Ausgabe September 2021

Jubiläum im Allzeittief: 50 Jahre BAföG

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Es war ein Meilenstein der Bildungspolitik und eine entscheidende Voraussetzung für die soziale Öffnung der Hochschulen: Vor fünfzig Jahren – am 1. September 1971 – verabschiedete die damalige sozialliberale Koalition das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Es sollte dazu beitragen, dass über den Zugang zu höherer Bildung nicht länger das Portemonnaie der Eltern entscheidet, sondern nur noch „Neigung, Eignung und Leistung“ (§ 1 BAföG). Der Effekt war zunächst vielversprechend: Zu Beginn, vor einem halben Jahrhundert, wurden rund 45 Prozent aller Studierenden gefördert – und zwar mit einem Vollzuschuss, der nicht zurückgezahlt werden musste.[1]

Heute stellt sich die Lage jedoch gänzlich anders dar: Nur noch elf Prozent aller Studierenden beziehen überhaupt noch BAföG, von dem sie die Hälfte als Darlehen erhalten, das sie nach dem Studium abstottern müssen. Verantwortlich dafür ist der schleichende Ausverkauf der staatlichen Ausbildungsförderung: Denn nur drei Jahre nach Einführung des BAföG beschloss die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) einen festen Darlehensanteil in Höhe von monatlich 70 DM, der später schrittweise auf 150 DM erhöht wurde. Die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl (CDU) schaffte 1982 dann nicht nur die BAföG-Unterstützung von Schülerinnen und Schülern an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen de facto ab, sondern stellte vor allem das Studierenden-BAföG komplett auf Volldarlehen um. Diese Regelung bestand bis 1990 und führte dazu, dass Studierende in den 1980er Jahren einen Schuldenberg von bis zu 70 000 DM anhäuften. Der BAföG-Kahlschlag hielt insbesondere jene davon ab, mit Hilfe des BAföG ein Studium zu finanzieren, für die es ursprünglich gedacht war: Kinder aus Elternhäusern mit niedrigen und mittleren Einkommen.

Von auskömmlicher Unterstützung keine Spur

Unter Rot-Grün scheiterte in den 90er Jahren eine nachhaltige Strukturreform der Ausbildungsförderung – und zwar am Machtwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). Geplant war, das Kindergeld bzw. die steuerlichen Elternfreibeträge ins BAföG zu integrieren, womit eine Grundlage für einen elternunabhängigen Sockel der Ausbildungsförderung geschaffen werden sollte. Dies wäre eine wichtige Voraussetzung gewesen, um vor allem jene zu unterstützen, deren Eltern zwar mehr verdienen, als die unzulänglichen Elternfreibeträge vorsehen, aber dennoch zu wenig, um ihren Kindern auskömmlich das Studium finanzieren zu können. Doch mit dem Einwand, viele Familien zahlten mit diesen Transferleistungen die Immobilienkredite ihrer Eigenheime ab, hinderte der Regierungschef die Koalition am Bohren dicker BAföG-Bretter. Lediglich den Rückzahlungsbetrag deckelte Rot-Grün 2001 auf maximal 10 000 Euro. Damit änderte sich aber nichts Grundlegendes an der bestehenden Schieflage: Wer das Glück hat, von seinen Eltern ausreichend finanziert zu werden, startet unbeschwert nach dem Studium ins Berufsleben. Wer aber aufs BAföG angewiesen ist und dieses auch erhält, verlässt die Hochschule mit Schulden.

Von einer ausreichenden Unterstützung während des Studiums kann zugleich keine Rede sein. Selbst mit dem derzeitigen Höchstbetrag von 861 Euro ist vielerorts kein WG-Zimmer samt aller sonstigen Lebenshaltungskosten mehr zu finanzieren. Und diesen Höchstbetrag erhalten nur die Wenigsten: Im vergangenen Jahr lag die durchschnittliche Förderhöhe bei 556 Euro. So sind viele BAföG-Empfängerinnen und Empfänger ebenso auf Nebenjobs angewiesen wie all jene, für die die Förderkriterien zu eng sind: Seit Jahrzehnten gibt es Kritik an den viel zu niedrigen Elternfreibeträgen wie an den strengen Vorgaben zur Regelstudienzeit, für die das BAföG gewährt wird.

Den schleichenden Bedeutungsverlust des BAföG, von dem immer weniger Studierende profitierten, versuchte die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) 2001 mit verzinsten Bildungskrediten der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) zu kompensieren. Im Jahr 2010 stellte Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) dem BAföG das Deutschlandstipendium zur Seite, mit dem Studierende ihr Budget um monatlich 300 Euro aufbessern können – wenn sich an ihrer Hochschule für ihre Fachrichtung ein privater Sponsor findet, der die Hälfte des Stipendiums finanziert. Das Deutschlandstipendium hat sich allerdings mangels Sponsoren als Ladenhüter erwiesen: Statt der ursprünglich angepeilten acht erreicht dieses nur knapp ein Prozent aller Studierenden.[2] Parallel experimentierten von 2006 bis 2014 sieben der 16 Bundesländer mit allgemeinen Studiengebühren ab dem ersten Semester, was die Schwelle für einkommensschwache Haushalte weiter erhöhte, ihre Kinder an die Hochschule zu schicken. Es ist also kein Wunder, dass Deutschland den Ruf eines Weltmeisters der sozialen Auslese im Bildungssystem hat. Während von 100 Akademikerkindern 79 ein Hochschulstudium aufnehmen, sind es bei Familien ohne akademischen Hintergrund nur 27.[3]

Unzulängliche Anpassung vor Gericht

Zum Jubeln besteht also zum 50jährigen Jubiläum kein Grund – nicht zuletzt, weil die Bedarfssätze und Elternfreibeträge in den vergangenen Jahren nur schleppend und völlig unzureichend an die Entwicklung von Einkommen und Lebenshaltungskosten angepasst wurden. Zwar sind diese Parameter laut Gesetz alle zwei Jahre zu überprüfen, dennoch verweigerten die jeweiligen Bundesregierungen in ihren BAföG-Berichten mit Verweis auf die „finanzwirtschaftliche Entwicklung“ regelmäßig die notwendigen Anpassungen. So erfolgte zwischen 2010 und 2016 keine einzige Erhöhung. Neuerdings verweigert die Bundesregierung sogar ihre Pflicht zur Berichterstattung: So ist seit 2014 nur ein Bericht (2017) erschienen. Den eigentlich 2019 fälligen 22. Bericht verschob die große Koalition per Gesetzesänderung auf dieses Jahr, hat ihn bislang aber noch nicht vorgelegt.

Die Untätigkeit der Regierung rief sogar die Gerichte auf den Plan: Wegen der unzureichenden Anpassung der BAföG-Bedarfssätze bescheinigte das Bundesverwaltungsgericht dem BAföG im Mai 2021, „gegen den aus dem verfassungsrechtlichen Teilhaberecht auf chancengleichen Zugang zu staatlichen Ausbildungsangeboten folgenden Anspruch auf Gewährleistung des ausbildungsbezogenen Existenzminimums“ zu verstoßen.[4] Nun hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu prüfen. Moniert wird insbesondere, dass es kein solides und transparentes Verfahren zur Ermittlung der Bedarfssätze gibt, die dem tatsächlichen Bedarf für den Lebensunterhalt – nicht zuletzt aufgrund der massiv gestiegenen Mietpreise – nicht mehr gerecht werden.

Dass es so weit gekommen ist, hat nicht zuletzt die amtierende große Koalition zu verantworten. Zwar hatten Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag 2017 eine „Trendwende“ versprochen und 2019 tatsächlich eine BAföG-Novelle – die 26. seit dessen Bestehen – auf den Weg gebracht. In zwei Stufen wurden die Bedarfssätze 2019 um fünf und 2020 um weitere zwei Prozent erhöht, die Freibeträge für Elterneinkommen in drei Stufen bis 2021 um sieben, drei und sechs Prozent angehoben. Doch diese Korrekturen kamen viel zu spät und reichen längst nicht aus: Die Ausbildungsförderung befindet sich weiter im freien Fall. Im vergangenen Jahr sank die Zahl der geförderten Studierenden erneut um sechs Prozent;[5] im Monatsdurchschnitt werden derzeit 321 000 Studierende gefördert, was der genannten Förderquote von elf Prozent entspricht.[6]

Armutsfalle Corona

Dass viele Studierende schlicht keinen Anspruch auf die staatliche Studienfinanzierung haben, rächte sich massiv in der Coronakrise: Mehr als zwei Drittel der Studierenden jobben laut dem Deutschen Studentenwerk (DSW) während der Vorlesungszeit, um sich zu finanzieren bzw. um ihr BAföG und die Elternzuwendungen aufzustocken.[7] Als im vergangenen Jahr pandemiebedingt Tätigkeiten in der Gastronomie, im Einzelhandel oder in der Veranstaltungsbranche gestrichen wurden, wussten viele Studierende nicht mehr, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, ihre Miete bezahlen und für ihre Ausbildungskosten aufkommen sollten.

Mit großer Verzögerung reagierte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Sie brachte im Juni 2020 eine Überbrückungshilfe auf den Weg, die nach gegenwärtigem Stand bis Dezember 2021 angeboten wird. Die Hilfe in Höhe von maximal 500 Euro muss monatlich beantragt werden und wird als Zuschuss vom örtlichen Studierendenwerk ausgezahlt.[8] Da nicht nur eine Notlage nachzuweisen ist, sondern auch belegt werden muss, dass diese pandemiebedingt ist, gehen allerdings viele Studierende leer aus. Anspruchsberechtigt ist nur, wer nicht mehr als 500 Euro auf dem Konto hat. Von Juni 2020 bis August 2021 haben insgesamt gerade einmal rund 100 000 Studierende für mindestens einen Monat Überbrückungshilfe bezogen. Die anderen werden in die Arme der KfW getrieben, deren Studienkredite in Höhe von 650 Euro monatlich vom Ministerium als zweites Element der Überbrückungshilfe angepriesen und bis Dezember zinsfrei gewährt werden. Ab Januar 2022 sind – rückwirkend auch für die davor erhaltenen Zahlungen – Zinsen in Höhe von sage und schreibe 4,36 Prozent zu entrichten, die sich bei einem auf zwölf Jahre ausgelegten Tilgungsplan zu einem Schuldenberg von über 1400 Euro anhäufen, wie eine Kleine Anfrage der Grünen-Fraktion im Bundestag ergab.[9]

Im August, und damit nur wenige Wochen vor der Bundestagswahl, verblüffte Karliczek die bildungspolitische Öffentlichkeit mit der Aussage, dass im Zuge einer BAföG-Reform „auch ein Notfallmechanismus für Krisenfälle“ im Gesetz verankert werden könne. Darüber hinaus sprach sie sich für eine „Weiterentwicklung“ des BAföG aus. Zuvor hatte sie entsprechende Forderungen der Linken und der Grünen, aber auch des DSW und von Gewerkschaften noch geflissentlich ignoriert. Die Bereitschaft zu einer BAföG-Reform just nachdem der Bundestag seine letzte reguläre Sitzungswoche vor der Wahl beendet hatte, mag wohlfeil klingen. Sie zeigt aber auch, dass der politische Druck auf die große Koalition inzwischen so hoch ist, dass nicht nur die SPD, sondern auch die Union eine Reform der Ausbildungsförderung nach der Wahl für unausweichlich halten.

An Konzepten mangelt es nicht

Vorschläge für eine solche Reform liegen längst auf dem Tisch. Neben dem DSW, dem studentischen Dachverband fzs oder dem Deutschen Gewerkschaftsbund stellte im vergangenen Juni auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) einen Forderungskatalog vor. Den Vorschlägen ist gemein, dass die Bedarfssätze und Freibeträge deutlich und regelmäßig erhöht und das BAföG in nationalen Krisenlagen für alle in Not geratenen Studierenden geöffnet werden sollen.

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Im Zentrum steht aber die Forderung nach einer grundlegenden Strukturreform der Ausbildungsförderung. So soll das BAföG wieder wie bei seiner Gründung 1971 als Vollzuschuss gewährt werden, der wie andere Sozialleistungen nicht zurückgezahlt werden muss. Zugleich sollen auch Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen ab Klasse 10 die Ausbildungsförderung nach vierzig Jahren wieder in Anspruch nehmen dürfen. Die Förderungshöchstdauer soll sich zudem nicht länger an bürokratisch festgesetzten Regelstudienzeiten orientieren, sondern an den tatsächlichen Studienzeiten. Schließlich sollen starre Altersgrenzen ersatzlos aus dem BAföG gestrichen werden, was angesichts der immer vielfältigeren Bildungsbiographien längst überfällig ist.

Letztendlich aber muss das BAföG zu einem elternunabhängigen Studienhonorar weiterentwickelt werden. Ebenso selbstverständlich wie Auszubildende im dualen System der Berufsbildung kein Lehrgeld mehr bezahlen müssen, sondern eine Ausbildungsvergütung erhalten, sollten auch Studierende vergütet werden.[10] Ein erster Schritt dahin wäre die Einführung eines elternunabhängigen Sockels, der über die Integration der ausbildungsbezogenen Leistungen des Familienlastenausgleichs (Kindergeld und Steuerfreibeträge) in die Ausbildungsförderung teilweise gegenfinanziert werden könnte.

Nach der Bundestagswahl gilt es also dort anzuknüpfen, wo zwanzig Jahre zuvor die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder angehalten hat. Und nach fünfzig Jahren ist die Zeit mehr als reif für eine strukturelle Erneuerung der Ausbildungsförderung. Politikerinnen und Politiker betonen allzu gerne, dass die Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts immer höherer Qualifikationen bedarf, die das Hochschulstudium zur Regelausbildung für eine wachsende Mehrheit junger Menschen macht. Nimmt man diesen Anspruch ernst, dann ist die Forderung nach einer leistungsfähigen Ausbildungsförderung nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage, sondern auch eine nach der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.

[1] Bundestags-DS 7/1440.

[2] Statistisches Bundesamt, Förderung nach dem Stipendienprogramm-Gesetz (Deutschlandstipendium) 2020, Wiesbaden 2021.

[3] Nancy Kracke, Daniel Buck, Elke Middendorff, Beteiligung an Hochschulbildung, Chancen(un)gleichheit in Deutschland, in „DZHW Brief“, 3/2018, S. 1-8.

[4] BVerwG 5 C 11.18.

[5] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 369 vom 5.8.2021.

[6] Deutsches Studentenwerk, Pressemitteilung vom 5.8.2021.

[7] Elke Middendorff u.a., Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2016, 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, Bonn/Berlin 2017, S. 60.

[8] Vgl. Pia Stendera, Studieren auf Pump. Corona und die akademische Spaltung, in: „Blätter“, 8/2020, S. 9-12.

[9] Bundestags-DS 9/19920.

[10] Vgl. Andreas Keller, Studienhonorar statt Studiengebühren, in: „Blätter“, 5/2008, S. 14-17.

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