Das Kuckucksei – Gerhard Richter in vier Teilen

Die Magie des Einzigartigen - in ihrer Kunstkammer betrachtet Dr. Simone Herrmann jede Woche ein Werk aus dem internationalen Kunsthandel. Folge 39: „Wolken (Fenster)“, vierteiliges Gemälde von Gerhard Richter, 1970.
AD Kunstkammer Gerhard Richter
Courtesy Sotheby's

Das Zeug mit dem die Wolken gefüttert sind, schrieb Raymond Chandler einmal in einem seiner Marlowe-Krimis - und meinte: das Immaterielle. Wolken. Seit der Antike gelten sie als Abbild für das Transzendentale, Gott. Auch das vierteilige Gemälde „Wolkenfenster“ von Gerhard Richter, das am 28. Juli bei Sotheby’s London in der spektakulären Abendauktion „Rembrandt to Richter“ zum Aufruf kommt, spielt mit diesem Gedanken. Richter selbst sagt zwar, dass es ihm bei seinen Wolkenbildern – Anfang der 70er Jahren malt er eine Serie von Wolkengemälden – keineswegs darum ging, die Frage nach dem Spirituellen aufzuwerfen, aber er weiß natürlich, dass sie angesichts dieser Bilder trotzdem gestellt wird. Viele Jahre später, 2006, im Streit um seine abstrakten, nach einem Zufallsprinzip generierten Glasfenster für den Kölner Dom, wird er sich noch einmal dazu äußern. In seiner Replik auf die bizarren Angriffe des Kölner Erzbischofs Meisner, der die lichterfüllten Fenster des Künstlers eher für eine Moschee passend“ fand und sich Richters Geschenk für den Dom „figurativer und katholischer“ gewünscht hätte, entgegnet Richter, dass er „ohne den Glauben an eine höhere Macht oder etwas Unbegreifliches nicht leben“ könne.

1970 malt er dieses Wolkenpanorama. Ein zarter, blauer Maihimmel und goldenes Licht in der Ferne. Eine Sonne, aus deren Untergang bereits ein neuer Aufgang hervorzugehen scheint, so heiter und tröstlich ist dieses Licht.

Unmöglich dabei nicht an die Deckenfresken des Rokoko zu denken, festtäglich und blau, von Marmor oder Stuck, von Putten und gestrahltem Gold umgeben. Die Fresken Tiepolos scheinen in Richters Gemälde wieder auf, die Deckengemälde in der Würzburger Residenz, seine Linien- und Luftperspektiven, das schwebende Kolorit und die Farben, die selbst in den Schatten noch lichterfüllt erscheinen. Es ist fast, als genügte dieses lichte Blau, um in Gerhard Richters Wolkenlandschaft auch die heransprengenden Sonnenpferde des Italieners und seine melodisch inszenierten Figurengruppen zu sehen. Und plötzlich ziehen all die Wolkenbilder der Kunstgeschichte herauf, in diesem einen Bild: die Himmel der Renaissance, Piero della Francescas metaphysische Bläue, das Sfumato Leonardos, das blaue Verklingen des Raums, die weiten Himmel des niederländischen Barock, William Turners Licht- und Luft-Fantasien, John Constables Wolkenstudien. Und natürlich auch die romantischen Landschaften Caspar David Friedrichs.

Aber Richter lässt den Betrachter allein. Mit sich selbst und seiner eigenen Wirklichkeit. Vor diesen Wolken, vor dieser Stimmung gibt es keine Staffage-Figuren, kein Mönch am Meer, kein Wanderer vor Wolkengebirgen, keine andere Geschichte zu erzählen, als die eigene.

Zwei mittlere Tafeln: Gerhard Richter (geb. 1932), „Wolken (Fenster)“, 1970, Öl auf Leinwand, vierteilig. Jedes der vier Gemälde: 200 x 100 cm. Gesamt: 200 x 400 cm. Signiert und datiert: 1970 und nummeriert: 266 auf der Rückseite., Los 20 der Abendauktion: „Rembrandt to Richter“, 28. Juli 2020, Sotheby’s London, Schätzpreis: 9 – 12 Millionen Pfund. Sothebys.com

Courtesy Sotheby's

1970 ist er seit neun Jahren im Westen, in Düsseldorf angekommen, wo er im Innenhof der Akademie seine frühen Bilder verbrennt. Im Osten Deutschlands geboren, hat er nach dem Studium der Malerei in Dresden große Wandbilder gemalt, sozialistische Bauernaufstände, parteikonform, aber die sind längst übermalt, nichts soll dort mehr an den Republikflüchtling erinnern. Und auch Richter will, dass nichts übrig bleibt von seinen Anfängen im Westen. Weitergehen, experimentieren, den Anschluss an die Kunstgeschichte wiederherstellen, „an die weite, große, reiche Kultur der Malerei, der Kunst generell“ wie er einmal sagt. Er saugt alles auf, bildet sein eigenes Amalgam daraus. Widerstand ist das Elixier seiner Kunst. Gegen ideologisches Denken, gegen die Dogmen des gerade Angesagten. Er malt abstrakt, als Abstraktion im Westen bereits als veraltet und Malerei schlechthin als obsolet gilt. Und gleichzeitig malt er gegenständlich, fotorealistisch, definiert die Sujets seiner Vorgänger neu und kanalisiert ihre Werke in eine neue zeitgenössische Vision von Wirklichkeit. Denn darum geht es ihm. Immer, in jedem Bild. Der eigentliche Kern des Richter’schen Oeuvres, hereroklit und vielfältig wie kein anderes in der zeitgenössischen Kunst, ist seine andauernde Befragung der Wirklichkeit. Von seinen Naturdarstellungen, den schwarz-weißen Foto-Gemälden und seinen abstrakten, gerakelten Bilder bis hin zu Glas- und Spiegelobjekten oder Installationen – immer geht es ihm um die mit Augen geschaute, mit der Kamera fotografierte, die gespiegelte, in Glas transzendierte und um die malerisch ins Bild gesetzte Realität.

Was aber ist die Realität der Malerei in der Postmoderne? Wolken, erklärt er, seien für ihn „die der Natur eigene Form der Abstraktion“. Geronnene Atmosphäre. Wolkenfotografien, die er nun, Anfang der 1970er Jahre in Farbe reproduziert, aber immer mit einer leichten Unschärfe – und damit die Kluft zwischen seinen Schwarz-Weiß-Fotostudien der 60er Jahre und seinen farbsprühenden ungegenständlichen Rakelbildern der 1980er Jahre füllt. Seine Fotovorlagen sind Zufallsfunde, willkürlich und ohne Bedeutung. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, eine Art Tarnung. „Kuckuckseier“, sagt Richter einmal, seien diese Bilder. Wegen des Bezugs zur Kunstgeschichte, aber auch weil er damit den Gedanken des „Schönen“ wieder in die deutsche Nachkriegsgeschichte einschleust. „Ich hatte Lust ein schönes Bild zu malen“, sagt er, als er nach den grau-verwischten Fotobildern wieder zur Farbe greift.

Erste Tafel: Gerhard Richter (geb. 1932), „Wolken (Fenster)“, 1970, Öl auf Leinwand, vierteilig. Jedes der vier Gemälde: 200 x 100 cm. Gesamt: 200 x 400 cm. Signiert und datiert: 1970 und nummeriert: 266 auf der Rückseite., Los 20 der Abendauktion: „Rembrandt to Richter“, 28. Juli 2020, Sotheby’s London, Schätzpreis: 9 – 12 Millionen Pfund. Sothebys.com

Courtesy Sotheby's

Letzte Tafel: Gerhard Richter (geb. 1932), „Wolken (Fenster)“, 1970, Öl auf Leinwand, vierteilig. Jedes der vier Gemälde: 200 x 100 cm. Gesamt: 200 x 400 cm. Signiert und datiert: 1970 und nummeriert: 266 auf der Rückseite., Los 20 der Abendauktion: „Rembrandt to Richter“, 28. Juli 2020, Sotheby’s London, Schätzpreis: 9 – 12 Millionen Pfund. Sothebys.com

Courtesy Sotheby's

Richter schaut diesen Wolkenhimmel nicht selbst, er fotografiert ihn nicht selbst, es ist nicht „sein“ Lichtblick, den er hier malt. Er bedient sich einer Aufnahme, die er in seinen „Atlas“, ein Archiv von Skizzen und fotografischen Bildvorlagen, aufnimmt. Mit dem Moment der Unschärfe lenkt Richter das Augenmerk des Betrachters auf die Bildquelle und macht so den Rückgriff auf die fotografische Vorlage gezielt zum Thema. Er verfremdet. Und rückt so die fragwürdige Stellung des Bildes zwischen Realität und Wahrnehmung, das große Thema in der Kunst des 20. Jahrhunderts, in den Mittelpunkt.

Während er in seinen „Wolken“ im Folkwang Museum Essen einen Wolkenwirbel malt, von unten gesehen wie die Deckenfresken des Rokoko, di sotto in su, der die Blicke hinaufzieht, gibt er in Ottawa und in der Pariser Sammlung Carmignac dem Betrachter ein Gegenüber. Die Wolkenszenerie bei Sotheby‘s führt den Blick weiter, suggeriert Unendlichkeit. Auch in der Form schlägt er hier abermals eine Brücke zur Kunstgeschichte. Vier Tafeln. Sie verweisen auf die Schreine und Wandelaltäre der deutschen Spätgotik. Die Anbetung Gottes. Himmelfahrt und Höllensturz. Paradiesgärtlein und „Ave Maria“ – Himmelskönigin. Vier Tafeln, vier Fenster zum Himmel. Zusammen ergeben sie eine Aussicht.

Gerhard Richter (geb. 1932), „Wolken (Fenster)“, 1970, Öl auf Leinwand, vierteilig. Jedes der vier Gemälde: 200 x 100 cm. Gesamt: 200 x 400 cm. Signiert und datiert: 1970 und nummeriert: 266 auf der Rückseite., Los 20 der Abendauktion: „Rembrandt to Richter“, 28. Juli 2020, Sotheby’s London, Schätzpreis: 9 – 12 Millionen Pfund. Sothebys.com

Courtesy Sotheby's

Der Betrachter steht also vor Richters Gemälde, als stünde er vor einem Altarbild, aber Andacht wird nicht verlangt. Vor diesem Bild muss niemand den Kopf in den Nacken legen, niemand den Atem anhalten wie vor Tiepolos Fresken, wenn Apolls Sonnenpferde herangaloppieren. Hier schaut der Betrachter ohne Scheu in die Unendlichkeit, denn Richter sagt schon im Titel „Wolken (Fenster)“, wo er sich befindet: Vor einem Fenster. Eines dieser Panoramafenster mit extraschmalen Profilen wie man es auf Werbeprospekten sehen kann. Oder in der Chefetage eines New Yorker Büroturms, ganz oben, wo die Luft dünn wird und wo der Himmel vor den Fenstern wirkt wie inszenierter Schwindel. 1970 fährt Richter mit seinem Malerfreund Peter Heisterkamp aka Blinky Palermo nach New York. Möglich, dass Manhattan, dass die Ästhetik der sky scrapers mit ihren Glasfassaden, dem spiegelnden Licht, diese Welt des „Wir fliegen ja schon!“ eine Art Euphorie in ihm hinterließ. Also doch - Romantik? Denn natürlich hebt einen der Anblick dieser Wolken aus der Wirklichkeit, in eine Wunsch- oder Traumwelt. Angesichts dieses Lichts, dieser Wolken und dieser Bläue ist der Betrachter ganz weit weg. In seinen Träumen und Hoffnungen, tief in sich selbst. Aber es ist eben auch das von Richter so bezeichnete „Kuckucksei“. Ein Fenster, das er zu einem anderen Traumdeuter der Kunstgeschichte aufstößt: Rembrandt Harmenszoon Van Rijn. Der Holländer, einzigartig und keiner Schule zuzuordnen wie Richter, schuf ein durchwebtes Gleichgewicht von Luft und Licht, in dem er Gesichter und Szenerien einbettete. Das Charisma der Dinge galt ihm mehr als ihre wirkliche Gestalt. Überhaupt, was bedeutete schon Wirklichkeit? Erst wenn die Dinge in Luft und spielendem Licht lebten, waren sie wirklich für ihn. Beseelt. Und auch Richter gelingt, was nur den größten Meistern der Malerei gelingt, er macht „das Zeug mit dem die Wolken gefüttert sind“ sichtbar.