dpatopbilder - 25.01.2024, Niedersachsen, Hannover: Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, spricht bei einer Pressekonferenz zum Ergebnis einer Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche. Der Forschungsverbund «ForuM · Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland» veröffentlicht am 25. Januar Ergebnisse der wissenschaftlichen Studien zu sexualisierter Gewalt und Missbrauch der evangelischer Kirche. Foto: Julian Stratenschulte/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Vorstellung Studie zu Missbrauch in evangelischer Kirche

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Missbrauchs-Studie bei Protestanten: Kirchenimage verschlechtert

Die Zahl von Missbrauchsopfern in der evangelischen Kirche ist laut einer neuen Studie überraschend hoch. Ein Religionssoziologe rechnet mit hohen Austrittszahlen. Betroffene kritisieren derweil, die Kirche habe das Problem noch immer nicht erkannt.

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Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Einrichtungen der Diakonie: Davon berichtet die erste umfassende Studie, die am Donnerstag zu dem Thema vorgelegt wurde. Sie räumt auf mit der Vorstellung, dass so etwas vor allem in der katholischen Kirche vorkommt, in der Pfarrer nicht heiraten dürfen und die Hierarchien steil sind. Bei den Protestanten wirkt unter anderem – so die Forscher wörtlich – ihr "Harmoniezwang" begünstigend.

Religionssoziologe rechnet mit hohen Kirchenaustrittszahlen

Der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack geht nach den überraschend hohen Missbrauchszahlen, die in der Studie genannt werden, von einer Verschärfung der Kirchenkrise aus. Die Ergebnisse würden vor allem die treffen, die viel von der Kirche hielten, erklärte Pollack am Freitag in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Als Folge rechne er mit weiterhin hohen Kirchenaustrittszahlen auch aus der evangelischen Kirche.

Käßmann beklagt Fehler bei der Aufarbeitung

Die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann beklagte Fehler bei der Aufarbeitung. Es sei für sie unverständlich und nicht nachvollziehbar, dass fast alle Landeskirchen nur die Disziplinarakten und nicht auch die Personalakten überprüft hätten. Das müsse nachgeholt werden, sagte sie im Deutschlandfunk.

Über das Ausmaß des Missbrauchs und die Vertuschung zeigte sich Käßmann erschüttert. Sie habe immer gedacht, dass ihre Generation anders mit Missbrauch umgegangen und offen dagegen vorgegangen sei. Das stimme aber nicht.

Betroffenenvertreterin: "Man gibt sich erschüttert. Aber was ändert sich?"

"Zutiefst erschüttert", zeigte sich auch die amtierende Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs. Sie sprach von einem "eklatanten Versagen" in Kirche und Diakonie. "Man gibt sich erschüttert. Aber was ändert sich?", kontert Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes, der die Studie erarbeitet hatte.

Nach ihrer Einschätzung habe die evangelische Kirche das Problem trotz Studie noch nicht für sich erkannt. "Und wenn man ein Problem nicht erkennt, dann kann man es auch nicht lösen", sagte Kracht dem Bremer "Weser-Kurier". "Mir ist ganz wichtig, zu sagen, dass die Kirche nicht nur in der Vergangenheit geschlafen hat, sondern mindestens auf Ebene der Landeskirchen und häufig der Diakonie noch immer schläft."

Kritik an Umgang mit den Akten

Der Kölner Staatsrechtsprofessor Stephan Rixen, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs auf Bundesebene, kritisierte vor allem den Umgang mit den Akten. "Die Auswertung der Personalakten hätte sich mit Sicherheit organisieren lassen, wenn das gewollt gewesen wäre", sagte Rixen der Deutschen Presse-Agentur. Dies zeige die Studie der katholischen Kirche, für die knapp 40.000 Akten ausgewertet wurden. "An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Will es die EKD wirklich wissen?"

"Es ist deutlich geworden, dass es in der evangelischen Kirche mehr noch als in der katholischen Kirche oder etwa im Sport an Strukturen mangelt, um die sexuelle Gewalt aufzuarbeiten", sagte die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, den Partnerzeitungen der Neuen Berliner Redaktionsgesellschaft.

Die lange Zeit der Aufarbeitung nannte Claus "vor allem für die Betroffenen bitter". Im Vergleich zur katholischen Kirche habe man durch das lange Warten acht Jahre verloren. "Umso mehr stehen die Landeskirchen und die Landesverbände der Diakonie in der Verantwortung, jetzt die richtigen Schritte zu unternehmen."

Bayerns Landesbischof will nachbessern

"Wir möchten gut mit dem so wichtigen Thema sexualisierter Gewalt umgehen, und jetzt hat uns ja die Forschenden-Gruppe gezeigt, wo unsere Punkte sind, wo wir nachbessern müssen", beteuert Bayerns Landesbischof Christian Kopp. Er pocht auf einheitliche Verfahrenswege und Anerkennungsleistungen in der evangelischen Kirche.

Bis zu diesem Herbst sollte in allen 20 evangelischen Landeskirchen bei Meldungen von sexualisierter Gewalt ein einheitliches und transparentes Vorgehen umgesetzt sein, sagte Kopp am Freitag der Evangelischen Funk-Agentur (efa) in München. Zugleich regte er eine Dunkelfeldstudie an und sprach sich für ein staatliches Aufarbeitungsgesetz mit festgeschriebenen Anerkennungsleistungen aus.

Was tut der Staat bei der Aufarbeitung sexueller Gewalt?

Er würde sich "sehr wünschen", so Kopp, dass staatlicherseits ein Anerkennungsgesetz komme und der Staat für Regelungen für alle Organisationen sorge. Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) verweist indes auf eine Hotline ihres Hauses, die Anrufer mit Erfahrungen sexualisierter Gewalt weitervermittelt. Entscheidend sei, sagt die Ministerin, "dass wir Menschen auch sensibilisieren, wenn ihnen so ein schreckliches Unrecht widerfährt, dass sie es auch zur Anzeige bringen".

Wann ein Recht auf Aufarbeitung sexueller Gewalt gesetzlich verankert wird, wann der Staat proaktiv darauf schaut, dass es auch umgesetzt wird – das ist also weiterhin offen.

Im Video: Interview mit Landesbischof Christian Kopp

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche hat es in der evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang angenommen.
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Christian Kopp ist der Landesbischof der ev.-luth. Kirche in Bayern.

Mit Informationen von KNA, epd und dpa

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