Tanz auf dem Vulkan I

Die Magie des Einzigartigen - in ihrer Kunstkammer betrachtet Dr. Simone Herrmann alle 14 Tage ein Werk aus dem internationalen Kunsthandel. Folge 57, Teil 1: „Rote Tänzerin“, Statuette von Ferdinand Preiss, 1925
AD Kunstkammer Ferdinand Preiss
Quittenbaum

Jazz Age. In den 1920ern, die man in Berlin die „goldenen“ und in Paris „die verrückten Jahre“ nannte, hatten sich die Frauen aus Korsetts und Rüschen herausgeschält, der Rock rutschte übers Knie, das Dekolletee bis zum Bauchnabel und die Perlenketten schwangen im Rhythmus der kleinen Kapelle, dort an der Tanzfläche. Ein bisschen blechern klang das. Nach heiseren Trompeten und übernächtigem Saxophon. Nach Rauchschwaden und Kellnern im Frack, die morgens um Fünf Tabletts mit Hering und Korn durch die Menge balancierten. Nach all dem Schampus. Es gab Tischtelefone und Fetischparties. Nackttänzerinnen, die mit Schleiern oder Schlangen herumwedelten wie die Fräuleins aus gutem Hause mit ihrer Federboa. Noch vor ein paar Jahren waren sie mit sanften Puppengesichtern auf dem Sofa gesessen, die Fräuleins, nun setzten sie mokante Mienen auf. Denn die alten Zöpfe waren ab, die Kaiserzeit ins Bodenlose gestürzt, der Herr Papa pleite und der Herr Verlobte an der Somme gefallen. Die alte Ordnung – futsch. Und gerade deshalb: Damenwahl! Eigentlich waren die Frauen die „Kriegsgewinnler“ dieses Jahrzehnts. In Berlin mehr als anderswo. Die Männer hatten ausgedient, die Militärs waren als Verlierer vom Feld gegangen. Erst einmal durfte jeder nach seiner Fasson. Und jeder mit jedem, jede mit jeder. Ist der Ruf erst ruiniert, tanzt es sich ganz ungeniert. Grotesk-Tänze waren beliebt, moriskenhafte Verrenkungen, Karikaturen menschlicher Bewegungen, schnoddrig und humorvoll wie die Couplets der Zeit. Bezeichnend, dass die Tanzfläche in den meisten Berliner Clubs wie eine Manege aussah. Ein Affenzirkus, die ganze Welt. Also lieber tanzen, die Beine werfen, aber zackig! Abstürzen, aber mit Stil. In Chiffon und Silberlamé, mit Ponyfransen unterm Haarbandeau, Strapsen und Wimperngeklimper. Androgyn, hyperschlank, magnolienblass. „Halt Dich fest, dass Du die Balance nicht verlierst“, sang die große Claire Waldoff 1924. Aber an wem festhalten, in Zeiten, in denen man nur auf sich selbst zählen konnte. Revue-Girl oder Tänzerin, davon träumten die kleinen Mädchen nun. Auch Prinzessinnen hatten ausgedient.

Detail: Ferdinand Preiss (1882 – 1943) „Rote Tänzerin“, um 1925, In Pose. Kurzes Kleid mit rotem Oberteil. Höhe: 42 cm (mit Sockel). Bronze, kalt bemalt, Gesicht, Hals und Hände aus geschnitztem Elfenbein, teilweise bemalt. Plinthe signiert: F. Preiss (bossiert). Kompositsockel aus Onyx und schwarzem Schiefer. Los 390 der Auktion „Jugendstil - Art déco“, Quittenbaum München, 9. Juni 2021, Schätzpreis: 50000 – 60000 Euro. quittenbaum.de

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Detail: Ferdinand Preiss (1882 – 1943) „Rote Tänzerin“, um 1925, In Pose. Kurzes Kleid mit rotem Oberteil. Höhe: 42 cm (mit Sockel). Bronze, kalt bemalt, Gesicht, Hals und Hände aus geschnitztem Elfenbein, teilweise bemalt. Plinthe signiert: F. Preiss (bossiert). Kompositsockel aus Onyx und schwarzem Schiefer. Los 390 der Auktion „Jugendstil - Art déco“, Quittenbaum München, 9. Juni 2021, Schätzpreis: 50000 – 60000 Euro. quittenbaum.de

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Im Rampenlicht stehen, wie die „Rote Tänzerin“ von Ferdinand Preiss. Chryselephantin, wie es in jener Zeit wieder in Mode kam, aus Bronze mit fein geschnitztem Elfenbeinkopf und -händen, balanciert die kleine Statuette auf einem Kompositsockel aus Onyx und Schiefer. Nur die Fußspitze im Tanzschuh berührt den Boden, ihr Körper schraubt sich in die Luft, federleicht und raumgreifend, und ist doch unter dem roten Harlekintrikot mit goldenem Stern und silbernem Rock fühlbar – die durchtrainierten Arme und Beine, die straffe Brust, die kleine Kuhle in der Magengegend; fast malerisch, wie Tamara de Lempicka, behandelt Preiss den Faltenwurf. Leise scheinen die Perlenschnüre an ihrem Haarband zu klirren. Das Profil der Tänzerin ist klassisch, ihr Elfenbeingesicht unbewegt, dafür locken ihre Hände, ihre Hüften... Nur ihre Zehenspitzen berühren noch den Boden. Und der glüht – schwefelgelb.

Ferdinand Preiss (1882 – 1943) „Rote Tänzerin“, um 1925, In Pose. Kurzes Kleid mit rotem Oberteil. Höhe: 42 cm (mit Sockel). Bronze, kalt bemalt, Gesicht, Hals und Hände aus geschnitztem Elfenbein, teilweise bemalt. Plinthe signiert: F. Preiss (bossiert). Kompositsockel aus Onyx und schwarzem Schiefer. Los 390 der Auktion „Jugendstil - Art déco“, Quittenbaum München, 9. Juni 2021, Schätzpreis: 50000 – 60000 Euro. quittenbaum.de

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Preiss war Berliner, jedenfalls seit einigen Jahren schon, aber die Welt aus der er kam, war die der alten deutschen Residenzstädtchen. Erbach im Odenwald. Ein mächtiges Barockschloss, Fachwerkhäuser, Park und Orangerie, Geranienkästen und ein murmelnder Bach mitten in der kleinen Stadt; Erbach galt seit der Zeit des regierenden Fürsten Franz I., Ende des 18. Jahrhunderts, als Zentrum der deutschen Elfenbeinschnitzerei. In einer der vielen Werkstätten, beim Meisterschnitzer Philipp Willmann (1846 - 1910), ging Ferdinand Preiss in die Lehre. Mit 15 hatte er, rasch hintereinander, beide Eltern verloren, der Vater Hotelbesitzer, die Mutter aus einer Schnitzerfamilie. Die fünf Geschwister waren bei Verwandten oder Nachbarsfamilien untergekommen. Ferdinand, schwarzlockig und quick, war zu Willmann gezogen. Kost und Logis frei. Der Junge hatte Talent zum Zeichnen, beherrschte sein Handwerk bald so virtuos, dass auch Willmann ihm nichts mehr beibringen konnte.

1901, mit 19 zog er nach Berlin, schrieb sich an der Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums ein, brach aber noch im selben Jahr nach Rom, Mailand und Paris auf. Eine fast vierjährige Walz, seinen Lebensunterhalt finanzierte er sich als Modelleur. Auf der Durchreise in Baden-Baden lernte er den Berliner Arthur Kassler kennen, mit dem er, zurück in Berlin, 1906 das Unternehmen „Preiss & Kassler“ gründete. Alles schnell entschlossen, intuitiv. Hatte er nicht seine Eltern von einem auf den anderen Tag verloren? Einfach so, aus dem Nichts? Das Leben, davon war er überzeugt, musste aus dem Moment heraus gelebt werden. Hinterher würde man schon sehen, wofür es gut war. Hauptsache nichts auf die lange Bank schieben. Also überlegte Preiss nicht lange, überließ Kassler die Geschäfte und übernahm die kreative Leitung. Auch privat entwickelte sich alles Schlag auf Schlag. 1907 – ein paar Monate vor der Geburt seines Sohnes Harry – heiratete er die Berlinerin Margarethe Hilme, kurz darauf wurde seine Tochter Lucie geboren. 1908 nahm er die preußische Staatsangehörigkeit an. Die Geschwindigkeit der Stadt, das Großstadtleben, die neuen Möglichkeiten, das alles machte ihn zum Berliner. Und er hatte Erfolg, Preuss & Kassler florierte. Seit 1910 experimentierte er mit verschiedenen Materialien, chryselephantine Kombinationsskulpturen aus kalt bemalter Bronze und Elfenbein entstanden. Er selbst entwarf, zeichnete und modellierte. Sechs Schnitzer, die er alle aus Erbach kommen ließ, garantierten die qualitätvolle Ausarbeitung. Allerdings machte ihm der Krieg einen Strich durch die Rechnung. Erst 1918 konnte er seine Geschäfte wieder aufnehmen.

Dann aber in größerem Stil, denn das Jahrzehnt der Frauen begann, die Epoche der Göttinnen, Frauen- und Mädchengestalten, die man auf ein Tischchen oder auf den Kaminsims stellen konnte. Jedenfalls mitten ins Zimmer, wo sie alle sehen konnten, schlank und durchtrainiert, nackt und herausfordernd selbstbewusst. Unverschämt. Denn früher tanzten sie in Herrenzimmern, räkelten sich unter Lampenschirmen in Erotikzimmern, Rauchsalons und Herrenclubs. Jetzt gaben sie öffentliche Vorstellungen, Statuetten wie die Preiss‘ Bestseller „Carmen“, „Con Brio“ oder „Diana“ – kleine Hausgöttinnen der schlanken Linie und des neuen Körpergefühls. Vor allem in England waren seine Figurinen, halb Göttin, halb Sportlerin begehrt. Seine Tänzerinnen waren durch ihre fließenden Linien, die Musikalität der Bewegung nur noch mit jenen des Rumänen und Wahl-Parisers Demètre Haralamb Chiparus zu vergleichen.

Ferdinand Preiss (1882 – 1943) „Rote Tänzerin“, um 1925, In Pose. Kurzes Kleid mit rotem Oberteil. Höhe: 42 cm (mit Sockel). Bronze, kalt bemalt, Gesicht, Hals und Hände aus geschnitztem Elfenbein, teilweise bemalt. Plinthe signiert: F. Preiss (bossiert). Kompositsockel aus Onyx und schwarzem Schiefer. Los 390 der Auktion „Jugendstil - Art déco“, Quittenbaum München, 9. Juni 2021, Schätzpreis: 50000 – 60000 Euro. quittenbaum.de

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Ferdinand Preiss (1882 – 1943) „Rote Tänzerin“, um 1925, In Pose. Kurzes Kleid mit rotem Oberteil. Höhe: 42 cm (mit Sockel). Bronze, kalt bemalt, Gesicht, Hals und Hände aus geschnitztem Elfenbein, teilweise bemalt. Plinthe signiert: F. Preiss (bossiert). Kompositsockel aus Onyx und schwarzem Schiefer. Los 390 der Auktion „Jugendstil - Art déco“, Quittenbaum München, 9. Juni 2021, Schätzpreis: 50000 – 60000 Euro. quittenbaum.de

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PK, wie Preiss und Kassler ihre Firma nun den schnelleren Zeitläuften entsprechend nannten, lieferten ihre Kabinettplastiken seit den Twenties in alle Welt. Kleinode des Art déco, die auf Sockeln aus Marmor, Achat oder Onyx tanzten. Jede einzelne, wie die „Rote Tänzerin“ von 1925, in Kleinserie hergestellt und dennoch ein Unikat. Auch dem Exemplar, das am 9. Juni bei Quittenbaum, München in der Auktion „Jugendstil - Art déco“ aus einer Berliner Sammlung zum Aufruf kommt, sieht man die 96 Jahre nicht an, so fein bemalt, so ohne Riss, so unversehrt ist sie. Rotsilbernes Harlekinskleid und goldene Strümpfe. Es ist als sei sie gerade auf ihr Podest aus farbigem Onyx und schwarzem Schiefer geklettert, hätte sich in Positur gestellt, die ersten Schritte gewagt, mit den Fingern geschnalzt und sich dann davontragen lassen, die Arme eckig in der Luft, von dieser Musik, vom Jazz, von diesem Tanz auf dem Vulkan.

Ferdinand Preiss, der im Alter von 61 Jahren, so schnell wie er immer gelebt hatte, an einem Gehirnschlag starb, musste nicht mehr miterleben, wie seine Werkstatt 1945 nach einem Bombenangriff ausbrannte, mitsamt der Gießerei, die er nach dem Börsenkrach 1929 von Rosenthal & Maeder übernommen hatte. Obwohl er, wie die meisten Menschen seiner Epoche, den drohenden Absturz, den Fall ins Bodenlose immer vor Augen hatte. Der Zeitgeist der Roaring Twenties, für Ferdinand Preiss war er eine Tänzerin.