergriffen, dabei jedoch gebrochen, indem man sie im Sinne bestimmter literarischer Effekte neu montierte und kombinierte. (Brinker-von der Heyde 1989, S.55). Solche Montagetechnik bewirkt Distanz, wenn zitierte Inhalte und Aussagen als vorgeführte, im negativen Sinn fremde Stimmen, als Masken (vgl. den Titelkupfer des Simplicissimus) gelesen und so fragwürdig werden. Dies kann etwa für die große Absage an die Welt im letzten Kapitel des Simplicissimus gelten, die bis auf den allerletzten Absatz ein seitenlanges Zitat aus Antonio de Guevaras Contemptus vitae aulicae [ist]. Genau genommen verkündet also nicht der simplicianische Ich-Erzähler, sondern eine fremde Stimme das "adjeu Welt". (Bauer 1994, S.100). Simplicius weist selbst auf den Zitatcharakter hin: Damals kamen mir etliche Schrifften des Quevarae unter die Hände / darvon ich etwas hieher setzen muß / weil sie so kräftig waren / mir die Welt vollends zu erleiden. Diese lauteten also: [...]. (Simpl 457). 64 Dieses Zitat wird auch nicht stilistisch assimiliert und dissoniert mit dem umgebenden Text: Das rhetorisch Aufgesetzte des Stils verleiht dem Romanschluß etwas Uneigentliches, ja man gewinnt den Eindruck, als veranstalte Grimmelshausen mit Hilfe einer erborgten Partitur ein Pseudofinale. (Bunsch 1988, S.55). Tatsächlich bestätigt die Fortsetzung in der Continuatio, daß Simplicius’ Einsiedelei auf dem Mooskopf eine bloße Attitüde war. Die Uneigentlichkeit der Weltabsage – ihr Zitatcharakter – ist also durchaus auslegungsrelevant. (Bauer 1994, S.101). Im Lichte von Simplicius’ späterer Hinwendung zur Welt und den Mitmenschen im Springinsfeld und im Rathstübel, wird diese Passage noch suspekter, obwohl nie ganz eindeutig ausgesprochen wird, wie sie zu beurteilen sei. Dagegen setzt Raabe die "Technik des denunzierenden Zitats" (Damaschke 1990, S.82) meist mit – für den belesenen Leser – offensichtlicher Ironie ein. In Die Innerste zitiert er bekannte Kriegsverherrlicher wie Ewald Kleist, Ramler und Gleim mit ihren idyllischsten Texten (BA12 150f.), um einen sonnigen Nachmittag im Mühlengarten zu beschreiben, den ein verliebtes Pärchen unbekümmert um die Schlachten des Siebenjährigen Kriegs genießt. Dabei nennt er zwar Autorennamen, überläßt es aber dem Leser, zu ergänzen, daß diese Arkadier auch blutrünstige Patrioten waren. Wie in Grimmelshausens Beschreibung des Überfalls auf den Bauernhof muß der Leser eine unangemessene Beschreibung des Kriegs mit einer sachlichen Darstellung ergänzen, die die euphemistische Passage als solche entlarvt. Der Kriegsberichterstatter Archenholtz wird mit "ausnehmender Abgefeimtheit" (Hajek 1977, S.37) zitiert: Der Hauptmann von Archenholtz [...] sagt, daß der Morgen sehr schön war und daß die Sonne den blutigen Walplatz, die Leichen und Sterbenden hell beschien. [..] Wir haben die Schilderung ganz abgeschrieben, denn es wird einem so reinlich, leicht und gewissermaßen freundlich dabei zumute, daß es eine wahre Lust ist. (BA12, 149f.). Solche Distanz zum Zitat kann auch durch Deformation markiert werden, wenn Zitate von wirklich unübersehbarer Berühmtheit sind. Besonders geeignet und von beiden Autoren häufig so benutzt sind Bibelzitate, deren "lutherischer" Sprachduktus und parallelisierende Syntax (bei Stellen aus dem Alten Testament) sie auch dann kenntlich macht, wenn der Leser die entsprechende Stelle nicht wiedererkennt oder einordnen kann: "Aus tiefer Not schrei ich zu dir – nämlich zu Ihnen, Fräulein." (zitiert nach Helmers 1963, S.22). Mit Knecht und Magd und allem, was sein ist, und ebenfalls mit Fackeln rückt der Ritter von Bumsdorf [...] aus. (BA7, 241). Es wurde aus Abend und Morgen der zweite Weihnachtstag. (BA16, 94). 65 Aber auch Shakespeare wird nicht verschont, indem Hamlets letzte Worte zu "Der Rest ist Brennholz." (zitiert nach Helmers 1963, S.22) umfunktioniert werden. Solches mag weniger das Zitierte verspotten als die Zitierenden. Zwar kann "der ‘Absprung ins Zitat’ [...] den Sinn" haben, "tradierte Inhalte abzuwerten" (Helmers 1978, S.68), aber beide Autoren kritisieren damit auch den Mißbrauch dieser Inhalte. Dies wird ganz offensichtlich, wenn Simplicius im Rathstübel Plutonis 1. Könige 1,1-2 für seine Zwecke umbiegt, um sich neben die hübsche junge Spes zu setzen: "Diß Recht hat uns der König David gestifftet / daß nemblich alte Männer sich neben der Jungfrawn Seiten erwärmen mögen." (Pluto 9)131 oder wenn ein vom Vogelnestträger beklauter Kavalier einer Dame, auf die er Absichten hat, seine Kahlköpfigkeit mit dem Anklang an Absalom rühmlich erklärt: "In [...] gähligem Absprung verblieb mir Hut und Barüque an einem Ast deß Baums hangen." (Nest 12). Nachdem der IchErzähler des Vogelnests I entdeckt hat, daß er sich unsichtbar machen kann, triumphiert er: "Ich sorgte weder umb Essen noch trincken mehr / noch wie ich mich ins künfftig kleiden / oder wo ich sicher ruhen und schlafen wolte." (Nest 5f.), und Alcmaeon benutzt dieselbe Stelle aus der Bergpredigt132, um das Gespräch übers Reichwerden zu eröffnen: "Trachtet zunächst nach dem Reiche Gottes" (Pluto 12). Damit entlarvt er selbst seinen Glaubensgehorsam als reines Mittel zum Zweck, dessen Effizienz später auch mit einem Müsterchen belegt wird (vgl. Pluto 44). Raabe kritisiert mißbräuchliches Zitieren ebenfalls. In der bereits erwähnten Passage aus Vom alten Proteus wird neben dem sachlichen Alltagsstil, der mit den Versatzstücken der Trivialliteratur kontrastiert, als dritte Sprachebene die der Weltliteratur evoziert. Die zwei Verliebten waren nämlich "neulich in Romeo und Julia", und Ernesta klagt: "Capulet hätte sich dreist [Papa] zum Muster nehmen können seiner unglücklichen Tochter gegenüber." (BA12, 210). Wie unangemessen diese platte Anwendung eines tragischen Motivs aufs Kleinbürgerleben ist, macht Raabe durch die Namengebung klar: "Hilarion und Ernesta hießen nämlich die beiden guten Kinder. [...] Er aus der auch weit verbreiteten Familie Abwarter, sie eine Piepenschneider." (BA 12, 209). Anstatt die lächerlichen Namen bloß zu nennen, stellt er die zwei Spießbürgerfamilien einander als "Häuser" gegenüber – wie die Montagues und Capulets. Mit dem Verweis aufs weltliterarische Vorbild wird gleichzeitig die Distanz zu ihm betont und das anmaßende Zitieren der Kleinbürger denunziert. Später wird Raabe auch explizit: 66 Nomina sunt odiosa, aber Zitate sind oft noch viel odiöser: kein Gott hilft uns davon, das von neuem drucken zu lassen, was die klügsten Leute immer wieder als etwas Frisches beibringen. (BA12, 236). In Pfisters Mühle verspottet Raabe sogar Theodor Storms Zitieren in Psyche mit Adam Asches Bemerkung über "das abgetragene Zitat von [Homers] unaustilgbare[r] Sonne über uns" (BA16, 178). Ähnliche Anspielungen auf Werke, deren Texte nicht vorgeführt werden, sondern zu ergänzen sind, sind meist ebenfalls kritisch. Raabes Spott über abgenutzte Genres ist bereits geschildert worden (vgl. S.63), und Grimmelshausen bringt ähnliche Seitenhiebe an. Als Courasche von einer verdorbenen Zimmerwirtin in die Prostitution eingeführt wird, sind Bücher wesentlich daran beteiligt: Sie lehnete mir auch den Amadis, die Zeit darinn zu vertreiben und Complimenten daraus zu ergreiffen / und was sie sonst erdencken konnte / das zu Liebes-Lüsten reitzen machte / das liesse sie nicht unterwegen. (Cour 31). Simplicius’ Vorbereitung auf erotische Abwege geht ähnlich vor sich133, und die Lektüre beeinflußt sein Liebesleben so stark, daß er statt einer Schilderung auf die entsprechenden Bücher hinweisen kann: "Es ist ohnnötig / alle Thorheiten meiner Leffeley umbständlich zu erzehlen / weil dergleichen Possen ohn das alle Liebes-Schrifften voll seyn." (Simpl 272). Im Springinsfeld hat die Leichtgläubigkeit eines unkritischen Lesers, der "Märlein" und Realität nicht auseinanderzuhalten weiß, schlimme Folgen134. In solchen Seitenhieben auf bestimmte Texte oder Textsorten ist der Gegenpol zum unmarkierten Zitat erreicht: es ist nur die Markierung vorhanden, die den Leser immerhin auf einen Bezug hinweist, dessen Inhalt er aber immer noch selber ergänzen muß. Einen speziellen Fall der Intertextualität, bei der die Markierung ebenfalls das Wichtigste ist, bilden die fiktiven Zitate, d.h. Textelemente, auf die als fremd, als Zitat hingewiesen sind, obwohl sie vom Autor selber stammen. Für solche "Zitate" gibt es keine über den Text hinausreichenden Gründe wie Leserselektion oder Bildungskritik; ihre Funktion kann nur darin liegen, die Ungewißheit der Wahrheit, auch der fiktiven, durch erfundene Quellenverweise, mit denen ihre "Realität" offenbar belegt werden muß, zu betonen135. Dazu gehören einerseits die Inszenierungen fiktiver Herausgeber und Rahmen-Erzähler, die den Hauptteil eines Texts als umfangreiches Zitat, als dokumentarischen Einschub ausgeben, und andererseits Verweise auf Dokumente und Berichte, die fiktiven Verfassern zur Verfügung gestanden ha- 67 ben sollen. Bei Grimmelshausen sind die Herausgeberfiktionen zentral (vgl. den dritten Teil dieser Arbeit); bei Raabe verweisen dagegen Ich- und Er-Erzähler häufig auf fiktive Quellen. Zahlreiche – nicht nur historische – Erzählungen – von Die Chronik der Sperlingsgasse an nennen zitierende, dokumentarische Textsorten im Titel136, und Raabe spielt sogar in Briefen mit dieser Fiktion: Bis jetzt sitze ich über den Papieren von Finkenrode – aus denen ich der Welt nächstens etwas mitteilen muß, sie mag es hören oder nicht. Es treibt sich viel wunderliches Gesindel drin herum. (BAE2, 20, meine Hervorhebung). Auch im Lauf dieser Texte nehmen die Erzähler häufig Bezug auf die Materialien, die sie angeblich benutzt haben: "Was mir die Vergangenheit gebracht hat, was mir die Gegenwart gibt, will ich hier, in hübsche Rahmen gefaßt, zusammenheften." (BA1, 15). Ziemlich häufig sind im allgemeinen beiläufige Beteuerungen der Treue zu irgendwelchen nicht faßbaren Unterlagen Wir begnügen uns mit einem Auszuge der Relation des Korporals; aber wir können einen Eid darauf ablegen, daß sich alles so verhielt, wie der Einarm [...] erzählte." (BA12, 179). Auch Karl Krumhardt, der Erzähler von Die Akten des Vogelsangs, spricht immer wieder von Akten, die er zu ordnen habe, und betont, obwohl er zu einem guten Teil auch seine eigene Jugend mitberichtet: "Ich werde mir die möglichste Mühe geben, nur als Protokollist des Falls aufzutreten." (BA19, 220). Ja, er schützt sogar den Namen eines Zeitgenossen: "‘Schlappe’ [...] war nur sein Schulname. Sein wirklicher Name liegt sehr bei meinen Akten." (BA19, 266). In solchen ostentativen Bemühungen um Objektivität wird eine weitere Funktion deutlich, die Intertextualität für Erzählerfiguren in polyphonen Texten haben kann: die Vergewisserung und Absicherung des eigenen Berichtens. Die Problematik, die solche Taktiken hervorbringt, soll nun abschließend betrachtet werden. 3. Polyphonie über den Text hinaus: Autor, Erzähler und Leser - Il n’y a d’art que pour et par autrui. JEAN-PAUL SARTRE - We know how full these novels are of narrators. What we are apt to forget is how full they are of listeners as well. BARKER FAIRLEY 68 Bisher wurde Polyphonie beschrieben, die verschiedene Stimmen in einem Text zu Wort kommen läßt und verschiedene Textsorten und Sprachen einbezieht. Abschließend soll betrachtet werden, wie Autoren Erzählerfiguren inszenieren und mit dem Leser kommunizieren lassen, der ins polyphone "Wechselspiel der Ansichten" (Klopfenstein 1969, S.115) einbezogen wird. Bei Raabe wie bei Grimmelshausen sind diese Erzähler sehr auffällig und vertreten ihre Meinungen mit einer Insistenz, die häufig zu Diskussionen um die Identität von Autor und Erzähler geführt hat. Dieses Hervortreten eines Individuums, dessen betonte Subjektivität keinen Anspruch auf allgemeingültige Aussagen erheben kann, steht in scharfem Gegensatz zu den Gepflogenheiten monologischer Diskurse, wie sie Julia Kristeva beschreibt: D’une part, un discours monologique qui comprend 1) le mode représentatif de la déscription et de la narration (épique); 2) le discours historique; 3) le discours scientifique. Dans tous les trois, le sujet assume le rôle de 1 (Dieu) auquel, par la même démarche il se soumet; le dialogue immanent à tout discours est étouffé par un interdit, par une censure, de sorte que ce discours refuse de se retourner sur lui-même (de "dialoguer"). (Kristeva 1969, S.158). "Auf sich selber zurückzukommen", sich selber in Frage zu stellen, ist eine der wichtigsten Eigenschaften von Raabes und Grimmelshausens Schreiben. Das Bewußtsein einer komplexen, sich ändernden Welt macht monologisches Erzählen aus einer "göttlichen" überpersönlichen Perspektive unmöglich. Während wissenschaftliche Texte im 17. Jahrhundert einen absoluten Wahrheitsanspruch zu erheben beginnen, der vom Prestige eines Autors unabhängig ist, werden die Erzählerfiguren in fiktionalen Texten besonders relevant. Sie sind Hauptträger der "abi-lity of the novel to criticize itself", die "a remarkable feature of this ever-developing genre" (Bachtin 1981, S.6) darstellt. Diese Selbstkritik geht bis zur Inszenierung erzählerischer Hilflosigkeit, die einen monologischen Diskurs unmöglich macht, weil die Erzähler nicht genug oder zuviel Widersprüchliches wissen. Solche Texte verschließen sich nicht vor dem, was das Erzählen kompliziert oder seine Konventionen verletzt, sondern stellen sich den Problemen, die der Einbezug solcher Themen und Techniken verursacht. Diese Haltung hat eine historische Parallele in gewissen Formen des Skeptizismus, die kurz skizziert werden soll. Exkurs: Skeptizismus Raabes Abneigung dem Literaturbetrieb seiner Zeit gegenüber ist erwähnt worden. Sein häufiger Ausdruck "Säkulum" deutet darauf hin, daß diese Weltabkehr mit der Weltverachtung ver-wandt ist, die mindestens einen Teil von Grimmelshausens Mentalität ausmacht. Insofern 69 Grim-melshausen die christliche Religion an sich nicht mit Skepsis betrachtet, während Raabes Abwendung vom "Säkulum" ironischerweise weitgehend "säkularisiert" ist137, sind die beiden Haltungen natürlich sehr verschieden; sie haben jedoch ähnliche praktische und literarische Auswirkungen. Die Welt ist so verdorben – sündig oder vulgär – , daß man sie besser verläßt, um sich nicht zu beschmutzen. Diese Haltung artikulieren viele Figuren bei Raabe genauso wie die Einsiedler bei Grimmelshausen, auch wenn sie nicht im Wald oder auf verlassenen Inseln landen. Von diesen Rückzugsposten aus, von der Eremiten-Insel, dem eingezogenen Familienleben des bürgerlichen Schriftstellers Raabe oder der "Roten Schanze" aus, auf die sich Stopfkuchen zurückgezogen hat, wird aber die zurückgelassene Welt durchaus kritisiert. Es gibt kein stoisches Danebenstehen138, keine Resignation in dem Sinne, daß man das Thema aufgibt; der Beobachter reibt sich weiter an den Problemen. Der Rückzug selbst ist problematisch und widersprüchlich: Raabes Perspektive ist nicht nur skepsisumwittert, nicht nur ein resigniertes Zurückgehen von dem Weg, den damals "die ganze Welt ging", [...] sondern – und hier zeigt sich Raabes große schriftstellerische Ehrlichkeit – seine Perspektive wird stets von der Handlung widerlegt oder wenigstens zweifelhaft gemacht. (Lukács 1968, S.57). Auch bei Grimmelshausen ist der Rückzug des Einsiedlers nicht unproblematisch. Simplicius landet unfreiwillig auf der Insel, und schon vorher meditiert er sehr pragmatisch: "Ich sagte zwar zu mir selber: [...] werde ein Capucciner / dir sind ohne das alle Weibsbilder erleidet." (Simpl 442). Und selbst wenn die Entsagung aus geistlicheren Motiven erfolgt, muß doch im Laufe eines Lebens der rechte Weg nicht immer gleich aussehen: Du bist morgen nicht wie heut / und wer weiß / was du künfftig vor Mittel bedörfftig / den Weg Christi recht zu gehen? heut bistu geneigt zur Keuschheit / morgen aber kannstu brennen. (Simpl 442). So geht auch das Einsiedler-Exil auf der Kreuz-Insel zu Ende, und Simplicius kehrt in die Welt zurück. Seine altersweise, distanzierte und doch anteilnehmende139 Haltung im Springinsfeld ist genau die der kritischen Außenseiter, die in Raabes Erzählungen so häufig sind, und die unter anderem auch (in Stopfkuchen, Abu Telfan usw.) als Heimkehrer erscheinen. Kontemplativer Abstand, schmerzlich empfundene Einsamkeit oder erzwungene Distanz sind verschiedene Formen von Isolation [in Raabes Werk], denen aber eines gemeinsam ist: die Vereinsamung dient [...] einer kritischen Reflexion über die Gesellschaft und ihre Zustände aus der erworbenen Distanz heraus. (Matschke 1975, S.151). 70 Diese skeptische Distanz ist nicht eine kalt-abstrahierende, die im Descartesschen Sinne urteilt und einteilt und "deren Zielpunkt die Gewißheit ist", sondern ähnelt der Haltung Montaignes, dessen "ewige Unruhe des Denkens die [...] Vielfalt des Denkmöglichen hervortreibt" (Stierle 1984a, S.323). Montaigne wußte, daß Gewißheit nicht zu haben ist: Il n’y a aucune constante existence, ni de notre être, ni de celui des objets. Et nous, et notre jugement, et toutes choses mortelles, vont coulant et roulant sans cesse. Ainsi il ne se peut établir rien de certain de l’un à l’autre, et le jugeant et le jugé étant en continuelle mutation et branle. (zitiert nach Gaede 1978, S.140, Anm.30). Diese historisch frühere Haltung, die stark an die von Grimmelshausen und Raabe erinnert, ist eigentlich "moderner" als die Descartes’, da "die Neuzeit nicht mehr die Epoche eines homogenen Wirklichkeitsbegriffes ist." (Sanden 1987, S.45). In dieser neuen Zeit bewahrt nur das "altmodische" Aushalten von Gegensätzen, der Kontakt mit den Widersprüchen der Welt, davor, in einen Wahn zu verfallen, wie ihn "Jupiter" im Simplicissimus vorführt: Sein verächtlicher totaler Rückzug aus der Realität führt zu einer tyrannischen Utopie "von oben", während Grimmelshausen und Raabe "von unten" erzählen. Der wahrhaft skeptische Erzähler kann also nicht ein klassisch auktorialer, allwissend olympischer sein, dessen unangefochtenes imperfektivisches Erzählen in der dritten Person "l’un de ces nombreux pactes formels établis entre l’écrivain et la société, pour la justification de l’un et la sérénité de l’autre" (Barthes 1964, S.30) bildet. Im ausgehenden 19. Jahrhundert komplizieren ökonomische Faktoren diesen "Pakt" zusätzlich: The intense social mobility that follows in the wake of advanced capitalism inevitably produces a fragmentation of consciousness, with the result that the implicit near-consensus between the writer and his public is broken. The former universal ideology now becomes one of various possible ideologies, with a consequent weakening of the autho-rity of the author, whose relationship to the various reading publics becomes uncertain, as does his own relationship to the social reality that is his subject material. [...] Wilhelm Raabe is of the generation that lived through [...] these changes. Even in his earliest works [...] he shows himself to be fully cognizant of the nature of the age. (Bullivant 1976, S.267 und 271). Dasselbe Bewußtsein für die Problematik des auktorialen Diskurses ist bereits bei Grimmelshausen festzustellen. Wie sich dieser angefochtene Diskurs durch seine Vielstimmigkeit selbst relativiert und durch Intertextualität bereichert, aber auch in seiner Eindeutigkeit untergraben wird, ist besprochen worden; eine Analyse der angefochtenen Erzähler und ihres Verhältnisses zum Leser140 soll die Darlegung abrunden. Dabei geht es nicht um die fast unvermeidbaren Spuren einer Vermittlerinstanz, wie sie sich natürlich auch analysieren ließen, wie etwa 71 das Imperfekt als Erzählzeit, das bereits "einen überlegenen Gegenwartsstandpunkt" (Klopfenstein 1969, S.131) impliziert, sondern um explizit inszenierte Auftritte persönlicher Erzähler. 3.1. Persönliche Erzähler - Die Kunst braucht den Schein der Wirklichkeit, um künstlerisch haltbar zu sein. THOMAS MANN Für Grimmelshausens Werk bedarf die Überschrift "persönliche Erzähler" kaum eines Kommentars: alle Simplicianischen Schriften samt Rahmengeschichten haben Ich-Erzähler. Bei Raabe ist dies nur etwa in einem Drittel der Werke der Fall; aber viele seiner auktorialen Erzähler haben ein derart plastisches Eigenleben, daß sich die Grenze zu den Ich-Erzählern verwischt und die Frage, in welchem Grad Erzähler an der Handlung beteiligt seien, zweitrangig wird141. In der Subjektivität seiner Erzählerfiguren und in ihrer Fähigkeit zur Kommunikation mit dem Leser kommt Raabes skeptische Auffassung von der Begrenztheit abstrakter Erkenntnismöglichkeiten und von der Wichtigkeit individuellen Zeugnisses zum Ausdruck. Persönliche Erfahrung ist aufschlußreicher als theoretische Erklärungsversuche, und so fällt Simplicius dem alten Soldaten Springinsfeld, der über den Krieg philosophieren will, ins Wort: Entweder redestu im Schlaf oder wilst wieder aus dem Weg tretten / du wilst den Krieg underscheiden und vergist abermal deiner eignen Person / sage darvor wie es dir selbst gangen? (Spring 66). Dieser persönliche Zug142 ist die wichtigste gemeinsame Eigenschaft von Grimmelshausens und Raabes Ich- und Er-Erzählern. Die naheliegendste Art, einen Erzähler persönlich auftreten zu lassen, ist die Ausmalung der Erzählsituation (zur "epic situation" vgl. Romberg 1962), der konkreten Situation, in der jemand erzählt oder schreibt. Je stärker sie markiert ist, je mehr der Leser darüber erfährt, wer wo, wann und warum mit welchen Gefühlen und unter welchen Schwierigkeiten erzählt, desto mehr gelten die schönen Worte: "It is not some vague and insubstantial ‘I’ that is speaking. A pronoun has been made flesh."(Romberg 1962, S.84). Diese "Fleischwerdung" (Franz Stanzel spricht von der "existentielle[n] Gebundenheit des Ich-Erzählers an seine Leiblichkeit" (Stanzel 1979, S.127) geschieht – in unterschiedlichem Grad, aber analog – bei Protagonisten von autobiographischen Berichten (Simplicius, Courasche, Springinsfeld, die beiden Vogelnest-Erzähler, Michel Haas, August Hahnenberg in Drei Federn) genauso wie in Rahmen- 72 geschichten (Philarchus in Springinsfeld, Erich der Schwede in Rathstübel Plutonis, Eduard in Stopfkuchen), bei Herausgebern und Kommentatoren (Philarchus in Courasche, Johannes Wacholder in Die Chronik der Sperlingsgasse, Mathilde Sonntag in Drei Federn, Ebert in Pfisters Mühle), Augenzeugen oder "peripheren[n] Ich-Erzähler[n]" (Stanzel 1979, S.262) vom Typ Serenus Zeitblom (Karl Krumhardt in Die Akten des Vogelsangs) und den ungewöhnlich plastischen "auktorialen" Erzählern bei Raabe. Alle diese Erzähler sagen "Ich", treten als Personen auf und erzählen subjektiv, parteiisch und oft von persönlichen Animositäten geprägt. Dazu gehört ein eingeschränktes Wissen143 und das, was David Goldberg "Bekenntnis-Zuwachs" (confessional increment) nennt: die Tatsache, daß das Erzählen außer dem Erzählten auch den Erzähler charakterisiert: Everything an I-narrator tells us has a certain characterizing significance over and above its data value, by virtue of the fact that he is telling it to us. [...] Assume that an author tells us: "He was born in San Diego [...] His mother was a whore." An I-character giving us the same data becomes the kind of character that calls his mother a whore. (zitiert nach Stanzel 1979, S.132f.). Dieses Element ist sehr stark in Grimmelshausen144, dessen Erzähler sich häufig geradezu selber diffamieren. Wie komplex dieser Vorgang in Courasche ist, ist gezeigt worden; Springinsfeld und Philarchus, den Berns zu Recht "schmächtige Seele" und "charakterlos" (Berns 1990a, S.108) nennt, sind dagegen genau "die Art von Mensch", ihre frühere Ehefrau bzw. Auftraggeberin Courasche Hure zu nennen145, und die Art, wie Simplicius ihnen diese Gehässigkeiten mehrfach verweist, unterstreicht dies: [Springinsfeld] antwortet ach die Blut Hex [Courasche]! schlag sie der Donner; lebt das Teuffelsvihe noch? [...] Ey / ey / sagte Simplicius zu ihm / was seynd das abermahl vor leichtfertige unbesonnene wort? (Spring 24). Auch die trostlose Langweiligkeit von Springinsfelds Lebensbericht charakterisiert ihn, während Courasches vielstimmig-widersprüchliches Erzählen sowohl ihre komplexere Lebenssituation als auch ein reicheres Innenleben widerspiegelt. Solche Selbstcharakteristik kennzeichnet natürlich ebenso Raabes Ich-Erzähler. Besonders interessant ist aber, wie sehr bei ihm auch die formal gesehen "auktorialen" Erzähler zentrale Bedingtheiten von Ich-Erzählern teilen. Dies beginnt mit der Ausmalung der physischen Schreibsituation, wie am Schluß von Der Heilige Born: Noch einmal ziehen in langer Reihe alle Gestalten seines Buchs dem Erzähler in der Mitternachtsstunde vorüber [...]. Aus dem offenen Fenster wirft der Erzähler seine Feder jauchzend in die Nacht hinaus: "Was mir der Winter hat Leids getan, / Das klag ich diesem Sommer an!" Memento vivere! (BA3, 346). 73 Der Erzählvorgang wird aber auch psychologisch veranschaulicht, wenn etwa in Der Lar der Erzähler mit "Es ist eine fadenscheinige Redensart: einen Schleier fallen lassen. Aber wir lassen doch einen Schleier fallen." (BA17, 262) die Geschichte unterbricht, um eine Seite lang seinen Jugenderinnerungen nachzuhängen. Da diese aber nicht "für die schlechte Welt" bestimmt sind, malt er schließlich "hier nur drei dicke schwarze Kreuze hin" (BA17, 263), die in Sternescher Manier dann auch abgedruckt sind. Auch sonst beeinflußt die "Welt" das Erzählen: Daß kein kleiner Mann [...] eingekehrt war, geht sogleich daraus hervor, daß wir gezwungen wurden, und zwar von der Universität und Stadt Wittenberg gezwungen wurden, zu seiner Einführung einen sehr großen Mann anzuziehen, den großen Dichter William Shakespeare. (BA19, 7). Zur Schreibsituation gehört natürlich auch der Verweis auf tatsächliche oder fiktive Quellen (für letztere vgl. S.76), die der Erzähler zur Kenntnis genommen hat, aber nicht referieren mag: "Wer mehr von dem Wasser wissen will, der schlage nach in Grupens hannöverschen Altertümern." (BA12, 104). Manchmal teilt der Erzähler sogar Einzelheiten seiner "Recherchen vor Ort" mit: Wir haben unsern Lesern immer gern die Tageszeit geboten, aber so schwer wie diesmal ist uns das noch nie gemacht worden. In der Stadt Höxter waren die Turmuhren sämtlicher Kirchen in Unordnung. (BA11, 261). Wie es uns in allen zehn Fingern juckte, dem alten [...] Landbriefträger [...] aus dem Busch über den Hals zu springen, ihm seinen Sack abzunehmen und den ganzen Inhalt vor unseren Lesern auszuschütten! O Reichtum des Lebens, alle hatten [...] ihrem Herzen Luft machen müssen. [...] Welch ein Glück, daß wir den Sack und seinen Träger haben laufen lassen. Das, was wir jetzt niederschreiben, schreiben wir nur ab. (BA19, 169). Mit dem Lauern auf den Briefträger ist schon das tatsächliche Handeln und Wandeln in der fiktionalen Welt erreicht, in der sich der Erzähler mit den Figuren bewegt: "Der Erzähler hörte [die sagenhafte Innerste] schreien, der junge Müller Albrecht Bodenhagen gleichfalls." (BA12, 104). In Deutscher Adel unterhält sich der Erzähler gar mit dem Leihbibliothekar Achtermann darüber, ob nun er ("der deutsche Humorist"(BA13, 194)) oder der ebenfalls anwesende Hund weitererzählen solle! Mit solchen Kapriolen ironisiert Raabe die Einsichten, die für "realistische" auktoriale Erzähler im Lauf der Literaturgeschichte selbstverständlich geworden sind. Sobald durch Ich-Aussagen und physische Andeutungen daran erinnert wird, daß auch der auktoriale Erzähler ein Mensch ist, erweist sich sein Anspruch, allwissend zu sein, als ab- 74 surd: "Wir saßen in seiner Seele und erhalten der Welt und unsern Lesern seinen Gedankengang natürlich." (BA11, 112). Mit diesem Bild des Erzählers, der sich unbemerkt in die Seele einer Figur eingeschlichen hat, um ihre Gedanken auszuplaudern, spielt Raabe auf die verschiedenen Techniken an, die im Umgang mit den Einschränkungen der Ich-Erzählung entwickelt worden sind und die die Erzählmöglichkeiten erweitern, ohne die Plausibilität der Ich-Perspektive zu riskieren. Zweihundert Jahre vor Raabe hält sich Grimmelshausen streng daran, daß ein Ich-Erzähler keinerlei Innensicht anderer Personen haben kann. Er läßt Simplicius nie Verben innerer Vorgänge, angewandt auf dritte Personen, gebrauchen. [...] Wo – nur ein einziges Mal146 – von einer seelischen Regung anderer berichtet wird (Simpl 422), äußert sie sich in sinnlicher Erscheinung, spiegelt sie sich in einer wahrnehmbaren Gebärde: "Als ich nun sahe, daß er sich [..] verwunderte..." (Tarot 1972, S.248). Diese beobachteten Gesten anderer können aber auch gespielt, unaufrichtig sein. Um den Ich-Erzählern einen – "realistisch" unmöglichen – Zugang zum unbefangenen Verhalten anderer Personen zu geben, können ergänzende fremde Erzählperspektiven durch mitgeteilte Briefe und Berichte oder Reflexionen eines gereiften und besser informierten Erzähler-Ichs eingebracht werden. Diese Möglichkeiten, die erzählte Welt zu erweitern, werden weiter unten besprochen; hier möchte ich nur kurz auf die einfache und sehr alte Technik eingehen, bei der der Erzähler freiwillig oder unfreiwillig zum ungesehenen Zuschauer und Zuhörer und so zum Mitwisser von Geschehnissen [wird], um davon erzählen zu können. Grimmelshausens Romane sind voll von [solchen] Begebenheiten147. (Tarot 1972, S.251). Seit Apuleius’ Goldenem Esel ist dies besonders typisch für den Schelmenroman mit seinem "unentdeckten, aber auch ungehemmt entdeckenden Aspekt" (Arendt 1974, S.59f.), der dank seiner "Perspektive von außen oder von unten" ein umfassendes Panorama der kritisierten Gesellschaft malen kann. Neben physisch unsichtbaren Figuren können auch unbeachtete, sozusagen sozial unsichtbare Zeugen (Kinder, Bedienstete, Narren und Tiere) besonders unbefangen beobachten. Bei Apuleius, wo Lucius durch seine Verwandlung in einen Esel die Möglichkeiten zu voyeuristischen Einblicken erhält, ist auch schon das Element der magischen Unsichtbarkeit zu finden, die im Wunderbarlichen Vogelnest durch die "Tarnkappe" erreicht wird. Der Rekurs aufs Übernatürliche trägt in diesem Text aber nicht zur Belebung des Erzählens bei, denn der Erzähler erhält durch das unsichtbar machende Vogelnest eine so selbstverständliche Einsichtsmöglichkeit, daß er als Figur an individuellem Profil verliert. Die lusti- 75 gen und heiklen voyeuristischen Erzählsituationen sind zwar ausgeführt, aber der allzu ungefährdete Erzähler, um dessen peinliches Entdecktwerden niemand bangen muß, wird zum quasi-auktorialen Außenstehenden: Die Beschreibung löst sich in Handlung auf dadurch, daß infolge des unsichtbarmachenden Vogelnests die intimsten Situationen vom Vogelnestträger und mit ihm vom Leser unmittelbar geschaut werden. Auch in dieser Hinsicht ist die Darstellung der bürgerlichen Welt ein Gegenstück der kriegerischen Simpliciaden. Dort gruppieren sich die Ereignisse um [...] eine Hauptgestalt; hier bewegen sich die Hauptfiguren selbst, die Träger der Handlungsteile148, um den beobachtenden Vogelnestträger herum: Er wird dadurch sozusagen der passive Held des Geschehens: unsichtbar und namenlos149. (Scholte 1950a, S.91). Die schon mehrfach festgestellte Tendenz zur moralisch "objektiven" Eindeutigkeit in Grimmelshausens späteren Werken ist auch hier spürbar. Der kaum charakterisierte, weniger plastisch inkarnierte Erzähler, der physisch für seine Mitfiguren und erzählerisch für den Leser unsichtbar geworden ist, wird dem objektiven Beobachter ähnlich, der so typisch für das Barock und den wissenschaftlichen Diskurs ist150. Entsprechend erscheint im Titel das Beobachtungsinstrument (Vogelnest) und nicht mehr der Erzählername wie in den vorhergehenden Simplicianischen Schriften151. Visuelle Wahrnehmung ist ja eine sehr distanzierte, überlegene: "Das Auge selbst wird [im Barock] zum Sinnbild göttlicher und staatlicher Autorität." (Gaede 1978, S.14), und impliziert Urteil: Die Aussageform des Urteils ist ebensowenig von den Normen und Erscheinungen der barocken Literatur abzulösen wie vom damit zusammenhängenden Prinzip der Sehkunst. (Gaede 1978, S.18). Diese "Aussageform" ist Raabe, der bis zu seinen letzten Werken immer polyphoner und skeptischer schreibt, natürlich höchst verdächtig, und so wird der unsichtbaren Beobachter ebenso wie der allwissende Erzähler als literarisches Klischee ironisiert152: Wir aber, wo blieben wir mit unserem Beruf auf Erden, wenn wir uns nicht das Recht nähmen, ungeladen durch alle Türen einzugehen und uns ungerufen überall einzufinden, beim Volk, bei den Leuten und bei uns? Und zwar nicht nur beim Feste! Nichts von Bedeutung selbstverständlich. Wenn wir nun diesmal ungeladen, ungesehen, unbelauscht von unserm Rechte Gebrauch machen... (BA16, 348). Dies ist nicht nur kühnes Spiel mit der Fiktionalität, sondern gibt dem abgegriffenen Topos eine neue tiefere Bedeutung, da er mit daran erinnert, daß alles Erzählen, auch das sich auktorial gebende, persönlich und daher bedingt ist; auch der auktoriale Erzähler muß als Mensch ausgehen, um echte Menschen zu beobachten. 76 Die Menschen interessieren uns aber zuerst, und so machen wir Gebrauch von unserem Privilegium, überall ungehindert eintreten zu können und führen [...] unsere Leser ein bei der Frau Baronin. (BA5, 178). Dank dieser Menschlichkeit verlieren Raabes Erzähler nicht wie im Vogelnest an Interesse, da sie emotional beteiligt bleiben: "In eigener Sache frei aufatmen oder in der anderer Leute: für den rechten Erzähler läuft auf ein und dasselbe hinaus, geradeso wie für den rechten Zuhörer." (BA16, 341). 3.2. Hilflose Erzähler und mitarbeitende Leser - Wissensbeschränkungen des Erzählers [wirken] geradezu als programmatische Herausforderung an den Leser. Ein solcher [...] Erzähler hat jedweden unangebrachten [...] Autoritätsanspruch radikal abgelegt. WERNER FÜGER Der wahre Leser muß der erweiterte Autor sein. NOVALIS Normalerweise sind Erzähler allwissend und meist auch "omni-communicative" und enthalten dem Leser Informationen nur – etwa im Kriminalroman – im Interesse von dessen eigenem Vergnügen vor, im parodistischen Spiel mit der eigenen Allmacht. Auch hier kommt das "confes-sional increment" dazu; solch spielerisch "negiertes Erzählerwissen" kennzeichnet als "indirektes Charakterisierungsmittel" (Füger 1978, S.204) humoristische, ja leichtfertige Erzähler153. Das häufig bezeugte Nichtwissen von Grimmelshausens und Raabes Erzählern hat aber tiefere Gründe, auf die die Unsichtbarkeits-Tricks, die Grimmelshausen benutzt und auf die Raabe anspielt, obwohl seine Er-Erzähler sie gar nicht nötig hätten, mit hinweisen. Die betonten Erzählbeschränkungen der Ich-Form sind typisch für Umbruchszeiten, in denen jedermanns Wissen motiviert oder legitimiert werden muß, weil Wissen ungewiß geworden ist und immer wieder neu erobert werden will. Nur in der Ichform, "wo das Wissen des Erzählers motiviert werden muß, kann [das Nichtwissen des Erzählers] eine solche Rolle spielen." (Forstreuter 1924, S.83). Solches Nichtwissen ist also nicht nur Koketterie oder Mittel zum unterhaltsamen Zweck (Dieter Arendt spricht im Gegenteil geradezu vom "Erzähler als Spielverderber" bei Raabe (Arendt 1980, S.23))154, sondern Anzeichen realer Schwierigkeit: Raabes Stil gibt sich oft [...] geradezu den Anschein der Hilflosigkeit vor der erzählten Wirklichkeit – eine kühne, eigenwillige Maskierung seiner Kunstabsicht, aus der aber auch [...] etwas von der subjektiven Realität solcher Hilflosigkeit gegenüber der Bewältigung [...] des undurchsichtigen Lebens spricht. (Martini 1981, S.684). 77 Bei Grimmelshausen steht oft das Nichtwissen des erzählten Ich, des ahnungslosen jungen Sim-plex, im Vordergrund; aber auch das "überlegene" erzählende Ich stellt sich im Nachhinein Fra-gen zum Erzählten, die es nicht beantworten kann: Unter währendem diesem meinem Umbschwäiffen haben mich hin und wieder [...] Bauersleut angetroffen / sie seynd aber allezeit vor mir geflohen / nicht weiß ich / wars die Ursach / daß sie ohne das durch den Krieg scheu gemacht / verjagt / und niemals recht beständig zu Hauß waren; oder ob die Schnapphahnen die jenige Abentheur / so ihnen mit mir begegnet / in dem Land außgesprengt haben? (Simpl 142). Solche Eingeständnisse wecken ein sozusagen menschliches Zutrauen in den Erzähler, gerade weil er selber klarstellt, daß eine ganze und endgültig formulierte Wahrheit von ihm nicht zu erwarten ist. Er steht nicht über seinen Figuren, sondern mitten unter ihnen. Michail Bachtin hat für diese Tatsache eine theologische Analogie gefunden: er vergleicht das Verhältnis des Erzählers zu seinen Figuren mit dem Gottes zum Autor. Während der unangefochtene auktoriale Erzähler "assume le rôle de 1 Dieu" (um mit Julia Kristeva zu sprechen, vgl. S.78) und dem alttestamentlichen Jahwe vergleichbar ist, ist der Erzähler polyphoner Texte dem Jesus der Evangelien ähnlicher, der sich als Mensch unter Menschen begibt und ebenso zuhört wie spricht, d.h. den Andern ihre Stimme läßt. Wie sich Gott in der Inkarnation seiner Macht begibt, begeben sich solche fleischgewordene Erzähler ihrer Macht und Allwissenheit und werden zu Figuren unter Figuren. Ein Aphorismus von Raabe zieht dieselbe Parallele und deutet einen weiteren Aspekt des Machtverzichts an, nämlich den Verzicht auf das Verurteilen: "Was ist unsereins, wenn er nicht wie Gott ist, wenn er nicht alle gelten läßt?" (Hoppe 1960, S.135). Felix Lippoldes in Pfisters Mühle artikuliert ebenfalls Jesu Gebot, nicht zu richten: "Die Richter sitzen zu Gericht, aber es hat noch nie ein Tribunal oder einen Menschen gegeben, die über einen andern Menschen hätten Urteil und Recht sprechen können." (BA16, 108). Die gleiche Zurückhaltung, die der skeptischen Haltung gegenüber einer konfessionellen, cartesianischen oder positivistischen Urteilsgewißheit entspricht, findet sich bei Grimmelshausen. Er tritt ausschließlich als Figur in der fiktionalen Welt auf und vermeidet durch seine immer variierten Herausgeberund Autoren-Pseudonyme155 die Dominanz seines realen Namens, obwohl ein wiedererkennbarer Autorenname möglicherweise verkaufsfördernd gewirkt hätte. Daß anstattdessen "Simplicissimus" zum werbewirksamen Schlagwort geworden ist, das unzählige "Simpliciaden" und anderen Imitationen bis zur Zeitschrift "Simplizissimus" benutzt haben, scheint geradezu 78 passend, da Grimmelshausen immer nur durch Simplicius oder andere Figuren spricht. Er predigt höchstens in der von anderen umgebenen Stimme des Simplicius: The de-unifying forces of the languages of the novelist are at work against the pressure of unification of the preacher’s language. The novelist cannot control the voices of his characters, or [...] the narrator the vices of his many roles. (Sanden 1987, S.50). Auch Raabe, der immer wieder mit olympischen Attitüden spielt, die die Fiktionalität betonen und die Kontrolle, die er durch die Auswahl des Berichteten über den Leser hat, macht doch klar, daß er das Sprechen seiner Figuren weder kontrollieren noch ersetzen kann: Wie er von Bruseberg nach Ilmenthal geriet [...], teilt er uns vielleicht einmal selber mit. Tut er’s nicht, so werden wir uns auch ohne das weiter in ihm und mit ihm zurechtfinden. (BA15, 226). Das beste [...] wird sein, daß wir [...] Mama hier das Wort überlassen, das heißt aus einem Briefe von ihr das Nötige beibringen. Um in manchen Dingen den Nagel auf den Kopf zu treffen, muß man nicht über ihnen stehen, sondern sehr selber mit seinem ganzen Interesse dran beteiligt sein. Ja, was bedeutet alle Objektivität und Parteilosigkeit in der Welt gegen das, was eine Mutter zu sagen hat! (BA19, 63). Diese Unmöglichkeit, Geschichten und Geschichte zu manipulieren, geschweige denn, die Menschen zu verbessern, läßt die Erzähler zuweilen beinahe verzweifeln: Weil ich [GOttes heiligen Willen] wuste / pflegte ich der Menschen Thun und Wesen gegen demselben abzuwegen / in solcher Ubung bedünckte mich / ich sehe nichts als lauter Greuel: HErr GOtt! wie verwundert ich mich. (Simpl 66). Ebenso die eindrückliche, leidenschaftlich-sarkastische Hiobsgeste in Das Odfeld: Herr Gott, wo bliebe Dein Titel Zebaoth, Herr der Heerscharen, wenn Du allen Deinen Kostgängern das Gemüte gegeben hättest, ihr Tischgebet und Nachtgebet so zu sagen wie [...] der alte Buchius? Du hast es nicht getan, und so ist es nicht meine Schuld, wenn auch diese Historie einmal wieder zum größten Teil vom Gezerr um die Brosamen handelt, so von Deinem Tische fallen, Herr Zebaoth. (BA17, 20). In solchen Anklagen an Gott, der Krieg und menschliche Habsucht zuläßt, gegen die der Erzähler nichts tun kann und die er doch berichten muß, rückt der Erzählakt selbst mit seinen unübersehbaren Schwierigkeiten in den Vordergrund, und wir finden "more a realism of the narrative act than of what is narrated" (Sammons 1987, S.175). Dies ist weder ein cartesianischer noch ein poetischer Realismus, sondern ein sozusagen anthropologischer, der skeptisch mit den Begrenzungen individuellen Erkennens und Erzählens rechnet. Er verzichtet auf die Illusion, ein geschlossenes, vollständiges, im engeren Sinne realistisches Bild der Welt zeichnen zu können, gestaltet aber in der beschränkten Subjektivität der erzählten Erzählerfigur die Of- 79 fenheit oder Hilflosigkeit des Autors gegenüber der nicht bewältigbaren Vielfalt der Welt "realistisch". Solches eindringlich-aufdringliche Erzählen ist in Ich-Erzählungen wie bei Grimmelshausen nicht grundsätzlich ungewöhnlich. An Raabes Er-Erzählungen kritisierten die Kritiker der Spielhagenschen Schule dagegen gerade die Leiblichkeit der Erzähler als unpassend, die "jeanpaulisierende Methode, die unserm großen Humoristen das Räuspern und Spucken abguckt." (zitiert nach BA9/1, 493). Die persönlichen Einschaltungen von Raabes auktorialen Erzählern können tatsächlich als altmodisch betrachtet werden, wobei sie sich allerdings mehr von Fielding, Sterne und Thackeray herleiten. Andererseits ist die Tatsache, daß Er-Erzähler so stark an den Unsicherheiten von Ich-Erzählern partizipieren, zukunftsweisend, ja subversiv. Roland Barthes beschreibt, wie die Ich-Form die Sicherheit des klassischen bürgerlichrealistischen Romans unterminiert, die wesentlich von der dritten Erzähl-Person konstituiert wird: "Sans la troisième personne, il y a impuissance à atteindre au roman, ou volonté de le détruire." (Barthes 1964, S.33). Zur dritten Person gehört natürlich auch der fraglose Gebrauch des Imperfekts, das "un monde construit, élaboré, détaché, réduit à des lignes significatives, et non un monde jeté, étalé, offert" (Barthes 1964, S.30) voraussetzt, und da die Erzähl-situation "auktorialer" Erzähler im Präsens der "Erzählgegenwart" (Klopfenstein 1969, S.19) ausgemalt wird, ereignet sich gleich ein doppelter Angriff auf die Romankonvention. Die Kombination von Imperfekt und dritter Person verleiht "à l’imaginaire la caution formelle du réel, mais laisse[r] à ce signe l’ambiguité d’un objet double, à la fois vraisemblable et faux". (Barthes 1964, S.32). Indem er seinen Er-Erzählungen generische Züge der Ich-Erzählung gibt156, dekonstruiert Raabe diese "Wahrscheinlichkeit" und bringt ihre zweideutige Balance durch die "Glaubwürdigkeit" seiner fiktionalen, aber sehr lebens- und autorennahen Erzähler in Gefahr. Da sich der Leser nicht einer zuverlässigen auktorialen Führung anschließen kann, sind Texte mit hilflosen Erzählern natürlich anstrengend zu lesen. Dies ist allerdings bei Grimmelshausen und Raabe nicht auf elitäre Ambitionen zurückzuführen; beide Autoren stellen zwar mit Vergnügen intertextuelle Entzifferungsaufgaben, wollen aber auch von Vielen gelesen und ver-standen werden, ja auf sie wirken: "Für diesen einen schreiben wir heute und haben wir immer geschrieben. Wir wünschen uns aber viele Leser." (BA12, 297). Aber gerade die skeptische Haltung, kritisch und versöhnlich zugleich, die wohl in erster Linie weitergegeben werden soll, erschwert eine solche breite Einflußnahme ungemein. 80 Da die Vielstimmigkeit der Welt den Lesern ungeglättet mitgeteilt werden soll, ist eine plakative, breit verständliche und "autoritative" Einfachheit der Darstellung unmöglich157. Daß die Schwierigkeiten der Erzähler so zu denen der Leser werden, zeigen die vielen Mißverständnisse, die die Rezeptionsgeschichten prägen, weil viele – auch professionelle – Leser eine eindeutige "Aussage" aus den Texten isolieren oder in sie hineinlesen wollen. Damit sind sie entweder zu passiv, indem sie nicht alles verarbeiten, was der Text bietet, oder auf falsche Weise aktiv, indem sie dem Text etwas aufzwingen. Was aber Raabes und Grimmelshausens Texte von ihren Lesern fordern, ist Zusammenarbeit, Dabeisein, und dies wird vielfältig explizit gemacht, wie in der Kapitelüberschrift : "Hält allerley Sachen in sich / wer sie wissen will / muß es nur selbst lesen / oder ihm lesen lassen." (Simpl 93) Dazu wird bei Raabe auch der Leser physisch in die Welt der Geschichte hineingezogen, wie im berühmten Anfang158 von Zum Wilden Mann: Wir, daß heißt der Erzähler und [seine] Freunde [...], beeilen uns, unter das schützende Dach dieser neuen Geschichte zu gelangen. [...] Wir [...] eilen rasch die sechs Stufen der Vortreppe hinauf, der Erzähler mit aufgespanntem Schirm von links, der Leser, gleichfalls mit aufgespanntem Schirm, von rechts. Schon hat der Erzähler die Türe hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen Leser nach. Wir sind drin, in dem Hause sowohl wie in der Geschichte vom Wilden Mann! (BA11, 163). Diese physische Vergegenwärtigung des Erzählers und des Lesers ist aber keineswegs auf den Textanfang beschränkt. An jedem Punkt der Geschichte ist es möglich, dem Leser auch seinen eigenen Blick auf das Erzählte zu überlassen: Der Philosoph am Winterofen blätterte sich schon jetzt in das Buch hinein, es war ihm interessanter, als den Inhalt der [Visitenkartenschale] zu durchstöbern, und auch uns kann das angenehm sein. Auch wir kommen dadurch über die Aufgabe hinweg, ihm dabei über die Schulter sehen zu müssen, – im Interesse unserer Leser und Leserinnen. Dafür sorgte das Schicksal schon, daß den letzteren das Interessanteste für sie in dem entzückenden Gefäß nicht entging. (BA19, 17). Die ungeduldigen Fragen solch neugieriger Leser werden auch bei Grimmelshausen nicht nur in (häufigen) konventionellen Formeln wie "Der Leser wird sich wohl fragen..." eingebracht, sondern platzen richtiggehend in den Text herein: Und sie saßen beisammen am Fenster ihrer Krankenstube [...] . Wer? Die zwei Kriegsmänner, der alte und der junge. (BA20, 74, meine Hervorhebung). Mein Herkommen und Aufferziehung läst sich noch wol mit der eines Fürsten vergleichen / wann man nur den grossen Unterscheid nicht ansehen wolt / was? Mein Knan [...] hatte einen eignen Pallast / so wol als ein anderer. (Simpl 9, meine Hervorhebung). Auch die Orientierungsprobleme teilen Erzähler und Leser: 81 Die unserige [Dankbarkeit]! Das ist an dieser Stelle kein Pluralis majestatis: die Leser, auf die wir rechnen, sind samt und sonders mit eingeschlossen in diesen Plural; denn wo sollten sie, das heißt wir, von einem Blumenmaler [...] wissen, wenn uns da nicht die Wissenschaft auf die Sprünge geholfen hätte? (BA20, 41). In diesem Wir kann sich auch der reale Autor mit realen zeitgenössischen Lesern solidarisieren: Es eröffnet sich zu dieser unserer Zeit (von welcher man glaubt / daß es die letzte seye) (Simpl 9). In diesem unserm Teutschen Krieg... (Simpl 17). Wir, das kriegsgewohnte eiserne Geschlecht der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (BA13, 242). oder die Menschheit ganz allgemein spricht sich aus: Ach GOtt! wie ist das menschliche Leben so viel Mühe [...] / kaum hat ein Unglück auffgehört, stecken wir schon in einem anderen. (Simpl 38). In diesem "Wir" ist "die für die deutsche Literatur des Realismus insgesamt kennzeichnende Subjekt-Objekt-Dichotomie"(Cadonna 1985, S.65), die sich letztlich aus der cartesianischen Trennung zwischen (urteilendem) Subjekt und (beobachtetem) Objekt herleitet, aufgehoben, da der Erzähler die unvermeidliche eigene Subjektivität angesichts einer komplexen Welt einbekennen und mit der des Lesers ergänzen muß. Auch der Leser ist aber allein nicht fähig, die Realität angemessen zu erfassen und wird deshalb gewarnt, sich nicht über den Erzähler oder die Figuren zu erheben: Es möchte wohl jemand gedenken, ich sei eine Landläufer gewesen, weil ich so viele Herren gehabt; aber man richte nicht sogleich, und ein jeder, der wohl steht, sehe zu, daß er nicht falle! (BA2, 473). Die jenige / so da wissen / wie die Sclavonische Völker ihre Leibeigne Untertan tractirn / dörfften wol vermeinen / ich wäre von einem Böhmischen Edelmann und eines Bauren Tochter erzeugt und geboren worden; Wissen und Meinen ist aber zweyerley; ich vermeine auch viel Dings und weiß es doch nicht. (Cour 17). Diese Beschränktheit und Einseitigkeit allen menschlichen Erzählens wird noch deutlicher, wenn verschiedene persönliche (und daher begrenzte) Erzählerstandpunkte einander gegenübergestellt werden. 82 3.3. Lesende Erzähler und erzählende Leser: Mehrfachperspektive und Sproßroman Aber ihr Leutchen, was seid ihr denn für Volk! Wie soll sich denn unsereins hier durchfinden, wenn jeder rundum Recht hat von seinem Standpunkt aus? O Reichtum des Lebens, alle hatten sie geschrieben! WILHELM RAABE Grimmelshausen hat beteuert, einige seiner Simplicianischen Schriften seien für sich genommen unverständlich159, und es ist vielfach diskutiert worden, ob dies mehr als kommerzielle Motive habe, denn die pragmatischen und personellen Beziehungen [zwischen den Texten], die ohnehin immer geringer werden, reichen nicht aus, um Grimmelshausens rückschauende Aussage zu begründen. (Meid 1984, S.155). Etliche Forscher haben eine solche Begründung durch das Herausarbeiten verschiedenster Zusammenhänge zu finden versucht160. Dieter Breuer sieht gerade die Vielstimmigkeit des Erzählens als Ziel, weil jedes Erzählwerk des Zyklus aus der Perspektive ganz unterschiedlicher Erzähler die Verkehrtheiten im Deutschland des 17. Jahrhunderts schildert, dies in Form von Lebensgeschichten, deren jeweilige Wahnbefangenheit der Autor ironisch kenntlich macht. (Breuer 1988, S.283f.). Die verschiedenen Perspektiven stehen aber nicht einfach als enzyklopädische Beispiele für die möglichst vollständig repräsentierte Vielfalt des deutschen Lebens im 17. Jahrhundert isoliert nebeneinander. Die aufeinanderfolgenden Stimmen beeinflussen fortwährend die Lektüre, so daß für den Leser des Gesamtwerks wahre Vielstimmigkeit entsteht, wenn er Erzähler unter dem Eindruck dessen anhört, was andere über sie oder den gemeinsamen Erlebnisraum ausgesagt haben161. Dies liegt oft in der Absicht der erzählenden Figuren, deren Berichte manchmal überhaupt erst vom Lesen einer vorhergehenden Darstellung motiviert sind162, so daß sich geradezu eine "Erzähler-Leser-Stafette" bildet (Berns 1990a, S.106)163. Jede Erzählung erfüllt also auch die Aufgabe, ein Licht auf die anderen zu werfen, und "Das, was der Dichter sagen will", wenn man es denn bestimmen will, liegt im Zusammenklang der Stimmen, wie ja eine einzelne Fugenstimme kein gültiges Werk darstellt: Der Stumme redet da auch, auch der Abwesende spielt mit. Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft nur das, was zwischen zwei seiner Schilderungen als Drittes, nur dem Hörer fühlbares, in Gott ruhendes in der Mitte liegt. (Karl Gutzkow, zitiert nach Plumpe 1985, S.212). 83 Die "Stafette" der Simplicianischen Schriften überwindet als Ganzes (und nur so) eine wichtige Beschränkung der Ich-Erzählung, nämlich die fehlende Außenansicht der Erzähler. Die Rahmenerzählung des Springinsfeld liefert "the first relatively objective portraits of Simplicius, Courasche und Springinsfeld." (Negus 1974, S.102). Dieses Portraits sind nur "relativ" objektiv, da sie ihrerseits von einem Ich-Erzähler stammen, aber immerhin kommen sie nicht von den Porträtierten selber. Ohne Prätentionen auf eine völlig objektive, allgemeingültige Weltsicht entsteht aus dem Nebeneinander mehrerer entschieden und freimütig subjektiver Berichte etwas immerhin umfassender Gültiges. Dies beginnt schon mit der Erzählung von Kapitän Cornelissen, der Simplicius’ Manuskript von der Kreuz-Insel zurückbringt: Foremost is the striking contrast in point of view that is created by this factual, sober Calvinist’s reportage, juxtaposed with the exuberant gloria dei sounded in the final passage which was written by the hermit. (Negus 1974, S.102). Dies beeinflußt die Lektüre des Vorhergehenden: Cornelissen konfrontiert den Leser mit einer Beschreibung, die den bisherigen Ich-Erzähler aus einer distanzierten Sicht in den Blick nimmt. Simplicius rückt dadurch in eine exotische Ferne, die der auffälligen Nähe seiner Lebensbeschreibung auffällig widerstreitet. (Bauer 1994, S.97). Dieser "Widerstreit" geht weiter. Simplicius’ Einsiedlerleben auf der Kreuz-Insel wird dadurch in Frage gestellt, daß er im Springinsfeld zurückkehrt. Aus dem Ewigwährenden Kalender erfahren wir, daß immer wieder Besucher auf den Hof kommen, um dem berühmten Schriftsteller ihre Aufwartung zu machen, wobei [...] die Meuder jeweils Auskunft geben muß, daß er quasi verschollen sei. Aber dann ist er plötzlich wieder da164. (Boeckh 1959, S.355). So wird die These, daß stoische – das heißt lebensverneinende, im Gegensatz zur skeptischen – Weltentsagung das umschließende Prinzip des Simplicissimus sei (weil Simplicius in Waldeinsamkeit aufwächst und der Roman samt Continuatio auf einer Insel schließt), von den Fortsetzungen gefährdet: Harmonische, einlinige Interpretationen dieser Art gehen [...] nicht völlig auf. Zunächst bleibt offen, ob es überhaupt einen Romanschluß gibt und was es bedeutet, daß der Held auch die Kreuz-Insel verläßt und in den Kalender-Continuationen und im Springinsfeld wieder erscheint. (Meid 1984, S.130). Simplicius stellt aber nicht nur durch seine Rückkehr nicht nur sein vorheriges Leben samt frommem "Ende" in Frage, sondern stellt im Springinsfeld seine eigene Erzählweise im Simplicissimus in Frage: "Ich [mache] mir offt ein Gewissen [...] / wann ich besorge / ich seye 84 in derselben Beschreibung an etlichen Orten all zufrey gegangen." (Spring 18). Im Vogelnest geht dies noch weiter: Am Schluß will der Vogelnestträger Mängel der Mitmenschen mittragen, anstatt sie gottähnlich "abzustraffen" (Nest 114): Ich wolte meinem Neben-Menschen künfftig nachgeben und nicht allein gern außweichen / sondern auch darzu den Last seiner Mängel auß Christlicher Liebe gern gedulten / und an seiner Beschwerung tragen helfen. (Nest 137). Dieser (vorläufige? 165) Abschluß des simplizianischen Sproßromans wirft noch einmal ein ganz neues Licht auf die weltverachtenden Einsiedlerfiguren, die den Simplicissimus einrahmen. Im Springinsfeld, wo Courasches Biographie von Ex-Geliebtem, Ex-Ehemann und Sekretär kommentiert wird, wird deutlich, wie nicht nur neue Fakten ein neues Licht auf bereits angehörte Erzähler werfen können, sondern auch die unfreiwillige Selbstcharakterisierung der Erzählenden. Daß nicht Grimmelshausen die Courasche als Hure von Babylon beschimpft, sondern eben Philarchus, und daß also die Beschimpfungen perspektivengebunden sind, verkennen viele Interpreten. Bei Lektüre solcher [...] Interpretationen kann man sich oft des Eindrucks nicht erwehren, daß Courasche-Deutung über die denunziatorisch interessierte Deutung des Philarchus nicht nur vermittelt ist, sondern ihr verhaftet bleibt. (Berns 1990a, S.120, Anm.35). Daß Springinsfeld völlig verroht und Philarchus ein beeinflußbarer Feigling ist166, sollte die Wahrnehmung ändern, mit der der Leser ihre Erzählungen von Courasche aufnimmt, während Simplicius’ Stellungnahmen einen Ernst in die Beurteilung ihres Lebens hineinbringen, den sie selber trotzig ablehnt. Auch Raabe stellt Verbindungen zwischen seinen Werken her, für die der Begriff des Sproßromans allerdings etwas übertrieben wäre. Da sie sich weit verstreut durch und in vielfältigen Formen (von der versteckten Anspielung über die explizite Nennung eines Titels bis zur [...] Übernahme von Personen eines früheren Werkes) durch das ganze Werk ziehen167, können sie hier nur erwähnt werden. Die perspektivierende Wirkung ist nicht so stark kohärenzstiftend wie bei Grimmelshausen, aber wohl ebenso umfassend: Der ideelle Zusammenhang zweier Werke kann auf diese Weise wirkungsvoll bewußt gemacht werden. Die relative Häufigkeit derartiger Anspielungen legt überhaupt den Gedanken nahe, daß Raabes Werke sich [...] zu einem zusammenhängenden fiktiven Universum zusammenschließen könnten. (Klopfenstein 1969, S.135). Wie sich dieses "Universum", Raabes "simplizianische Schriften" konstituiert, wäre eine ausführliche Untersuchung wert. Hier kann nur auf das polyperspektivische Experiment Drei Fe- 85 dern hingewiesen werden, in dem Raabe die Technik sich gegenseitig beleuchtender Erzähler auf eine Grimmelshausen engstens verwandte Art verwendet. Der von einer lieblosen Kindheit verbitterte August Hahnenberg beginnt 1829, dreißigjährig, Erinnerungen an seine Jugendgeliebte Karoline aufzuschreiben. Mathilde, die Schwiegertochter des Mannes, der Karoline schließlich geheiratet, aber früh wieder verloren hat, findet viele Jahre später diese Aufzeichnungen und fügt unter der Überschrift "Die zweite Feder" einen kritischen Kommentar hinzu. Ihr Mann August Sonntag schreibt weiter; er hat Hahnenberg einiges zu verdanken. Mathilde berichtet dann die Haupthandlung um eine gemeinsame Freundin weiter, und nachdem auch August noch einmal zu Wort gekommen ist, beendet Hahnenberg 1862 in einem versöhnlicheren Ton das Werk. Eduard Klopfensteins Beschreibung dieses Texts könnte genausogut dem simplicianischen Sproßroman gelten: [Wichtig ist] der dialogische Charakter des Werks, [...indem] die späteren Beiträge immer auf die früheren Bezug nehmen oder überhaupt erst durch sie veranlaßt werden. Es geht [...] nicht in erster Linie um die Rekonstruktion eines vergangenen Geschehens, sondern um die aktuelle Auseinandersetzung, um den "friedlichen" Familienstreit. (Klopfenstein 1969, S.79). Selbst die "Trutz"-Geste der weiblichen Erzählerin in einer männlich dominierten Welt ist wiederzuerkennen, obwohl die Selbstpräsentation (samt Wahlspruch, anstatt Titelkupfer) bis zur Lächerlichkeit domestiziert ist: Ich heiße Mathilde und bin die Frau August Sonntags; mein Wahlspruch steht auf meinem Fingerhut, er lautet Douce mais sauvage; – zu den Abscheulichkeiten, welche auf den vorstehenden Seiten zu lesen sind, [...] habe ich noch etwas hinzuzufügen, und bei meinem Fingerhut, was ich zu sagen habe, das werde ich sagen. [...] Es hat schon manchem Mann seine Frau das gesagt, was er von zwanzig Universitäten und Fakultäten nicht erfahren hätte. [...] Sie überheben sich aber alle, und eine arme Frau hat genug zu tun, bis sie wieder eine Form in diese Sache bringt; – mein August hat sich erst gestern auf meinen Hut gesetzt, und ich habe natürlich in der letzten Nacht sehr schlecht geschlafen. (BA9/1, 267f.) Solche Selbstdarstellung überwuchert wie bei Grimmelshausen manchmal die angeblich angestrebte objektive Darstellung der andern Figuren: Da eben das Kind schreit, will ich August [...] das Wort geben, obgleich es mir schwer aufs Herz fällt, daß ich doch eigentlich über den Paten Hahnenberg und nicht über mich [...] schreiben wollte. (BA9/1, 281). Später spielt sich Mathilde dafür als korrigierende Herausgeberin eingefügter Briefe auf: "Hier ist das Schreiben, dessen Orthographie ich aber als deutsches Frauenzimmer [...] verbessert habe." (BA9/1, 318). 86 In seinem späteren Werk hat Raabe polyperspektivische Texte verfaßt, die in weit über das Sproßroman-Verfahren hinausgehender Technik mehrere Erzählerstimmen in Strukturen integriert, in denen es eigentlich nur einen "Erzähler" bzw. Schreiber gibt. Die perspektivische Erzählmethode, die wesentlich an die Ichform gebunden ist, ist nach dem Vorspiel der Drei Federn recht eigentlich eine Errungenschaft der Spätzeit und ist zugleich ein entscheidendes Element von Raabes dichterischer Eigenart. (Klopfenstein 1969, S.120). Das vielleicht berühmteste Beispiel ist Stopfkuchen, in dem der Erzähler auf einer Schiffsreise seine Erinnerungen an einen Besuch bei seinem Jugendfreund "Stopfkuchen" niederschreibt. Darin spricht hauptsächlich Stopfkuchen, aber er kann auch zuhören, wenn er will. So läßt er z.B. seine Frau reden und läßt er vor allem auch Störtzer [den er posthum eines Mordes überführen wird] reden. So ergibt sich eine Fül-le von Perspektiven und Standpunkten, die nebeneinander stehen bleiben, einander rela-tivieren. Schon das Ausmaß, in welchem die direkte Rede verwendet wird, zeigt, daß Raabe dieses Stilprinzip im Stopfkuchen am weitesten getrieben hat. Denn nur die direkte Rede bringt einen individuellen Standpunkt [...] ungebrochen [...] zu Darstellung. (Klopfenstein 1969, S.119). Solche direkte Rede loszuwerden, ist für gewisse Erzähler eine existentielle Notwendigkeit. Karl Krumhardt, der Erzähler in Die Akten des Vogelsangs, spricht von einem "tief gefühlte[n] Bedürfnis des Erzählers nach einem, nach etwas [!], das einen ruhig anhört" (BA19, 218), und Grimmelshausens bekennende Schelme teilen dieses Bedürfnis: Die Ansätze, das eigene Leben zu erzählen und erinnernd der eigenen Identität innezuwerden, wiederholen sich in bemerkenswerter Insistenz, als gelte es, ein Tabu zu brechen, das auf dem ständisch nicht legitimierten und sozial zum Schweigen verurteilten Leben lastet. (Bunsch 1988, S.121). Das Bedürfnis, angehört zu werden, ist natürlich letztendlich auch eines der Schriftsteller selber; wie sich die Beziehung zwischen ihnen und dem Publikum im Text verfolgen läßt, ist Gegenstand des folgenden, letzten Abschnitts. 3.4. Autor und Publikum I wonder whether the gentlemen who make a business out of writing books, ever find their own selves getting in the way of their subjects? If they do, I can feel for them. WILKIE COLLINS 87 Wenn Werke eines Schriftstellers aufeinander verweisen, ergeben sich einerseits verschiedene Perspektiven auf das Erzählte und es entsteht eine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zu einem "Gesamtwerk". Andererseits deuten solche Verweise auch auf den gemeinsamen Autor hin, besonders, wenn sie über personelle Zusammenhänge hinausgehen. So werden im "Beschluß" des Simplicissimus vorher besprochene Werke "des Autors" noch einmal erwähnt, da-mit auch der obtuseste Leser die Bedeutung solcher Verweise mitbekommt: Der Autor [...] bezeugt sich auch selbst in diesem Buch auff den keuschen Joseph / den er gemacht / und in seinem Satyrischen Pilger auff diesen seinen Simplicissimum, welchen er in seiner Jugend zum theil geschrieben, als er noch ein Mußquetirer gewesen. (Simpl 588). Im Simplicissimus wird aber auch umgekehrt auf den Satyrischen Pilgram vorausverwiesen (Simpl 244), und im Vogelnest verteidigt sich der Autor des Keuschen Joseph gegen einen Leser des Assenat von Philipp von Zesen. Dies ist nicht nur ein intertextueller Tritt ans Schienbein eines Zeitgenossen, sondern auch eine versteckte Unterschrift. In ähnlicher Weise bezeugt Raabe unzählige Male, daß ein Autor hinter seinen Texten steckt. So evoziert das zweite Kapitel von Hastenbeck (1898) die erste Szene von Höxter und Corvey (1874), in der drei Menschen am Weserufer auf einen Fährmann warten: Im Jahre sechzehnhundertdreiundsiebenzig waren wir schon einmal da, wohin wir jetzt von neuem gutwillige Leser und Freunde führen, wenn sie folgen wollen. "Höxter und Corvey" überschrieben wir damals die Geschichtserzählung und wir konnten damals so-gar das Datum genau angeben. [...] Diesmal, vierundachtzig Jahre später, können wir nur zu Papiere bringen, daß es im Monat Oktober war [...].Daß die Höxterner Brücke heuer wunderbarerweise noch steht, kann uns angenehm sein. (BA20, 11). Solche Verweise machen es nicht leicht, die Trennlinie zwischen "realem" und "implizitem" Autor zu ziehen, besonders wenn Grimmelshausen noch biographische Stationen anführt, die Simplicius mit seinem Erfinder gemeinsam hat. Es ist umso verlockender, Autor und Erzähler gleichzusetzen, als bei Grimmelshausen das biographische Material sehr spärlich ist und Raabe außergewöhnlich wenig Interesse für die Arbeit seiner Biographen zeigte, die er stets auf sein Werk als das Wichtigste verwies. Er mißbilligte aber Versuche, aus seinem Werk etwas über ihn als Person zu erfahren168. Dies ist sehr wichtig: die Identität, auf die in den Werken hingewiesen wird, ist ausschließlich die des realen Autors verschiedener Werke169, und nicht die einer privaten Person, deren Weltanschauung sich ohne weiteres extrapolieren ließe. Etliche von "Raabe’s numerous ironically fictionalized self-projections" (Sammons 1987, S.4) sehen ihm zwar sehr ähnlich, so etwa die belesenen Erzähler in Die Gänse von Bützow, Die Ak- 88 ten des Vogelsangs und Horacker, oder auch der beredte Außenseiter Stopfkuchen. Aber gerade ihre Plastizität als fiktionale Figuren weist auch darauf hin, daß sie eine selbständige, mit dem Autor nicht identische Existenz haben. Daß sie mit genauer Ausmalung der Schreibumstände sorgfäl-tig situiert und "inkarniert" sind, unterstützt eine fiktionale Authentizität, die eigentlich auf die Distanz des realen Autors zum Gesagten hinweist. Bei Grimmelshausen mit seinen noch viel offensichtlicher erfundenen Erzählern ist erst recht Vorsicht geboten. Trotzdem finden auch lange nach der "Entdeckung" des impliziten Au-tors noch unzulässige Vereinfachungen statt, wie schon im Zusammenhang mit Courasche angedeutet worden ist, wo die männlichen Stimmen des Textes als die vom Autor maßgeblich intendierten gelesen werden, ohne daß die eingesetzten Distanzierungstechniken berücksichitgt würden. In diesen Zusammenhang der Perspektivierung und Distanzierung gehören auch Grimmelshausens anagrammatische Pseudonyme, auf die er im zitierten "Beschluß" ebenfalls hinweist: Dieser Simplicissimus ist ein Werck vom Samuel Greifnson vom Hirschfeld. [...] Auß was für Ursach er aber seinen Namen durch Versetzung der Buchstaben verändert / und German Schleifheim von Sulsfort an dessen statt auf den Titul gesetzt / ist mir unwissent. (Simpl 588)170. Hier wird angedeutet, daß ein Autor hinter verschiedenen Schriften steckt171; gleichzeitig wird aber die proteische Wandelbarkeit dieses Autors (Proteus taucht ja auch bei beiden Autoren auf, vgl. Anm. 2) klar, der für viele Personen sprechen kann und gerade deshalb nicht auf den Ansichten einer einzelnen unter ihnen zu behaften ist. Sehr deutlich wird das auch am Anfang der Courasche, die "dem Autori in die Feder dictirt, der sich vor dißmal nennet PHILARCHUS GROSSUS von Trommenheim." (Cour 5, meine Hervorhebung). Derselbe Satz, der auf einen sich pseudonymisch verkleidenden, also realen, Autor hinweist, stellt auch klar, daß diese Verkleidungen als fiktionale Gestalten ausgearbeitet sind und Philarchus eine erfundene Figur ist – und also Courasche – und also auch Simplicius! Dies wird noch durch weitere übermütige Unmöglichkeiten betont. So bekommt Simplicius als Jäger von Soest von einem Pfarrer erstmals Bücher in die Hand, nachdem er vom Einsiedel gerade etwa lesen gelernt haben dürfte. Und unter diesen Büchern befindet sich "meine Arbeit", d.h. Der keusche Josef, den Simplicius erst noch "aus anderen Büchern extrahirt" haben will, um sich "etwas im Schreiben zu üben." (Simpl 265)! Günther Weydt kommentiert: Wir befinden uns in dieser köstlichen Szene in einer Art von geistigem Spiegelkabinett: wendet man den Blick, so sieht man die Wirklichkeit schon wieder von einer anderen Seite. (Weydt 1976, S.283). 89 In ähnlicher Weise spielt Raabe durch sein ganzes Werk mit dem eigenen Namen; vom Pseudonym "Jakob Corvinus", unter dem er bis 1859 publizierte, bis zu der Rabenschlacht, deren Symbolik das Odfeld trägt, gibt es fast unzählige Beispiele (vgl. Sammons 1985). Diese "selfreferentiality" (Sammons 1985, S.3) ist ein weiterer Hinweis dafür, daß Raabes Texte "a long, complex but in some sense single literary enterprise" (Sammons 1985, S.7, meine Hervorhebung) sind. Wie die Simplicianischen Schriften wird dieses Gesamt-Werk nicht nur durch Stil, Weltsicht, Personen- Orts- und Sachbeziehungen und damit Verweise auf einen gemeinsamen impliziten Autor, sondern auch durch Hinweise auf den realen Autor zusammengehalten. Diese qualifizierten und distanzierten, aber unmißverständlichen Hinweise ergänzen, was bis hierher über die in den Erzählerfiguren zum Ausdruck kommende Haltung der beiden Schriftsteller gesagt wurde. Sie dominieren ihre Texte nicht als allwissende und allmächtige Puppenspieler oder verurteilende Götter, sondern bringen selbst ihr reales menschliches Ich in Anspielungen ein, die sie mit Figuren und Lesern gemeinsam in eine gefallene, unvollkommene und unübersichtliche Welt stellen. "Erzählen von unten" bedeutet also nicht nur Erzählen aus der Perspektive der Opfer, der Außenseiter und Zukurzgekommenen, sondern auch den Verzicht auf moralische Autorenprivilegien, in einem "Wir", das auch den Einschluß in die beschriebenen Schwächen impliziert. Simplicius verspottet im Simplicissimus Gewinnsucht und Aufsteigertum, aber im Springinsfeld macht er (wenn auch mit erzieherischen Absichten) Geld aus seiner "Gauckeltasche", und im Rathstübel Plutonis erscheint er zusammen mit andern simplizianischen Figuren in "Designation Deren / so diß Wercklein außzufertigen veranlaßt" (Pluto 5), die also für ein Büchlein, das "Die Kunst Reich zu werden" (Pluto 3) beschreibt, gesorgt haben. Zu diesen Personen gehört auch der "Verfaser dieses Tractätels", Erich Stainsfeld von Grufensholm", ein weiteres anagrammatisches Pseudonym. Der erzählte fiktive Autor Erich, der im Wortspiel präsente reale Autor Grimmelshausen und das autobiographische alter ego Simplicius sind also von den dargestellten menschlichen Schwächen nicht ausgenommen – und möglicherweise auch der Leser nicht, der durch die Lektüre des Traktats sein Interesse am Thema Geld verrät. Dies führt zu den letzten noch zu besprechenden Stimmen im polyphonen Geflecht: die der realen Leser, des Publikums. Die Aufgaben, die Grimmelshausens und Raabes Texte dem impliziten Leser stellen und die Techniken, mit denen sie sich an ihn wenden und seine Reaktionen vorausnehmen, sind natürlich auch den realen Lesern gestellt. Es gibt aber auch 90 Leser-Bezugnahmen, in denen frühere, meist negative Erfahrungen mit dem Publikum direkt spürbar werden. Raabes Schwierigkeiten in dieser Hinsicht sind gut dokumentiert (vgl. Sammons 1987, S.36-48 und Koller 1979). Er macht auch im Werk (nicht nur in den unkonventionellen Titeln, vgl. Kapitel 2.1.3.) immer wieder explizit, daß er nicht gesinnt ist, den Erwartungen des "Lesepöbels" (Hoppe 1960, S.111) entgegenzukommen. : Daß wir diesmal, wie es sich gehört, dem Strich nach erzählen, kann niemand verlangen. (BA11, 368). Auch wir können idealisieren; aber wir tun es nicht! [...] Dem einen oder der andern werden wir dann selbst den Teufel nicht zu schwarz malen. (BA12, 253). Wir haben es schon gesagt: wir lassen uns auf nichts ein, was die Ansprüche des Lesers an die Geschichte betrifft. Was wir zu tun haben, wissen wir, und was wir zu sagen haben, gleichfalls, und dies genügt uns vollkommen. (BA11, 383). Diese (oft frustrierte) Beziehung zum Publikum wird in Raabes Texten relativ unabhängig von der fiktiven Erzählsituation ausgearbeitet, so daß gewisse Widersprüche zu den Lesern/Zuhörern in der fiktionalen Welt entstehen. Es gibt seltsam hybride Passagen wie die folgende aus Pfisters Mühle, in der der frischverheiratete Ich-Erzähler während einiger Ferienwochen in der väterlichen Mühle Jugenderinnerungen einerseits aufschreibt, aber auch seiner Frau erzählt: "Ich würde Bände schreiben müssen, um [meiner Jugend] auf literarischem Wege gerecht zu werden, und da könnte am Ende auch das Publikum wie meine Frau kommen und fragen: ‘Wozu?’" (BA16, 38). So wie sich gewisse auktoriale Erzähler bei Raabe zusammen mit dem Leser in die fiktionale Welt hineinstehlen, blickt hier ein Ich-Erzähler aus ihr heraus zum realen Leser hin. Bei Grimmelshausen wird der Unterschied zwischen implizitem Leser und realem Publikum nicht so deutlich ausgesprochen. Courasches Rechtfertigung bezieht sich zwar auf ein tatsächlich erschienenes Buch, den Simplicissimus, aber das durch den Druck des Trutz Simplex anvisierte Publikum gehört eindeutig zu der fiktionalen Welt, vor der sie sich als private Person und nicht als Autor(-in) rechtfertigen will. Sie betrachtet diese Öffentlichkeit, die Buchdruck und Buchmarkt gewähren, sowohl als moralisch-juristische Instanz, an die sie appellieren, aber auch als Medium, als Vermittlungsinstanz, [...] über die sie mit dem nicht lokalisierbaren Mann, auf den sie in Haßliebe fixiert ist, in Kontakt treten kann. (Berns 1990a, S.107). Auf dieselbe Öffentlichkeit beziehen sich auch die anderen simplicianischen Erzähler: Ich fande [Courasche] überaus rachgierig [...]; aus welcher Gottlosen Neigung sie dann auch besagtes Tractätel / [...] hat schreiben lassen: von welchem ich weiters nichts 91 melden: sondern mich auf dasselbige / weil sie es ohn Zweifel bald trucken lassen wird / bezogen haben will. (Spring 31). Entsprechend ist weniger klar, an wen sich Grimmelshausens Ungeduld mit dem Leser richtet, aber er gibt auf ähnliche Weise wie Raabe, wenn auch seltener, zu verstehen, daß er der Versuche müde sei, die Leser zu beeinflussen oder zu überzeugen: Ich weiß zwar wol / daß auff diese Stund Leut seyn / die mir dieses nicht glauben / aber sie mögen es glauben oder nicht / so ists doch die Warheit. (Simpl 201). Mögen sich andere den Kopf zerbrechen, ich komme wieder auf meine Histori. (Simpl 229). Im Vergleich zu diesen Grobheiten fallen die die steifen, beinahe zeremoniellen LeserAnreden im Vogelnest auf: "Der großgünstige Ehr- und Zuchtliebende Leser verzeihe mir / daß ich [...] so grob und unhöflich erzehle." (Nest 37); auch an diesem Aspekt bestätigt sich die größere Konventionalität dieses Textes. Raabe dagegen wird in seinem Spätwerk immer bitterer und ungeduldiger mit seinen Lesern. Er verzichtet ausdrücklich auf diejenigen unter ihnen, die seine Ansprüche nicht erfüllen mögen: "Will man die Geschichten, die ich hiervon erzählen kann, anhören, so ist es mir recht. Wenn nicht, muß ich mir das auch gefallen lassen." (BA17, 7) und schreibt ihnen nicht mehr nur interessierte Fragen zu, sondern gelangweilte Abwendung: "Und so weiter!" [...] werden an dieser Stelle schon leider mehr als einer und eine sagen, denen es jetzt schon scheint, als ob der Historiograph wieder einmal imstande sei, ihnen die gewohnte Unlust zuzubereiten, und – hinter deren Rücken fahren wir fort in unserm Bericht. (BA17, 9). Schließlich wird er geradezu ausfällig: Wie [...] Pold Wille [...] zu Hause wieder ankam, das mag, wer da will, im folgenden von ihm selber sich berichten lassen. (BA20, 49). Diejenigen Leser aber, die jetzt den Ort nicht auch schon wissen, sind einfach dumm, und an ihrer weiteren Bildung und Aufklärung hoffnungsreich weiterzuarbeiten, ist für den Historiographen in der Tat eine schwere Auflage. (BA19, 87). In solchen Äußerungen wird Raabes "Trilemma", wie es Jeffrey Sammons nennt (vgl. S.13) handgreiflich faßbar: er war darauf angewiesen, von vielen gelesen zu werden, wollte auf viele wirken – und konnte, um dem, was er weitergeben wollte, treu zu bleiben, nicht leichtverdaulich schreiben. Die Bitterkeit darüber kommt auch in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck. Solche Zeugnisse sind von Grimmelshausen nicht überliefert, aber angesichts des sofortigen Erfolgs des Simplicissimus auch kaum wahrscheinlich. Seine Art, subjektiven Skeptizismus auszudrücken, fällt dank der durchgehaltenen Ich-Form weniger auf, und seine Kritik 92 trifft zum Teil Punkte, die einem größeren Publikum einleuchten konnten, da zum Beispiel die Kriegsmüdigkeit von 1650 der Stimmung in Deutschland 1872 natürlich nicht zu vergleichen war. 4. "Zugab der Autorin" Im Verlaufe des Vorausgehenden ist ein weites Spektrum polyphoner Techniken vorgestellt und ihr gehäufter Einsatz in Grimmelshausens und Raabes Erzähltexten vorwiegend als Symptom geistesgeschichtlicher Umbrüche gedeutet worden. Es würde aber natürlich zu kurz greifen, eine naive, quasi-mediale Widerspiegelung komplexer Lebensumstände durch ein sensibles (Unter-)Bewußtsein anzunehmen. Die Komplexität der Techniken, Formen und Bezüge verbietet eine solche Interpretation. Die Aporien und Mehrdeutigkeiten basieren auf einem tatsächlichen Lebensgefühl, aber die Hilflosigkeit und Subjektivität der Erzähler wird paradoxerweise mit großer Souveränität und einem beachtlichen intertextuellen Aufwand kunstvoll dargestellt, ja inszeniert. Dabei wird auch explizit gemacht, daß sich die Autoren ideologischen und poetologischen Vereinfachungs- und Beschönigungstendenzen bewußt verweigern wollen. Etliche der verwendeten Mittel – distanzierende Überschriften, Pseudonyme, schrullig eingreifende Erzähler, die ihre eigene Rolle thematisieren, eine unrealistisch reiche Sprache, die auch die Figuren sprechen (siehe Anm.125) – betonen bei aller Ehrlichkeit der Aussage gerade auch die Künstlichkeit, die Gemachtheit des Werks: "The effect of [Raabe’s] authorial technique is to stress fictionality, poiesis over mimesis." (Sammons 1987, S.175). Dies wird durch häufige Querverweise und Autoren-Bekundungen, die sich als Ansätze zu einem geschlossenen Gesamt-Werk lesen lassen, zusätzlich betont. Die Erzähler meistern also bewußt eine komplexe Orchestration oder Instrumentierung der Polyphonie, mit der sie sich in der Welt unverdrängbar konfrontiert sehen. Die skeptische Weltflucht solcher Schreibenden ist nicht ein bloßer unfruchtbarer Rückzug aus dem sündigen Säkulum, dem oberflächlichen Kulturbetrieb und der literarischen Konvention, sondern auch ein Aufbruch aus der Erzähltradition in neue Formen und eine Distanzierung, die ansatzweise wenigstens eine literarische Bewältigung der Zeitläufte ermöglicht. In den beiden Schriftstellerlaufbahnen, die untersucht worden sind, verläuft die Verwendung der Mittel zu diesen Bewältigungsversuchen unterschiedlich. Beide Autoren setzen mit formal unkonventionellen und intertextuell reichen Werken ein, die bereits wesentliche 93 polyphone Charakteristiken, wenn auch in noch ziemlich roher Form, aufweisen. Raabe meistert in den 47 Jahren seiner schriftstellerischen Aktivität vielstimmiges und anspielungsreiches Erzählen mit immer größerer Souveränität, die bis zu hochmodernen Ansätzen führt. Die 68 Erzähltexte, die sein Werk umfaßt, zeugen auch von Krisen, Experimenten und Unsicherheiten, aber die gelungenen Werke zeigen eine stetig wachsende Beherrschung der entwickelten Mittel. Daß ihm ein größeres Publikum nicht folgen konnte, hat ihn bitter, aber nie irre an seinen künstlerischen Zielen gemacht. Bei Grimmelshausen ist eine andere Kurve festzustellen. Sein Schreiben setzt mit dem Satyrischen Pilgram 1666 extrem polyperspektivisch ein, erklimmt mit dem Simplicissimus (1669) und mit Courasche (1670) den Höhepunkt widersprüchlich farbiger, aber integrierter Darstellung, und wird dann immer zentripetaler, eindeutiger – und uninteressanter. Die späteren Werke entfernen sich mit ihrer eindeutigen moralischen Botschaft vom Bachtinschen Ideal des Romans: "Tout roman à thèse idéologique tend vers un épisme et constitue une déviation de la structure proprement romanesque." (Kristeva 1969, S.170). Etliche der untersuchten Ähnlichkeiten zwischen Grimmelshausen und Raabe sind natürlich nicht nur diesen beiden eigen, sondern gehören in die allgemeine Tradition des komischen und des Schelmenromans: die intertextuell angereicherte, parodierende Sprache, die auffälligen, unzuverlässigen Erzählerfiguren, der Spott über verklärende literarische Klischees. Ungewöhnlich ist aber einerseits der massierte Einsatz dieser und anderer polyphoner Techniken und andererseits die Tatsache, daß solche Mittel, die spielerisch oder artifiziell genannt werden könnten, im Dienste eines sehr ernsthaften und kritischen Erzählens, das von einem starken menschlichen Engagement getragen ist. Die durchgehaltene Perspektive "von unten" (Frauen und andere Opfer besonders, aber nicht nur im Krieg) beeinflußt sogar die Erzählerfiguren, die mit auktorialen Privilegien nicht kokett spielen, sondern sie aufgeben und sich sogar im "Wir" von Leidenden und Mitschuldigen mit den Lesern auf eine Stufe stellen. Um den beiden Schriftstellern gerechter zu werden, als es bisher meist geschehen ist, müßten einerseits ihre ambivalente Sprache, ihre formalen Kühnheiten und erzählerischen Komplikationen und andererseits ihre skeptische, kritische (aber nicht abschließend verurteilende) Darstellung menschlicher Bosheit, Gedankenlosigkeit und Beschränktheit gleichermaßen und zusammen als charakteristisch betrachtet werden. Beide sind Ausdruck einer hohen Sensibilität und großen Ehrlichkeit, die eine komplizierte, vielfältige Welt samt Widersprüchen aushält und gestaltet. Solches Erzählen, das der Macht und ihrer Eindeutigkeit mißtraut, kann 94 nie einfach sein, wie Bachtin im Zusammenhang mit den fabliaux und Schwänken formuliert, die am Anfang der Geschichte des mehrstimmigen Romans stehen: We see the ground being prepared here for a radical scepticism toward any unmediated discourse and any straightforward seriousness, a scepticism bordering on the rejection of the very possibility of having a straightforward discourse at all that would not be false. (Bachtin 1981, S.401). Um nicht falsch zu sein, nicht verlogen oder anmaßend, lassen Raabe und Grimmelshausen die verschiedensten Sprachen, Genres, Meinungen, Standpunkte, Urteile, Erzählweisen und Erzähler zu Wort kommen. Dies fordert immer wieder in besonderem Maße die Mitarbeit der Leser, und so möchte ich diese Arbeit mit den Sätzen schließen, deren frappierende Ähnlichkeit mich als Leserin zuallererst auf die Geistesverwandtschaft der beiden Dichter aufmerksam gemacht hat: Es gilt mir gleich / es mags einer glauben oder nicht und wers nicht glauben will / der mag einen andern Weg ersinnen. *** Diese Geschichte ist wahr, es hat sich alles so zugetragen, wie es erzählt wird; wer da meint, daß es anders hätte zu Ende gehen können, der erzähle es anders. 95 Bibliographie 1. Primärliteratur Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. von Rolf Tarot, Tübingen: Niemeyer 1967ff. Der Satyrische Pilgram Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche Der seltzame Springinsfeld Das wunderbarliche Vogelnest Rathstübel Plutonis Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Freiburg i.B./Braunschweig 1951ff., Göttingen 1960ff. ("Braunschweiger Ausgabe"). Chronik der Sperlingsgasse (BA1) Der Weg zum Lachen; Der Student von Wittenberg; Lorenz Scheibenhart; Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michel Haas; Wer kann es wenden? (BA2) Der Heilige Born; Ein Geheimnis (BA3) Die Leute aus dem Walde (BA5) Abu Telfan (BA7) Der Schüdderump (BA8) Das letzte Recht; Eine Grabrede aus dem Jahre 1609; Drei Federn (BA 9/1) Des Reiches Krone (BA9/2) Der Dräumling (BA10) Meister Autor; Zum Wilden Mann; Höxter und Corvey (BA11) Frau Salome; Die Innerste; Vom alten Proteus; Horacker (BA12) Deutscher Adel; Der gute Tag (BA13) Alte Nester (BA14) Fabian und Sebastian; Prinzessin Fisch (BA15) Pfisters Mühle; Unruhige Gäste; Im alten Eisen (BA16) Das Odfeld; Der Lar (BA17) Stopfkuchen; Gutmanns Reisen (BA18) Kloster Lugau; Die Akten des Vogelsangs (BA19) Hastenbeck (BA20) Briefwechsel Raabe-Jensen (BAE1) Briefe (BAE2) Gespräche. Ein Lebensbild (BAE4) Hoppe, Karl: "Aphorismen Raabes, chronologisch geordnet." In: JbRG 1960, S.94-139. 2. Sekundärliteratur 2.1. Zu Grimmelshausen Die Abkürzung Simpl steht im folgenden für Simpliciana. 96 Alewyn, Richard (Hg.): Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. 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Nach der Zählung von Wilhelm Scharrer [...] 1927 [...] werden insgesamt 2124 Stellen insgesamt rund 3600mal zitiert. Beiden Verfassern ist es bewußt, daß diese Zählungen sehr unvollständig sein müssen, wegen der oft sehr kryptischen Art, in der Raabe Zitate und Zitatähnliches in sein Werk hineinschmuggelt." (Meyer 1961, S.258) 4. Zu Erzähler und Leser bei Raabe Barker, Fairley: "Das Moderne an Wilhelm Raabes Erzähltechnik." In: Mitteilungen der RaabeGesellschaft (Braunschweig) 1955, S.74-89. Gould, Stephen Alan: Ontology and ethics: The rhetorical role of the narrator in Wilhelm Raabe’s early novels. Diss. 1977. Hebbel, Christa: Die Funktion der Erzähler- und Figurenperspektiven in W.Raabes IchErzählungen. Diss. Heidelberg 1960. Heim, Karl: Wilhelm Raabe und das Publikum. Diss. Tübingen 1953. Helmers, Hermann: "Die Figur des Erzählers bei Raabe." In: JbRG 1965, S.9-33. Jehmüller, Wolfgang: Die Gestalt des Biographen bei Wilhelm Raabe. München: Fink 1975. 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Bei den Autoren ist dies in der vorliegenden Studie sachlich korrekt, während Erzählerinnen und Leserinnen "mitgemeint" bleiben. 2 Belege für Raabes Grimmelshausen-Lektüre sind vorläufig spärlich: "Die Auswertung von Raabes Lektüren wird nach dem Tod von Eckhardt Meyer-Krentler, der die wohl ziemlich komplett schon in seinen Datenbanken hatte [Meyer-Krentler 1991] noch eine Weile unzugänglich sein. So ist einstweilen wieder zurückzugreifen auf die Katalogisierung des Raabeschen Büchernachlasses von D. Bänsch (JbRG 1970, S.87-165; ohne Grimmelshausen) und auf die vorläufige Liste der Literatur-Zitierungen von Fritz Jensch." (Brief von Prof. Hans-Jürgen Schrader an Prof. Martin Stern, Basel). Jenschs Liste ist seit 1925 auf ein Mehrfaches ergänzt worden; in der Sekundärliteratur habe ich aber nur ein einziges Raabesches Grimmelshausen-Zitat erwähnt gefunden: "In [mehreren] Raabe-Texten werden [...] Freunde [...] gegenseitig als "Bruderherz" bzw. "Herzbruder" be-zeichnet. [Damit wird] auf das barocke Freundespaar aus [dem] Simplicissimus angespielt." (Bertschik 1995, S.74). Bertschik führt aus, wie Raabe Grimmelshausens Handlungsstruktur ironisch verkehrt und die bei ihm ausschließlich positive Besetzung der Begriffe ironisch bricht. Ich habe bis jetzt folgende möglichen Anspielungen gefunden (in absteigender Reihenfolge der Plausibilität): - "Land[briefträger] Störtzer" heißt der erst nach seinem Tod überführte Mörder in Stopfkuchen. - Heinrich August Baumann in Prinzessin Fisch hat den Ruf, ein "ganz schnurrioser Simpliziste" zu sein (BA 15, 226), was eine Anmerkung in der Braunschweiger Ausgabe als "volkstümliche Abwandlung von Simplizis-simus" erklärt (BA15, 647) - In Lorenz Scheibenhart nimmt die Titelfigur an der Schlacht bei Höchst (22.6.1622) teil, wo die ausziehenden Soldaten "lachten, daß der Liguist es bei Hanau hören kunnt." (BA2, 326, meine Hervorhebung). In derselben Schlacht verliert Simplicius’ Vater seine "hoch-schwangere Gemahlin" (Simpl 61) aus den Augen und sucht Herberge bei einem Pfarrer. Dieser berichtet nach des Einsiedels Tod dem jungen Simplicius in der Festung Hanau über jenen Edelmann (Simpl 60-64). - Die Figur Baldanders im Simplicissimus wird als "der alte Proteus" bezeichnet (Simpl 507), was dem Titel von Raabes Novelle Vom alten Proteus entspricht. - Dorette Kristellers Einsicht in Unruhige Gäste, daß die Welt "einen süßen Kern" habe (BA16, 322), mag eine Umkehrung des von Grimmelshausen gern vorgebrachten Topos von der überzuckerten bitteren Pille sein. - Von Doris Radebrecker in Die Innerste wird berichtet, sie habe sich "selbst ranzionieret" (BA12, 181). Dieses Wort taucht mit demselben Sinn "entlassen" oder "loskaufen" auch bei Grimmelshausen auf (Simpl 65, Nest 68). - In Eine Grabrede aus dem Jahre 1609 wird vom Rektor Georg Rollenhagen gesagt: "Was oft in Sommerszeit [...] mit seinen Schülern er herbatum gangen und die simplicia gezeiget, deren Namen Nutzbarkeit angezeigt, wer ist hier vorhanden, der das nicht weiß?" (BA9/1, 74, meine Hervorhebung). - Ein Offizier, dem Courasche das Leben rettet, dankt es ihr "mit Potz-Velten" (Cour 49), und Simplicius reagiert auf verdächtiges Wissen eines Gesprächspartners mit dem Gedanken "Hat dirs dann S.Velten gesagt" (Simpl 265). Daß der Name von Velten Andres aus Die Akten des Vogelsangs (dessen Vater beim vollen Na-men "Valentin" genannt wird (BA19, 220), mit dieser verbreiteten Art, den Teufel euphemistisch als heiligen Valentin anzurufen, zusammenhänge, 108 ist eine etwas gewagte Annahme. Immerhin ist die Parallelität der Er-zählsituation (bürgerlicher Augenzeuge berichtet über umgetriebenen, schlimm endenden Freund) in den Akten und Dr.Faustus, wo ja ein Teufelspakt vorkommt, oft betont worden. - "Courage!" wird als ermutigender Zuruf gebraucht von Philipp Kristeller in Zum Wilden Mann (BA11, 254). In Horacker heißt es: "Sie sind [...] nicht der erste, den vermittelst der Phantasie die Courage von hinterher überkommt." (BA12, 369). Auch als die wilde Doris Radebrecker mit ihren "Marodebrüdern" in Die Innerste eine Mühle angreift, ermutigen sich die Verteidiger mit diesem Ruf (BA12, 190). 3 Vergleiche unter ähnlichen Prämissen (d.h. nicht in erster Linie von einem Einfluß ausgehend) sind bei Grimmelshausen und vor allem Raabe mehrfach unternommen worden: - Heinrich Detering vergleicht Pícara-Erzählungen aus mehreren Jahrhunderten: "Comme je suis d’avis que le récit picaresque est virtuellement possible à toute époque, je ne chercherai pas à prouver les influences génétiques – que l’on saurait certes exclure -, mais à montrer et à analyser les analogies structurelles." (Detering 1994, S.33). - Detering kommentiert seinen eigenen Vergleich von Raabes und Kierkegaards theologischen Positionen: "Der Sinn solcher Vergleiche kann [...] nur in der Andeutung einer geistigen Zeitgenossenschaft [liegen], die zum Verständnis Raabes nützlich sein könnte und vielleicht auch über ihn hinausführende Einsichten ermöglicht." (Detering 1990, S.265). - Hermann Helmers vergleicht Raabe und Heinrich Böll unter den Aspekten Zeitgestaltung, Erzählhaltung und Gesellschaftskritik und formuliert als "These [...]: Raabe und Böll sind Teil einer umfassenden literarischen Wirkungsabsicht, die man aufgrund ähnlicher gesellschaftlicher Bedingungen als bürgerliche Gesellschaftskritik bezeichnen kann. [...] Der Vergleich soll Verbindendes im Sinne der genannten These herausarbeiten; er wird aber auch Trennendes erweisen." (Helmers 1981, S.105) - Einen zeitgenössischen Vergleich, bei dem der Einfluß ausgeschlossen scheint, zieht William P. Hanson: "A comparison of [Raabe and Thomas Hardy] would be fruitful and might lead to a more judicious evaluation of the German novelist. The two were of course contemporaries [...], though there appears to be no direct mutual influence. [...] not only the common concerns that emerge in both works but also the manner and structure in both make for a quite remarkable link." (Hanson 1981, S.255). - Ein in Lesser 1959 etwas konfus angeregter und an verschiedenen anderen Orten angedeuteter Vergleich von Raabe und Thomas Mann wäre wohl sehr ergiebig: "Although Raabe had no detectable influence on Mann [was noch zu beweisen wäre], his late novels deserve a more visible place beside Fontane’s as prefigurations of Mann’s in some respects. The non-Classical and post-Romantic verbalization of symbol, its function less in the represented world than in the linguistic material of narration; the role of the leitmotif in constituting authorial irony, directing attention to the authorial level of narration, to the making of the fiction – these devices afford comparisons of Raabe with Mann. But [...] Raabe’s strategy [...] is even more authorial, more non-mimetic, more self-consciously fictional, perhaps, in a subterranean sense, more ironic." (Sammons 1985, S.13). Neben der Symbolik und dem Bewußtmachen der Fiktionalität durch Autoren-Einschübe (vgl. "der Geist der Erzählung" in Der Erwählte) wäre auch der manchmal "mock-pompous, self-consciously hyperbolic tone of his satire" (Sammons 1987, S.136) und die virtuose Handhabung historisierender Sprache zu nennen, die z.B. in Der Erwählte, Michel Haas, und Eine Grabrede aus dem Jahre 1609 bis zur Kontrafaktur geht, überhaupt das Schöpfen aus der gesamten abendländischen Tradition im beziehungsvollen Spiel mit Zitaten und traditionellen Genres wie der Schelmenbeichte. 109 4 Für den Hinweis auf Toulmins Buch Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity (Toulmin 1990) bin ich Prof.Dr.Balz Engler verbunden. 5 Grimmelshausen war darin in seiner Zeit nicht allein: "Die Dichter der Epoche von Sebastian Brant bis Grimmelshausen haben die geistig-religiösen Konsequenzen dieser Entwicklung zum Gegenstand ihrer Klage gemacht. Von [...] Gryphius’ Feststellung ‘Noch will, was ewig ist, kein Mensch betrachten’ bis zu Grimmelshausens ‘Der Wahn betreugt’ ist die eindringliche Warnung davor zu hören, daß der Mensch sein Denken nur auf die Endlichkeit und seine partikularen Interessen richtet." (Gaede 1978, S.28f.). 6 "Ob nun zwar der Poet, wie angedeutet, von allen Sachen, so in der Natur und menschlichen Leben fürgehen, schreiben und handeln kann, so ist doch nicht von nöthen, daß er alles nach Dialectischer Art genau zerlegen abtheilen, unterscheiden, und durch scharffsinnige Schlußreden als ein Philosophus erörtern dürffe. Sondern es ist gnug, daß er selbiges darstelle, als es sein äusserlich wesen und der Augenschein mit sich bringet." (aus Buchners Der Poet (1665) zitiert nach Gaede 1978, S.19, meine Hervorhebung). 7 Raabes Werke werden im Folgenden mit dem Kürzel BA plus Bandnummer und Seitenzahl nach der "Braunschweiger Ausgabe" zitiert: Sämtliche Werke. Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hg. von Karl Hoppe. Freiburg i.B./Braunschweig 1951ff., Göttingen 1960ff. 8 Bereits Montaigne scheint über das kommende Unheil mindestens spekuliert zu haben: "L’intelligence qui nous a esté donnée pour nostre plus grand bien, l’employerons-nous à nostre ruine, combatans le dessein de la nature, et l’universel ordre des choses, qui porte que chacun use de se utils et moyens pour sa commodité?" (zi-tiert nach Stierle 1987, S.430). 9 Die Problematik solch leichten Tötens wird selbst dem abgestumpften Soldaten Springinsfeld bewußt, nachdem er einen verletzten Offizier kaltblütig mit dessen eigener Waffe getötet hat: "Darauff erwischte ich das Pferd beim Zaum / und mit der andern Hand eine Pistole von seinem eignen Gewöhr / und endet damit den we-nigen Rest des bittenden Lebens; und dis ist die Würckung des verfluchten Geschützes / daß nemblich ein geringer Bernheuter den allerdapffersten Helden / nach dem er zuvor villeicht auch durch einen liderlichen Stallratzen ungefähr beschädigt worden / das Leben nemmen kann." (Spring 83). Für die zitierte Ausgabe der Werke Grimmelshausens vgl. Anm. 20. 10 "Führen uns der Simplicissimus, die Courasche und der Springinsfeld das aus den Fugen gegangene moralische Leben des Kriegszeitalters vor Augen, so zeigen die Schilderungen im Wunderbarlichen Vogelnest, daß die Unsittlichkeit einer Nach-Kriegs-Zeit leicht die der Kriegsjahre selbst übertreffen kann." (Scholte 1950f, S.148). 11 Eine gemeinsame Eigenschaft von mehr anekdotischem Interesse, die Grimmelshausen und Raabe mit verschiedenen andern Schriftstellern teilen, sei hier nur erwähnt: ihr künstlerisches Talent. Günter Weydt weist auf Grimmelshausens eigenhändigen Anteil an verschiedenen Illustrationen seiner Werke hin: "Sicher ist, daß er Zeichnungen für mehrere seiner Titelkupfer und Illustrationen selbst ausgeführt hat, aber Art und Grad der Zusammenarbeit mit berufsmäßigen Graphikern lassen sich noch nicht hinreichend bestimmen." (Weydt 1979, S.53). Vgl. auch Scholte 1950d. Raabe hat seine Werke nicht für Veröffentlichungen illustriert (obwohl entsprechende Zeichnungen so verwendet worden sind), aber ein Leben lang sehr viel gezeichnet. Möglicherweise dachte er an eine künstlerische Laufbahn: "At one time he may have been intended for a career as an artist; his earlier efforts have clearly the appearance of academic exercises. The talent ran in the family; his brother Heinrich seems to have been a capable amateur artist, and his daughter Margarethe became a professional portrait painter." 110 (Sammons 1987, S.15). Horst Denkler weist auf den Beitrag hin, den die Zeichnungen "für die Erschließung der Welt des Autors und der Wahrheit seines Werkes leiste[n]. Die von Kindheit an verfertigten Bleistift-, Feder- und Tuschzeichnungen Raabes, zunächst Gelegenheitsarbeiten oder Studienblätter und später meisten Erinnerungsskizzen, Sinnbildentwürfe, Phantasiedarstellungen, Grotesken und Arabesken auf Manuskripträndern und aus Notizbüchern, geben [...] Einblicke in sonst sorgsam verhüllte Regionen bewußten Gedankenspiels und unbewußter Ängste oder Wunschvorstellungen." (Denkler 1989, S.19). 12 "Raabe has less of a biography than almost any other writer one can think of. He was born, grew up, began writing, travelled a bit, married, had children, lived consecutively in Wolfenbüttel, Stuttgart and Braunschweig and died." (Sammons 1987, S.4). 13 "Ohne das Abitur erreicht zu haben, verläßt Raabe 1849 die Schule [und geht] nach Magdeburg, um [...] eine Lehrzeit als Buchhändler zu beginnen.[...] Vier Jahre bleibt er in Magdeburg und legt in dieser Zeit den Grund zu jener erstaunlichen Belesenheit, wie sie in den zahlreichen Zitaten und Anspielungen der Werke begegnet." (Helmers 1978, S.2). Die Buchhandlung "contained a large number of remainders dating back to the first half of the eighteenth century; he also taught himself English, in the first instance to read Thackeray’s Pendennis." (Sammons 1987, S.10). Raabe kommentiert: "Dieser Versuch [Buchhändler zu werden] mißlang vollständig und fast wäre ich daran zu Grunde gegangen, wenn ich mich nicht durch einen kühnen Sprung gerettet hätte. Krank kam ich nach Hause zurück, warf mich nun aber mit großem Eifer auf die Studien und konnte 1854 nach Berlin zur Universität gehen, wo ich bis 1856 blieb. Eine ziemliche Menge sehr verworrenen Wissens hatte ich im Hirn zusammengehäuft; jetzt konnte ich Ordnung darein bringen und that es nach Kräften." (BAE2, 66). An der Universität ist Raabes "Auswahl von Vorlesungen aus der Geschichte, der Kunstgeschichte, aus der außerdeutschen Kultur- und Literaturgeschichte und aus den verschiedensten Gebieten der Philosophie [...] nicht von der Zielsetzung eines Berufs bestimmt. [... Es] leitete ihn der Wunsch, Kenntnisse zu erwerben und Gesichtspunkte zu gewinnen, die für eine schriftstellerische Tätigkeit förderlich waren." (Oppermann 1970, S.30) 14 "Zwischen [den] politischen Überzeugungen Raabes und seiner Bewertung des Lebens selbst, also seiner Gestaltung dieses Lebens, klafft aber ein Abgrund, den zu überbrücken ihm versagt bleibt." (Lukács 1968, S.50). 15 "Wenn [...] durch die Institution der Zensur vielleicht nur wenige Werke am Erscheinen gehindert werden konnten, weil es Ausweichmöglichkeiten gab, so ist ein indirekter Einfluß, auch in der Form ausgesprochener Selbstzensur, keineswegs auszuschließen." (Meid 1984, S.61). 16 Ein auffälliges Beispiel bildet die kleine antifranzösische Schrift Der Stoltze Melcher, in der Grimmelshausen "Mißvergnügte vor den Werbern des Königs für den französischholländischen Krieg warnen [will]. Kennzeichnend für den Epiker Grimmelshausen ist, daß er diese engagierte politische Stellungnahme nicht als pole-mischen Traktat gibt, sondern das häufig verwandte Motiv vom verlorenen Sohn erzähltechnisch nutzt, indem er es hier von seinem religiös-allegorischen Sinn löst und propagandistisch verwertet." (Weydt 1979, S.97). 17 Auf die Problematisierung utopischer Formen der Gesellschaftskritik bei Grimmelshausen und Raabe kann hier nicht eingegangen werden. Im Barock beginnt sich neben der christlicheschatologischen Hoffnung das weltimmanente, utopische Fortschrittsdenken abzuzeichnen, das im 19. Jahrhundert die religiöse Zuversicht weitgehend ersetzt hat. Diese Hoffnung wird bei beiden Autoren in Frage gestellt; in einem scheinbaren Gegensatz zu formaler Kühnheit und Originalität sind durchaus fortschrittskritische Haltungen auszumachen. 18 Die wichtigsten Ansätze: 111 - Aufbau gemäß dem fünfaktigen Drama: "Grimmelshausen muß also bewußt in seinem Simplicissimus Teutsch die Gesetze der klassischen Dramaturgie befolgt haben." (Scholte 1950c, S.13). - Zahlensymbolik, wobei dieser Ansatz von Günter Streller "Episode" geblieben ist (vgl. Meid 1984, S.143). - Entwicklungsroman (Gundolf, Gerhard, Alt) oder Moralsatire (Tarot). - lose komponierter pikarischer Roman (Hoffmeister) - "Zusammenballung von literarischen Formen ohne gemeinsame Eigenart" (Lugowski, zitiert nach Meid 1984, S.141), die sich "ausschließlich aus vorgeprägtem literarischem Formengut auf[baut]: Kurzgeschichten; Schwänke und Volksbücher; (Reise-)Abenteuerfolgen; moralische Exempelerzählung; Prophezeiungsgeschichte; pikareskes Stationenschema; Satire (im Stil von Moscherosch); hellenistischer Roman (Heliodor); Amadisromane; galanter Roman; Beichte und Bekehrungsgeschichte; Märchen und Heiligenlegende; Lauretanische Litanei (Weltabsage)." (Bunsch 1988, S.17). - allegorisch-moralisch, "nach dem vierfachen Schriftsinn" (Heselhaus, Feldges) oder emblematisch (Gersch 1973). - realistisch-autobiographischer Kriegsroman, der auch sprachlich eine v.a. mimetische Leistung darstellt (Breuer, Hillen) - "ausgesprochen wirklichkeitsarm[es]" Kunst-Werk (Alewyn 1932). - astrologisches Kompositionsprinzip (Weydt und Haberkamm, vgl. Weydt 1968, S.243-391). 19 Auch die Rezeption durch Schriftsteller späterer Jahrhunderte ist sehr bunt: "Insgesamt bietet das Bild von Grimmelshausen und seinem Werk [...] einen vielgestaltigen Eindruck; verschiedene Reize, die von seinem Schaffen ausgehen, werden von der in sich nicht homogenen Gruppe der modernen Rezipienten in unterschiedlicher Weise, d.h. je nach unterschiedlichem Erwartungshorizont beurteilt." (Hesselmann 1983, S.186). Einzelne Aspekte des Werks scheinen dabei ihre "Reize" ziemlich unabhängig voneinander ausgeübt zu haben: "Die Wirkung des Werkes spiegelt sich nicht nur im Fortleben des Romans als Ganzes wider, sondern auch und vor allem in der Aufnahme, Verarbeitung und Nachahmung einzelner Episoden und Personen." (Battafarano 1975, S.11). 20 Grimmelshausens Werke werden im Folgenden mit Kürzel und Seitenausgabe aus der folgenden Ausgabe zitiert: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. von Rolf Tarot, Tübingen: Niemeyer 1967ff. Die Kürzel: Der Satyrische Pilgram (Pilgram); Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio (Simpl); Lebensbeschreibung der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche (Cour); Der seltzame Springinsfeld (Spring); Das wunderbarliche Vogelnest (Nest); Rathstübel Plutonis (Pluto). 21 Das Ausmaß, in dem Grimmelshausen-Biographen sich auf den Simplicissimus abstützen müssen, um über Grimmelshausens frühe Jahre überhaupt etwas sagen zu können, ist bekannt, ebenso Raabes Widerwillen gegen seine Biographen, der sogar sein Tagebuch beeinflußt zu haben scheint. Er führte es täglich vom 1.10.1857 bis zum 2.11.1910 (zwei Wochen vor seinem Tod), aber die kryptische Knappheit der Einträge "has united every student of him, past and present, in unanimous exasperation." (Sammons 1987, S.5). 22 Die Rezeptionsgeschichte von Grimmelshausens Werk skizziert Volker Meid (Meid 1984, S.196-244). Für Raabe siehe die entsprechenden Kapitel in Sammons 1987, Denkler 1989 und Oppermann 1970 (S.131-134) und die Monographie Sammons 1994, die auch auf die Geschichte der Raabe-Gesellschaft eingeht. Sehr interessant ist auch das Kapitel "Die Isolation in der älteren Raabeforschung" in Matschke 1975, das beschönigende Interpretationen Raabe- 112 scher Außenseiterfiguren unter den Stichworten "Einsamkeit", "Idylle" und "Adels-mensch" zusammenfassend referiert. 23 "Since traditional bourgeois culture is perceived as having been in intimate complicity with the advent of fascism [...], any writer will be suspect to the extent that he can be seen as representative of bourgeois culture in fact or reputation. [...] With no other writer has this been more the case than with Wilhelm Raabe, and I know of no other case in which the process of freeing an author from the odium of his reception history has been beset with so many difficulties." (Sammons 1987, S.66). 24 "It may be doubted whether in all German literature there is, or ever has been, so glaring a case of disparity between the real and the supposed nature of an author’s work." (Fairley 1959, S.163). 25 Bachtin selbst erwähnt Grimmelshausen immer wieder in den historischen Kapiteln von Problems of Dosto-evsky’s Poetics: "Shakespeare, along with Rabelais, Cervantes, Grimmelshausen and others belongs to that line of development in European literature in which the early buds of polyphony ripened". (Bachtin 1984, S.34; vgl. auch S. 133, 136, 148, 157, 158 und 179). 26 Verweyen scheint van der Sanden 1987 nicht zur Kenntnis genommen zu haben, der allerdings auch nur die Möglichkeit skizziert, den Simplicissimus als "a novel without a center" (van der Sanden 1987, S.41) zu lesen. Im Grimmelshausen-Kapitel seiner Monographie über den Schelmenroman (Bauer 1994, S.92-118) wendet Matthias Bauer 1994 schließlich Bachtinsche Kategorien auf Grimmelshausen an und moniert wie Verweyen die häufigen Vereinfachungsversuche: "Die Forschung hat sich lange schwer getan, diese Vielfalt in ihrer irreduziblen Pluralität anzuerkennen. Immer wieder wurden Versuche unternommen, die Komplexität des Romans auf eine schlüssige Interpretation zur reduzieren." (Bauer 1994, S.106). 27 Sie ist seither auch von anderen als meist einziger Bachtinscher Gesichtspunkt bei Grimmelshausen ausgemacht worden; so führt Walter Bunschs Grimmelshausen-Monographie in der Literaturliste von Bachtin nur das Rabelais-Buch auf. (Bunsch 1988, S.140). Obwohl Bachtin auf die Polyphonie der Geschlechter gerade nicht eingeht, haben diese Studien oft einen feministischen Hintergrund: "Feminist critics have adopted Bakh-tin’s theory of carnival more readily than his theory of the novel, though both function dialogically and may be equally subversive." (Gasbarrone 1994, S.17). 28 Julia Bertschik verankert ihr Vorgehen in einer Fußnote methodisch in Kristevas SemiotikVerständnis, das diese "von Ideen des russischen Postformalisten Michail Bachtin" abgeleitet habe. (Bertschik 1995, S.XI). Martin Stern bemerkt zur Diskussion um Raabes Rang in der "Gipfellinie": "Qualität beruht, wie Michail Bachtin gezeigt hat, auf der ‘Polyphonie’, der Vielstimmigkeit eines Werkes, auf seinem inneren wie äußeren Beziehungsreichtum." (Stern 1994, S.19). Wieland Zirbs erwähnt Bachtin in einem Kapitel "Monologische und dialogische Strukturen des Erzählens", zitiert ihn aber nur nach Kristeva, deren aus Bachtin entwickelter Begriff der Intertextualität für seine Studie irrelevant sei. Er verfehlt die zentrale Erkenntnis von Bachtins intra-textuellem Dialogizitätskonzept: daß auch ein keine Werke zitierender Text mit einem einzigen Erzähler in sich unterschiedliche Stimmen bergen kann. Er unterscheidet Fontanes "Dialogisieren" (das er vereinfachend und Bachtin völlig mißverstehend mit Dialog zwischen Figuren gleichsetzt) von Raabes "Monologisieren einer Großsprecherfigur" (Zirbs 1986, S.157). 29 "Bakhtin’s most famous borrowing from musical terminology is the ‘polyphonic’ novel, but orchestration is the means for achieving it. Music is the metaphor for moving from seeing 113 (such as in ‘the novel is the encyclopedia of the life of the era’) to hearing (as Bakhtin prefers to recast the definition, ‘the novel is the maximally complete register of all social voices of the era’). For Bakthin, this is a crucial shift. In oral/aural arts, the ‘over-tones’ of a communication act individualize it. [...] The possibilities of orchestration make any segment of text almost infinitely variable." (Bachtin 1981, S.430f.). Möglicherweise nur Kuriositätswert hat in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß Friedrich Hebbels seine Rezension der Chronik der Sperlingsgasse 1858 überschrieb: "Eine vortreffliche Ouvertüre, aber wo bleibt die Oper?" (zitiert nach Helmers 1978, S.3). 30 Die Raabe-Bibliographie von Fritz Meyen samt ihren jährlichen Nachträgen in den Jahrbüchern der Raabe-Gesellschaft enthält laut Register nichts über das Verhältnis Raabes zu Grimmelshausen. - Von drei Artikeln, deren Titel mindestens einen Verweis erwarten ließen, nennt Radcliffe 1969 den Simpliscissimus in einem etwas oberflächlichen Vergleich: "Raabes Figur [Konradus in Else von der Tanne] erscheint in einem problematischeren Licht als Grimmelshausens Simplicissimus; der letztere tritt in die Gesellschaft ein oder verläßt sie nach Belieben, aber Raabes Eremit trifft eine unwiderrufliche Entscheidung". (Rad-cliffe 1969, S.61). - Detering 1986 erwähnt Grimmelshausen nicht. Detering 1994 bespricht die Wiederaufnahme des pikarischen Erzählens im 20. Jahrhundert und erwähnt Raabes Michel Haas als Ausnahmeerscheinung im 19. Jahrhundert; aber die Brücke zur ebenfalls erwähnten Courasche wird nicht geschlagen. - Herman Meyer spielt bei der Beschreibung von Raabes Erzählung Hastenbeck auf Grimmelshausen an: "Das greuliche Kriegsgeschehen, das im Hintergrund in den schwelenden Farben des Simplicissimus aufleuchtet, bleibt dem Leser als politisch-strategischer Vorgang verworren und undurchsichtig. Das hat psychologisch und perspektivisch seine Richtigkeit. Denn wir erleben den [Siebenjährigen] Krieg nicht aus der Perspektive der Fürsten und Feldherren, [...] sondern aus der Perspektive der entwürdigten, eingeschüchterten und gehetzten Bevölkerung." (Meyer 1961, S.189f.). - Hermann Pongs beschreibt Lorenz Scheibenhart als "Stimme eines Simplizius, Spiegel deutscher Volksnot." (Pongs 1958, S.118). - Jeffrey Sammons denkt wohl mehr an Brecht, wenn er von Jane Warwolf in Der Schüdderump und der Wackerhahnschen in Hastenbeck sagt: "Each is, in a wholly positive sense, a kind of Mother Courage." (Sammons 1987, S.129). - In der Beurteilung des einzigen Werks, das die beiden Autoren zusammen im Titel nennt, muß ich mich leider Hans-Jürgen Schrader anschließen, der an Heinz Siebels Dissertation Untersuchung zur Vorstellung des "Säkulums" bei Grimmelshausen, K.Ph.Moritz, Novalis und Raabe die "unpräzisen und zu hemmungsloser Spekulation neigenden Darstellungen" (zitiert nach Detering 1990, S.132) kritisiert. Außerdem vergleicht Siebel die beiden Autoren nicht direkt, sondern sieht sie als Eckpfeiler einer geschichtlichen Entwicklung, die an "einzelnen Höhepunkten" (Siebel 1951, S.1) aufgezeigt werden soll. In folgenden Publikationen kommen beide Autoren als Beispiele für ein jeweils zentrales Thema vor, ohne direkt verglichen zu werden: Meyer 1961 (Zitatverwendung), Wieckenberg 1969 (Paratexte), Forstreuter 1924 (Ich-Erzählung). Meyer stellt zahlreiche "Bachtinsche" Bezüge her, ohne den russischen Theoretiker je zu nennen; er widmet die ersten drei Kapitel den drei von Bachtin als polyphon besonders hochgelobten Autoren Rabelais, Cervantes und Sterne und erwähnt auch Grimmelshausen. (Meyer 1961) 31 Raabe spürte sehr wohl, daß er auch in einer Vorkriegszeit lebte. In Hastenbeck (1898) heißt es etwa: "uns am Ende des neunzehnten Jahrhunderts [...], die wir so viele Kriege erlebt haben 114 und die wir innerlich so große Angst haben vor dem kommenden neuen, dem wieder nach unserer Meinung schrecklichsten!" (BA20, 29). Paul Wasserfall erinnert sich an Raabes Ausspruch "Armer Junge! der kommt mitten hinein", angesichts seines spielenden Enkels: "[Raabe] ließ sich dann näher über seine dunklen Andeutungen aus, so daß erkennbar wurde, daß er den kommenden Weltkrieg und die Revolution gemeint hatte."(BAE4, 190). 32 "Grimmelshausen [wird] 1622 in Gelnhausen geboren, verlebt hier seine Kindheit und erste Schulzeit, bis die Stadt am 15. September 1634 im Krieg zerstört wird und der zwölfjährige Junge nach Hanau flüchtet. 1635 [...] beginnt seine Soldatenzeit [... ] [bis zum] bayerischen Feldzug 1648/9. [...] Als der Krieg dann 1676 seine Region verwüstet, wird er zur Verteidigung seiner Heimat erneut Soldat. Als solcher stirbt er im Alter von nur 55 Jahren." (Breuer 1988, S.286). 33 Hans Oppermann beschreibt, wie unberührt vom Kriegsgeschehen in Oberitalien 1859 Raabe Wien vorfand, da "die Kriege des 19. Jahrhunderts, auch der von 1870/71, das zivile Leben außerhalb der Kampfgebiete fast unberührt ließen. [...] Das ergibt sich auch aus dem Tagebuch, das Raabes Besuch in Hamburg 1864 während des Krieges gegen Dänemark festhält." (Oppermann 1970, S.52). Dagegen ist Clifford Bernds biographischer Erklärungsversuch für Raabes Obsession nicht sehr überzeugend. Er beschreibt, wie Raabes Bewußtsein durch die Nachwirkungen der Ereignisse von 1848 geformt worden sein soll: "The economy had been disrupted, food was scarce, prices were high and unemployment was rampant. [... ] Memories of the terror on the streets of Berlin – of the bloody engagements, of the wounded and dead – were still very much on everybody’s mind and lips. Everywhere could be seen bedraggled and hungry people. A pall of defeat, frustration and despair hung over the entire city, indeed over the whole of Germany. [... ] Hundreds of thousands were hurrying to flee, determined to escape the poverty brought on by political in-stability. Beginning with 1848, emigration from Germanspeaking lands soared exponentially." (zitiert nach Sammons 1987, S.50). 34 Den Dreißigjährigen Krieg und seine Folgen zeichnen Lorenz Scheibenrath. Ein Lebensbild aus wüster Zeit (1595-1641); Else von der Tanne (1648); Der Marsch nach Hause (1674, schwedische Kriegsheimkehrer) sowie Höxter und Corvey (1673). Etliche Erzählungen spielen während der Auseinandersetzungen kurz vor Ausbruch des großen Krieges: Der Junker von Denow, Die schwarze Galeere und Sankt Thomas (alle 1599, Freiheitskampf der Niederlande), Eine Grabrede aus dem Jahre 1609 und Der heilige Born. Blätter aus dem Bilderbuche des 16. Jhdts. In der Rahmengeschichte von Der Student von Wittenberg, die 1595 spielt, während die Binnenerzählung ein Ereignis von 1559 beschreibt, blickt der Erzähler pessimistisch auf den Dreißigjährigen Krieg voraus, in den die Schüler von 1595 ziehen werden (BA2, 248).Unseres Herrgotts Kanzlei, das um 1550 spielt, thematisiert ebenfalls den Konfessionenkonflikt in Deutschland. Während des Siebenjährigen Krieges spielen Die Innerste (1759 – 1761), Hastenbeck (1757) und Das Odfeld (1761). In allen drei Novellen wird vergleichend auch auf den Dreißigjährigen Krieg hingewiesen. Auch in den pikaresken Lebenslauf des Schulmeisterleins Michael Haas (Anfang 18. Jhdt.) gehört der Kriegsdienst: "Ging also wieder gen Detmold und ließ mich unter die Preußen annehmen als Reiter [...]. Bei mir hatte ich den Mittelknecht von Hündersen, der auch mit in den Krieg gehen wollte." (BA2, S.499f.). Des Reiches Krone spielt zwischen 1390 und 1453 und setzt mit dem Fall von Konstantinopel ein. Der Erzähler blickt auf ein stark vom Krieg geprägtes Leben zurück: "Ich habe das Schwert geführt für die Stadt und das Reich, habe der Stadt Gleven befehligt in harten Schlachten." (BA9/2, S.326). Ein Geheimnis wird folgendermaßen situiert: "Es war in dem 115 durch die Seeschlacht von La Hogue für das Glück und den Glanz der französischen Krone und des französischen Volkes so unheilvollen Jahre 1692" (BA3, 349), und der spanische Erbfolgekrieg bildet den Hintergrund von Das letzte Recht (1702): "Klein ist unser Schauplatz im Vergleich zu dem des großen Trauerspiels, welches zur selben Zeit die Weltgeschichte aufführte." (BA2, 7). Eine Erzählung, die um 1816 angesiedelt ist, trägt den Titel Nach dem großen Kriege, und evoziert die napoleonischen Kriege, die Befreiungskriege und den Dreißigjährigen Krieg. Der Erzähler von Im Siegeskranze blickt aufs Leben seiner Großeltern während der napoleonischen Kriege zurück. Nicht in diesen Zusammenhang einordnen lassen sich einzig Die Hämelschen Kinder (1258),Gedelök-ke (1731) und Die Gänse von Bützow (Ende 18. Jhdt). 35 Einige Beispiele: - In Zum Wilden Mann hängen unter den zahlreichen Bildern in der Offizin des Apothekers Kristeller auch "unzählige Szenen aus dem Leben Friedrichs des Zweiten und Napoleons des Ersten [und] die drei alliierten Monarchen in drei verschiedenen Auffassungen auf dem Leipziger Schlachtfelde." (BA11, 165) - In Frau Salome wird ein vernachlässigtes, unheimlich stilles Bergarbeiterdorf mit einer Anspielung charakterisiert, die den Dreißigjährigen Krieg wohl mitmeint: "Kein Kindergeschrei – kein Gänsegeschnatter – kein fröhliches Singen der Feldarbeiter! [...]"Es ist ein einsilbiges Volk, das hier haust", sagte Scholten.[...] Sie haben kurz anzubeißen, das sehen Sie schon den Kindergesichtern an. Manchmal passieren da Geschichten, die das Gepräge eines ganz andern Säkulums tragen. Sie stoßen auf Worte, Ausdrücke, Ansichten, die ganz sonderbar nach der Wüstenei des siebzehnten Jahrhunderts riechen." (BA12, 31). - In Horacker wird die Zeit der kleinstädtisch-friedlichen Handlung (1867) folgendermaßen angegeben: "Es hat also sechsundsechzigeinhalb geschlagen [...] und der letzte Konrektor ist ein [...] Mitglied des Norddeutschen Bundes. Zwei seiner früheren Schüler sind unter den Preußen bei Königgrätz gefallen, einer unter den Hannoveranern bei Langensalza und einer [...] verscholl bei einem Angriff ungarischer Husaren in der Schlacht von Custozza." (BA12, 297). Der erwähnte Konrektor findet später bei einer gemütlichen Sonntagswanderung einen Abfallzettel mit einer eindrücklichen Verlustliste aus dem österreichischen Militärkalender von 1867 (BA12, 318) - In Pfisters Mühle referiert der Erzähler die Geschichte seines Familiennamens folgendermaßen: "Als Magister artium [...] ist ein der Familie zugehöriger, zu einem Pistor oder Pistorius latinisierter Becker zwischen dem Schmalkaldischen und dem Dreißigjährigen Kriege nachzuweisen." (BA16, 15), und aus den Kinderwagen, die bei der Gastwirtschaft in Pfisters Mühle an Sommertagen zuhauf herumstehen, wird eine "Wa-genburg" (BA16, 26). - In Stopfkuchen ist der Siebenjährige Krieg ständig präsent in der "Roten Schanze", auf die sich die Ti-telfigur zurückgezogen hat. - Sogar die humoristischen spitzwegschen Skizze Der Weg zum Lachen (1857) heißt es: "Auf der Erde ging es in diesem Augenblick her wie immer. Es blühte und es welkte, es sproßte und verging; eine Schlacht wurde geschlagen, und ein Brautpaar verließ die Kirche." (BA2, 229). 36 In Das Odfeld wird solches Feuermachen im Siebenjährigen Krieg liebevoll beschrieben: "Dreißig Jahre [!] hatte er sein Feuerzeug im Dunkeln zu finden gewußt und fand es auch jetzt, Stahl, Stein und Schwefel sowie den Kasten mit den zu Zunder gebrannten Lumpen. Die Funken spritzten von dem Stein und einer fing in den schwarzen Lumpen. Der Schwefelsticken leuchtete auf, und fünf Minuten nach seinem ersten Schlag mit dem Stahl hatte der Magister Buchius Licht." (BA17, 40). 116 37 Es ist "denkwürdig [...], daß so kurz nach den [...] Siegen von 1870/71, so rasch nach der Reichsgründung, inmitten allgemeiner patriotischer Euphorie [...]der Krieg eine so negative Beurteilung" (Hajek 1977, S.35) er-fährt wie etwa in Die Innerste. 38 "Eine[r ...] Rede von Meister Christian Bodenhagen [BA12, 109] behauptet, im ‘großen Krieg’ – womit der Dreißigjährige gemeint ist – seien die [...] Natur- und Flußgeister böse und heimtückisch geworden. [...] Es scheint mir unwahrscheinlich, daß Raabe jenes [...] Bösewerden der Naturgeister [...] ohne tiefere Absicht [...] übernommen hat. Denn es geht [...] um den eminent wichtigen Bezug des Menschen zur Natur." (Stern 1994, S.17). Dieser Bezug beginnt sich seit Descartes wesentlich zu verändern und macht die Natur zu einem wichtigen Kristallisationspunkt widersprüchlicher Aussagen. Die reduktive Weltsicht des Rationalismus hat auch ihre literarische Darstellung beeinflußt: Das Irrationale, Mythische, Anthropomorphe, aber auch Unheimliche – kurz, das Über-Natürliche – an ihr ist dem 17. Jahrhundert wie dem programmatischen Realismus im Zeitalter des Positivismus nicht ganz "genehm". Grimmelshausen wie Raabe benützen aber unter anderem rational nicht erklärliche Phänomene (siehe die "Schermesserepisode" (Simpl 512-522) und Raabes Die Innerste und Pfisters Mühle), um ihre Unterjochung zu schildern. Diese "Dissidenz" kann bei beiden als Rückgriff – auf die allmählich verschwindende systemische Weltsicht des Mittelalters bzw. auf deren Wiederbelebung in der Romantik – gelesen werden. 39 Das formale Element der Wiederholung gewisser Elemente in Das Odfeld drückt die unausweichliche Wiederholung des Kriegs in der Geschichte, aber auch seine Sinnlosigkeit aus: "Immer wieder finden sich Stellen, in denen dieser Aspekt deutlich hervortritt: So ruft Herzog Ferdinand aus: ‘Quelle guerre! Welch ein Krieg! Welch ein Krieg, welche Schlächterei ohne Ende!’ Oder er wartet darauf, ‘daß wieder einmal alles vergeblich sei und das Feld vor ihm wieder mal umsonst sich mit Leichnamen bedecke!’" (Ringel 1970, S.134f.). 40 Für sozialen Aufstieg und Fall im Krieg finden sich zahllose Beispiele bei beiden Autoren. Im Rathstübel Plutonis etwa wird die erste Gesprächsrunde über das Reichwerden mit dem folgenden Votum abgeschlossen: "Weil die meiste Schätz und Reichtumb [...] im Krieg gewonnen und verloren werden / so wer es eine Thorheit /wann ein Armer der Reichtumb verlangt / solche anderstwo alß in dem Krieg suchte." (Pluto 14). 41 Dieses Phänomen spricht der Untertitel einer neueren Raabe-Monographie an: The fiction of the alternative community (Sammons 1987, speziell S.189-212). In Kriegszeiten konstituieren sich solche Außenseitergesell-schaften besonders oft: In Diebesbanden, unter Zigeunerhauptmännern und Unterwelts-Königen, um Schmugg-ler- und Wildererfamilien tun sich die Randfiguren der Gesellschaft zu neuen Gruppen, zu Ersatzfamilien zu-sammen, die eigene Gesetze und eine neue, eigene Häuslichkeit entwickeln. Dies geschieht z.B. in Die Inner-ste, wo eine Schmugglerbande eine alte Mühle bewohnt, aber auch in bei Grimmelshausen, wo Courasche am Ende ihres Lebensberichtes einer Zigeunerbande vorsteht, die "durchaus als [...] funktionstüchtige, gemeingütlerische Formation" erscheint (Berns 1990b, S.424). 42 Als Metapher taucht das Wort "Krieg" im Rathstübel Plutonis auf, wo ein GeschichtenErzählwettbewerb als "Krieg" eingeführt wird: "Demnach ich dem Krieg zugestimt / so wil ich auch den Anfang mit eines Kriegers Exempel machen." (Pluto 38). Für Raabe vgl. das Motto der vorliegenden Arbeit (S.4), das aus Alte Nester stammt (BA14, 85), und viele andere Stellen. "Für Bachtins "somewhat militarized language" sind "blunt, often crudely material expressions" (Michael Holquist im Nachwort zu Bachtin 1981, S.431) charakteristisch, wobei sich solche Ausdrücke ("Eindringen", "Schlachten austragen", "Invasionen") wohl mit der Militarisierung des sowjetischen Lebens in den Dreißiger- und Vierzigerjahren, die Michael Holquist anführt, kaum erklären lassen. Ein Beispiel: 117 "The world becomes polyglot, once and for all and irreversibly. [...] The naive and stubborn co-exi-stence of "languages" within a given national language also comes to an end – that is, there is no more pea-ceful co-existence between territorial dialects, social and professional dialects and jargons, literary language, generic languages within literary language, epochs in language, and so forth." (Bachtin 1981, S.12). 43 Dies bedeutet nicht eigentlich, daß "jeder mögliche sinnliche Reiz [...] von [Raabe] vermieden" (Ringel 1970, S.109) würde. Im Braunschweiger Spätwerk "fällt auf die Sexualität neues Licht [...]: die Bejahung der Lust als Grundelement von der Welt Fröhlichkeit. Und diese Lust teilt sich in Raabes späten Texten mit: an der Textoberfläche, zwischen den Zeilen, im unterschwelligen Subtext." (Denkler 1989, S.178f.). Raabe verweigert sich also eher literarischen Klischees und Verklärungen als dem Thema an sich: "Es ist doch eine schöne Zeit, in welcher der Mensch noch meint, daß das endliche und glückliche Zusammenkommen des Liebhabers und seines Mädchens das Letzte und Höchste ist, mit welchem das Drama oder der Roman sich abgeben könne." (Hoppe 1960, S.96). Die Erzählung Der Lar von 1888 hat das Motto: "O bitte, schreiben Sie doch wieder mal ein Buch, in welchem sie sich kriegen!" (BA17, 222). 44 "Während des Spätmittelalters bestehen in Europa zwei Literaturen nebeneinander, die fast keine Verbindung miteinander haben: die der Adligen und die der Plebeijer. Die erstgenannte bringt die Minnesinger [...],, die Helden- und Liebesepen hervor. Diese ist eine Literatur des Irrealen, die sich nicht von dem Sichtbaren [...] nährt, sondern von komprimierten Mythenstoffen [...] und die mit deren Hilfe eine Welt von [...] stilisierten Wirklichkeiten aufbaut. In diesem Schaffen vereinigen sich alle ins Transzendente weisenden Emotionen [...]. Parallel zu ihr, aber auf der Erde kriechend, entwickelte sich die Literatur der untersten Volksschichten. Hier handelt es sich um Märchen, um Possen und Farcen[...] und zweideutige Erzählungen. Ganz typisch sind die Totentänze. Der Tod [...] ist der Rächer der einfachen und zu kurz gekommenen Leute; er ist der demokratische Gleichmacher. Der bäuerliche Sänger, [...] erschafft keine Welt. Er kopiert die Wirklichkeit, die er vor sich hat [...], er übersieht kein Härchen, keinen Schönheitsfehler, keine schorfige Stelle, kein entstellendes Mal. Diese Kopie ist Kritik. Und dies ist seine Absicht, nicht zu erschaffen, sondern zu kritisieren." (Ortega y Gasset 1969, S.9ff.). 45 Dieses Phänomen ist allerdings nicht nur bei Grimmelshausen und Raabe zu beobachten. Der Krieg ist ein Katalysator für formale Experimente, für "modernes" Schreiben; er verursacht nicht nur Verwirrung im täglichen Leben, sondern auch Polyphonie beim Schreiben, denn die Fragmente, die ein durchschnittlicher Einzelner etwa von einer Schlacht wahrnimmt, lassen sich nicht zu einer auktorial-sicheren Darstellung ordnen. Selbst ein so "olympischer" Erzähler wie Tolstoj, den Bachtin als große Gegenfigur zum dialogischen, polyphonen Dostojewskij zeichnet, stellt in Krieg und Frieden die Schlacht von Borodino als chaotische und unüberblickbare Erfahrung dar. Für den Hinweis auf diesen literarischen Effekt des Krieges bin ich Prof.Dr.Hartwig Isernhagen verbunden. Da Beschreibungen von Kriegen als Kristallisationspunkten geschichtlicher Krisen in historischen Ro-manen besonders häufig sind, wäre es möglicherweise interessant zu untersuchen, wie die Beschreibungen zunehmend unüberblickbarer Kriege im 20. Jahrhundert zum Niedergang des historischen Romans beigetragen haben. 46 Battafarano meint wahrscheinlich "verschont"; das italienische Verb "risparmiare" kennt beide Übersetzungen. 47 "Jeder Text situiert sich in einem Universum von Texten [...]. Die Konzeption eines Textes finden heißt, eine Leerstelle [...] in einer vorgängigen Konstellation von Texten [finden]. Diese kann weiter oder enger gedacht sein: weiter etwa als Konstellation einer Literatur oder einer 118 Gattung, enger als Konstellation eines Gesamtwerks, oder als thematische Konfiguration, als Serie und schließlich als Fortsetzung oder Bearbeitung, sei es eines fremden oder eines eigenen Werks." (Stierle 1984b, S.139). 48 Ein Arbeits(-Kapitel-)titel in der vorliegenden Studie lautete "Barocke Merkmale im Werk Wilhelm Raabes." Dazu gehören neben sprachlichen Merkmalen ("the almost Baroque luxuriance of [Raabes] fictional manner" (Sam-mons 1987, S.5)) auch Themen und Motive, wie die Tendenz zum skeptischen Rückzug vom "Säkulum", die Einsicht, daß "Der Wahn betreugt" ("Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute!" (BA12, 239)) und der Topos vom theatrum mundi (vgl. Arendt 1983). In seinen historischen Erzählungen, von denen die meisten zwischen 1590 und 1765 spielen, übernimmt Raabe außerdem orthographische, syntaktische und lexikalische Elemente der Sprache der jeweiligen Zeit. 49 Dazu gehören seine ungewöhnlich virtuose Handhabung von verschiedensten Zeit- und Raumebenen, eine Subjektivierung, die in Altershausen bis zu Ansätzen zu stream of consciousness reicht und ein wahrhaft proteischer Erfindungsreichtum in Erzählerrollen und Leserbeziehung, dem der vorliegende Ansatz natürlich nicht umfassend gerecht werden (vgl. die Auswahlbibliographie 4 im Anhang): "Die Art, wie [Raabe] seinen Leser immer wieder anspricht, ihn in die Erzählung einflicht, ihn ironisiert, befremdet und doch zu fesseln versucht, zeigt die gleiche Vielstimmigkeit wie all seine andern Erzählmittel." (Martini 1981, S.669). Vor allem in den humoristischen Werken differenziert Raabe verschiedene Grade der Intimität oder Direktheit in der Anrede, wendet sich separat an die Leserinnen usw. Das Bewußtsein für die Größe und Vielfältigkeit eines Massenpublikums führt ihn dazu, Gruppen zu unterscheiden, an die er sich differenziert wendet, um doch persönlich reden zu können. (vgl. Klopfenstein 1969, S.142ff.). Vgl. auch Anm. 156. 50 Zum Beispiel beklagt Maurice Gravier: "Es ist beschwerlich, das Wesen des Simplicissimus, des Haupthel-den in Grimmelshausens Roman, zu definieren. Tatsächlich bietet der Simplicissimus mehrere einander widersprechende Betrachtungsweisen an." (Gravier 1969, S.237, meine Hervorhebung). Ein geradezu abschreckendes Beispiel für die Einäugigkeit, zu der der unbedingte "Wille zur Interpretation" zwingen kann, bildet ein Artikel von Joël Lefèbvre, in dem das Nebeneinander von Schelmenspaß, Frauen-Klage und moralisierender Männerstimme in der Courasche einfach als "Scheitern der Absicht, Spiel und Erbauung zu einer tiefen Einheit zu bringen", bezeichnet wird. Dieses "Scheitern" postuliert Lefèbvre, da er Grimmelshausens "Literaturtheorie" von der mit Unterhaltung überzuckerten bitteren moralischen Pille absolut ernst nimmt, ohne die Möglichkeit eines Augenzwinkerns auch nur zu erwägen. Dies "impliziert, daß die Predigt die Hauptfiliation des Grimmelshausenschen Werkes ist" (Lefèbvre 1980, S.36). Diese These einmal vorausgesetzt, müßten die Elemente von Unterhaltung und Belehrung tatsächlich eine völlige Einheit bilden, und Grimmelshausen wäre allerdings eklatant gescheitert. Daß er dies nicht gemerkt haben soll, bzw. einen völlig mißlungenen Text zur Veröffentlichung hätte kommen lassen, ist aber eine absurde Annahme, die nur entstehen kann, wenn man einen derart lebendigen und vielseitigen Text partout einer "Deutung" unterwerfen will. 51 Barker Fairley sieht darin Raabes Einzigartigkeit: "He straddles a gap that no one else straddles, being on the one hand, rooted in a settled society, a settled humanity, and, on the other hand, unable to say what he wan-ted to say in the settled forms." (Fairley 1959, S.259). Diese Notwendigkeit der formalen Innovation weist aber sicher darauf hin, daß die Gesellschaft, in der Raabe lebte, so "settled" nicht war. Die beiden Aspekte haben in der Geschichte der Raabeforschung unterschiedliche Aufmerksamkeit gefunden: "War man in der älteren Forschung geneigt, stärker die ethische Seite von Raabes Werk herauszuheben [...], läßt sich seit den 50- 119 er Jahren [...] ein verstärkte Hinwendung zu Fragen des erzählerischen Verfahrens feststellen." (Kafitz 1981, S.51). 52 "The speech of another is introduced into the author’s discourse (the story) in concealed form, that is, with-out any of the formal markers usually accompanying such speech, whether direct or indirect." (Bachtin 1981, S. 303). So ist ein Text oft durchgehend "dotted with [invisible] quotation marks." (Bachtin 1981, S.307). 53 Teil I: Gott, die "vier Zeiten der Welt", die Menschen, die Bauern, Geld, Tanzen, Wein, Schönheit, die Priester, "die Weiber". Teil II: "die Poeterey", das Geschütz, die Liebe, der Tabak, "der Stand grosser Herren", "die Philosophia und die Philosophi", "die Mummerey", "die Medicin und die Medici", der Bettel und die Bettler, der Krieg. 54 Nur moralisch verkommene (wie Springinsfeld oder der teuflische Dom Agostin Agonista in Zum Wilden Mann) oder besonders junge und unreife Figuren (wie der junge Simplicius, wie Albrecht Bodenhagen in Die Innerste oder Thedel von Münchhausen in Hastenbeck) suchen das Soldatenleben, und wenn solche Jungen umkommen, erscheint ihr Tod "not as tragic but as wasteful." (Sammons 1987, S.126). Verstümmelung müssen hingenommen werden, "ohne daß dem Invaliden der Dank irgendeines Vaterlandes winkte" (Hajek 1977, S.35), wie beim einarmigen Korporal Jochen Brand in Die Innerste oder dem einbeinigen Springinsfeld. 55 Der Erzähler in Das Odfeld sagt: "Wir haben dann und wann eine Vorliebe für das, was Abziehende als gänzlich unbrauchbar und im Handel der Erde nimmermehr verwendbar hinter sich zurückzulassen pflegen." (BA 17, 17). Ähnlich unheroisch erscheint der Krieg, wenn Simplicius seinen Läusen zu Leibe rückt und dies als "Rencontre" mit "Würgen und Morden" bezeichnet (Simpl 179f.). 56 Analog werden naive oder zynische Begründungen für das Zerstörungswerk angegeben: "Etliche schütteten die Federn auß den Betten / und fülleten Speck [...] hinein / also alsdann besser darauff zu schlaffen gewest wäre; [...] Bettladen / Tisch / Stül und Bänk verbrannten sie / da doch viel Claffter dürr Holtz im Hof lag." (Simpl 18). 57 So spricht Simplicius von "diesem unserm Teutschen Krieg" (Simpl 17, meine Hervorhebung), in dem "hin und wieder", das heißt auf beiden Seiten, Grausamkeiten verübt worden seien. Grimmelshausens Vita selbst kennt ja beide Seiten durch die Konversion des geborenen Protestanten zum Katholizismus. 58 Gerade diese Mehrstimmigkeit, die Polyphonie oder den Dialog zwischen den Geschlechtern, hat Bachtin nicht thematisiert. In dem schönen Artikel "Freedom and Interpretation" berichtet Wayne Booth, wie er Rabelais’ Frauenfeindlichkeit entdeckte und die Frauenstimme in diesen von Bachtin als polyphon interpretierten Texten zu vermissen begann (Booth 1982). 59 Raabes Frauenfiguren haben tatsächlich noch relativ wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden; Untersuchungen finden sich in Böschenstein 1986, Stocksieker Di Maio 1987 und in zwei Dissertationen: - Bröhan, Margrit: Die Darstellung der Frau bei Wilhelm Raabe und ein Vergleich mit liberalen Positionen zur Emanzipation der Frau im 19.Jahrhundert. Peter D.Lang Verlag, Frankfurt am Main/Bern 1981. - Graves, Robert Anthony: The relationship between the female characters and the world in selected works of Theodor Fontane and Wilhelm Raabe. Diss. University 1978. Beide Dissertationen sind gemäß Literaturberichten nicht vollständig befriedigend (für Bröhan: Ingrid Stocksieker Di Maio in JbGR 1982, S.230-233; für Graves: Ulrike Koller in JbRG 1980, S.149-153). 120 60 Auch in anderen Werken Raabes ist der männliche Zwiespalt zwischen Angst und sexueller Faszination auszumachen, der die Ehe mit einer "schlimmen" Frau meist unmöglich macht. In Hastenbeck (das im Siebenjährigen Krieg spielt) wird zur Charakterisierung der "Wackerhahnschen", einer gealterten Courasche-Figur, das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, eingesetzt. Julia Bertschik kommentiert: "Die Männerangst vor dem Ehebett ist die schlimmste von allen, braucht einen Kriegsmann [als] Bräutigam" (Bertschik 1995, S.122). 61 "Entscheidend ist die Art und Weise, wie Grimmelshausen die Courasche, ohne von Autorenkommentaren oder gelehrten Zitaten unterbrochen zu werden, sprechen läßt." (Streller 1990, S.93). Die enge Sicht, die Streller zu dieser vereinfachenden Feststellung bringt, wird aus dem vorhergehenden Satz ersichtlich: "Daß Grimmelshausen [...] zugleich die Demütigungen, denen die Frauen in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs ausgesetzt waren, einbringt und damit [Courasches] Gefühlspervertierung motiviert, steht hier nicht zur Diskussion." (Streller 1990, S.92f., meine Hervorhebung). Kurt Forstreuter vereinfacht ebenfalls: "Die Moral hält der Erzählung das Gleichgewicht im Simplicissimus und fehlt ganz in der Courasche." (Forstreuter 1924, S.17) 62 Diese Brechung trägt wesentlich zu Courasches persönlichem Sprachstil bei, der in Grimmelshausens sonst durchgehendem "simplicianischen Stil" eine Ausnahme bildet: "Ähnlich wie im spanischen Picaroroman kommt es [...] nicht zu einer Individualsprache des Erzählens – mit Ausnahme der Courasche." (Streller 1990, S.97). 63 Bachtin (den Van Ornam nicht erwähnt) benutzt in Discourse in the novel denselben Ausdruck, als er von fremden Sprachen spricht, die ein Autor distanziert benützt, sozusagen vorführt: "The author does not speak in a given language (from which he distances himself to a greater or lesser degree), but he speaks, as it were, through language that has somehow more or less materialized, become objectivized, that he merely ventriloquates." (Bachtin 1981, S.299). 64 Besonders unheimlich ist die Vermännlichung einer Frau natürlich den Männern, die Rache von ihr zu fürchten haben. So bekommt Doris im Gespräch über einen Geliebten, der sie verlassen hat, zu hören: "Wenn du wirklich ein Weiberherz hättest, so ließest du auch das Vergangene auf sich beruhen." (Innerste 166) und "Wenn du da die Unhuldin spielen willst, ist’s nicht aus eigenem Herzensjammer, sondern aus Bosheit und Lust am Schaden." (BA12, S.166). Philarchus solidarisiert sich indirekt mit Simplicius: "Ich fande [Courasche] überaus rachgierig [...]; aus welcher Gottlosen Neigung sie dann auch besagtes Tractätel / [...] hat schreiben lassen." (Spring 31, meine Hervorhebung). 65 Van Ornam zeigt als weiteres Beispiel für die Zerstörung der Weiblichkeit im Krieg, wie Courasches Unfruchtbarkeit als Kritik am Krieg gelesen werden kann, da der Krieg Lebensumstände schafft, die von der zeitgenössischen Medizin als ungünstig für die weibliche Fruchtbarkeit angesehen wurden (Van Ornam 1992). Simplicius weist dagegen in seinen Narrenreden in Hanau darauf hin, wie schmerzlich Gebären ist: "Das Wort Wolgeborn sey eine gantze Unwarheit / solches würde eines jeden Barons Mutter bezeugen / wenn man sie fraget / wie es ihr bey ihres Sohns Geburt ergangen wäre?" (Simpl 78). Jürg Jochen Berns formuliert allgemeiner: "Courasche kann in der virilen Kriegsgesellschaft keine in-dividuelle und keine soziale Mütterlichkeit entwickeln. Doch schafft sie sich als Prostituierte und Marketenderin eine [...] Anti-Familie, eine diabolische Familien-Parodie, in der das alles verkuppelnde Geld [...] zum ‘spi-ritus familiaris’ (Cour 77ff.) wird." (Berns 1990b, S.424). 121 66 Wenn man sie in der zeitüblichen Weise ("Der Buchtitel ersetzt [...] bei Büchern des 17. Jahrhunderts [...] den heutigen Klappentext." (Breuer 1988, S.282)) als einfache "Gebrauchsanweisung" für den Erzähltext benützt, entstehen reduktive Interpretationen, die Widersprüche ignorieren müssen. Die vielfältigen anderen Wir-kungen, die der kunstvolle Einsatz dieser Texte auf den Leser haben kann (Verfremdung, Distanzierung, Ironi-sierung etc.), sind für die Kapitelüberschriften des Simplicissimus ausführlich von Ernst Peter Wieckenberg beschrieben worden (Wieckenberg 1969, S.131-182), der allerdings kaum Interessantes an denjenigen der Courasche findet. 67 Für die ikonographische Interpretation dieses Kupferstichs ist hier kein Platz; eine kleine Bibliographie zum Thema findet sich in Weydt 1979, S.57. 68 Zahlreiche Forscher, die Courasches Verderbtheit gegen Simplicius’ aufrichtige Bekehrung ausspielen, übersehen analoge Stellen im Simplicissimus. Als er in Paris als Liebesdiener unglaublich viel Geld macht, wundert er sich nicht mehr, "daß sich die Weibsbilder ins Bordell begeben / und ein Handwerk auß dieser viehischen Unfläterey machen / weil es so trefflich wohl einträgt; Aber ich fieng an / und gieng in mich selber / nit zwar auß Gottseeligkeit oder Trieb meines Gewissens / sondern auß Sorg / daß ich einmal auff so einer Kürbe erdappt und nach Verdienst bezahlt werden möchte." (Simpl 308). Noch auf der Kreuz-Insel liest er "die Legenten der alten Heyligen" auch aus Langeweile: "nit allein durch gute Beyspiel mich in meinem abgesonderten Leben geistlich zu erbauen / sonder auch die Zeit zupassiren." (Simpl 508). 69 Leicht gekürzt lautet dieses Resümee so: "Jungfrau Lebuschka (hernachmals genanndte Courage) kommt in den Krieg / und nennet sich Janko, muß in demselben eine Zeitlang einen Cammerdiener abgeben. [...] Janco vertauschet sein Edles Jungferkräntzlein bey einem resoluten Rittmeister um den Nahmen Courasche. Courage wird darum eine Ehefrau [...], weil sie gleich darauf wieder zu einer Wittwe werden muste. [...] Courage kommt durch wunderliche Schickung in die zweyte Ehe [...in der sie] treflich glückselig und vergnügt lebte. [... sie] schreitet zur dritten Ehe, [...] trifts aber nicht so wol als vorhero [...] darauff sich ihr Mann unsichtbar macht / und sie sitzen läßt. [...] Courage hält sich in einer Occasion trefflich frisch. [...aber] quittirt den Krieg / nachdem ihr kein Stern mehr leuchten will und sie fast von jederman vor einen Spott gehalten wird. [...] Courage erfähret nach langem Verlangen / Wünschen und Begehren wer ihre Eltern gewesen / und freyet darauff wiederumb einen Hauptmann. [...] Ziehet wieder in den Krieg und [zeigt dort ...] Heldenmässige Tapfferkeit. [...] Verleurt darauff ihren Mann und wird eine unglückselige Wittbe. Der Courage wird ihre treffliche Courage auch wieder trefflich von dem ehedessen von ihr gefangnen Major eingetränckt / wird [...] darauff nackend ausgezogen / und muß eine gar schändliche Arbeit verrichten. [...] wird als ein gräfliches Fräulein auff einem Schloß gehalten, [...] aber endlich [...] elendiglich verlassen. Courage wirft ihre Liebe auff einen jungen Reuter. [...] Darauf wird ihr Liebster harquebusirt / die Courage aber mit Steckenknechten vom Regiment geschicket / die zweyen Reutern / so Gewalt an sie legen wolten ziemlich übel mitfuhre / da ihr ein Musquetirer zu Hülffe kame." (Cour 7-9). 70 Ernst Peter Wieckenberg bemerkt die im Vergleich zum Simplicissimus "glanzlose[n] Summarien" (Wiek-kenberg 1969, S.149), begründet sie aber ganz anders: "In der Courasche begnügt sich der Autor damit, den Inhalt der einzelnen Kapitel ganz nüchtern und ausführlich zu referieren. [...] Nur durch sich selbst wirkt die Heldin auf den Leser. [...] Alle Reflexionen des Erzählers würden die Ungeheuerlichkeit des Dargestellten, die beinahe unmenschliche Verworfenheit dieser Figur abschwächen." (Wieckenberg 1969, S.149). 122 71 "Und demnach ich sehe / daß mein Schreiber noch ein weiß Blat Papier überig hat / Also will ich noch zu guter lezt oder zum Valete ein Stücklein erzehlen" (Cour 144). 72 Ein Beispiel: Das 13. Kapitel ist in der Inhaltsübersicht so beschrieben: "Courage wird als ein gräfliches Fräulein auff einem Schloß gehalten / von dem Rittmeister gar offt besucht und treflich bedienet / aber endlich auff Erfahrung der Eltern des liebhabenden Rittmeisters durch zween Diener gar listig aus dem Schloß nacher Hamburg gebracht / und daselbst elendiglich verlassen." (Cour 9). Dies ist im Text reduziert zum kurzen und ironischen: "Was vor gut Täge und Nächte die Gräffl. Fräulin im Schloß genossen / und wie sie selbige wieder verloren." (Cour 65). 73 In ähnlicher Weise kann man die oft ironischen Kapitelüberschriften in der dritten Person im Simplicissimus als Kommentare des "gealterten, gereiften Helden" (Wieckenberg 1969, S.138) sehen, der Distanz schafft, um seine Lebensgeschichte zum Exempel zu erheben. "Als ein von Darstellungsaufgaben befreites Romanelement müssen [die Kapitelüberschriften] sich dem Erzähler für solche Funktionen geradezu anbieten." (Wieckenberg 1969, S.139). 74 Verschiedene Andeutungen weisen darauf hin, daß in Libuschkas Vater der Graf Heinrich Matthias von Thurn (1580-1640) gezeichnet ist, ein "Hauptinitiator des böhmischen Aufstandes" (Berns 1990b, S.421), "der vom kaiserlichen Volk als Urheber des Dreißigjährigen Krieges verachtet wurde". Matthias Feldges allegorisiert ihn zum Vater des Krieges: "Der Vater der Courasche ist [...] verantwortlich für das Babylon des Dreißigjährigen Krieges und wird dadurch zu einem Vorläufer des Widerchristen." (Feldges 1969, S.176). Anstatt auch noch dies einer zur "Hure Babylon" dämonisierten Courasche zur Last zu legen, könnte man allerdings auch die fatale Wirkung betonen, die der Krieg von Anfang auf Libuschkas Leben hat. 75 Das Unrecht, das Frauen angetan wird, wenn sie nur zum dekorativen Objekt, zum "schöne[n] Gemähl", erzogen werden, formuliert Philipp Harsdörffer im Vorwort zu seinen Frauenzimmer Gesprächspielen (die Grimmelshausen als Vorbild zum Rathstübel Plutonis dienten) so: "Fürwar es ist [den Frauen] den weg deß Verstands zu gehen nicht verbotten / man wolle sie dann von der Gemeinschaft anderer Menschen absondern / und sie für Sinn- und Redlose Bilder halten." (zitiert nach Meid 1984, S.41). 76 Man vergleiche die christliche Unterweisung, die der einfältig, aber nicht unnatürlich aufgewachsene kleine Simplex drei wichtige Jahre früher von seinem Einsiedel bekommt! 77 Ähnlich verwahrlost ist die flatterhafte kleine Luise Winkler in Drei Federn: "Ich weiß, daß es [mein Benehmen] zum Weinen und Verlästern ist; aber ich kann ja nur halb dazu. Eine Mutter habe ich gar nicht gehabt, denn sie ist gestorben, als ich noch ein ganz kleines Kind war; alle meine guten Lehren habe ich mir selbst geben müssen. [...] Ich habe mir selbst durch die Welt helfen müssen und es ist darnach geworden." (BA 9/1, 338). Die Probleme einer Erziehung, die Frauen zu moralischer und praktischer Lebensuntüchtigkeit verbildet, erfährt auch Helene Trotzendorff in Die Akten des Vogelsangs, eine nicht ganz so verdächtige, aber selbständig-rebellische Frauenfigur "mit ihren angeborenen ‘Allüren’ und den aus allem, was nichtsnutzig im Leben war, zugelernten; gleichviel ob es mütterliche Erziehung, Modezeitung, Leihbibliothekslektüre oder Herumtreiberei mit allen jungen Taugenichtsen des Vogelsangs [...] hieß!" (BA19, 253). Irene Stocksieker Di Maio kommentiert: "Helene ist eine Natur, die selbständig sein möchte, die aber nicht so erzogen wird, daß sie tatsächlich selbständig sein könnte. So gerät bei ihr innere Veranlagung mit äußeren Umständen in Konflikt, und dies [...] wird als Eigensinn und Trotzigkeit [...] aufgefaßt." (Stocksieker Di Maio 1987, S.234). 78 Später legt Courasche ihrem Ehemann ebenfalls einen demütigenden Übernamen bei, der sich auf ihre Befehlsgewalt über ihn bezieht: "mein Marquedenter aber bekam hierdurch / 123 Krafft unserer Heuraths Notal den Namen Spring-ins-felt." (Cour 85). Als ihn Philarchus Jahre später auf diesen Namen anspricht, wird Springinsfeld vor Wut tätlich: "Schweig [...] oder ich schmeiß dir Plackscheisser die Kandel über den Kopf / daß dir der rothe Saft hernach gehet; und seine Wort wahr zu machen erdapte er die Kandel / aber Simplicius war eben so geschwind und weit stärker als er / [...] enthielte ihn derowegen vorm Streich." (Spring 32). 79 Noch ungenauer liest Günter Weydt, der behauptet, Libuschka habe sich selber umgetauft: "Der Name Courasche, mit dem sie ursprünglich das Genital euphemistisch [...] umschreibt, bleibt der Heldin ein Leben lang treu." (Weydt 1979, S.83, meine Hervorhebung). Aber Courasche verhindert den Gebrauch dieses Namens, wann immer sie kann: "dann Courasche dorffte er mich nicht nennen" (Cour 79). Im 5. Kapitel des Springinsfeld, wo Philarchus erzählt, wie er dazu kam, ihr als Schreiber zu dienen, heißt es denn auch: "Frau Libuschka / dann also nennete sich meine Zigeunerin." (Spring 27). Dessenungeachtet bezeichnet er sie weiter als "Cou-rasche". 80 Allerdings basiert der Name auch bei Brecht auf einem zweifelhaften Mißverständnis: "Courage heiß ich, weil ich den Ruin gefürchtet hab, Feldwebel, und bin durch das Geschützfeuer von Riga gefahrn mit fünfzig Brotlaib im Wagen. Sie waren schon angeschimmelt, es war höchste Zeit, ich hab keine Wahl gehabt." (Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. Suhrkamp Verlag, Berlin 1977, S.9). 81 Die amazonenhaften und königlichen Züge der böhmischen Sagenfigur Libussa (und Grimmelshausens Kenntnis des Stoffes) beschreibt Berns 1990b. Zu ihnen gehört auch Libussas Stolz, eine Frau zu sein – "femina sum, femina vivo" (S.432) – der in lebhaftem Gegensatz zu den Verkleidemanövern steht, zu denen der Krieg und die Männer Libuschka zwingen. 82 Dies geschieht sogar in feministisch orientierten Arbeiten zur Courasche, wie Gerd Hillen eine zitiert: "‘Das Bild dieser Frau ist ganz in der mittelalterlichen Tradition verhaftet, sie erscheint als [...] die Ursache allen Übels.’ Aus feministischer Sicht bietet sich die gängige Interpretation der Courasche offensichtlich an als kardinaler Beweis für die diffamierende Darstellung der Frau im 17. Jahrhundert." (Hillen 1992, S.859). 83 So etwa Solbach 1986. Berns führt weitere "unter dem Einfluß von Feldges 1969" stehende Studien an: Streller, Siegfried: "Courasche – eine Frau im Kriege". In: Wortweltbilder: Studien zur deutschen Literatur. Berlin: Aufbau 1986. S.50-66. Hesselmann, Peter: Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshausens Zehn-Bücher-Zyklus. Frankfurt a/M, Bern New York, Paris 1988. 84 So etwa Jacobson 1966 und 1968, Meid 1984 und Feldman 1991, Hillen 1992.1. 85 Volker Meid stellt immerhin das Nebeneinander unvereinbarer Aussagen fest: "Die moraldidaktische Intention, wie sie z.B. etwas simplifiziert in der "Zugab des Autors" ausgedrückt ist, und die dichterische Gestaltung, die die Courasche auch als Opfer erkennen läßt, decken sich nicht vollständig. Damit wächst die Erzählung über [...] eine Darstellung eines theologisch begründeten negativen Frauenbildes hinaus. Gleichwohl stehen die Wertungen, denen ihre verschiedenen Aktivitäten unterworfen werden, im Zusammenhang mit einem traditionellen Frauenbild, dem auch Grimmelshausen verpflichtet ist." (Meid 1984, S.160). 86 In der "Blocksberg"-Episode zitiert Simplicius zwar Autoritäten über die Hexerei (Simpl 145f.), bezeichnet aber anderswo den Hexereiverdacht, der auf eine alte Frau fällt, als "solche Narrnpossen" (Simpl 304). 124 87 Später parallelisiert Raabe auch Lieschen Papenberg, das Albrecht Bodenhagen heiratet, mit der jungen Do-ris bzw. dem Bach an der Quelle: "Lieschen [...] war ein fröhliches Ding von Kinderschuhen an gewesen, brachte von Natur ein vergnügt geduldig Herz mit zu allem, was die Frauen erleben können auf dieser Erde; die Innerste hüpfte da oben [...] an ihrem Geburtsorte im Walde nicht unschuldiger, klarer und lieblicher in die Welt hinaus." (BA12, 120). Eine Beschreibung der Gruselgeschichten, die man sich in der Mühle über die drei Flüsse Leine, Ihme und Innerste erzählt ("selten etwas Gutes"), läßt auch eine Erklärung anklingen: "Es klingt nämlich durch die Nacht, das Rauschen des Mühlwassers und das Wehen des Windes wie ein kurz abgerissenes Stück aus dem al-ten, alten Liede von der Treue." (BA12, 140, meine Hervorhebung). 88 Häufig wird ja die in der christlichen Tradition so häufig behauptete Verderbtheit der Frau als Metapher für die unheimlichen, unkontrollierbaren Seiten der Natur gesetzt und umgekehrt die "naturhafte" weibliche Irrationalität, ja Seelenlosigkeit als Rechtfertigung für aggressive Eroberungs- und Zähmungsversuche benutzt. "Many natural philosophers [im 17. Jahrhundert] seemed to see the "experimental philosophy" as a kind of surrogate sexual activity in which they would penetrate into the hidden secrets of an essentially female nature, thereby proving their [...] virility. [...] Concomitant with this desire [...they] appeared intent on reducing to barren passivity the femininity they projected on to the natural world." (Easlea 1981, S.89). Die Natur wird nicht mehr als fruchtbare Mutter angesehen, sondern als sterile manipulierbare Materie. Raabe scheint die Assoziation von Frau und Maschine besonders scheußlich gefunden zu haben: "Chamisso kannte wenigstens, als er sein ‘Frau-enleben’ schrieb, das scheußliche Wort Nähmaschine noch nicht!" (BAE2, 361). 89 "[Raabe’s] tenderness in his fiction toward unwed mothers, who seem to have filled most other nineteenth-century novelists with horror, is so remarkable that [...] it was the subject of a special study." (Sammons 1987, S.146). Bei der (von mir nicht eingesehenen) Studie handelt es sich um: Joseph Bass: "Die ‘verlorenen’ Mädchen bei Wilhelm Raabe." In: Otto Elster und Hanns Martin Elster (Hgg.): Wilhelm Raabe-Kalender. Berlin: Grote 1914, S.74-96. 90 Erst in Pícara-Romanen des zwanzigsten Jahrhunderts befreit sich die weibliche Stimme völlig von den verdammenden männlichen Behauptungen: "Le roman de pícara [du 20ème siècle] ne défend plus l’ordre patriarcal des rôles sexuels en donnant l’exemple de dissidentes picaresques nées de l’imagination des hommes, mais est désormais écrit par des femmes dans une intention résolument émancipatrice. [...] Les héroines picaresques ne figurent plus comme des exemples à ne pas suivre, [...] mais des modèles." (Detering, 1994 S.42). 91 "Wird das Feld der Relationen zwischen Texten [...] systematisch erschlossen, so erweist sich, daß der ‘In-tertextualität’ keinesfalls jene Kraft zukommt, um derentwillen Julia Kristeva das Konzept eingeführt hatte: die Kraft nämlich, die Identität der Werke zu dezentrieren, die Werke zum Moment eines subjektlosen Prozesses der sich ausspielenden textuellen Differenz zu machen. [...] Daß aber das Konzept der Intertextualität, wenn sie [...] zu einer deskriptiven, auf je das einzelne Verhältnis bezogenen Kategorie gemacht wird, für das Verständ-nis einer noch zu wenig beachteten kommunikativen Dimension der Werke fruchtbar ist, steht außer Frage." (Stierle 1984b, S.149f.). Die Beachtung dieser kommunikativen Dimension verhindert das Verbleiben in bloßer Aufzählung, das Kristeva kritisiert: "Le terme d’intertextualité [...] a été souvent entendu dans le sens banal de ‘critique des sources’ d’un texte." (Kristeva 1974, S.59f.). 92 Daß die Simplicianischen Schriften solche Vielfalt aber nicht allein den Genrebedingungen des Schelmenromans verdanken, sondern vor allem Grimmelshausens polyphonem "Temperament", wird daran ersichtlich, daß auch seine "Idealromane" viel Genre-Untypisches enthal- 125 ten. Gerd Rötzer beschreibt dies: Im Keuschen Joseph "werden viele familiäre, private Details [...] berichtet; schwankhafte Episoden sind eingestreut. Die Hand-lung verläuft linear, einsträngig in einem reihenden Aufbau.[...]. Dies alles widerspricht der Struktur des kunst-voll verschränkten höfisch-historischen Romans." (S.93f.) "Der volkstümliche Ton und die schlichte chronolo-gische Erzählweise [erinnern] an die Legendentradition." (S.95). Dietwalt und Amelinde beginnt "im Gegensatz zum Schema des hohen Romans [...] mit der Hochzeit der beiden Titelfiguren." (S.97). "Höfisch-historisch sind die Verstrickungen [...]; legendenhaft sind die Erscheinungen des göttlichen Boten und des Widersachers; märchenhaft ist das Symbol des Rings [...]. Grimmelshausen verwandelt den historischen Roman in ein erbauli-ches Volksbuch." (S.98). "Obwohl Grimmelshausen in [Proximus und Lympida] die schlichte einsträngige Handlungsführung zugunsten einer Doppelung und [...] Verschränkung aufgab, verherrlicht diese Erzählung noch weniger das Ideal des höfischen Menschen als die beiden anderen Romane." [...] Die Gleichsetzung von hoher Herkunft und hoher Tugendgesinnung [ist] aufgehoben, [...] weil sie auf reinen Äußerlichkeiten beruhe; [...] der Besitz [...] gefährde den Adel der Seele, der nicht von kommerziellem Wohlstand oder ständischer Reputation abhänge. [...]. Nicht der höfische Held, sondern der christliche Pilgrim ist [...] das Ideal." (Rötzer 1972, S.99f.). 93 Ebenso eindeutig, allerdings in der Hölle, endet im zweitletzten Kapitel des Springinsfeld Springinsfelds zweite Frau, die unheimliche "Leyrerin" die "der Kützel ihres geylen Fleisches [...] endlich selbst in einen elen-den Tod: Ja gar ins Feur" (Spring 130) bringt. Dies steht in krassem Gegensatz zu der Offenheit, mit dem der Bericht der erfolgreich überlebenden Courasche endet. Die beiden Teile des Vogelnests schließen ebenfalls mit dem syntaktisch in den letzten Satz integrierten Wort ENDE. Der erste Schluß beteuert die Unveränderbarkeit von Michael Rechulins moralischen Überzeugungen: "Bitte aber auch darneben GOtt daß Er dich nicht fallen lasse / sondern auch deinem Bruder wieder auffhelffe; diß war meine Meinung / als ich diß wercklein anfienge / und ist sie noch da ichs jetzt hiemit EN-DE." (Nest 141). Der Schluß des zweiten Teils ist setzt wieder mit großem Ernst Lebens-Ende und Buch-Ende in eins: "Ich beflisse mich [...] mit Gottes Gnad und Beystand zu erlangen ein seliges ENDE." (Nest 314). 94 Raabe pflegt Grobheiten in außerliterarischen Männergruppen-Kontexten, im typischen bürgerlichen Stil seiner Zeit: "Die Geschichte, wie Sie mich einmal im "Salon" in den Syrupstopf gesteckt haben, verzeihe ich Ihnen auch nie und nimmer. Habe ich je in meinem Leben einen so weichen Rede-Stuhlgang gehabt?" (BAE2, 197); "Ich bin in den Klub der Kleiderseller eingetreten und neulich zum erstenmal als Gast im Klub der Krähenfelder Bauern gewesen. Die letzte Gesellschaft [...] ist auf das Princip der größtmöglichen Grobheiten und der saftigsten Geschichten gegründet." (BAE2, 160). 95 Rosa Mayreder zitiert (in Das literarische Echo. 8 (1905/6) col. 413) die Redaktion der Gartenlaube: "Die in unserem Blatt zur Veröffentlichung gelangenden Beiträge dürfen weder eine politische noch eine religiöse Ten-denz enthalten und müssen in erotischer Hinsicht so gehalten sein, daß sie auch vor jüngeren Mitgliedern im Familienkreise vorgelesen werden können. Auch darf weder eine Ehescheidung noch ein Selbstmord vorkom-men. [...] Der Ausgang muß ein glücklicher, einen angenehmen Eindruck hinterlassender sein." (zitiert nach Lensing 1977, S.88). 96 "Es war im 19. Jahrhundert, als der Lesekanon deutscher Klassiker entstand, gar nicht so einfach, den Abentheuerlichen Simplicissimus Teutsch als Schullektüre durchzusetzen [...], und im Falle des Hurenbuches Courasche völlig unmöglich. Wegen dieser ‘seelenmörderischen’ Schullektüre [...] kam es 1876 sogar zu einer Debatte im Preußischen Landtag." (Breuer 1988, S.284). "1876 sah sich E.H.Meyer zu einer purgierten Ausgabe gezwungen, nachdem eine erste 126 Auflage öffentliches Ärgernis verursacht hatte." (Weydt 1979 S.43). Dies wird näher referiert in Boeckh, Joachim G.: "Grimmelshausen im Preußischen Abgeordnetenhaus." In: Neue deutsche Literatur (Berlin-Ost) 8 (1960), S.148-51. Es wäre interessant zu wissen, ob Raabe von dieser Debatte wußte. In den Briefbänden der Braun-schweiger Ausgabe ist nichts dazu zu finden, was aber damit zu tun haben mag, daß sich Horst Denklers Hoffnung noch nicht erfüllt hat: "Ich wünsche mir Brief-Bände, die die Korrespondenz in ihrer Abfolge wiedergeben und sich nicht mit der Zusammenstellung eines Brief-Potpourris begnügen; ich wünsche mir die editorische Erschließung der Tage- und Notizbücher und ihre Wiedergabe in finanzierbarer drucktechnischer Form." (Denkler 1988, S.152). 97 Angesichts dieser Affinitäten ist es wichtig, daran zu erinnern, wie einzigartig zwischen den Zeiten Raabes Text steht. Im 19. Jahrhundert gibt es ja praktisch keine Schelmenromane, unter dem "programme du réalisme dont l’exigence de transformation (Verklärung) est attaquée par le dissident Wilhelm Raabe" (Detering 1994, S.29); erst das 20. Jahrhundert hat diese Tradition wieder aufgenommen. Entsprechend empört über den gar nicht verklärenden Realismus, mit dem Michels Leben beschrieben wird, waren die zeitgenössischen Reaktionen; eine Rezension von 1863 tadelt "Bitterkeit und Galle" und eine "trübe, drückende Luft" (zitiert nach BA E2, 616). Ich weiß nicht, ob Raabe die Etymologie des Wortes "Schelm" kannte, das sich vom althochdeutschen "scelmo" für "Kadaver" herleitet und lange "Henker" bedeutete, bevor über die gesellschaftliche Ächtung der Henker die moderne Bedeutung des Wortes entstand. In diesem historischen Licht ist auch der teuflische Oberst Agonista in Zum Wilden Mann ein "Schelm", da die Verzweiflung über den aufgezwungenen Henkerberuf sein Leben geprägt hat. Die ungeschminkte Darstellung menschlicher Erbärmlichkeit in dieser Gestalt schockierte noch viel mehr; Raabes Freund, der Erfolgsschriftsteller Wilhelm Jensen, wollte den Text "polizeilich verboten" sehen: "Denn [Zum Wilden Mann] secirt und präparirt aus der Tiefe der Menschenseele mit solcher Schonungslosigkeit die geheimsten Nervenverzweigungen empörendster Selbstsucht hervor, daß der Leser am Schluß ohne jegliche ethische und poetische Erhebungsmöglichkeit platt zu Boden geworfen, sich von einem Widerwillen gegen das ganze Menschengeschlecht angepackt fühlt." (zitiert nach Helmers 1978, S.42). 98 Stephen Toulmin beschreibt, wie sogar in modernen Lebensbeschreibungen Descartes’ das Konkrete in jeder Form ausgespart wird. Die Zeitgeschichte soll auf ihn nicht eingewirkt haben, ein persönliches, geschweige denn sexuelles Leben scheint er nicht gehabt zu haben (obwohl ein uneheliches Kind bezeugt ist). So wird der Mythos seiner Philosophie auf sein Leben übertragen: "If philosophical problems have the same meaning and force always and everywhere, if the most effective way of stating and solving them is to ‘decontextualize’ them, what does it matter where or when a philosopher was alive and active?" (Toulmin 1990, S.46). 99 In einer Episode zu Beginn des ersten Teils beipielsweise belauscht Michel, vom Vogelnest unsichtbar gemacht, ein Gespräch von Leuten, die sich über sein Verschwinden wundern, und kommentiert selbst diese triviale Tatsache unter Beiziehung zweier Sprichwörter: "Da hörete ich ihre Verwunderungen wegen meiner Verschwindung / und ihr unterschiedlich Red und Meynungen / wohin ich doch kommen seyn möcht? Woraus ich lernete / daß die Verwunderungen auß der Unwissenheit entstehe / und daß man auß der Muck einen Elephanten macht / ehe man weiß / daß der Berg nur eine Maus gebären werde." (Nest 7). 100 Dieser Text ist wenig beachtet worden, verdient aber die Bewunderung von Kenneth Hayens (Hayens 1931), Kenneth Negus (Negus 1974), Joachim Boeckh ("Man wird Grimmelshausen kein Unrecht tun, wenn man das Rathstübel als die elfte simplizianische Schrift bezeichnet." (Boeckh 1959, S.356)) und Günther Weydt (Weydt 1979, S.94-96). 127 101 "In extra-artistic prose (everyday, rhetorical, scholarly), dialogization usually stands apart, crystallizes into a special kind of act of its own and runs its course in ordinary dialogue or in other, compositionally clearly marked forms for mixing and polemicizing with the discourse of another." (Bachtin 1981, S.284). 102 "Die dogmatische Versteifung [...] der Orthodoxie [...], ihr starrsinniger, unversöhnlicher Supranaturalismus, ist in Wirklichkeit eine Verteidigungsstellung; denn ihre Interpretation des bürgerlichen Lebens verliert im letzten Drittel des Jahrhunderts ihre unbezweifelte Deutung und muß mit einer neuen Lebensdeutung rivalisieren. [...] Man sieht plötzlich neue Lebenszwecke, neue Werte und Perspektiven, die das Diesseits vor dem individuellen Bewußtsein rechtfertigen." (Hirsch 1979, S.41). 103 "Wir erfahren nichts über Geld- und Handelsprobleme, nichts über Eheleben und häusliche Moral, nichts über praktische Frömmigkeit, [...] Rechtsleben und Aberglauben. [...] Mit diesen Themen beschäftigt sich [...] die nichtfiktionale Literatur." (Szyrocki 1994, S.55f.). 104 Vorgeschlagen wird etwa, man solle "einen jeden Häller hundert: und einen jeden halben Batzen tausendmahl umbkehren" (Pluto 13), oder es wird empfohlen: "Wann du deine Strümpf und Kleider selbs flicken kanst / so dinge keinen Schneider" (Pluto 17). Zwilch und Halbleinen gibt billige und dauerhafte Kleider (Pluto 19), auch "aus einem einfachen Imbs lassen sich zween" machen, "Deß Kuchen-Geschirrs sey wenig / aber daurhafft und gut" (Pluto 23), teure Schlösser halten nicht besser als "grobe Riglen [...] welches man unter dem alten Eysen auff dem Grempelmarckt umb ein geringes bekommen kann" (Pluto 24). 105 Jean-Marie Valentin beschreibt die vielfachen und unerhörten Abweichungen vom Genremuster in Courasche: die vorangestellte negative Lebensbilanz schließt den krönenden Abschluß durch eine Bekehrung aus; die Erwartungen, die der Begriff "Haupt- und Generalbeicht" auslöst, werden nicht erfüllt; die Höllenstrafen, die Courasche erwarten, werden nicht ausgemalt; kein priesterlicher Seelsorger begleitet sie, im Gegenteil, sie weist mahnend auf das Versagen solcher Gestalten in ihrem Leben hin. (Valentin 1988). 106 "The epistolary novel has been on the decline during the last hundred years. [...] In the whole oeuvre of the great French novelists of the nineteenth century, we find very few examples [...]. In the same way, the great Victorian novelists are remarkably uninterested in the epistolary form; and by the time the German Romantic novel has experimentally felt its way towards the eighteen-forties, [this] technique has become something quite exceptional." (Romberg 1962, S.48f.). 107 "After the Biedermeier period, the fairy tale [...] sank to the niveau of mere children’s reading. [...] It seems likely that Raabe’s persistent allusions in the novel to this unfashionable form are intended as a quiet polemic against current literary taste." (Lensing 1977, S.45). 108 Lange Titel und Oder-Untertitel: - Else von der Tanne oder Das Glück Domini Friedemann Leutenbachers, armen Dieners am Wort Gottes zu Wallrode im Elend (1864) - Theklas Erbschaft oder Die Geschichte eines schwülen Tages (1865) - Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867) - Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten (1873) - Der gute Tag oder Die Geschichte eines ersten Aprils. (1875) Ausführliche Kapitelüberschriften finden sich in Der Heilige Born (1860), Die Leute aus dem Walde (1862), Die Gänse von Bützow (1865), Gedelöcke (1866). In Deutscher Adel von 1877 (keine historische Erzählung) beginnt eine schlicht mit "Elftes Kapitel" überschriebene Passage so: "In diesem Kapitel handelt es sich hauptsächlich um Mutter und Sohn, und ist es ein vornehmes Hauptstück." (BA13, 42). 128 109 So in den folgenden Werken: Die Chronik der Sperlingsgasse (1855); Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michael Haas. Nach einem alten Manuskript (1859); Eine Grabrede aus dem Jahre 1609 (1862);Drei Federn (1865); Theklas Erbschaft Oder die Geschichte eines schwülen Tages (1865); Meister Autor oder die Geschichten vom versunkenen Garten (1873); Die Akten des Vogelsangs (1895). 110 Dies sind Die Leute vom Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale. Ein Roman (1862) und Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge. Roman (1867). Dazu relativiert Raabe in einem Brief: "Denn wenn auch drauf steht, daß es nur [!] ein Roman sei, so ist es doch mehr als ein Roman." (BAE2, 126). 111 Ein "zermürbender, über Monate sich hinziehender Kampf um das Manuskript" von Unruhige Gäste mit dem Verleger der "Gartenlaube", der viele Änderungswünsche hatte, zwang Raabe zuweilen zu strategischem Nachgeben, "dessen doppelter Boden [...] unbemerkt blieb, so wenn er den Untertitel [...] im Sinne des Blattes änderte in ‘Ein Roman aus der Gesellschaft’, eine Wendung, deren Spott allenfalls dem der ‘See- und Mordgeschichte’ von Stopfkuchen zu vergleichen ist." (Detering 1990, S.92). 112 Dies sind Der Junker von Denow. Historische Novelle (1858) und Das letzte Recht. Eine Novelle (1862). 113 Lorenz Scheibenhart. Ein Lebensbild aus wüster Zeit (1858); Wer kann es wenden? Eine Phantasie in 5 Bruchstücken (1859); Der heilige Born. Blätter aus dem Bilderbuche des 16. Jahrhunderts (1860); Ein Geheimnis. Lebensbild aus den Tagen Ludwigs XIV (1860); Auf dunkelm Grunde. Eine Skizze (1860); Nach dem großen Kriege. Eine Geschichte in zwölf Briefen (1861); Holunderblüte. Eine Erinnerung aus dem "Hause des Lebens" (1863); Die Gänse von Bützow. Eine obotritische Historia (1865); Theklas Erbschaft oder Die Geschichte eines schwülen Tages (1865); Christoph Pechlin. Eine internationale Liebesgeschichte (1872); Meister Autor, oder die Geschichten vom versunkenen Garten (1873); Der gute Tag oder Die Geschichte eines ersten Aprils (1875); Vom alten Proteus. Eine Hochsommergeschichte (1875); Auf dem Altenteil. Eine Silvester-Stimmung (1878); Alte Nester. Zwei Bücher Lebensgeschichten (1879); Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft (1884); Der Lar. Eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte (1888); Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte (1889). 114 1874, im Jahr, von dem an die wirklich reifen Werke entstehen (nach der Krise nach dem Umzug nach Braunschweig 1870-3), schreibt Raabe: "Also – wollen wir nach zwanzigjährigem Treiben von neuem anfangen und ‘Erzählungen’ schreiben, eine nach der anderen ad infinitum oder wenigstens bis zum Ende..." (BAE2, 177). 11 Werke tragen diesen Untertitel: Unseres Herrgotts Kanzlei (1861), Zum Wilden Mann (1873).Höxter und Corvey (1874), Deutscher Adel (1877), Das Horn von Wanza (1880), Fabian und Sebastian (1881), Prinzessin Fisch (1882), Villa Schönow (1883), Im alten Eisen (1886), Das Odfeld (1887), Hastenbeck (1898) sowie Die schwarze Galeere. Geschichtliche Erzählung (1860). 115 Ein Frühling (1855), Der Weg zum Lachen (1857), Der Student von Wittenberg (1857), Weihnachtsgeister (1857), Einer aus der Menge (1858), Die Kinder von Finkenrode (1858), Die alte Universität (1958), Die Hämelschen Kinder (1863), Keltische Knochen (1864), Else von der Tanne oder Das Glück Domini Friedemann Leutenbachers, armen Dieners am Wort Gottes zu Wallrode im Elend (1864), Sankt Thomas (1865), Gedelöcke (1866), Im Siegeskranze (1866), Der Marsch nach Hause (1870), Des Reiches Krone (1870), Der Dräumling (1871), Deutscher Mondschein (1872), Frau Salome (1874), Eulenpfingsten (1874), Die Innerste (1874), Horacker (1875), Wunnigel (1876), Ein Besuch (1884), Gutmanns Reisen (1891), Kloster Lugau (1893), Alters-hausen (1902). 116 Einige Beispiele: 129 - Der Junker von Denow: "Hier hat [...] ein symbolfähiger Stoff seinen Meister gefunden. Wohl bleibt die Gestaltung in der Mitte zwischen Novelle und Ballade. [...] zur Novelle fehlt die klare Durchleuchtung der Charaktere; nie hätte Kleist die Gerichtshandlung unter den Tisch fallen lassen. Doch mit welcher Hellsicht ist die Strophe der alten Volksballade zur symbolischen Mitte gemacht." (Pongs 1958, S.121). - Zum Wilden Mann: "Wir haben hier eine echte Novelle, die jeder Formanalyse standhält." (Schlegel 1990, S.109). - Krähenfelder Geschichten: "Anscheinend will der Dichter in diesen recht konzentrierten Arbeiten bewußt die eigentlichen Formgesetze der Novelle erproben. [...] Er will wirkliche Novellen schreiben – und nicht bloß maßstäblich verkürzte Romane." (Hajek 1977, S.30). - Die Innerste: "Exposition [...], die an novellistischer Prägnanz nichts zu wünschen übrigläßt." (Hajek 1977, S.34). - Ein Geheimnis: "eine abenteuernde Geschichte, die sich kaum zur Novelle auszuweiten vermag." (Pongs 1958, S.152). 117 "Grimmelshausen [...] öffnete seine Prosa allen Energien, die während des 17. Jahrhunderts im Sprachkörper des Deutschen lebendig waren." (Bunsch 1988, S.66). Bei Raabe wäre ein spezieller Aspekt der Sprachvielfalt untersuchbar, der bei Grimmelshausen kein Pendant hat: die historisierende Verwendung von Sprachformen früherer Jahrhunderte, die geschichtlichen Erzählungen authentisches Kolorit verleiht und oft auf weite Strecken sehr kenntnisreich durchgehalten ist. Ähnlich spezifisch ist der Umgang mit Quellen in diesen Texten (vgl. Anm.127). 118 "Im unmittelbaren geschichtlichen Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts stößt man [...] auf eine ausgeprägte sprachskeptische Einstellung bei Raabe selbst wie bei manchen seiner Zeitgenossen. Einem wohl ökonomisch fundierten und zunehmend alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Optimismus begegnet man nicht nur mit inhaltlich kritischen Aussagen; man erkennt zudem die wachsende Diskrepanz zwischen "Spra-che" und "Realität" und gestaltet sie künstlerisch in ihrer Brüchigkeit." (Zirbs 1986, S.13) 119 Grimmelshausen hat sich im Teutschen Michel über Sprachfragen ausgelassen, was hier nicht diskutiert werden kann. 120 Da die Dichtung im 17. Jahrhundert "der Forderung nach einem standesgemäßen Stil entsprechen soll" (Szyrocki 1994, S.69), implizieren solche Stilmischungen genau wie Genremischungen Gesellschaftskritik: "Nicht das Epos, sondern die Satire strebt danach, ein totales Weltbild darzustellen." (Forstreuter 1924, S.60). 121 "Stark vereinfachend darf man [...] sagen, daß der Dreißigjährige Krieg Deutschland nicht nur verarmt, sondern vor allem durcheinandergebracht hatte. [...] Adel verkam und verarmte und handeltreibende Bürger stiegen in weit größerer Zahl als im 15. und 16. Jahrhundert durch Reichtum auch gesellschaftlich auf. Nicht nur Schlösser, auch Adelsbriefe, wie in den Kriegen Offizierspatente waren käuflich, ganz zu schweigen von allen andern Ehren und Ämtern." (Stern 1976, S.427). "Mit der Akkumulation des Reichtums zum Zwecke der Vermehrung des Werts wird die Gesellschaft zu einer Gesellschaft der Dinge, des Materiellen. [...] Wenn die Dinge über die Würde einer Person entscheiden [...] dann ist persönliche Würde lächerlich geworden. Der durch Reichtum hochgekommene Nobilist mißt mit falschem Maß, wenn er den menschlichen Rang am Geld [...] mißt, statt daß diese dem Subjekt zur Verfügung stehen. [... Grimmelshausens] Abneigung gilt dem Geldbürgertum, den schachernden und akkumulierenden Erwerbsbürgern." (Bunsch 1988, S.11). 130 122 "Raabe sieht in der Kapitalisierung Deutschlands keine Wende zum Besseren. Der Kapitalismus ist für ihn die Zerstörung und Korrumpierung des Besten in der Welt und im Menschen." (Lukács 1968, S.57). "Als gefährlicher denn je diagnostizierte [Raabe] den Geist der ‘Kanaille’, den rücksichtslos nur raschem materiellem Gewinn verpflichteten Egoismus, der vor den Problemen der – mit der rasanten Industrialisierung anwachsenden – Massenverelendung die Augen und Taschen verschloß." (Schrader 1989, S.191). 123 Hier ist die "contemporaneity", die Zeitgenossenschaft, fühlbar, die Bachtin als wichtiges Merkmal des Romans ansieht und die Raabe auch in seinen "historischen" Erzählungen immer erreicht. Sie gibt einen direkten Zugang zu der dargestellten Zeit, die mit der Gegenwart des Schreibenden kritisch verbunden ist. Nie ist Geschichte "an absolute past" (Bachtin 1981, S.426), versiegelt und losgelöst vom Heute. 124 Die petrarkistische Aufzählungsmanie, die Simplicius durch einen verkehrten Preis aller Körperteile verspottet ("diese Jungfrau hat ja Haar / das iß so gelb wie kleiner Kinder-Dreck" (Simpl 118), wird aber nicht durch eine völlig naive Stimme parodiert – auch diese unvoreingenommene Stimme ist bereits Teil eines etablierten literarischen Systems, des Antipetrarkismus (vgl. Verweyen 1992). Daß ironisierten Topoi eigentlich der Lyrik zugehören, ist ein weiterer Aspekt der Genre-Polyphonie. 125 "Diese Art von Rollensprechen führt nicht zu einer ausgeprägten Individualsprache, wohl aber zum Simplicianischen Stil, der für den ‘Herrn Omne’ attraktiver sein soll als der ‘Theologische Stylus’." (Streller 1990, S.92). Streller bezieht sich auf das erste Kapitel der Continuatio: "So ist der Theologische Stylus beym Herrn Omne (dem ich aber diese meine Histori erzehle) zu jetzigen Zeiten leyder auch nicht so gar angenehm / daß ich mich dessen gebrauchen sollte." (Simpl 472). Selbst Courasche, die so "naturalistisch" lebendig gezeichnet ist, benutzt eine klassische Exempelkette (die einer solchen Frau realistischerweise bestimmt nicht zu Gebote stünde), als sie im Rathstübel Plutonis ihren Beruf verteidigt: "Sintemahl wir sehen / daß alle Welt die Alten und Jungen den Huren nachlauffet und nachgeloffen [...[...]: Alß Cyrus der Phocaide / Ptolomaeus Philopator der Agathoclea / Demetrius der Lamia [...]" (Pluto 63). "All [Raabe’s] characters talk alike. [...] All of them speak a peculiar Raabean idiolect – digressive, allusive, wordy, ironic and oblique – of a sort that I rather doubt has ever been spoken by anyone in real life." (Sammons 1987, S.64). 126 Herman Meyer spricht von dem Eindruck, "den wohl jeder Leser bei der Lektüre von Raabes Werken gewinnt: [...] daß diese wuchernde Fülle von Zitaten und anderen literarischen und bildungsmäßigen Bezugnahmen die stilistische Physiognomie seiner Erzählkunst entscheidend mitbestimmt." (Meyer 1961, S.186). 127 Bei Raabe ließe sich eine besondere Spielart des Zitats untersuchen, nämlich die Verwendung von geschichtlichen Quellen und Dokumenten in historischen Erzählungen. In historischen Erzählungen ist der Umgang mit fremdem, nämlich historischem, Material, natürlich vorausgesetzt. Raabe mißachtet allerdings auch hier Genre-Konventionen: er macht nämlich seine Abhängigkeit von zu interpretierenden Quellen immer wieder explizit und zerstört so die gemäldeartige Illusion der Unmittelbarkeit, die C.F.Meyers historische Erzählungen eigen ist und die auch der "Professorenroman" anstrebt. Quellen können einfach angedeutet werden: "Schon Cajus Cornelius Tacitus soll die Gegend um den Ith gekannt haben." (BA17, 8), werden aber auch explizit erwähnt und zitiert. In Höxter und Corvey heißt es: "Ja, ja, wie sich der Bischof und der Herzog über die Weser mit Briefen [...] jahrelang hin und her zogen, das steht auf manchem Blatte zu lesen, das gelb und muffig aus jener Zeit zu uns herabgekommen ist." (BA11, 282). Nun folgt eine längere Collage 131 von Briefausschnitten, die dokumentarische Unmittelbarkeit in den Text bringen könnten, aber auch das verhindert Raabe durch auffällige Inquit-Formeln wie "ließen sich die Bischöflichen Gnaden vernehmen", "klang’s zurück", "schrie die Stadt" usw. (BA11, 283), die die Vermittlerarbeit des Schriftstellers bewußt machen. Wie fragwürdig diese oft ist, macht die Einleitung zu Das Odfeld klar: "Ach ja, wenn man so das Ohr an ein Bündel vergilbter Papiere, an ein würdig Pergamen, an einen Folianten in Schweinsleder [...] legt! Oft hört dann kein Kind, das eine Muschel an sein Ohr legt, von ferne her ein geheimnisvolleres, tiefgründigeres Sausen und Brausen." (BA17, 7). Auch fragwürdige Quellen werden zitiert, und dann verworfen: "Die Geschichte ist gut; wenn ihr nur so wäre!" (BA11, 312). Dann muß der Erzähler "hier das Krumme gerad mach[t]en und der Wahrheit zu ihrem Rechte" (BA11, 314) verhelfen. Manchmal werden nicht nur Quellen, sondern auch ihre Verarbeitung bemüht: "Es ist eine historische Tatsache und durch die deutsche Literaturgeschichte [...] beglaubigt" (BA17, 113f., meine Hervorhebung). Mit solchen Verweisen thematisiert und problematisiert Raabe seine Vermittlungsarbeit und damit Geschichtsschreibung überhaupt: "Just as [Raabe] knew instinctively that fiction could not be ‘objectively’ mimetic, so he recognized that the vaunted objectivity of contemporary historiography was an illusion." (Sammons 1987, S.115). 128 "Jedenfalls ist davon auszugehen, daß Intertextualität häufig markiert wird, wobei diese Markierung stärker oder schwächer erfolgen und im Extremfall nur gleichsam aus unsichtbaren Anführungszeichen bestehen kann." (Broich 1985, S.33). Auf den gegensätzlichen Extremfall der fingierten Intertextualität, die sozusagen nur aus der Markierung besteht, geht Broich nicht ein. 129 "Grimmelshausen seldom copied entire passages verbatim. Both Scholte and Koschlig have analyzed his revisions of these texts – ranging from small and subtle stylistic emendations to total recastings of entire sentences. Thus we are given insights of an intimate nature into Grimmelshausen’s manipulations of language. One of his most common alterations was to provide a borrowed passage with a livelier context than it originally had." (Negus 1974, S.45f.). Vgl. auch Brinker-von der Heyde 1989. 130 Wenn diese besondere Eigenart des ungekennzeichneten Zitats nicht berücksichtigt wird, gibt es Mißverständnisse. Im Vorwort des schönen Buchs "Das Zitat in der Erzählkunst" schließt Herman Meyer Grimmelshausen von seiner Untersuchung aus, da ihm der freie spielerische Umgang mit dem Zitat abgehe, den Meyer außer bei Rabelais, Cervantes, Sterne (auch hier tauchen diese Bachtinschen Lieblingsfiguren wieder auf!) und Thomas Mann untersucht. Er stellt "Grimmelshausens ernstes Zitierverfahren" (Meyer 1961, S.20) in die Tra-dition des hochbarocken Romans, in dem "das Zitieren einen ernst-gelehrten, in ästhetischer Hinsicht unfreien Charakter" habe (Meyer 1961, S.17), und benutzt als Beispiel das ungeheuer gelehrte Fußnotenwesen in Phi-lipp von Zesens Assenat. Dies ist aber nicht typisch für Grimmelshausen: "Ihm lag es nicht, dafür die Form von Anmerkungen zu wählen, er belebte sein Wissen zu einem fesselnden Dialog." (Scholte 1950f, S.142). 131 In der Bibel wird keinesfalls ein "Recht gestiftet": "Als aber der König David alt war und hochbetagt, konnte er nicht warm werden, wenn man ihn auch mit Kleidern bedeckte. Da sprachen seine Großen zu ihm: Man suche unserm Herrn, dem König, eine Jungfrau, die vor dem König stehe und ihn umsorge und in seinen Armen schlafe und unsern Herrn, den König, wärme." (1. Könige 1,1-2 nach der rev. Lutherbibel 1968). 132 "Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr dies alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und 132 nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen." (Matthäus 6,31-33 nach der rev. Lutherbibel 1968). 133 "Die unvergleichliche Arcadia, auß deren ich die Wohlredenheit lernen wolte / war das erste Stück / das mich von den rechten Historien zu den Liebes-Büchern / und von den von den warhafften Geschichten zu den Helden-Gedichten zoge." (Simpl 262). 134 Die schlimme Leirerin, Springinsfelds zweite Frau, gibt sich als erlösungsbedürftige Melusine aus und bekommt dadurch einen Ehemann: "Der Beckenknecht / der sowol die Geschichte oder Fabul der Melusinae als des Ritters von Sauffenberg gelesen: und noch vilmehr dergleichen Märlein von verfluchten Jungfrauen gehöret hatte / glaubt alles was ihm gesagt worden / derohalben besonne er sich nicht lang / sonder gab das Jawort von sich." (Spring 128). Die Ehe kostet schließlich beide das Leben (Spring 128-130). 135 Eine sozusagen private Ausnahme bilden die eigenen Gedichte, die beide Autoren als fiktive Zitate einbauen. Das Nachtigallenlied des Eremiten ("Komm Trost der Nacht") im 7. Kapitel des Simplicissimus bestimmt mit seinen Motiven das ganze Kapitel (vgl. Scholte 1950a). Raabe hat oft Gedichte später in seine erzählende Texte eingebaut, da er spürt "daß die Lyrik, die ihm in diesen Jahren so überraschend zugeflossen, sich in sich selbst nicht trägt." (Pongs 1958, S.137). 136 Andere Beispiele: - Der heilige Born. Blätter aus dem Bilderbuche des 16. Jahrhunderts (1860) - Nach dem großen Kriege. Eine Geschichte in zwölf Briefen (1861) - Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft (1884) - Die Akten des Vogelsangs (1895) Bei Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michael Haas (1859) fügte Raabe den Untertitel Nach einem alten Manuskript erst der Fassung bei, die in die Sammlung Verworrenes Leben aufgenommen wurde. Zunächst hatte er für den Verleger "einen erläuternden Vermerk hinzugefügt: ‘(historisch)’" (Detering 1990, S.28), der aber offenbar nicht genügt hatte, um diesen verstörenden Text in geschichtliche Ferne zu rücken, d.h. als zitiert und daher distanziert zu markieren. 137 Die Frage nach Raabes Religiosität ist sehr verschieden beantwortet worden; in Detering 1990 wird sie unter dem Aspekt narrativer Verfahren diskutiert: "Einige der wichtigsten Werke Raabes lassen sich [...] als Versuche einer genuin poetischen Auseinandersetzung mit Fragen lesen, deren [...] theologischer Beantwortbarkeit Raabe mit Skepsis begegnete – einer poetischen Auseinandersetzung, die sich nicht in diskursiven Explikationen vollzogen hat, sondern in narrativen Experimenten." (Detering 1990, S.23). 138 "Die Freiheit des [Stoikers] ist die moralische Anwendung der in der Logik ausgesagten Trennung von Verstandestätigkeit und Gegenstand. Sie ist die Abstraktion von der Existenz, die aus diesem Grund aufhebbar wird – in der antiken Stoa als Selbstmord, in der christlichen Stoa als Bereitschaft zum Märtyrertod oder milder als Verzicht auf die soziale Existenz." (Gaede 1976, S.468f.). 139 Simplicius versucht, zwischen Springinsfeld und Courasche, für die er gütige Worte findet, zu vermitteln (Spring 38), kümmert sich liebevoll um seine alten Eltern (Spring 39) und nimmt schließlich den alten Springinsfeld bei sich auf und "gießt ihn um", so daß er ein christliches Ende findet (Spring 132). 140 "Der Leser ist immer vom Erzähler abhängig. Wenn dieser unfaßbar bleibt, so wird auch der Leser nicht auftreten. Denn es ist ja dann niemand da, der ihn ansprechen könnte und ihn so zu persönlichem Erscheinen veranlaßte." (Klopfenstein 1969, S.26). 133 141 "Die [...] Unterschiede zwischen Ich- und Er-Form [...] beeinflussen [...] die Anwendung der direkten und indirekten Erzählereingriffe kaum. [...] Auch die Erzähler-Leser-Beziehung ist davon kaum abhängig." (Klop-fenstein 1969, S.142). Bertil Romberg spricht von "a category of characters which, seen as elements of narrative technique, are mythical – characters which have interposed themselves between the author and the actual narrator, or between reality and fiction, with a foot in both camps." (Romberg 1962, S.68). 142 Leo Berg hat 1901 sogar behauptet, Raabes Erzähler seien seine interessantesten Gestalten: "His figures have, for the most part, no very distinct physiognomy; only the narrator has one." (zitiert nach Sammons 1987, S.237). Raabes Handhabung der Erzählerfiguren ist sehr komplex und der Vergleich mit Grimmelshausen kann nur gewisse – wenn auch bestimmt wichtige – Aspekte erhellen (vgl. Anm. 51 und 164). 143 "Die Zunahme des Ich-Erzählers an ‘Leiblichkeit’ bringt eine Einschränkung seines Wissensund Wahrnehmungshorizontes und eine Bindung des Erzählvorganges an die Existenz des IchErzählers als fiktionalem Charakter mit sich." (Stanzel 1979, S.257). 144 "Der Sinn der vorgebrachten Erzählungen [... besteht im Rathstübel Plutonis] darin, daß sie jeweils den Erzähler bloßstellen, insofern sie [...] die Widersprüche in seiner ‘Weltanschauung’ aufdecken." (Boeckh 1959, S.358). Wolfgang Kayser traut solche Techniken einem barockem Roman gar nicht zu: "[Laurence] Sterne macht noch einmal offenbar, worin das Neue der modernen Romanform gegenüber dem Barockroman lag: in dem fiktiven, aber merklichen persönlichen Erzähler mit seinem persönlichen Blick auf das Dargestellte und seinem persönlichen Verhältnis zu dem (fiktiven) Einzelleser." (Kayser 1985, S.19). 145 Ebenso verrät der Generalauditor, der von Simplicius eine Handschriftprobe verlangt, seine eigene Grobheit: "Hey schreib deine Mutter die Hur!" (Simpl 175). 146 Tatsächlich gibt es weitere Passagen wie die folgende: "Ich sahe wol / wie [Olivier] zu Zeiten grißgramete / [...] und daß er in schweren Gedancken allezeit seufftzete / wenn er entweder den Alten oder den Jungen Hertz-bruder ansahe; Darauß urtheilte ich / und glaubte ohn allen Zweiffel / daß er Calender machte / wie er ihm ein Bein vorsetzen / und zu Fall bringen möchte." (Simpl 159). Die notwendige Interpretation aller Gesten, die hier angesprochen wird, ist natürlich auch Irrtümern unterworfen: "Ich wurde [...] von der damahligen grimmigen Kälte von aussen hero dergestalt geplagt / daß ein jeder der mich gesehen und die Kält nit selbst empfunden / tausend Ayd geschworen hette / ich wäre mit einem 3. oder 4tägigen Fieber behafft." (Spring 9). 147 Simplicius belauscht als Kind den Einsiedler (Simpl 21), beobachtet als unbeachteter Narr "von unten" die Gesellschaft in Hanau (ab 19.Kapitel des ersten Buches), entwickelt als Jäger von Soest ein Fern-Höhrrohr (Simpl 201), und belauscht eine Magd im Sauerbrunnen (Simpl 395). Aus seinen Selbstgesprächen, die ein ihm wohlgesonnener Hofmeister belauscht, entwickelt sich eine wertvolle Freundschaft (Simpl 150f.). Auch im Stoltzen Melcher ist die Grundsituation die des versteckten Beobachters, der hinter einer Hecke liegend Soldaten belauscht. 148 Diesen "Handlungsteilen" fehlt eine vitale zentrale Gestalt, der sie zur "Handlung" zusammenschließen würde; entsprechend sind die beiden Bände des Vogelnests geradezu als "Novellenzyklus" oder "Novellen-sammlung" (Scholte 1950a, S.91) bezeichnet worden. 149 Sein Name steht natürlich auf dem Titelblatt; selber führt er sich nach der Anknüpfung an Springinsfeld nur kurz ein: "Dieser verschwundene Kerl nun werther Leser / bin ich" (Nest 5). Der Erzähler des zweiten Teils ist auf die anagrammatische Chiffre "Aceeeffghhiillmmnnoorrssstuu" für den realen Autor reduziert. In der Vorrede ist er einfach "der Autor" (Nest 150). 134 150 "Ob man die Welt als Bühne begriff [...] oder die Naturwissenschaften auf Beobachtung gründete und Fernrohr wie Mikroskop zu nutzen begann, ob man in der Philosophie den Sinneseindruck an den Anfang der Erkenntnis setzte oder dessen Trüglichkeit behauptete [...] stets lag der gleiche Sachverhalt zugrunde, daß ein anschauendes Subjekt einem angeschauten Objekt gegenüberstehe." (Gaede 1978, S.13). Da das Vogelnest die Entdeckung des Beobachters verhindert, werden die Beobachteten zu Objekten, die sich gegen das Angeschautwerden nicht wehren können. Schlimmer ist allerdings, daß sie vergessen (was sie wissen könnten) daß Gott ihnen ebenfalls zusieht: "GOtt siehets und wird dadurch erzürnet; [...] Wann es aber nur Menschen sehen / so wäre es nur umb die zeitliche Schand zu thun/ welche du mehr scheuest als die ewige Verdammnis!" (Nest 107). 151 Diese Namen (Simplicissimus, Courasche und Springinsfeld) sind ja dadurch noch viel weniger objektiv, daß sie sämtlich beleidigende Übernamen sind. Dies empfindet nicht nur Courasche, sondern auch Simplicius: "Den Zunamen ersetzte der Gouverneur selbsten / und liesse mich Simplicius Simplicissimus in die Roll schreiben / mich also wie ein Hurenkind zum ersten meines Geschlechts zu machen." (Simpl 105). Wie Courasche, die Springinsfeld so demütigend umtauft, wie es ihr selber geschehen ist (vgl. Anm. 78), gibt auch Simplicius als Narr die Erniedrigung weiter: "Gleich wie mich nun jedermann von selbiger Zeit an das Kalb nennete / also nennete ich hingegen auch einen jeden mit einem besonderen spöttischen Nach-Nahmen." (Simpl 112). In deutlichem Gegensatz zu diesen in mehrfacher Hinsicht höchst persönlichen Bezeichnungen steht die Gewohn-heit des ersten Vogelnestträgers, allegorisch-typisierende Namen zu gebrauchen, die erst noch verkürzt werden, wie beim hochstapelnden "Herrn von Drfftgkt" (Nest 11). 152 In einem einzigen kuriosen Fall setzt auch Raabe die magische Unsichtbarkeit ein. In Der alte Proteus ist Rosa von Krippen "um den Baron am gebrochenen Herzen gestorben und klebt[e] zur Strafe und Sühne dafür hinter der Tapete." (BA12, 221), von wo sie sich als dünn gepreßtes Gespenst allerhand anhören muß, bis sie es nicht mehr aushält und den Nagel löst. Kein Wunder, daß die Erzählung mit der besorgten Frage beginnt: "Wie machen wir’s nun, um unserm Leser recht glaubwürdig zu erscheinen?" (BA12, 199)! 153 Dies etwa, wenn auktoriale Erzähler ihre eigene Allwissenheit ironisieren, indem sie auch die Nichterwähnung unwichtiger Dinge weit ausholend mit erfundenem Nichtwissen entschuldigen, wie etwa Fielding in Joseph Andrews: "As to his ancestors, we have searched with great diligence, but little success, being unable to trace them farther than his greatgrandfather. [...] whether he had any ancestors before this, we must leave to the opinion of the curious reader, finding nothing sufficient to rely on." (zitiert nach Füger 1978, S.203). 154 Nach mündlicher Auskunft von Prof. Dr. Monika Fludernik ist das Gebiet des erzählerischen Nichtwissens in der theoretischen Narratologie ein noch kaum bearbeitetes Feld, abgesehen von Füger 1978. Bertil Romberg schreibt allerdings: "German terminology has given us the term ‘das Nichtwissen des Erzählers’" mit Bezug auf Forstreuter 1924 (Romberg 1962, S.123). Forstreuter unterscheidet aber nur zwei Funktionen dieses Nicht-wissens: einerseits Plausibilitätsförderung: "Indem der Erzähler im Einzelfall zugibt, von irgend einer Nebensache nicht Kenntnis zu haben, erweckt er den Anschein, als habe er sonst alles gewußt, was er erzählt." (Forstreuter 1924, S.79), andererseits Legitimation von Auslassungen, die ein Er-Erzähler stillschweigend machen könnte: "Der Icherzähler kann dasselbe tun, aber als Mensch müßte er manches doch sagen, was der Künstler übergehen könnte." (Forstreuter 1924, S.80). 155 Simplicissimus: "An Tag geben von GERMAN SCHLEIFHEIM von Sulsfort." Courasche: "Von Courasche eigner Person [...] dem Autori in die Feder dictirt, der sich vor dißmal nennet PHILARCHUS GROSSUS von Trommenheim." 135 Springinsfeld: "Verfasset und zu Papier gebracht Von Philarcho Grosso von Tromerheim." Vogelnest I: "Außgefertigt Durch Michael Rechulin von Sehmsdorff." Vogelnest II: "An Tag geben von Aceeeffghhiillmmnnoorrssstuu." Beernhäuter/Gauckel-Tasche: "Von Illiterato Ignorantio, zugenannt Idiota." Verkehrte Welt: "Entworffen von Simon Lengfrisch von Hartenfels." Rathstübel Plutonis: "Auffrecht simplicianisch beschrieben Von Erich Stainfels von Grufensohn [der im Text als Diskussionsteilnehmer zusammen mit den Hauptfiguren auftritt]." Stoltzer Melcher: Keine Verfasserangabe (Grimmelshausens Autorschaft durch sprachliche Vergleiche erschlossen). Teutscher Michel: "Deß Weltberuffenen SIMPLICISSIMI Pralerey [...] Jedermänniglichen [...] zu lesen erlaubt Von Signeur Meßmahl." Satyrischer Pilgram: "zusammengetragen durch SAMUEL GREIFNSOHN, vom Hirschfeld." 156 Raabe greift Romankonventionen noch weiter an, in einer Art, die sich mit Grimmelshausens Schreiben natürlich nicht mehr vergleichen läßt. Zuweilen nimmt er seinen "inkarnierten" Erzählern auch noch den Rest von psychologischem – wenn nicht physischem – Realismus, der in der Vorstellung liegt, daß sie den Leser an der Hand durch die Geschichte begleiten, vgl. etwa Höxter und Corvey. 157 Ich habe nur einen eindeutigen Appell – nicht zu verwechseln mit dem vielfältigen Dialog, den etwa Courasche mit ihrem Publikum führt – gefunden: "Darumb ihr liebe Baurn / glaubt den fremden Marckt-schreyern so leicht nicht / ihr werdet sonst von ihnen betrogen / als welche nicht euer Gesundheit / sondern euer Geld suchen." (Simpl 316). 158 Am Anfang einer Erzählung treten ja Erzähler und Leser "in direktesten Kontakt miteinander. Denn noch hat keine Handlung das Interesse der beiden Partner auf sich gelenkt, und hat sich so gleichsam zwischen sie geschoben. [...] Gewisse Voraussetzungen werden abgeklärt." (Klopfenstein 1969, S.28). Diese Voraussetzungen sind bei beiden Autoren auch poetologischer Art; sie tragen ihre textimmanente Poetik neben eingestreuten Bemerkungen bevorzugt in solchen formal nicht markierten, in Anfangskapitel eingearbeiteten Proömien vor, so in Simplicissimus, Courasche, Die Chronik der Sperlingsgasse, Der Lar, Gutmanns Reisen, Vom alten Proteus, Die Gänse von Bützow, Einer aus der Menge, Der alte Proteus, Im alten Eisen usw. Daß der Simplicissimus keine formal markierte Vorrede hat, wie es zeitüblich wäre, benützt Hubert Gersch als Argument für seine These, die poetologische Leseanleitung sei stattdessen in der Continuatio enthalten (Gersch 1973). 159 In der Vorrede zum zweiten Teil des Wunderbarlichen Vogelnests schreibt Grimmelshausen, dieser Text sei "Billich das zehende Theil oder Buch deß abentheurlichen Simplicissimi / Lebens-Beschreibung / wann nemlich die Courage vor das siebende / der Spring ins Feld vor das achte / und das erste part deß wunderbarlichen Vogel-Nests vor das neundte Buch gebommen wüde / sintemahl alles von diesen Simplicianischen Schrifften aneinander hängt / und weder der gantze Simplicissimus, noch eines auß den obengemeldten letzten Tractätlein allein ohne solche Zusammenfügung genugsam verstanden werden mag." (Nest 150). 160 "Die Zyklusfrage besteht als Problem von Anfang an. Erschwert wird die Entscheidung dadurch, daß einerseits zahlreiche Schriften auf lockere Art und mit verschiedenen Mitteln aneinandergebunden sind (durch Wiederauftreten von Haupt- und Nebenfiguren, Fortspinnen der Handlung, gemeinsamen Stylus, zum Teil gleiche Fiktionen), andererseits eine ganz bestimmte Gruppe [...] vom Dichter selbst zuletzt als Zyklus bezeichnet wurde." (Weydt 1979, S.103). Für Joseph Hachgenei (Hachgenei 1957) steht fest, "daß vornehmlich ein moralisches Prinzip den Zy-klus" konstituiert. (Weydt 1979, S.105). 136 Volker Meid lehnt formale Kriterien ab und sieht die durchgehend satirische Haltung als zusammen-hangstiftend: "Es wäre sicher unhistorisch gedacht, von den Simplicianischen Schriften die innere Einheit und Stimmigkeit zu fordern, wie sie Kunstwerke späterer Epochen auszeichnete. Ebenso verfehlt wäre es, die aus-geklügelte [...] Konstruktion des höfischen Barockromans als Maßstab [...] anzulegen." (Meid 1984, S.155). 161 In ziemlich platter Weise kommt dagegen ein Artikel mit dem vielversprechenden Titel "Multiplicity and the issue of truth in Grimmelshausen’s fiction" (Schweitzer 1990) zum Schluß, die Mehrfach-Erzählungen hätten hauptsächlich den Zweck, des Lesers Vertrauen in die Wahrhaftigkeit des Textes zu stützen, da sich die Erzählungen nicht substantiell widersprächen. 162 Im Fall von Courasche durch den bekannten "Trutz"; der Erzähler des Vogelnests II wünscht, ein Zeugnis hinzuzufügen: "Demnach ich das wunderbarliche Vogel-Nest [...] gefunden und gelesen [...] hielte ich vor billich / daß ich der Welt auch communicirte / was mir damit begegnet [...] / ob sich vielleicht einige / zu verhütung ihres Schadens vor solchen gefährlichen Künsten hüten wolten." (Nest 313f.). 163 In sehr eindrücklicher Weise wird das "Gespräch" zwischen Leser und Gelesenem in der Szene gestaltet, in der der kleine Simplicius den Einsiedel beim Lesen die Lippen hat bewegen sehen und daraus schließt, er unterhalte sich mit den Büchern. Er beschimpft entsprechend den Holzschnitt, der ihm nicht antworten will: "Ihr kleine Hudler / habt ihr dann keine Mäuler mehr? habt ihr nicht allererst mit meinem Vatter [...] lang genug schwätzen können?". Da Hiobs Schafherden abgebildet sind, erbost er sich noch mehr: "Ich sihe wol / daß ihr auch dem armen Knan sine Schaf heim treibt / und das Haus angezündet habt." (Simpl 30). 164 "Wie Simplicius wieder unter die Menschen kommt, wird im Springinsfeld nicht berichtet, dafür jedoch in der sogenannten Zweiten Continuatio, einer von drei kleinen Nebenhistorien, die zuerst in Kalendern erschienen waren und dann in die Ausgabe des ‘Barock-Simplicissimus’ von 1671 aufgenommen wurden. Unter der Überschrift ‘Wie ich von meiner Insel wieder heimwärts nach Teutschland kommen’ erzählt Simplicius von einer Entführung durch ‘Wilde’ und von einem Schiffbruch, der ihn wieder unter zivilisierte Menschen bringt." (Meid 1984, S.162). 165 In der "Vorred" zum Satyrischen Pilgram läßt sich Grimmelshausen durch "Momus" vorwerfen, er habe "ein Werck vor / daß sich ad infinitum hinein erstreckt" (Pilgram 7). "Whether [Das Wunderbarliche Vogelnest] comprise[s] Grimmelshausen’s last word on the Simplician characters and their word must remain uncertain, though we doubt that their irrepressible vitality and capabilities of further development could have left him at rest for long." (Negus 1974, S.143). Die unbegrenzten Weiterschreibemöglichkeiten sind ja für den Schelmenroman seit seinen Anfängen gattungstypisch. 166 Philarchus läßt keine Gelegenheit zu "verpetzenden" Bemerkungen über "diese tolle Zigeunerin / welche vo den andern eine gnädige Frau genannt: von mir aber vor ein Ebenbild der Dane von Babylon gehalten wurde" (Spring 26) aus, obwohl sie ihn beim ersten Treffen sehr beeindruckt hat: "Wann ich die Warheit bekennen soll / so bedunckt mich noch / der alten Schachtel seye dieser Habit sonderlich zu esel (hätte schier zu Pferd gesagt:) überaus wol angestanden; wie ich sie dann auch noch bis auf diese Stund in meiner Einbildung sehen kan / wann ich will." (Spring 26). Außerdem macht sie ihm Angst: "Wann sie nicht selbst gesagt hätte / daß mich Gott behüten solte / so hätte ich vermeinet es wäre ein Teufels-Gespenst gewesen / das mich durch solches Geld verblenden und in die leidige Congregation der Hexen-Zunft hät einverleiben wollen." (Spring 27). 137 167 Das bekannteste und sicher wichtigste Beispiel ist Dorette, die Schwester des Apothekers Philipp Kristeller, der in Zum Wilden Mann (1873) durch die späte und erbarmungslose Darlehensrückforderung eines lange verschollenen Jugendfreundes ruiniert wird, erscheint auch in Unruhige Gäste von 1884. Heinrich Detering widmet dieser Gestalt einen Exkurs (Detering 1990, S.137-140). Andere Anspielungen sind kürzer: "Hinweise auf frühere Werke [...] finden sich sehr häufig; teils auf ähnliche Situationen, auf denselben Schauplatz der Handlung oder auf oft ganz äußerliche und kleine Wiederholungen." (Junge 1910, S.99). Einige Beispiele (für weitere vgl. Junge 1910, S.98-100): Im 3. Kapitel von Alte Nester unterhält sich Bösenberg aus Kinder von Finkenrode, "matured into a compla-cent philistine" (Sammons 1985, S.5), mit dem Erzähler und Ewald. Weitenweber, eine Raabe sehr ähnliche Gestalt aus Die Kinder von Finkenrode, erscheint bereits in Weihnachtsgeisterein erstes Mal. Figuren aus Deutscher Adel tauchen in Villa Schönow wieder auf und die Tanten Adele und Euphrosyne aus Immelborn leben in Gutmanns Reisen wie in Kloster Lugau (BA18, 238 und BA19, 55). In Stopfkuchen wird auf den Protagonisten von Abu Telfan angespielt. Der Student von Wittenberg erzählt aus der Jugend des (historischen) Gymnasialrektors Georg Rollenhagen, dessen Leben in Eine Grabrede aus dem Jahre 1609 berichtet wird. Die Akten des Vogelsangs, das drittletzte Werk, nimmt in Titel und Erzählzeit (November bis Ostern des folgenden Jahres) deutlich Bezug auf den Erstling Die Chronik der Sperlingsgasse. Zitierte Titel: Der Wilde Mann in Unruhige Gäste (BA16, 296); Odfeld und Höxter und Corvey in Hastenbeck (BA20, 34 und 11). 168 "The elements of autobiography and personal experience, of which there are doubtlessly a great many in his writings, are always subordinate to the logic of his fiction. He consistently and irritably deflected all questions about the ‘real’ model or origin of this person or that place [...] and he seems to have done everything he could think of to persuade people that his fictions were fictional." (Sammons 1987, S.8f.). 169 Ein extremes Beispiel: "Auf unserer [literarischen] Laufbahn haben wir uns arg und viel geplagt. [...] Da ist uns seit dem Jahre 1854 [Chronik der Sperlingsgasse] mancher Schweißtropfen entfallen und manche Dummheit entfahren. Hier waren wir zu breit, dort zu flach [...], hier zu sentimental, dort zu trivial, hier zu transzendental, dort zu real, und unser einziger Trost bleibt nur, daß wir überall und immer zu bescheiden gewesen sind." (BA7, 9f.). 170 Genauso "unwissent" scheint es der Forschung zu sein, die "keine überzeugende Erklärung" (Tarot 1972, S.264) für diese Spielchen hat. Rolf Tarot führt aus, daß für Grimmelshausen offenbar kein äußerer Grund vor-lag, seine Verfasserschaft zu verbergen. Dietwalt und Amelinde, Proximus und Lympida sowie Ratio Status veröffentlichte er unter eigenem Namen, was die Frage aufwirft, "ob es für ihn nicht historische oder erbauliche Lehrschriften waren, die wir dann unter die Werke der nicht-dichtenden Sprache zu rechnen hätten." (Tarot 1972, S.264). Dies wäre ein weitere Beispiel für eine Annäherung an außerliterarische Genres (vgl. Anm.108). 171 Bachtin thematisiert explizite Auftritte der Autoren in Erzähltexten nicht, aber es ist bestimmt kein Zufall, daß ausgerechnet bei Apuleius, einem Bachtinschen Standardbeispiel für frühes romanhaftes Erzählen "die Identität von Dichter und Erzähler offen ausgesprochen" wird (Forstreuter 1924, S.5).