Mentale Gesundheit

Was hinter Heulattacken steckt: Tränen lügen nicht, oder?

Wann wir weinen müssen (und wann nicht), lässt sich nicht immer vernünftig erklären. Was steckt hinter unseren Heulattacken?

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Warum tun sie oft so gut? Eine Spurensuche.

Zielgenau dann weinen, wenn es angebracht ist

Einige Gelegenheiten, bei denen jeder normale Mensch geweint hätte, ich aber nicht: die Beerdigungen von drei geliebten Großeltern, die Nachricht, dass ich ohne massive medizinische Hilfe keine Kinder bekommen kann, das Ende meiner ersten großen Liebe nach sieben Jahren, der elfte September, mein erster Kinobesuch mit sechs („Bambi“).

Einige Gelegenheiten, bei denen kein normaler Mensch flennt, ich aber schon: die Marlboro-Werbung im Kino, in der das Wildpferdfohlen in die Freiheit entlassen wird (bei „Titanic“ direkt im Anschluss übrigens keine Träne, leichteste Übung), der Anblick einer fremden alten Frau und ihres noch älteren Dackels, ein Löffel Schokoladeneis von einer kleinen Gelateria in Rom.

Mit mir stimmt doch was nicht! Wieso habe ich in den entscheidenden Momenten so weit weg vom Wasser gebaut wie ein billiges Ferienhaus? Warum kann ich nicht zielgenau dann heulen, wenn es dicke kommt, und ansonsten mit klaren Augen und unverschmierter Wimperntusche durchs Leben gehen?

Expertenmeinung

Ich hole eine Expertenmeinung ein: Dr. Kerstin Wundsam ist Psychotherapeutin, systemischer Coach und Buchautorin (www.kerstin-wundsam.de): „Jeder Mensch ist einzigartig in seiner persönlichen Tränenreaktion“, sagt sie.

Es gibt also gar keinen weltweit gültigen Standard, wann wir weinen? „Nein. Ein Beispiel sind die Bilder aus Japan nach der Tsunami-Katastrophe: Wir haben verhältnismäßig wenig weinende Japaner gesehen – trotz größter Not und obwohl sie teilweise Familienmitglieder und geliebte Menschen verloren hatten.“ Stimmt. Woran liegt das? „In welcher Situation Tränen bei einer Interaktion mitwirken, hängt ab von Kultur, Sozialisation, Alter, Geschlecht, Hormonspiegel, der individuellen Reizschwelle und der Bedeutung, die wir unseren Gefühlen zuweisen“, sagt Expertin Wundsam.

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Tränen wirken bei einer Interaktion mit

Moment, das klingt interessant: Tränen wirken „bei einer Interaktion mit“? Dann sind die Drüsenprodukte also nicht immer eine einsame Angelegenheit, sondern darüber hinaus in sozialer Mission unterwegs? „Babys entwickeln kurz nach dem Schreien das Weinen als Hilferuf, um die lebenswichtige Aufmerksamkeit und Versorgung zu bekommen“, so Kerstin Wundsam.

Und es bleibt auch später ein Kommunikationsmittel in den verschiedensten Lebenslagen, von der vollen Windel bis zum Liebeskummer. Ein Signal an die Umwelt, dass man Muttermilch/Zuwendung/Streicheleinheiten braucht. Manche Leute funken das nonverbale SOS allerdings auch dann, wenn sie es eigentlich gar nicht wollen.

Tränen verbindet man mit Schwäche

Mir fällt gerade ein Kollege ein, nennen wir ihn ... ach, nennen wir ihn lieber gar nicht, er ist gestraft genug. Nach Jahren harter Arbeit brach er mitten in einem Meeting in Tränen aus, als der Kunde sagte, seine perfekte Präsentation hätte er „wohl auf dem Rummelplatz hinterm Dixiehäuschen gefunden“. Wir haben nie wieder darüber gesprochen. Alle anderen dafür umso mehr. Drei Monate später hat er gekündigt. Tränen stehen für die Stärke, Schwäche zu zeigen? Theoretisch. In einer idealen Welt und nicht in einem Konferenzraum.

In manchen Situationen triggern die Sturzbäche eben doch keinen Tröstreflex, sondern eher Häme. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Wir sind dem Weinen nicht so hilflos ausgeliefert, wie es scheint, sagt Dr. Wundsam. „Die meisten Schauspieler können ihre Tränen kontrollieren, und ein Großteil der Männer erlernt es auch.“ Bis zum Alter von zwölf Jahren weinen Mädchen und Jungen gleich viel, später schluchzen Männer im Durchschnitt viel seltener als Frauen. Wie oft uns die Augen überlaufen, kann also auch davon abhängen, ob wir dafür in der Vergangenheit eher als Heulsuse beschimpft wurden oder Liebesbeweise, tröstende Worte und Vergebung erfuhren.

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Mitgefühl der anderen

Warum man nicht für jede Weinattacke eine mitfühlende Umarmung erntet, erschließt sich manchmal erst auf den zweiten Blick. So wie mir im Sommer 1993, auf einem Campingplatz in Spanien, mitten in der Nacht. Ich halte meine Freundin Katja im Arm, die heulend auf einer Isomatte hockt. Die Knie ihrer Karottenjeans sind schon klatschnass geschluchzt. Daneben steht Axel, ihr Freund. Axels Kopf ist hochrot, an seinem wutverzerrten Mund kleben Tabakfransen von einer in höchster Aufregung gedrehten Zigarette, er brüllt sie an. Kein gewinnender Anblick.

Jeder, der das sieht, muss denken: Wieso lässt dieser gefühllose Grobian die arme Frau nicht zufrieden? Warum nimmt er sie nicht in den Arm? Vielleicht ja deshalb, weil Katja ihm vor ein paar Tagen gestanden hat, dass sie ihn seit einem halben Jahr mit einem Soziologiestudenten betrügt. Oder weil ihr, als er diese Nachricht gerade so einigermaßen verdaut hatte, nach drei Campingtassen Rotwein in einem Nebensatz rausrutschte, dass der Sandalenhirsch nicht der einzige war.

Gefühle, die einen zum Weinen bringen

Und da sitze ich, kraule ihr den Rücken und wünsche mir, dass Axel jetzt Ruhe gibt und sagt, dass alles wieder gut ist. Aber gleichzeitig dämmert mit dem Morgen die unangenehme Erkenntnis, dass Katja schon seit Jahren immer dann, wenn sie Mist gebaut hat und dafür geradestehen soll, in rettende Tränen ausbricht. Kraulend rücke ich innerlich einen Meter von ihr ab. Ob es tatsächlich so etwas gibt wie manipulative oder – sehr schlagertexthaft ausgedrückt – gelogene Tränen, ist nicht wissenschaftlich geklärt.

Schauspieler, die auf Kommando weinen sollen, konzentrieren sich weniger auf die zu produzierende Flüssigkeit als darauf, innerlich ein Gefühl hervorzurufen, das sie zum Weinen bringt. Das könnte bedeuten, dass Katja damals nicht geweint hat, um sich Ärger zu ersparen, sondern dass sie sich angesichts der (extrem berechtigten) Kritik fürchterlich leid tat und daraufhin weinen musste. Ich werde es wohl nie erfahren, denn aus irgendwelchen Gründen sind wir seit damals nie wieder zusammen verreist.

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Tränen sind abtörnend

Je länger ich mich damit beschäftige, desto klarer wird: Tränen sind eine ähnlich komplizierte Flüssigkeit wie ein launischer Rotwein. Abtörnen sollen sie außerdem. In einer israelischen Studie hat sich gezeigt, dass Männer mit dem Geruch weiblicher Tränen in der Nase die Fotos von Frauen, die ihnen gezeigt wurden, als weniger attraktiv einstuften und ihr Testosteronspiegel auf Töpferkursniveau abfiel.

Unsexy? Egal. Ich möchte nicht auf die heilsame Wirkung eines gelegentlichen Heulanfalls verzichten. „Schon Aristoteles schrieb das Entlastungsgefühl nach dem Weinen der ‚Katharsis‘ zu und glaubte, dass diese reinigenden Effekt auf die Psyche hätte“, sagt Expertin Wundsam. Dabei ist Weinen, so die Ärztin, „medizinisch betrachtet eher das Gegenteil von Erholung: Anspannung, schnellerer Puls, erhöhter Blutdruck, Schwitzen und beschleunigte Atmung.“

Weinen garantiert nicht immer Mitgefühl

Aber die Erschöpfung danach kann sich wie die Entlastung nach einem Marathon anfühlen. Dazu passt eine andere Theorie: dass Tränen den Körper von Schadstoffen befreien. Klingt gut, konnte aber nie bewiesen werden. Warum wir dennoch das Gefühl haben, Tränen helfen? Das liegt vielleicht daran, dass sie uns meist Trost von anderen bringen, und wir schwere Situationen so besser meistern können.

Wenn die Fluten allerdings partout nicht kommen wollen, ist das auch nicht schlimm. „Nur weil die Augen trocken bleiben, bedeutet das nicht, dass man gefühlskalt ist oder eine Situation emotional nicht richtig verarbeitet“, erklärt Kerstin Wundsam. Dann ist ja doch alles in Ordnung mit mir! Ich kann weiterhin um fremde Dackel weinen und Filmliebespaaren tränenlos beim Ertrinken zusehen. Ich mache also meinen Frieden mit den Launen meiner Tränendrüse. Und investiere sicherheitshalber in wasserfeste Mascara.

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Im Kino können Männer weinen

Kaum ein Ort scheint so für Tränen gemacht wie das Kino. Wie kommt das? Wir sprachen mit Pia Strietmann, Regisseurin von „Tage, die bleiben“, über Dramen im Dunkeln, bewegte Männer und empathische Frauen.

Cosmopolitan: Welche Tricks verwenden Sie, um die Zuschauer zum Weinen zu bringen?

Pia Strietmann: Im Kern geht es um Empathie. Das Publikum muss die Filmfigur verstehen und ihre Situation und ihr Handeln nachempfinden können. Erst dann können Bilder und Musik ihre Wucht voll entfalten. Für Figuren, die uns fremd bleiben, vergießen wir keine Tränen.

Wie ist es, wenn auf der Leinwand geweint wird – setzt sich das automatisch im Zuschauerraum fort?

Es wäre toll, wenn das so einfach wäre. In Wahrheit ist es komplizierter. Weinen ist sehr individuell – weil es sehr unterschiedlich ist, was uns im Innersten gerade umtreibt und berührt. Wenn der Zuschauer weint, dann nur, weil er bei der Figur seinen emotionalen Anknüpfungspunkt gefunden hat. Wenn das nicht der Fall ist, will man meistens nicht sehen, wie Personen im Film weinen.

Erzeugen Sie beim Publikum lieber Tränen der Freude oder der Trauer?

Lachen und Weinen liegen doch so nah beieinander. Am schönsten finde ich es, wenn beides gelingt. Weinen aus Rührung ist meiner Meinung nach intensiver und schöner, wenn man kurz vorher noch lachen durfte. Und umgekehrt.

Wer ist „anfälliger“ für tränenerzeugende Szenen, Männer oder Frauen?

Generell glaube ich schon, dass Frauen noch empathischer sind als Männer. Deswegen werden Frauen stärker von solchen Szenen berührt. Andererseits ist es im Kino ja dunkel, da könnten auch Männer mal ganz befreit losweinen. Vielleicht tun sie es aber auch, und wir merken es nicht, sie tragen eben seltener Wimperntusche ...

Und was kann Ihrer Erfahrung nach auch Männer beispielsweise zu Tränen rühren?

In meinem neuen Film „Tage, die bleiben“ gibt es eine Szene, in der Christian (Götz Schubert) vor dem Haus des Liebhabers seiner verstorbenen Ehefrau steht. Eigentlich will er ihm ganz archaisch eine reinhauen, aber dann sieht er den Mann weinend zusammenbrechen. Für Christian ist das eine Konfrontation mit seiner eigenen Unfähigkeit, die Trauer über den Verlust seiner Frau zuzulassen. Es gab von Männern häufig Feedback zu dieser Szene, weil sie davon sehr aufgewühlt waren. Sie verstehen Christians Wut, aber sie können auch seinen Lerneffekt nachvollziehen. Diese Szene hat viele Männer sehr stark berührt und vielleicht auch ein paar Tränen verursacht.

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Flora Albarelli, Anastasia Laskin