Ausgabe Juli 2015

Demütigung als Gefahr

Russland und die Lehren der deutschen Geschichte

In der letzten Ausgabe der „Blätter“ vertrat der Philosoph Vittorio Hösle die These, dass „Russland heute gefährlicher ist als die alte Sowjetunion“. Und er fügt dem noch eine zeitliche Dramatisierung hinzu: „Putins Alter ist derart, dass er nicht allzu lange warten kann, wenn er als ‚Sammler russischer Erde‘ in die Geschichtsbücher eingehen will“. Will sagen: Passt auf, es kann früher losgehen, als ihr glaubt![1]

Putin bestimmt die russische Politik seit dem Jahr 2000, also seit 15 Jahren. Noch im Jahr 2013, also nach 13 Jahren Putin, hätte eine solche Warnung bloßes Kopfschütteln oder gar nachsichtiges Lächeln erzeugt. Dass dieser Putin, dem die Russen dafür danken, dass er nach dem Chaos der Jelzin-Jahre wieder so etwas wie einen verlässlichen Staat geschaffen hatte, kein lupenreiner Demokrat im westlichen Sinne war, wussten wir immer. Aber dass er ein Aggressor, dazu einer unter Zeitdruck war, haben wir alle einfach nicht bemerkt – bis der Maidan in Kiew das Abkommen zerriss, das drei europäische Außenminister – mit Zustimmung Putins – den ukrainischen Konfliktparteien abgerungen hatten und eine leidenschaftlich antirussische Regierung installierte.

Haben wir also 14 Jahre lang geschlafen? Immerhin hat Hitler nur 12 Jahre gebraucht, um Europa in Trümmer zu legen.

Immerhin hat dieser Putin dann vieles getan, was nicht auf den von Hösle behaupteten Zeitdruck schließen ließ. Als in Donezk und Lugansk die ukrainische Polizei lächelnd zusah, wie die Separatisten ein Rathaus nach dem anderen besetzten und die Herrscher der neuen „Volksrepubliken“ um Beitritt zur Russischen Föderation baten, hat er das einfach überhört. Und als in Kiew der Ministerpräsident Jazenjuk bei jeder Gelegenheit erklärte, die Ukraine befände sich im Krieg mit Russland, hat er dies nicht als Kriegserklärung gewertet und seine Panzer gen Kiew in Marsch gesetzt, er hat es nicht einmal kommentiert. Er hat also offenbar doch Zeit.

Ich habe diesen Putin nur einmal getroffen, bei Gerhard Schröders 60. Geburtstag. Da kam er nach Hannover mit einem Kosakenchor, der das Niedersachsenlied schmetterte: „Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen.“ Das war ein Putin, der seinen Platz in Europa suchte.

Heute ist es auch in Deutschland so etwas wie ein Denksport, über die finsteren Absichten Putins zu spekulieren. Wollen wir damit vergessen machen, was wir selbst versäumt haben? Warum ist niemand auf die Idee gekommen, mit Putin über das Assoziationsabkommen mit der Ukraine zu reden? Jetzt, nachträglich tun wir es ja, aber nun ist es zu spät. Hätte der damalige Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, das tun sollen? Aber der dachte nicht daran. Und das gefiel auch den Regierungschefs, die, wie vor allem die deutsche Kanzlerin, dafür gesorgt hatten, dass es keinen politisch starken Kommissionspräsidenten gab. Niemand war dafür zuständig, also taten wir so, als ob es Russland gar nicht gäbe. Und rieben uns die Augen, als dieses Russland uns auf dramatische Weise daran erinnerte, dass es noch existierte.

Die Weltgeschichte ist kein Amtsgericht

Es geschah auf der Krim, mit der Krim. Erst die Sezession, also der Beschluss des zuständigen Parlaments, sich von der Ukraine zu trennen und der Russischen Föderation beizutreten. Natürlich haben Russen dabei mitgewirkt. Aber immerhin hat kein einziger Mensch dafür sterben müssen. Die Zustimmung von 97 Prozent war sicher nicht völlig identisch mit den Meinungen im Land. Aber dass die Mehrheit der Krimbewohner zu Russland wollte, war und ist kaum zu bezweifeln.

Das zeigt sich auch heute. Zwar wird in Kiew einfach die Rückgabe der Krim verlangt, aber ohne die Leute dort zu überhaupt fragen. Wenn Frau Merkel zwar immer wieder – formal korrekt – die Verletzung des Völkerrechts tadelt, aber nie andeutet, wie sie sich reparieren ließe, hat dies wohl einen guten Grund: Kann gerade sie, die Deutsche, verlangen, dass die Krim, was immer ihre Bewohner wollen, wieder ukrainisch wird? Schließlich haben wir Deutschen uns vierzig Jahre lang nicht auf das Völkerrecht, sondern auf das Selbstbestimmungsrecht berufen. Und das soll nun für die Krimbewohner nicht mehr gelten? Das kann keine deutsche Regierung wollen oder gar durchsetzen. Also bleibt es beim Tadel ohne die geringste Andeutung, wie das, was Frau Merkel – wohl versehentlich – als Verbrechen bezeichnet hat, zu reparieren wäre.

Im Übrigen ist die Weltgeschichte kein Amtsgericht. Das Völkerrecht ist zweifellos ein wichtiger Maßstab. Ich bin aber kein Jurist, sondern Politiker. Für mich noch wichtiger ist, bei der Abwägung einer politischen Aktion, was diese für die betroffenen Menschen zur Folge hat. Offenbar fühlen sich die meisten Krimbewohner in Russland ganz wohl, vielleicht sogar zuhause.

Vergleicht man dies mit einem anderen Bruch des Völkerrechts, dem Irakkrieg, dann kann man schwermütig werden. Der amerikanische Bruch des Völkerrechts, der militärische Angriff – mit verlogenen Begründungen – auf einen anderen Staat, hat den Nahen Osten in ein Gewaltchaos verwandelt, das auch die Weltmacht USA nicht mehr bändigen kann. Hunderttausende irren fliehend umher, wo einst die Staaten Irak und Syrien waren. Tausende werden umgebracht, manche nur deshalb, weil sie keinen Koranvers aufsagen können. Und niemand weiß, wann das Morden endet. Und das alles, weil ein amerikanischer Präsident dort tabula rasa machen und eine Musterdemokratie errichten wollte – und niemand von den Klügeren im State Department ihm diesen Unsinn ausgeredet hat. Wer das 21. Jahrhundert so begann und nun hilflos vor den Ergebnissen der eigenen Politik steht, sollte sich hüten, die Staaten in gute und böse einzuteilen.

Putin »der Aggressor«?

Während es – sogar wenn Putin mit sich reden ließe – keine westliche Strategie für die Rückkehr der Krim zur Ukraine gibt, dient die „Annexion“ der Halbinsel als Beweis dafür, dass Putin eben ein „Aggressor“ ist und bleibt, dass alle Nachbarn Russlands, von den Balten bis zu den Georgiern, sich gegen einen russischen Angriff wappnen müssen. Immerhin ist die russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol stationiert. Dafür gab es einen Pachtvertrag mit der Ukraine. Hätte sich Putin auf die Vertragstreue eines Jazenjuk verlassen sollen? Was wäre aus der Flotte geworden, wenn man in Kiew irgendwann doch einen Anlass für die Kündigung des Pachtvertrages gefunden hätte?

Was in Donezk und Lugansk geschah, haben viele Beobachter erwartet. Eine rabiat antirussische Ukraine musste damit rechnen, dass am östlichen und südlichen Rand etwas abbröckelt. Separatisten waren ja nicht nur in Donezk oder Lugansk zugange. Aber dort hatten sie Erfolg, weil die Polizei keinen Finger rührte, als die Separatisten ein Rathaus nach dem anderen besetzten.

Sicher, in Moskau hat man dies gerne gesehen, und es haben auch Russen mit und ohne russischen Pass dabei mitgeholfen. Um sie ausreichend zu kontrollieren, war die Grenze zu neu und zu durchlässig. Aber dort, wo sich die Separatisten nicht durchsetzen konnten, hat Moskau nicht eingegriffen. Auch heute kämpfen Russen auf Seiten der Separatisten. Aber keine Einheiten der russischen Armee. Ein Mann wie der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, legt darauf besonderen Wert. Und er fügt hinzu: Wenn einmal tatsächlich russische Bataillone eingreifen sollten, wäre der Konflikt in 48 Stunden zu Ende.

Natürlich haben die Separatisten ukrainisches Recht gebrochen. Sie wollten keine Ukrainer mehr sein, als diese Ukraine die Feindschaft zu Russland zur Staatsraison erhob. Sie haben sich aus einem Staat verabschiedet, mit dem sie nichts zu tun haben wollten. In Kiew sprach man vom ersten Augenblick an nicht von Separatisten, sondern von Terroristen und organisierte Anti-Terror-Aktionen. Das war so töricht wie das Gerede in Moskau von den Faschisten in Kiew. Mit Terroristen kann man nicht verhandeln, man kann sie nur töten. Hier liegt einer der Gründe dafür, dass die Regierung der Ukraine immer wieder versucht, das Minsker Abkommen zu unterlaufen. Minsk funktioniert jedoch nur, wenn Kiew mit den Separatisten spricht. Aber redet man mit Terroristen?

Wenn es darum geht, die Sanktionen zu rechtfertigen, verweist Angela Merkel auf das Minsker Abkommen, an dessen zweiter Auflage sie ihre Verdienste hat. Solange das Minsker Abkommen nicht in allen Teilen realisiert sei, müsse Russland bestraft werden. Sie unterstellt also einfach, dass nur Russland die Erfüllung des Abkommens blockieren kann. Muss man in Kiew also nur auf die Bremse treten, damit Putin bestraft wird?

Doppeltes Versagen: der deutschen Kanzlerin und der deutschen Medien

Dabei ist doch klar, dass Minsk von der ukrainischen Regierung vieles verlangt, was Kiew gar nicht schmeckt: den Verzicht auf das, was Jazenjuk und Poroschenko immer wieder beschworen haben, nämlich den militärischen Sieg über die „Terroristen“ und ihre Verurteilung durch ukrainische Gerichte.

Wozu sonst will Poroschenko eine Armee aufstellen größer als die Bundeswehr? (Und warum stellt kein deutscher Journalist die Frage, mit wessen Geld diese bezahlt werden soll?) Inzwischen sind die abgetrennten Gebiete durch Gesetz zu „okkupierten Gebieten“ geworden, die erst befreit werden müssten, ehe man dort wählen lässt. Und was kann Befreiung anderes bedeuten als militärische Eroberung?

Solange die europäische Politik nicht beiden Parteien klarmacht, dass sie mit negativen Folgen zu rechnen haben, wenn sie Minsk scheitern lassen, ist sie selbst für ein Scheitern verantwortlich.

Dass Frau Merkel und manche osteuropäischen Politiker hier nicht konsequent sein müssen, hat seinen guten Grund: den Mangel an Information über alles, was in Kiew geschieht und beschlossen wird. Welche Zeitung hat je darüber nachgedacht, was es bedeutet, dass nun auch der ukrainische Präsident tut, was der Ministerpräsident seit mehr als einem Jahr immer wieder für nötig hält: zu erklären, dass die Ukraine sich mit Russland im Kriegszustand befindet? Wer schildert die Atmosphäre, die solches Gerede schafft – übrigens ein Gerede, das insgeheim immer damit rechnet, dass Putin klug genug ist, sich dadurch nicht provozieren zu lassen.

Über alles, was im isolierten, bestraften und gedemütigten Russland an Bedenklichem vor sich geht, werden wir eingehend informiert. Und da ist ja in der Tat manches zu berichten, was uns alle beunruhigen muss. Aber warum wird über das, was in Kiew an Hassparolen und Wunschträumen produziert wird, einfach geschwiegen? Und wenn irgendwo ein Einspalter doch eine verkürzte Information gibt, warum fehlt immer der Kommentar? Warum erfahren die deutschen Leser und TV-Zuschauer fast nichts über die ökonomische Misere in der Ukraine? Damit niemand bis zu der schlimmen Wahrheit durchdringt, dass weder die EU gegen Russland noch Russland gegen die EU diesem heruntergewirtschafteten und überdurchschnittlich korrupten Land wieder auf die Sprünge helfen kann? Oder was es den deutschen Steuerzahler kosten müsste, wenn hier ein Griechenland mal zwanzig entstehen sollte?

Die falsche Wahl: Russland oder der Westen

Was ich der ukrainischen Regierung übel nehme, ist, dass sie alles tut, um die einzige Chance für ihr Land und seine Menschen gar nicht erst erkennbar werden zu lassen: dass nämlich nur die EU und Russland zusammen die Ukraine sanieren können. Dazu aber muss man Bedingungen schaffen, die für die EU und für Russland akzeptabel sind. In dem Augenblick, in dem die europäische Politik diese Aufgabe begreift, wird sie Realpolitik. Und, so seltsam dies klingt, auch Friedenspolitik.

Die Ukrainekrise hat einen einfachen Grund: Man hat dieses Land vor die Wahl zwischen Russland und dem Westen gestellt. Und dieses kulturell gespaltene Land mit seinem jungen, ungefestigten, unfertigen Staat ist damit überfordert – zumal es eine Regierung hat, die ihre Neigungen und Abneigungen mit der Wirklichkeit verwechselt. Auf Dauer können die Ukrainer aber nicht davon leben, dass man ihnen jeden Tag sagt, wer angeblich an allem schuld ist: die Russen.

Man kann es der ukrainischen Regierung nicht verdenken, dass sie den Konflikt als einen Kampf der Demokratie gegen die Diktatur inszeniert. Aber dass weite Teile der europäischen – und natürlich der amerikanischen – Öffentlichkeit darauf hereinfallen, ist eher peinlich. Was in Kiew an Demokratie geboten wird, erreicht uns meist gar nicht. Wenn in Russland ein Oppositionspolitiker erschossen wird, ist das – zu Recht – wochenlang ein Thema, gespickt mit Vermutungen, wer hinter dem Mord steckt. Wenn in der Ukraine ein halbes Dutzend „Verräter“ ihr Leben lassen müssen, erfährt der deutsche Zeitungsleser nichts. Opposition gegen die Regierung ist in Kiew jedoch kein größeres Vergnügen als in Moskau. Der ukrainische Nationalismus ist eher noch schriller, irrationaler als der russische.

Natürlich schaukeln sich beide Regierungen gegenseitig auf. Und natürlich sorgen sie dafür, dass in beiden Ländern klar ist, wer die Guten und wer die Bösen sind. Nur: Ist es die Pflicht eines deutschen Demokraten, die Welt durch eine ukrainische Brille zu betrachten? Darf man nicht fragen, warum der griechische Ministerpräsident hart dafür getadelt wird, dass er die Renten nicht noch einmal senken will, während die Pläne des ukrainischen Präsidenten, notwendig mit fremdem Geld eine riesige Armee aufzustellen, nur den knappen Kommentar wert sind, es handle sich eben um ein souveränes Land? Das müsse man respektieren.

Amerikas Spiel oder: Auf die Interessen kommt es an

Es wird Zeit für eine nüchterne Analyse der Interessen, die in diesem Konflikt wirksam sind. Am einfachsten lassen sich die der USA definieren. In seiner jüngsten Botschaft zur Lage der Nation hat Präsident Obama den Ukrainekonflikt nur gestreift. Stolz hat er den amerikanischen Erfolg gefeiert. Die Nato sei dadurch gestärkt, Russland sei isoliert und die russische Wirtschaft liege am Boden.

In der Tat kann kein anderes Land eine solch positive Bilanz ziehen. Kein Wunder, dass die USA niemals über ein Ende des Konflikts nachdenken und, zumal unter Republikanern, massive Waffenlieferungen an die Ukraine verlangt werden. Obama bremst aus Rücksicht auf die Bundesrepublik und Frankreich. Und er hat immerhin das Minsker Abkommen nicht verhindert. Aber die drei „Erfolge“ – gestärkte Nato, isoliertes Russland mit ruinierter Wirtschaft – sind Ergebnisse der Fortsetzung des Konflikts, nicht seiner Beilegung.

Von Beginn des Konflikts an wurde vom State Department in Washington primär Ministerpräsident Jazenjuk und nicht Staatspräsident Poroschenko unterstützt. Jazenjuks – reichlich ehrgeiziges – Interesse ist es, die Gesamtmacht der Nato gegen Russland zu mobilisieren. Das kann nur gelingen, wenn die USA massiven Druck auf die Europäer ausüben. Das tun sie bislang – aus Sicht Jazenjuks – nicht ausreichend.

Während die baltischen Länder und Polen der amerikanischen Position sehr nahe sind, hat sich auf dem europäischen Kontinent ein genuin europäisches Interesse herauskristallisiert, vor allem getragen von Frankreich, Deutschland und den südeuropäischen Ländern. Es ist deren vitales Interesse, diesen Konflikt beizulegen und anschließend über eine Friedensordnung in Europa nachzudenken, die Russland einschließt. Sie müsste der Ukraine eine Chance des Aufbaus schaffen und könnte sie wirtschaftlich – nicht militärisch – an die EU binden. Eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland müsste auch im Interesse dieser Ukraine liegen.

Russisch-europäische Interessenkongruenz

Was aber sind die russischen Interessen? Da ist zuerst das simple Sicherheitsinteresse: keine Nato-Raketen in der Ukraine. Das Interesse an einer europäischen Friedensordnung, die Russland einschließt, ist heute geringer als vor fünf Jahren, aber es ist noch vorhanden. Daher lässt sich – nach einer Beilegung des Konflikts – über manches sprechen, worüber vor 2014 hätte gesprochen werden müssen. Etwa über die Verbindung der Europäischen Union mit der eurasischen Wirtschaftsunion. Natürlich liegt es auch im russischen Interesse, den amerikanischen Einfluss auf Europa zu vermindern. Darin liegt auch eine Chance: Da eine Beilegung der Ukrainekrise dies langfristig zur Folge haben wird, könnte es das Interesse Russlands an einer solchen Lösung verstärken.

Dass Russland ein unmittelbares Interesse hätte, die Ukraine als Ganzes zu annektieren, darf man wohlweislich bezweifeln. Niemand hätte in den letzten 16 Monaten die russische Armee daran hindern können, bis nach Kiew vorzustoßen. Aber niemand hätte verhindern können, dass dann weite Teile vor allem der Westukraine unregierbar werden, vielleicht sogar in einem Gewaltchaos versinken. Dass Putin aber bereit wäre, sich unmittelbar mit der Nato anzulegen, indem er ein Nato-Mitglied angreift, dafür gibt es keinerlei Beweise, auch keine stichhaltigen Hinweise.

Russland hat lange Zeit seine Ukrainepolitik vor allem mit lockenden Angeboten betrieben. Dass Janukowitsch den Assoziationsvertrag mit der EU schließlich doch nicht unterschrieben hat, hat Putin nicht durch Drohungen, sondern durch Angebote erreicht, die dem ukrainischen Präsidenten verlockender erschienen als die EU-Assoziation. Sobald die Ukraine sich soweit beruhigt hat, dass ihre Regierung Russland nicht mehr als altbösen Feind, sondern als – unverrückbaren – Nachbarn wahrnimmt, werden russische Regierungen die Trümpfe ausspielen, die sie nun einmal in der Hand haben.

Wenn meine Analyse stimmt, dann sind die russischen Interessen den europäischen ziemlich nahe. So, wie dieser Konflikt notwendig zu Ergebnissen führt, die den Einfluss der USA auf Europa stärken, so muss seine Beilegung die Eigenständigkeit Europas fördern und den Druck auf Russland mindern. Dass diese Ähnlichkeit der Interessen zum Minsker Abkommen geführt hat, ist offenkundig. Solange Jazenjuk, der Mann des State Departments, Ministerpräsident ist, und solange in Kiew noch davon geträumt wird, dass eine mächtige ukrainische Armee, ausgestattet mit amerikanischen Waffen, die „Terroristen“ vernichtet, solange wird es schwierig werden, für die Gebiete der Separatisten einen Platz innerhalb der Ukraine zu finden. Das aber wird nicht an Putin scheitern. Wenn er die Gebiete gewollt hätte, wären sie längst russisch. Aber er hatte und hat seine Gründe, sie nicht zu wollen.

Warum dieser Versuch, die wirksamen Interessen zu sortieren? Weil dann klarer wird, womit wir zu rechnen haben. Es ist ein Vor-Urteil, dass Putin das Minsker Abkommen scheitern lassen will – was ja Frau Merkel dauernd unterstellt. Es war die Regierung in Kiew, die hörbar seufzend unterschrieb und es waren Amerikaner, vor allem Republikaner, die von vornherein nichts davon hielten.

Was zählt, ist das Gefühl der Demütigung

Nun mag man mir vorwerfen, ich unterschätze, was offenbar Vittorio Hösle umtreibt: das, was sich in Russland abspielt. Das Gegenteil ist richtig. Ich sehe es nur noch unter einem anderen Aspekt: dem der Demütigung. Wenn ein großes Volk sich gedemütigt fühlt, ist es zu Taten fähig, über die sich die Nachkommen nur noch wundern, für die sie sich nur noch schämen können. Das ist deutsche Geschichte. Und ich habe als Kind mitbekommen, wie die Demütigung durch Versailles auch Menschen radikalisiert hat, die eigentlich gar nicht dazu neigen.

Niemand wende ein, die Russen hätten so wenig Grund, sich gedemütigt zu fühlen wie einst die Deutschen. Das mag sogar stimmen, nur ist es unerheblich. Was zählt, ist das Gefühl der Demütigung, das Gefühl, Opfer zu sein, auch wenn andere das nicht so sehen. Ein Volk, das sich selbst nur als gedemütigtes Opfer wahrnehmen kann, ist nicht friedensfähig. Das gilt heute übrigens auch für ein kleines, tapferes Volk im Nahen Osten. Wer in dem Bewusstsein aufwächst, dass sein Volk ausgestoßen, bestraft, verfemt, beargwöhnt, verachtet um seine Existenz kämpfen muss, ist zu vielem fähig, was nicht zum Charakter dieses Volkes passt.

Der russische Nationalismus, den Hösle beklagt und fürchtet, trägt solche Züge: Nun haben wir unter unsagbaren Opfern Hitler besiegt, und nun kreist man uns ein, stößt uns aus, bestraft uns wie Schulbuben, die dem Lehrer die Tafelkreide versteckt haben. Aber wir sind und bleiben das Volk, dem Europa verdankt, dass es die Naziherrschaft abschütteln konnte! Mit uns wird der Westen zu rechnen haben!

Nicht alles, was die Russen als Demütigung empfinden, ist von der anderen Seite so gemeint. Dazu gehören der Ausschluss aus der G 8 oder auch die Sanktionen. Aber Obamas Feststellung, Russland sei eben nur eine „Regionalmacht“, war als Demütigung gemeint. Und das gibt zu denken.

Noch einmal: Wo ein solches Grundgefühl der Demütigung sich festsetzt, sind alle Argumente wirkungslos – es sei denn, die Wirklichkeit selbst enthalte den Gegenbeweis: die unübersehbare Einfügung dieses Volkes in die Gemeinschaft der Völker, der erkennbare Respekt vor seiner Geschichte und seinen Leistungen.

Was gegenwärtig in Russland die Atmosphäre bestimmt und vergiftet, ist in der Tat gefährlich. Aber wer daraus den Schluss zieht, nun müsse man Russland vollends isolieren, neue Sanktionen ausdenken, die Rüstung ankurbeln, die Ukraine in die Nato holen, macht aus einer Gefahr die Wahrscheinlichkeit der Katastrophe: Es beweist den Gedemütigten jeden Tag deutlicher, dass ihre Empörung zu Recht besteht.

Hätten Aristide Briand und Gustav Stresemann es in den 1920er Jahren fertig gebracht, Versailles die Giftzähne zu ziehen und so etwas zu arrangieren wie die Begegnung von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer in Reims 1962, wer weiß, ob Hitler je Reichskanzler geworden wäre. Aber dazu waren die Deutschen in den Augen ihrer Kriegsgegner noch zu gefährlich. Also machte man sie gefährlicher, als sie hätten sein müssen.

Die größere Gefahr: Was kommt nach Putin?

Was ich nun hinzufüge, wird viele überraschen, vielleicht verstören: Ich fürchte nicht Putin, sondern seinen möglichen Nachfolger. Was auch immer diesem Präsidenten in den letzten 15 Monaten an weitergehenden bösen Absichten unterstellt worden ist (unter anderem von Vittorio Hösle), es ist alles nicht eingetreten. Er hat die Krim „heimgeholt“ zur Freude fast aller Russen, und er ist offenbar entschlossen, einen militärischen Sieg der ukrainischen Armee über die Separatisten zu verhindern, was auch immer im Westen beschlossen wird. Das ist erkennbar. Und sonst?

Putin weiß, dass er einen Krieg mit dem Westen nicht riskieren kann, schon aus einem sehr plausiblen Grund: Sein Volk wird ihm darin nicht folgen, es wird ihn fallen lassen, wenn der große Krieg droht. Und er selbst weiß allzu gut, was Krieg ist, wie ein bewegender Artikel beweist, der zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschien.[2] Putin ist ein außerordentlich rationaler Typ, ein Rechner, der Kräfteverhältnisse einzuschätzen weiß. Und er ist immer noch der Präsident, der vor dem Bundestag Deutsch gesprochen hat, als er seinen Platz in Europa suchte. Er hat auf den Maidanputsch so reagiert, wie die Russen es von ihrem Präsidenten erwartet haben. Daher sitzt er fest im Sattel. Und er ist und bleibt ein Gesprächspartner, der zuhört, seine westlichen Gegenüber einzuschätzen weiß, einige davon schätzt, andere weniger. Er darf sich nicht anbiedern, wenn er die 85 Prozent Unterstützung nicht gefährden will. Aber er darf – auf Augenhöhe – Frieden mit Europa machen, wenn dabei nichts übrig bleibt von der schulmeisterlichen Demütigung, an die sich einige Politiker im Westen seit 1989 gewöhnt haben.

Wenn es dazu kommt, wird der russische Nationalismus nicht gleich verschwinden, aber es werden ihm die Giftzähne gezogen. Er könnte sich beruhigen. Dann müssen wir nicht mehr fürchten, dass sein Nachfolger all das wirklich tut, was man Putin zu Unrecht unterstellt.

Ausblick auf das 22. Jahrhundert

Wenn meine Urenkel so alt sein werden wie ich jetzt, wird das 22. Jahrhundert beginnen. Niemand kann voraussagen, wie es dann auf diesem Globus aussieht. Wahrscheinlich ist, dass China dann zur Weltmacht, vielleicht zur Weltmacht Nr. 1 aufgestiegen ist. Die USA könnten noch eine Weltmacht sein, aber vermutlich nicht mehr die Weltmacht. Und Europa? Wenn es nicht in nationaler Eigenbrötelei auseinanderläuft, wird es wirtschaftlich, kulturell und wohl auch politisch mithalten können. Gelingt es, Russland an dieses Europa zu binden, wird es auch militärisch einigermaßen gesichert sein. Seine Außengrenzen liegen dann irgendwo in Sibirien. Ein gutes Verhältnis zu den USA bedeutet dann für Europa keine strenge Abhängigkeit.

Anders sieht es aus, wenn europäischer Hochmut, verbunden mit amerikanischen Einflüsterungen, Russland dahin drängt, wohin es eigentlich nicht will: an die Seite Chinas. Ein chinesisch-russischer Block von Peking bis Königsberg macht Europa extrem verletzlich. Es muss sich dann, koste es, was es wolle, des amerikanischen Beistands versichern. Ob wir dann mehr Verbündete oder mehr Protektorat sein werden, ist offen. Sicher scheint mir, dass meine Urenkel die Generation verfluchen werden, die es nicht fertigbrachte, Russland den Platz in und für Europa anzubieten, der nicht nur im Blick auf die Landkarte, sondern noch mehr als Ergebnis europäischer Geschichte diesem Land zusteht.

 

[1] Vittorio Hösle, Macht und Expansion. Warum das heutige Russland gefährlicher ist als die Sowjetunion der 70er Jahre, in: „Blätter“, 6/2015, S. 101-110, hier: 109.

[2] Wladimir Putin, Das Leben ist eine einfache und grausame Sache, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 9.5.2015.

Aktuelle Ausgabe Mai 2024

In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

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