KW24

Von narrativen Wirbelwinden und sachlichen Sperenzchen

Bärfuss Mora

In seinem zweiten Roman «Circulo» entwirft Tobias Chi ein verschachteltes Erzähllabyrinth, in dem die Ränder zwischen Imagination und Realität systematisch verwischt werden.

Von Artiom Christen
14. Juni 2019

Die besten Geschichten erzählt die Zeit. Die Zeit, von der Tobias Chi erzählt, lässt sich freilich nicht mittels literarischer Längen- und Breitengrade einordnen. Es ist eine kreisende Geschichte über den Menschen als Denkwesen im 21. Jahrhundert, während ihn die Zeit allmählich entblösst, sich selbst gegenüberstellt und den Lebensdocht Zoll für Zoll niederbrennt.

«Der Kreis öffnet sich», so lautet das erste Kapitel in Chis jüngstem Roman Círculo. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Barcelonas gleichnamige Schenke im Mittelpunkt des Romans steht – ein verkommenes, altes Schachbrett, auf dem die Figuren ihr Erinnerungsgewand längst abgestreift haben und nicht mehr nach den Regeln spielen – sie diktieren das Geschehen und öffnen den Kreis. Sie sind die Regeln.

Zwei junge Argentinier, ein mysteriöser 77-jährigen Mann, ein gescheiterter Professor, ein verkannter Filmregisseur und eine trinkfeste, zerrüttete Frau befinden sich eines Abends im Círculo. Sie kennen sich nicht und wissen nur wenig voneinander, das Circulo, so scheint es, ist ihre einzige Gemeinsamkeit. Was nach einer vortrefflichen Ausgangssituation für einen urbanen und erwachsenen Nachfolger des Films The Breakfast Club klingt und gleichzeitig – mit der Prämisse: Wie sähe die moderne Hölle aus? –  auf die Sitcom The Good Place verweist, entpuppt sich als ein klarer Fall von literarischer Prädestination. Die Stammgäste des Círculos trinken, um zu vergessen. Und während der Autor Seite für Seite die Hintergründe der Figuren offenbart, zeichnet er allmählich das Profil des Protagonisten dieses Romans. Es ist der korpulente alte Mann Albondiga. Er trinkt und speist nicht, um zu vergessen, denn er hat nur ein Ziel: Er schreibt, um zu sterben. Begeistert von Dantes Inferno verliert er sich mit Borges als Vergilsubstitut an seiner Seite in seiner Imagination, die alsbald nicht nur seine eigenen Grenzen zwischen Raum, Zeit und Wirklichkeit verschwimmen lässt.

Zur Person

Tobias Chi, geboren 1973 in Zürich. Studium der Philosophie, Deutsche Sprachwissenschaft und Computerlinguistik in Zürich und Florenz. Chi ist als Journalist und Sprachlehrer tätig. Als Schriftsteller debütierte er 2010 mit dem Roman «Heller». Chis zweiter Roman «Círculo» ist im Skalpell Verlag erschienen, den er gemeinsam mit Alba Polo 2018 gegründet hat.

Indessen sind alle Figuren des Romans miteinander verbunden: Nicht nur ist ihnen allen eine Hölle von Albondiga massgeschneidert worden, auch haben sie in ihrer Vergangenheit die Werke desselben Autors gelesen. Allerdings ist es kein Zufall, dass Albondiga ausgerechnet im Círculo schreibt und auch kein Zufall, dass der Schenke bester und freundlichster Kellner «El Diablo» heisst. Jeder Name des Romans fungiert als ein pars pro toto für etwas Grösseres und jede Lokalität eine allegorische Manifestation der seelischen Befindlichkeit der Figuren. Dass Tobias Chi grundsätzlich kein Mann der Zufälle ist, wird spätestens dann deutlich, wenn er selbst als Romanfigur auftritt: Er ist nämlich der obgenannte ingeniöse Autor. Minutiös wird seine Biografie geschildert, lardiert mit schmutzigen, aber auch ulkigen Details. Chi schreibt über Chi, über den Erfinder des «Chi-Effekts», der Goethes Werther um einiges mehr hätte leiden lassen.

Chis Schreibstil lässt sich bestenfalls als unfassbar beschreiben: Die Sprache ist verständlich, doch niemals greifbar, sie variiert von Szene zu Szene, Kapitel zu Kapitel. Schon auf der ersten Seite des Romans etabliert sich eine warme auktoriale Erzählstimme, die aber in Figurenkapiteln dann und wann in eine personelle übergeht, ohne dass die Leserin dessen wirklich gewahr wird. Ebenfalls werden Rahmengeschichten aufeinandergetürmt und auseinandergebrochen, sodass stets ein weiterer Binnenplot inmitten des Beschreibens, Sinnens und Berichtens aufkeimt. Ein unablässiges Quirlen und Brodeln von zahllosen Erzählsträngen, über denen immerzu das Höllenmotiv dräut, verleiht Círculo seine literarische Fülle. Die Vermengung der Narrative vernebelt jedoch auch einstweilen den klaren Blick auf den Plot und macht ihn leider oft vergessen. Chi bemüht sich um keine Geländer, an denen sich der Leser zwischenzeitlich festhalten könnte. Er lässt den Roman geschehen und so geschieht es, dass sich die sorgfältig aufgebaute Spannung um den Protagnisten sukzessive auflöst und in erzählerische Nebengassen entschwindet. Zudem dominiert das «Tell» oftmals das «Show», was freilich den Lesegenuss keineswegs schmälert und die Showpassagen sogar umso markanter erscheinen lässt. Chis Stärke liegt unbestreitbar in der Zeichnung und Entwicklung seiner Figuren, wie auch den daraus erspriessenden schnittigen, wirkungsvollen Dialogen. Gewandt nutzt er die Vorteile der gewählten Erzählperspektiven, enthüllt unverblümt die Gedankenwelt seiner Charaktere – manchmal flüsternd, manchmal humorvoll und frei heraus.

Círculo fokussiert indes etwas überaus Fundamentales. Ob in der Zukunft oder Gegenwart, der Mensch bleibt in seinem Kern stets derselbe. Er bildet dieselben Gedankengefängnisse und verirrt sich in denselben mentalen Wirrungen. In einer Zeit, in der der persönliche Erfolg emporgehoben und von Scheinwerfern umhüllt wird, Leistung und Ergebnis die einzigen Losungen der Gesellschaft sind, präsentiert uns Chis Roman eine Hommage an das menschliche Scheitern. Ein Scheitern, das die Romanfiguren dorthin gebracht hat, wo sie sind – in den Círculo. Durch die Einblicke in ihr Leben wird uns derweil eine kleine, aber essentielle Frage gewährt: Wo hört das Leben auf – und wo beginnt die selbsterzeugte Hölle?

Klärt Chi die Frage auf? Jein.

Schliesslich aber haucht er der Leserin in den letzten Sätzen des Romans die Antwort ins Ohr: Alles ist eine Frage der Perspektive.

Tobias Chi: Círculo. 320 Seiten. Zürich: Skalpell Verlag 2019, 24.50 Franken.

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