Räder, Reifen & Fahrwerkstechnik
Fahren im Grenzbereich

Motorradreifen haben wenig gemeinsam mit Pkw-Reifen. Die Hauptaufgabe, in allen Fahrsituationen die Haftung zu bewahren, gilt für beide, aber die jeweilige Fahrdynamik unterscheidet sich beträchtlich.

Fahren im Grenzbereich
Foto: TechnikProfi

Reifen für Motorräder sind präzise auf den jeweiligen Einsatzzweck zugeschnitten und decken die komplette Bandbreite von Motocross über Reisen bis Supersport ab. Motocross-Reifen etwa müssen maximalen Vortrieb und beste Selbstreinigungseigenschaften auf losem Geläuf garantieren, während kurzlebige Rennsportreifen maximalen Grip selbst bei extremen Schräglagen jenseits von 50 Grad meistern müssen. Reifen für den normalen Alltagsfahrer hingegen sind Allrounder, die sich aber weiter auf den jeweiligen Einsatzschwerpunkt hin entwickeln lassen.

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Der perfekte Straßenreifen soll von allem ein wenig können, natürlich auch bei ordentlicher Schräglage oder Nässe sauber haften, dem Fahrer optimale Rückmeldungen geben, aber im normalen Fahrbetrieb auch akzeptable Laufleistungen von etwa 10 000 km schaffen. Zum Vergleich: Pkw-Reifen bei Klein- und Kompaktwagen halten bisweilen über 50 000 km, vor allem auf der nicht angetriebenen Achse.

Motorradreifen lassen sich in vier Bauarten einteilen:

► Diagonalreifen

► Gürtelreifen mit Diagonalkarkasse

► Gürtelreifen mit Radialkarkasse

► Null-Grad-Gürtelreifen mit Radialkarkasse

Diagonalreifen

Die einfachste Form des Reifens hat sich seit Jahrzehnten bewährt. Der Diagonalreifen ist der Klassiker auf dem Markt, er ist einfach aufgebaut und hat stabile Flanken. Er besteht aus einer Karkasse mit mehreren diagonal verlegten Lagen Nylon, Rayon oder Textilcord, die dem Reifen Stabilität verleihen.

Diagonalreifen
Der Aufbau des Diagonalreifens ist prinzipiell beim Motorrad-, Pkw- oder Nfz-Reifen gleich. Hier ein Vierlagenreifen in Schlauchlos-Ausführung von Metzeler

Bei hohen Geschwindigkeiten nimmt die dynamische Verformung aufgrund der Fliehkraft zu. Die Aufstandsfläche wird kleiner, der dynamische Halbmesser größer, die Temperatur des Reifens steigt. Deshalb sind Diagonalreifen maximal bis 240 km/h zugelassen. Conti hat die Formveränderung an einem 4.00-18- Reifen gemessen. Bei 210 km/h wächst der Durchmesser um etwa 2 cm. Dieses unerwünschte Wachstum kann mit diagonalen oder radialen Gürteln verhindert werden. Ein vergleichbarer Radialreifen dehnt sich bei gleichen Bedingungen nur um wenige Millimeter aus. Diagonalreifen gibt es sowohl in geringer Auswahl mit der alten zölligen Bezeichnung (z. B. "4.00-18") als auch wesentlich häufiger mit der metrischen Bezeichnung (z. B. "130/80-17"). In beiden Fällen gibt die erste Zahl die Breite in Zoll bzw. Millimetern an, danach folgen das eventuelle Breite-Höhe-Verhältnis und der Felgendurchmesser in Zoll. "130/80-17" bedeutet also: Niederquerschnittsreifen 130 mm breit, Querschnittsverhältnis 80 %, Felgendurchmesser 17 Zoll.
Zusätzliche Bezeichnungen für Reifenbauart, Tragfähigkeits- und Geschwindigkeitsindex sowie den Schlauchtyp (TT oder TL) sind auf der Seitenflanke aufgeprägt. Eine vollständige Kennzeichnung kann dann so aussehen: 180/55 ZR 17 M/C 73W TL.

Diagonal-Gürtelreifen

Dieser Reifentyp ist ein Zwischenschritt hin zum Radialreifen. Ein oder mehrere Gürtel aus Nylon oder Kevlar sorgen für höhere Stabilität.

Dia-Gürtel
Diagonal-Gürtelreifen sind vom Konstruktionsprinzip Diagonalreifen, die zusätzlich mit Gürtellagen verstärkt wurden. Hier ein typischer Gürtelreifen mit zwei Lagen Karkasse plus zwei Gürtellagen Kevlar

Die Formänderung bei höheren Geschwindigkeiten wird deutlich reduziert. Der Aufbau vertraut auf die konventionelle Karkasse aus Nylon oder Rayon, die mit den Gürtellagen, meist aus Kevlar, verstärkt wird. Diagonal-Gürtelreifen sind am B (= bias-belted) in der Bezeichnung zu erkennen, z. B. 150/70 B 17 M/C 69Q TL.

Radialreifen

Beim Radialreifen beträgt der Karkasswinkel etwa 90 Grad zur Längsrichtung. Die Cordfäden in der Karkasse verlaufen also quer zur Fahrtrichtung von Schulter zu Schulter, was den Hauptunterschied zum Diagonalreifen ausmacht.

Dia-Radial
Radial-Gürtelreifen, wobei hier im Regelfall wegen der Symmetrie des Aufbaus eine Einlagenkarkasse verwendet wird. Der Gürtel besteht, wie beim Diagonal-Gürtelreifen, aus zwei gekreuzten Lagen und wird deshalb auch konventioneller Gürtel genannt

Die unter der Lauffläche liegenden Gürtel sind in einem Winkel zwischen 0° und 25° angeordnet. Dieser Aufbau ermöglicht auch sehr verformungssteife Niederquerschnittsreifen, die ihre Vorzüge vor allem in Kurven- und Hochgeschwindigkeitsstabilität sowie dem Gewicht ausspielen können. Die Fliehkraftverformung ist sehr gering. Der Aufbau sieht niedrige Flanken vor, wodurch sich der Reifen selbst bei hohen Geschwindigkeiten weniger erwärmt. Der Radialreifen ist mit einem R in der Kennung gekennzeichnet, z. B. 190/50 ZR 17.

Radial-Null-Grad-Reifen

Pkw rollen bereits seit 50 Jahren auf den bewährten Stahlgürtelreifen. Diese Technik auf Motorradreifen anzuwenden, ist allerdings etwas komplizierter. Der Grund liegt in der Form des Reifens. Während die Lauffläche des Autoreifens nur einfach gebogen ist, benötigt der Zweiradpneu Krümmung in Längs- und Querrichtung. Stahlgürtel lassen sich allerdings kaum in zwei Ebenen biegen. Erst Metzeler schaffte es, den Null-Grad-Stahlgürtelreifen mit nur einer Stahlgürtellage so zu konstruieren, dass er vernünftige Laufleistungen erreichte.

Der Aufbau sieht eine Radialkarkasse mit nur einer Stahlgürtellage vor. Die Stahlseile sind in einem Stahlcord eingebettet und laufen mit null Grad zur Laufrichtung.

Aufbau eines Null-Grad-Stahlgürtelreifens

Das verleiht dem Reifen eine sehr hohe Steifigkeit, die vor allem bei hohen Geschwindigkeiten und starken Schräglagen deutlich wird. Zudem kann der Stahlcord mit unterschiedlichen Drahtabständen gewickelt werden, um spezielle Eigenschaften eines Reifens zu betonen, beispielsweise die unterschiedliche Steifigkeit zwischen Lauffläche und Flanke.

Multi-Compound-Reifen

Inzwischen bieten die Hersteller auch Gürtelreifen mit unterschiedlicher Gummimischung an. Mit diesen Multi-Compound-Reifen werden gezielte Eigenschaften betont. So besteht die Laufflächenmitte aus härterem Gummi, um die Laufleistung zu erhöhen und die Temperatur zu senken, während die seitlichen Laufflächen zwecks besseren Gripverhaltens mit einer weicheren Mischung gebacken werden. Bridgestone etwa bietet seinen Battlax BT 016 im Vorderrad mit zwei, im Hinterrad sogar mit drei unterschiedlichen Gummimischungen an. Conti setzt bei einigen Reifen (z. B. dem neuen TKC 70) auf die Multigrip-Technik, die dem gleichen Zweck dient: einem abriebfesten Mittelbereich, kombiniert mit weichen und haftstarken Flanken mit einem stufenlosen Übergang.

Die Motorrad-Fahrphysik

Der Reifen hat beim Motorrad einen wesentlich größeren Einfluss auf das Fahrverhalten als beim Auto. Schon eine andere Reifenpaarung mit unterschiedlicher Kontur oder Profilierung kann sich beim Fahren deutlich bemerkbar machen.

Stößt der Motorradfahrer in den Grenzbereich der Haftung vor, hat das zumeist gravierende Folgen. Auf losem Untergrund mag der Balanceakt im Grenzbereich noch Spaß machen, auf Asphalt bedeutet dieser Bereich für Otto Normalfahrer oft den Sturz. Anders als beim Pkw hilft dem Zweirad kein ESP, um solchen brenzligen Situationen zu entkommen. Noch ist die technische Entwicklung nicht so weit, die äußerst komplexe Fahrdynamik eines Motorrads im Grenzbereich elektronisch zu beherrschen.
Immerhin ist mit dem Kurven-ABS inzwischen ein gezielter Bremseneingriff wie beim Auto möglich, der selbst bei beachtlichen Schräglagen prima funktioniert.
Am einfachsten lassen sich diese fahrphysikalischen Zusammenhänge am Kamm’schen Kreis erklären.

Der Kamm’sche Kreis verdeutlicht die Kräfteverhältnisse am Rad, zeigt, welche Kräfte bei welchen Fahrsituationen übertragen werden können und wo der Grenzbereich beginnt. Die Werte in diesem Beispiel beziehen sich auf guten Asphalt (µ=1) und haftfreudige Reifen. Erklärung im Text

Die y-Achse definiert die Umfangskräfte Bremsen und Beschleunigen, die x-Achse die Seitenkräfte. Bei 100 % Umfangskraft und μ=1 kann beispielsweise keine Seitenkraft mehr übertragen werden. Ist der Reibwert geringer, etwa bei nasser Fahrbahn, kann die maximal mögliche Umfangskraft reibwertabhängig auf Werte zwischen 50 und 30 Prozent sinken.
Im obigen Schema fährt das Motorrad mit 36° Schräglage auf sehr gutem Asphalt mit dem Reibwert μ = 1. Jetzt stehen ihm noch 85 % Brems- oder Beschleunigungskräfte zur Verfügung. Steigert der Fahrer diese Schräglage um ein weiteres Grad und legt durch Gasgeben weiterhin 85 % Umfangskraft an, verlässt die grüne Resultierende im Diagramm den Kreis, die Haftung reißt ab, ein Sturz ist kaum noch zu vermeiden. Noch krasser ist die Situation natürlich bei Nässe, weil der Reibbeiwert zwischen Straße und Reifen deutlich abnimmt.
Der rote Pfeil zeigt 57° Schräglage. In dieser Situation bleibt dem Motorrad noch die Möglichkeit 10 % Umfangskräfte zu übertragen. Theoretisch ist eine maximale Schräglage von 45° bei μ = 1 möglich. Das definiert die Physik mit der Erdbeschleunigung g (9,81 m/s²). Im Schema ist das der gelbe Trockenkreis. Moderne Reifen können bei entsprechender Mikrorauigkeit des Asphalts aber deutlich mehr. Sie verzahnen sich mit dem Teer. Klebrige Rennreifen ermöglichen so Schräglagen bis 60°, handelsübliche Serienreifen sind ebenfalls für Schräglagen über 50° gut, sofern der Untergrund mitspielt und das Motorrad genug Schräglagenfreiheit hat.
Es hängt eben alles von zwei kaum handtellergroßen Reifenaufstandsflächen und sehr vielen Faktoren der beiden Reibpartner Fahrbahn und Reifen ab:

► Haftfähigkeit des Reifens, abhängig vom Profil, der Reifentemperatur (warm verzahnt sich besser als kalt), der Härte, dem Reifenluftdruck und der Gummimischung

► Zustand der Fahrbahn mit allen Reibwerten zwischen rauem Rennstreckenteer und Eis (μ = 1,2–0,08) sowie allen Unwägbarkeiten, die den Reibwert ändern können, etwa Sand- und Ölflecken, Bitumen, Kanaldeckel oder Markierungen (Reibwertsprünge).