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Frauenrechte in China „Es ist ein brutales antifeministisches Vorgehen“

Der chinesische Staatschef Xi Jinping und seine Frau Peng Liyuan auf Staatsbesuch in Vietnam
Der chinesische Staatschef Xi Jinping und seine Frau Peng Liyuan auf Staatsbesuch in Vietnam
© Luong Thai Linh / Picture Alliance
Die Kommunistische Partei Chinas wirft alte progressive Denkweisen über Bord und schickt Frauen zurück an den Herd. Warum das keinen Erfolg haben werde, erklärt die Expertin für Frauenrechte Leta Hong Fincher im Interview 

Dieser Artikel liegt Capital.de im Zuge einer Kooperation mit dem China.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn China.Table am 20. Dezember 2023.

China.Table: Staatschef Xi Jinping hat kürzlich auf dem nur alle fünf Jahre tagenden Plenum des chinesischen Frauenverbands zu einer neuen Gebär- und Familienkultur aufgerufen. Funktionäre fordern eine höhere Geburtenrate. Das ist ein neuer Tenor in der KP, die zumindest verbal immer das Banner der Gleichberechtigung geschwenkt hat. Was ist da los?
LETA HONG FINCHER: Das war schon lange abzusehen. Xi hat in der Vergangenheit mehrfach gesagt, dass China eine stärkere „Familienkultur“ und mehr Familienwerte entwickeln müsse. Die KP gibt zwar Lippenbekenntnisse zur Gleichberechtigung ab, doch in Wirklichkeit drängt die Partei – die natürlich männerdominiert ist – seit vielen Jahren darauf, dass die Frauen ins Haus zurückkehren und ihre Pflichten als Ehefrauen und Mütter wahrnehmen.

Sie haben vor zehn Jahren ein Buch zu Frauenrechten in China geschrieben, mit dem Titel „Shengnü“ (剩女), also „Übriggebliebene Frauen“ (Englisch „Leftover Women“), das gerade neu aufgelegt wurde. Woher kommt dieser Begriff?
Eine Propagandakampagne hat diese Bezeichnung für Frauen in ihren späten 20ern, die immer noch unverheiratet sind, geprägt. Sie wurde ab 2007 über sämtliche Kanäle verbreitet. Damals war Hu Jintao Staats- und Parteichef.

Das bedeutet, dass nicht erst Xi die konservative Wende gestartet hat – die ja gewissermaßen im Widerspruch zur sozialistischen Ideologie steht, oder?
Das Konzept der Gleichberechtigung ist durchaus ein wesentlicher Bestandteil des Kommunismus. Besonders ausgeprägt war dies in China, schließlich sagte Mao Zedong einst den berühmten Satz: „Frauen tragen die Hälfte des Himmels“. Die chinesische Revolution war viel feministischer als andere sozialistische Revolutionen. Das hängt mit der Revolutionsgeschichte vor dem Kommunismus zusammen, um die Wende zum 20. Jahrhundert.

Inwiefern?
Diese Zeit vor und nach dem Sturz des kaiserlichen Systems war sehr feministisch geprägt. Viele chinesische Kommunisten sind aus der Bewegung des 4. Mai 1919 hervorgegangen, in der der Feminismus und die Rechte der Frauen eine große Rolle spielten. Dieser Teil der Geschichte und die Rebellion gegen Chinas konfuzianisch-patriarchalische Vergangenheit haben viele frühe Kommunisten – auch Männer – dazu gebracht, die Rechte der Frauen wirklich zu unterstützen. Solche Parallelen habe ich in anderen kommunistischen Revolutionen nicht festgestellt.

Wie äußerte sich dieses feministische Element?
In der frühen kommunistischen Ära bekamen die Frauen Arbeitsplätze zugewiesen, und sie mussten auf dem Land arbeiten. Das ist ein sehr starkes feministisches Erbe und ein Erbe der Vollbeschäftigung für Frauen. Die Sowjetunion hatte diesen Weg seinerzeit sogar kritisiert. Viele der Frauen, die in der Mao-Ära gearbeitet haben, leben heute noch, daher ist dieses Element des Feminismus in den Familiengeschichten verankert. Die Frauen waren berufstätig und einige von ihnen erreichten sogar hohe Positionen in der Regierung oder wurden bedeutende Geschäftsfrauen – sie alle repräsentieren die Geschichte des kommunistischen Chinas. Für die Partei ist es nun äußerst schwierig, dieses Element zu bekämpfen, da diese Frauen Mitglieder der kommunistischen Partei sind. Sie sind überall präsent.

Trotzdem vollzieht die Partei den Schwenk hin zu einer traditionelleren Rolle der Frauen. Liegt das vor allem an der seit Jahren sinkenden Geburtenrate? Die Partei hat parallel die Ein-Kind-Politik aufgehoben; heute gilt eine Drei-Kind-Politik.
Die sinkenden Geburten- und Heiratsraten zeigen, dass junge Frauen, vor allem solche mit Hochschulabschluss, eine ehe- und geburtenfördernde Politik ablehnen. Das ist die größte Veränderung im letzten Jahrzehnt. Und der enorme demografische Wandel ist das Ergebnis einer sich ändernden Haltung der jungen Frauen.

Wie geht die Regierung damit um?
Es ist klar, dass die Regierung mit immer aufdringlicheren Methoden versuchen wird, gebildete Han-Chinesinnen zur Heirat zu bewegen und Kinder zu bekommen. Und es ist beunruhigend, sich vorzustellen, was sie sich als Nächstes ausdenken könnten. Was mir aber viel Hoffnung gibt, ist, dass China kein totalitärer Staat ist. Es kann Frauen – noch – nicht einfach dazu zwingen, zu heiraten und Kinder zu bekommen.

Wie ist es mit der Abtreibung, die derzeit ja legal ist und früher sogar gefördert wurde?
Natürlich stellt sich diese Frage. Wird die Regierung Schwangerschaftsabbrüche erschweren? Ich halte das für durchaus möglich. Xi Jinping ist ein Diktator; wenn er wollte, könnte er einfach sagen, lasst uns die Abtreibung verbieten und jungen Frauen den Zugang zu Verhütungsmitteln erschweren. Aber das wäre eine äußerst schlechte Idee, denn ich glaube, es würde nach hinten losgehen.

Was ist die Rolle der Älteren? Üben sie auch Druck auf die jungen Frauen aus? Ausgerechnet diejenigen, die zur emanzipierten Generation gehören?
Hier spielen die Macht der Kommunistischen Partei und des Staates ebenfalls eine Rolle. Nach meinen Recherchen glaube ich nicht, dass dies ein kulturelles Phänomen ist. Ich weiß, dass die ältere Generation, Eltern und andere Verwandte, die ihre jungen Töchter oder Nichten drängen, zu heiraten und Kinder zu bekommen, dies als Teil einer gemeinsamen Bemühung tun: Denn sie werden von der Regierung zunehmend dazu angehalten. Es ist eine mehrgleisige Politik. 
Die Propaganda spielt dabei eine sehr wichtige Rolle. Ein großer Teil davon richtet sich vor allem an die älteren Generationen. Man sagt ihnen, wie wichtig es sei, dass sie junge Töchter, Nichten oder Enkelinnen zur Heirat antreiben. Der gesellschaftliche Druck ist also sehr groß. Und ich denke, dass dies ein wesentlicher Weg für die KP sein wird, sich stärker in Familienangelegenheiten einzumischen. Ich habe gelesen, dass örtliche Regierungsbeamte Frischvermählte anrufen und fragen, ob die Frau schwanger ist. Ich denke, so etwas wird künftig noch mehr werden.

Was macht das mit den jungen Frauen?
Leider glaube ich, dass sich dieser Druck auf junge Frauen auswirkt, die sonst vielleicht Nein zu Ehe und Kindern sagen würden. Der Druck ist enorm, wenn er von den eigenen Eltern ausgeht; vor allem die Mütter spielen eine sehr wichtige Rolle. Es ist eine Art „moralisches Kidnapping“, wie es mir jemand vor kurzem beschrieben hat. In einem Land wie China, das so viel Wert auf „Kindliche Pietät“ legt, ist es sehr schwer, wenn die eigene Mutter einen anfleht, zu heiraten. Aber ich bin mir sicher, dass viele Millionen junger Frauen auch weiterhin „Nein“ sagen werden.

Scheidung war früher erstaunlich einfach in China.
Das war in der Vergangenheit so. Aber die Regierung macht es nun Frauen äußerst schwer, sich scheiden zu lassen. Sie führte im Jahr 2021 eine Karenzzeit für Scheidungen ein. Zudem ist es seit einigen Jahren viel schwieriger, sich scheiden zu lassen, wenn der Mann der Scheidung nicht zustimmt. Das gilt selbst dann, wenn der Ehemann nachweislich seine Frau misshandelt hat. Ledige Frauen schreckt das davon ab, überhaupt zu heiraten.

Die Sozialmedien haben eine große Rolle dabei gespielt, den Feminismus zugänglicher zu machen oder auch Fälle von Belästigung anzuprangern. Seither hat die Zensur stark zugenommen. Wie sehr leidet die feministische Online-Bewegung darunter?
Trotz eines sehr aggressiven antifeministischen Vorgehens ist es der Regierung nicht gelungen, den Feminismus auszurotten. Weil er so populär ist. Das meine ich, wenn ich sage, dass China kein totalitäres System ist. Es ist sehr autoritär, und unter Xi ist es noch viel repressiver geworden. Zudem werden feministische Bewegungen und die Rechte der Frauen im Internet viel stärker zensiert als früher. Aber solche Inhalte sind heute viel stärker verbreitet.

Was bewirkt das?
Solange das Internet nicht komplett abgeschaltet ist, wird es immer Räume für feministische Diskussionen geben. Feministischen Stimmen werden oft von frauenfeindlichen, nationalistischen Stimmen übertönt. Doch die Stimmen der Frauen sind immer noch da, sie sind einfach in der Überzahl. Bekannte feministische Benutzerkonten werden immer wieder gelöscht. Aber es gibt so viele junge Frauen, die neue Konten eröffnen. Es ist ein brutales antifeministisches Vorgehen, aber es reicht nicht aus, um die feministischen Tendenzen bei den jungen Frauen zu unterbinden.

Barbie hat es trotz der subtilen feministischen Botschaft in Chinas Kinos geschafft, der Film war sehr erfolgreich in China.
Es ist schon erstaunlich, dass Barbie der Zensur entgangen ist. Die Entscheidung, dass Barbie gezeigt werden durfte, war womöglich ein Versehen. Die Zensoren haben ihn nicht verstanden. Aber viele der Frauen, die den Film gesehen haben, haben ihn verstanden.

Leta Hong Fincher ist eine US-amerikanische Autorin und Expertin für Frauenrechte in China. Sie hat lange als Journalistin in China gearbeitet und hält einen Doktortitel der Soziologie von der Pekinger Tsinghua-Universität. Die kürzlich zum 10. Jubiläum ihres ersten Buches erschienene aktualisierte Ausgabe „Leftover Women: The Resurgence of Gender Inequality in China“ wurde von der China Books Review zu einem der besten Bücher des Jahres 2023 gekürt. Außerdem schrieb sie das Buch „Betraying Big Brother: The Feminist Awakening in China“. Derzeit ist Fincher wissenschaftliche Mitarbeiterin am Weatherhead East Asian Institute der Columbia University in New York.

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