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Zwangsarbeit im ToggenburgHunderte Mädchen mussten für Kunstsammler Emil Bührle arbeiten

Gruppenbild mit Elfriede Steiger, die in der Fabrik Bührles arbeiten musste, nach ihrem Schulabschluss mit 15 Jahren (1951).

Am 9. Oktober nimmt das erweiterte Kunsthaus Zürich den Betrieb auf. Für die Kunst stehen 5000 Quadratmeter zur Verfügung. Im 206 Millionen Franken teuren Anbau des Stararchitekten David Chipperfield werden auch rund 170 Werke aus der Sammlung des umstrittenen Zürcher Industriellen Emil Bührle zu sehen sein.

Der gebürtige Deutsche war Waffenfabrikant, Kunstsammler, Multimillionär – insbesondere dank Waffenverkäufen an die Nazis und die Alliierten. Anlässlich der Eröffnung des Erweiterungsbaus liessen Stadt und Kanton Zürich die Geschichte Bührles durch Historiker der Universität Zürich aufarbeiten. Letzten November, nach gut zwei Jahren Arbeit, präsentierten diese ihre über 200-seitige Studie mit dem Titel «Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus».

Eine umstrittene Person: Der Schweizer Waffenfabrikant, Kunstsammler und Multimillionär Emil Bührle, fotografiert in den 1950er-Jahren.

300 Mädchen aus der ganzen Deutschschweiz

Jetzt beleuchten Recherchen des «Beobachters» ein neues, noch unbekanntes Kapitel der Akte Bührle: In der Nachkriegszeit mussten Hunderte Mädchen gegen ihren Willen in einer Fabrik des Industriellen im Toggenburg arbeiten. Wie die Zeitschrift in ihrer aktuellen Ausgabe schreibt, besass Waffenfabrikant und Kunstsammler Bührle in Dietfurt SG ab 1941 eine Spinnerei mit Mädchenheim.

Hier wurden die Mädchen interniert: Das Marienheim in Dietfurt SG.

In diesem Heim liessen Fürsorgebehörden aus der gesamten Deutschschweiz vermeintlich schwer erziehbare Mädchen internieren und zu Hungerlöhnen arbeiten. Sie waren zwischen 16 und 20 Jahre alt und nach damaligem Recht minderjährig. Emil Bührle, der damals reichste Schweizer, maximierte dadurch seinen Gewinn.

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Die Arbeitsbedingungen bezeichnet der Historiker Thomas Huonker gegenüber dem «Beobachter» als Zwangsarbeit. Die Bührle-Spinnerei liess die Mädchen für sich arbeiten, obwohl ein Arbeitszwang zugunsten einer Privatfirma in der Schweiz damals verboten war. Bereits 1941 war das internationale Übereinkommen 29 über Zwangs- und Pflichtarbeit in der Schweiz in Kraft getreten. Es schrieb zudem vor, dass Zwangsarbeit, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens bestand, zu beseitigen sei.

50 Franken für 16 Monate Arbeit

Doch das ist im Fall der Bührle-Spinnerei nicht geschehen. Dort waren gemäss vorsichtigen Schätzungen bis 1968 mindestens 300 Zwangsarbeiterinnen untergebracht, darunter etliche Mädchen aus der Stadt Zürich. Zum Zwang gehörte, dass sie nicht kündigen konnten, ihre Fabriktätigkeit nicht aussuchen durften, die Arbeitsbedingungen zu akzeptieren hatten. Die heute 85-jährige Elfriede Steiger etwa erhielt nach 16 Monaten in Dietfurt 50 Franken – «vollkommen unverhältnismässig im Vergleich zur geleisteten Arbeit», wie Huonker sagt. Der Historiker hatte im Auftrag des Bundesrats in der Unabhängigen Expertenkommission «Administrative Versorgungen» mitgearbeitet. Steiger selbst spricht gegenüber dieser Zeitung von einer Art «Trinkgeld».

Die Ortschaft Dietfurt, aufgenommen um 1915.

Am Beispiel Elfriede Steiger lässt sich rekonstruieren, wie das System funktionierte. Sie stammt aus einer armen Familie. Gleich nach der Geburt wird sie in immer neuen Heimen fremdplatziert. Die ganze Kindheit und Jugend lang. Dann arbeitet sie als Dienstmädchen in Genf. Als sie dort kündigen will, meldet das ihre Herrin umgehend der Fürsorgebehörde nach Zürich. Diese entscheidet rasch: Das Mädchen mit dem «sehr harten Kopf», das sich «nichts sagen» lässt, kommt im März 1954, im Alter von 18 Jahren, ins Marienheim nach Dietfurt SG. «Es hat den Anschein, dass es sich wohler fühlt bei gleichmässiger Fabrikarbeit», heisst es in Steigers Fürsorgeakte der Stadt Zürich. Gegen den Entscheid rekurrieren kann die junge Frau nicht.

Mädchen an der Arbeit zerbrochen

Das Marienheim, geführt von Schwestern des Klosters Ingenbohl SZ, gehört damals der Spinnerei und Weberei Dietfurt AG, die im Besitz der Firma Bührle & Co. Oerlikon ist. Die Klosterfrauen handeln die Verträge der Mädchen mit der Fabrik aus und verwalten auch deren Entgelt. Sie sind es auch, die die Mädchen im Auftrag der Bührle-Spinnerei rund um die Uhr überwachen, damit sie nicht das Weite suchen.

«Zwei von uns waren erst 16 und hatten uneheliche Kinder, die ihnen weggenommen worden waren», erinnert sich Elfriede Steiger. Sie habe sich dem Zwangssystem untergeordnet, damit sie so rasch wie möglich wieder freikomme. Viele Mädchen seien am Heimaufenthalt und der Zwangsarbeit jedoch zerbrochen.

Ob die Bührle-Spinnerei die einzige Arbeitgeberin war, die nach dem Krieg ein Heim mit Zwangsinternierten betrieb, ist unklar. Ebenso, ob der Industrielle die Arbeitsbedingungen in Dietfurt im Detail gekannt hat.

Für das Geschäftsergebnis der gesamten Bührle-Gruppe seien die Spinnereien zwar «absolut unbedeutend» gewesen, sagt Historiker Erich Keller dem «Beobachter». Die exorbitanten Gewinne aus den Waffenlieferungen überstrahlten alles. «Die Ausbeutung der Mädchen in Dietfurt zeigt aber, wie Emil Bührle geschäftete. Er bewegte sich gewohnheitsmässig ausserhalb der moralisch-ethischen Normen.» Keller wird in den nächsten Wochen sein Buch «Das kontaminierte Museum» veröffentlichen.

Zürich prüft Abklärungen

Die Stadt Zürich schreibt auf Anfrage dieser Zeitung, sie begrüsse vertiefte Recherchen zum Thema der fürsorgerischen Zwangsversorgungen. Es sei davon auszugehen, dass «dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte noch nicht abschliessend aufgearbeitet» sei. Man werde prüfen, ob die Rolle der Stadt im nun bekannt gewordenen Sachverhalt «vertieft zu untersuchen wäre», sagt Lukas Wigger, Sprecher des Präsidialdepartements. Vom Kunsthaus werde erwartet, dass es im Erweiterungsbau transparent über die historischen Zusammenhänge rund um die Sammlung und den Sammler Bührle informiere und dabei auch neue Forschungsergebnisse aufnehme.

Der Bührle-Enkel Gratian Anda, der als Erbe im Stiftungsrat der Sammlung E. G. Bührle sitzt, nimmt zum Thema keine Stellung.

Dem Kunsthaus Zürich war die Zwangsarbeit in der Bührle-Spinnerei in Dietfurt bisher nicht bekannt, wie Sprecher Björn Quellenberg sagt. Zur Kontextualisierung der Kunstsammlung Bührles werde es im Erweiterungsbau eine Dokumentation in einem 90 Quadratmeter grossen Raum geben. Diese stütze sich hauptsächlich auf die im letzten November publizierte Studie der Universität Zürich. Das Marienheim im Toggenburg kommt darin nicht vor.

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