„The Patient“ auf Disney+: Nur noch Hausbesuche

Von wegen nur Meerjungfrauen und Marvel: Mit dem Mini-Schocker „The Patient“ wird Disney+ endgültig zur Alternative zu Netflix und Co.

Deep Talk in Ketten: Dr. Alan Strauss (Steve Carell, l.) versucht, Sam Fortner (Domhnall Gleeson) davon abzubringen, Menschen zu töten.
Deep Talk in Ketten: Dr. Alan Strauss (Steve Carell, l.) versucht, Sam Fortner (Domhnall Gleeson) davon abzubringen, Menschen zu töten.FX Networks

Einen Therapeuten zu finden, gestaltet sich schon seit längerer Zeit in Berlin als schwieriges Unterfangen. Die Wartezeiten sind lang, die Therapieplätze rar. Aber würde man deshalb auf die Idee kommen, einen Psychologen zu entführen und gefangen zu halten? Nur zum Zweck einer therapeutischen Behandlung? 

Die Liebe einer Mutter

Zu dieser drastischen Maßnahme greift Sam Fortner (Domhnall Gleeson), ein Nerd, dessen dösige Präsenz perfekt über sein sehr dunkles Geheimnis hinwegzutäuschen vermag. Sam kann seine Wutimpulse nicht steuern – wer ihm dumm kommt, der bezahlt das mit dem Leben. Sams homöopathische Dosen an Empathie reichen aber gerade noch aus, um zu erkennen, dass der Drang zu töten moralisch nicht einwandfrei ist. Seine Mutter ist auch keine Hilfe: sie mag ihren Sohn zwar nicht, deckt ihn aber. Wenn sie Sam fürs Morden ausschimpft, dann klingt das, als ob er sein Pausenbrot vergessen hätte. 

Nun soll also ein Psychologe Abhilfe leisten. Dr. Alan Strauss (famos: Steve Carell) hatte schon einige Zeit lustlos an Sam herumtherapiert, der Verlust seiner geliebten Frau ließ den Psychologen aber nur mit halber Kraft arbeiten. Bis er angekettet in Sams Keller erwacht, wo ihm „The Patient“ zu verstehen gibt, dass er dessen Mordlust endlich zügeln soll, auch in seinem ganz eigenen Interesse. Die zehnteilige Miniserie von Joe Fields und Joe Weisberg beginnt zahm, fast komödiantisch.

Man mag sie beide – den Killer und den Therapeuten

Das Zimmer des Doktors ist schön eingerichtet und wenn Sam durch die Panoramaglastür eintritt, hat er meistens klasse Fast Food dabei. Es gibt bestimmt weniger erträgliche Verliese. So geht der Psychologe schließlich auf Sams ungewöhnliche Bitte ein, ihm seine Mordlust auszutreiben. Angekettet bleibt ihm natürlich auch wenig anderes übrig. Unterbrochen wird die Monotonie aus Mahlzeiten und Gesprächen nur von Rückblicken auf das Privatleben des jüdischen Arztes und seiner verstorbenen Frau und dem schwierigen Verhältnis zum orthodoxen Sohn der beiden. Dieser begibt sich zeitgleich auf die Suche nach seinem verschwundenen Vater. 

Dann aber kommt es, wie es kommen muss: Sam verliert die Kontrolle über seine mörderische Obsession und folgt seiner Neigung. Die Serie, die fast behäbig beginnt, wird so zu einem mitunter schwer verdaulichen Schocker, ohne auf billige Slasher- oder Jump-Scare-Momente zu setzen. Das Grauen rührt eher aus der Beziehung zu den beiden Protagonisten: Sehr schnell kommt man Täter und Therapeut nahe, dem gefangenen Arzt ebenso wie dem sichtlich an seiner psychischen Störung leidenden Killer. Deren Beziehung ist bald so aufgeladen, das man die Intensität förmlich spüren kann. 

Wer nun an Jonathan Demmes Meisterwerk „Das Schweigen der Lämmer“ (1991) denkt, liegt nicht gänzlich falsch. Da fand man den irren Kannibalen Hannibal Lecter meist sympathischer und unterhaltsamer als sein stocksteifes Gegenüber, Special Agent Clarice Starling. So ist es auch bei „The Patient“, jedenfalls bis zur Hälfte des Zehnteilers, dessen einzelne Folgen maximal eine halbe Stunde dauern, was die Serie zu einer erfrischend kurzweiligen Angelegenheit macht. Länger würde man dieses Kammerspiel wohl aber auch kaum aushalten. Sollten Ihnen die kommenden Feiertage also aus irgendwelchen Gründen zu kuschelig und plätzchensüß geraten, dann ist „The Patient“ ganz sicherlich ein passendes Gegengift zum drohenden Zuckerschock.


Wertung: 4 von 5

The Patient. Mini-Serie, 10 Folgen, Disney+