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«Wer den Mund aufmacht, wird eingesperrt»

Einsame Proteste: Ein Frau und ihr Kind während einer Strassendemonstration in Srinagar am 13. September. Foto: Idrees Abbas (SOPA Images)

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Er hat Indien immer bewundert. Ein grosses demokratisches Land, das die Toleranz hochhielt und stolz war auf seine Vielfalt. Jedes Mal, wenn er nach Delhi kam, fühlte sich das gut an. «Jeder konnte sagen, was er dachte. Aber jetzt?» Ahmed Mir rutscht nervös auf der Bank im Café in Delhi hin und her. «Ich fühle mich seit dem 5. August verraten», sagt der hagere Mann. «Aber wir Kashmirer dürfen darüber nicht klagen. Wer den Mund aufmacht, wird eingesperrt.»

Ahmed Mir heisst in Wahrheit anders, er könne nur reden, wenn sein echter Name und sein Beruf nicht öffentlich werden, sagt er. Vor wenigen Tagen hat der Kashmirer das Krisengebiet in den Bergen verlassen, nun erzählt er, wie er die vergangenen Wochen dort in Srinagar erlebt hat.

Der 5. August war jener Tag, an dem die hindu-nationalistische Regierung in Delhi der Region Kashmir die Autonomie entzog und den sogenannten Lockdown startete. Zehntausende Soldaten rückten aus in den westlichen Himalaja, Internet und Mobiltelefone wurden abgeschaltet, Ausgangssperren verhängt. Ausländische Reporter haben seither keine Chance auf Einreise.

Tausende verhaftet

Die Zentralregierung fürchtet Unruhen, seitdem sie Kashmirs Sonderstatus als autonomes Gebiet gestrichen hat. Delhi liess seither mehrere Tausend Menschen in den Bergen einsperren. Alle lokalen Politiker sind in Haft, nicht einmal der frühere Ministerpräsident Farooq Abdullah blieb verschont, ein Mann von 81 Jahren mit transplantierter Niere.

Indien wolle das Land Kashmir, aber nicht seine Leute.

Von Freiheit für alle anderen kann keine Rede sein. Sie kämpfen mit dem Alltag unter ständiger Überwachung. Selbst die kleinen Dinge sind schwer zu meistern, wie Mir erzählt. Einkaufen am frühen Morgen: Die Händler machen nur für ein, zwei Stunden auf, aus Protest gegen die Aufhebung der Autonomie ziehen sie tagsüber die Rollläden runter. Mir marschiert also los, er erreicht einen Kontrollpunkt, Polizisten winken ihn durch. Es dauert, bis er einen offenen Laden findet, er packt die Taschen voll Gemüse, marschiert zurück. Inzwischen schieben andere Polizisten Wache. Sie fragen ihn, was er hier zu suchen habe. Er könne nicht durch. Keinesfalls. Mir sagt, sein Haus sei nicht weit, aber sie liessen ihn lange zappeln, bis er passieren dürfe.

Jeden Morgen wiederholt sich das, ständig diese zermürbenden Prozeduren. Als eines Tages eine alte Frau in der Nachbarschaft stirbt, lässt sich wegen der Strassensperren kein Fahrzeug zum Friedhof auftreiben, es bleibt den Verwandten nur, die Tote im Garten zu vergraben. Viele Eltern würden ihre Kinder gerne wieder zur Schule schicken, offiziell ist sie geöffnet. «Aber wer macht das schon, ohne Möglichkeit zu telefonieren?», sagt Mir.

Propagandaschlacht

Einige Tage nach dem 5. August taucht plötzlich Mirs Tochter an der Haustür auf, sie ist eilig aus dem Nahen Osten angereist, wo sie arbeitet. Die Tochter ist in Panik, nach allem, was sie gehört hat. Ihren Koffer hat sie mit Lebensmitteln und Milch vollgestopft. «Sie dachte, dass wir bereits am Verhungern sind», sagt Mir. Die Propagandaschlacht zwischen Delhi und Islamabad sei in vollem Gange, auf allen Seiten. Während Indien ein Bild vermeintlicher Normalität zeichnet, erwecken Pakistan und Teile der arabischen Welt den Eindruck, als sei ewige Finsternis über Kashmir hereingebrochen. Irgendwo dazwischen liegen die Erlebnisse von Ahmed Mir: Tage der Ohnmacht, Angst, Verzweiflung, ein eiserner Griff, der qualvoll ist.

Er hört von sporadischen Zusammenstössen, selbst sei er bei keinem Protest dabei gewesen, erzählt er. Die Steinewerfer suchten nach einem Ventil, «alles mental», sagt Mir. Zorn staue sich auf. Viel Zorn. Entladen hat er sich bisher kaum, vielleicht, weil die Überwachung so streng ist. Aber viele fragen sich: Wie lange will und kann Indien den eisernen Griff noch aushalten?

Indien beteuert, dass das Vorgehen der Sicherheitskräfte seit dem 5. August kein einziges Todesopfer gefordert habe. Doch das ist umstritten. So kursieren vom tödlichen Schicksal des 17 Jahre alten Asrar Ahmed Khan zwei sehr unterschiedliche Versionen. Die eine, die auch Mir erzählt, geht so: der Jugendliche war am 6. August beim Cricketspielen und wollte gerade einen Ball aufheben, als ihn Streumunition und ein Kanister Tränengas der Sicherheitskräfte trafen.

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Der Krankenhausbericht, den der Sender BBC dokumentierte, bestätigt die Verletzungen, Röntgenbilder des Toten zeigen demnach kleine Kügelchen im Kopf. Aber Indiens Armeechef in Kashmir beharrt darauf, der Junge sei von einem Stein getroffen worden, den Demonstranten geworfen hätten.

Sicher ist: Die Ausmasse des Lockdowns sind beispiellos in der indischen Geschichte. Zwar erlebt Kashmir seit 70 Jahren Krieg, Terror und Gewalt, mehr als 40'000 Menschen sind dadurch gestorben. Doch noch nie hat der Staat eine nahezu komplette Funkstille für so lange Zeit in einem Sperrgebiet erzwungen, in dem acht Millionen Menschen leben. Dabei hatte sich der Tourismus bis zum Sommer recht gut entwickelt. Anfang August kam dann die Aufforderung, das Gebiet zu verlassen.

Ausländische Bergsteiger, die im Kashmir unterwegs waren, erzählen, dass überall Strassensperren errichtet wurden. Die Uniformierten, die am Stacheldraht Dienst schoben, wirkten nervös und aggressiv, die Offiziere bleiben zu den Besuchern freundlich. Es dauerte lange, bis die Bergsteiger ihre Unterkunft erreichten, ein gemietetes Hausboot. Dessen Besitzer muss während des Aufenthalts sein krankes Kind in die Klinik in der nahen Stadt bringen. Fahren ist nicht möglich, er muss es tragen, die ganze Strecke, vier Kilometer weit. Und dann fehlen im Krankenhaus die Medikamente.

«Es herrscht unter den Leuten grosse Angst vor einer Eskalation», sagen die Touristen nach ihrer Rückkehr. In Gesprächen mit Einheimischen kam immer wieder diese Angst hoch: Indien wolle das Land Kashmir, aber nicht seine Leute. Andere Touristen erzählen von den Gebeten, die aus den Moscheen dringen. Sie klingen wie grosses Flehen.

Streit unter drei Atommächten

Kashmir, das ist eine lange, leidvolle Geschichte. Das Gebiet des ehemaligen Prinzenstaates, dessen Eigenständigkeit sehr viele Bewohner ersehnen, ist nach zwei Kriegen zwischen den Atommächten Indien und Pakistan gespalten, beide Staaten kontrollieren jeweils nur einen Teil. Auch China beherrscht ein Stück von Kashmir, so prallen Machtinteressen von drei Nuklearstaaten aufeinander. Was die Kashmirer möchten, hat in dieser Konstellation kaum noch Gewicht.

Ahmed Mir spricht nun über Indiens Premier Narendra Modi, der viel versprochen hat: eine neue Ära für Kashmir, Entwicklung, Jobs. Aber der Premier könne versprechen, was er wolle: «Die Kashmirer wollen Modis Geld nicht.» Schliesslich habe die Regierung ihnen gerade einen der grössten Schätze geraubt. Das Recht auf Autonomie. «Das ist eine Frage der Ehre», sagt Mir. «Das demütigt mich.» In der Praxis war die verfassungsrechtlich verankerte Autonomie bereits stark untergraben, die Militarisierung machte das eigenständige Regieren der dortigen Ministerpräsidenten schwer.

In Kashmir prallen Machtinteressen von drei Nuklearstaaten aufeinander.

Der Entzug der Eigenständigkeit ist jedoch von grosser Symbolik und löst einen Reflex aus, wie Mir beobachtet: «Nun sagen die Leute in Kashmir: Seht her, wir wussten es immer, dass man Indien nicht trauen kann.» Verstärkt wird dieser Eindruck noch dadurch, dass Delhi nicht nur seine Gegner einsperren liess, sondern auch jene Politiker, die kooperierten. «Keiner weiss, wie es jetzt weitergehen soll», sagt Mir. «Wollen sie Kashmir denn ganz ohne Beteiligung der Kashmirer regieren?» Tatsächlich hat Delhi noch nicht erklärt, wann und wie es den Lockdown auflösen will und wer eine künftige Regierung Kashmirs führen soll.

Auffällig ist jedoch, dass Modi mit dem Entzug der Autonomie bei seinen Wählern ausserhalb Kashmirs stark punktet. Der Schritt ist populär, vor allem in der indischen Mittelklasse, die für nationalistische Töne empfänglich ist und die Botschaft von der bevorstehenden «Integration Kashmirs» feiert. Dabei hört man selten Besorgnis darüber, dass die Kashmirer selbst keiner gefragt hat und dass sie sich nicht äussern dürfen.

In den Fernsehsendern, die fast alle auf Modis Linie eingeschwenkt sind, kommen stattdessen Kommentatoren zu Wort, die über die angebliche Undankbarkeit der Leute in Srinagar schimpfen, der Staat habe so viel Geld in das Gebiet gepumpt und doch machten die Kashmirer nichts als Ärger. Solche Sprüche. «Es wird jetzt Gift versprüht», sagt Mir. Der Staat Indien, den er so viele Jahre lang achtete und als Hort der Demokratie ansah, er wird ihm immer fremder.