Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Liebevoller, unbestechlicher Blick

Nicht in jedem Fall Glück verheissend: Der Kuss, hier in einer Darstellung von Francesco Hayez. Foto: Getty

«Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei», meint Sigmund Freud, «ist in der Schöpfung nicht vorgesehen.» Peter von Matt zitiert diesen Satz am Ende seines neuen Buches, nachdem er an sieben Beispielen aus der Literatur gezeigt hat, wie die Menschen, ungeachtet der freudschen Erkenntnis, nach dem Glück suchen. Das «ewige Herumlaborieren am fehlenden oder kommenden Glück» ist geradezu ein Merkmal des Homo sapiens, des einzigen Wesens, das überhaupt weiss, dass es so etwas wie Glück gibt – oder geben muss –, und das diese Erkenntnis, so von Matt, «mit sich herumträgt wie ein Messer in der Brust».

Jedes Mal gelingt es ihm, alles herauszuholen, was in einem literarischen Text steckt, ohne sein Geheimnis zu zerstören.

Für den Zürcher Germanisten geht es ums Ganze, also um das Wesen des Menschen; und es geht ums Konkrete, nämlich um ganz bestimmte Figuren in bestimmten Werken. Und er zoomt vom einen zum anderen und zurück in einer Sprache, die selbst literarische Qualitäten hat: Formulierungen benutzt und Bilder erfindet, die sich im Kopf festsetzen wie die besten Sätze einer Novelle.

Unlösbare Rätsel

«Literatur denkt in Szenen», schreibt Peter von Matt. Solche Szenen sind beim Schriftsteller da, bevor er sie in Worte fasst. Sie sind nicht etwa aus dem Begrifflichen übersetzt, weshalb Versuche von Literaturwissenschaftlern, sie begrifflich zu fassen, so oft scheitern. Diese Szenen führen in Tiefen, die mit den Erkenntnismitteln anderer Disziplinen, etwa der Philosophie oder der Theologie, nicht zu erforschen sind, und in diesen Tiefen geht es mehrdeutig zu. Dort warten Rätsel, die man nacherzählen, zu deuten versuchen, aber nicht lösen kann.

Eine solche Szene ist die Versöhnung der Marquise von O., in Kleists gleichnamiger Novelle, mit ihrem Vater. Der hatte sie gerade verstossen, hatte sie sogar erschiessen wollen, «das Pistol» war losgegangen, aber nur in die Decke. Grund der Verstossung: die rätselhafte Schwangerschaft der Marquise, die mit keinem Mann zusammen war, also ein unerklärliches Faktum, aus dem der Vater eben nur schliessen kann, seine Tochter habe herumgehurt. Nachdem er nun aber von ihrer Unschuld überzeugt wurde, kommt es zu jener Szene, die von Matt selbst «monströs» nennt: Der Vater nimmt die Tochter auf den Schoss, «legt ihr den Mund zurecht» und gibt ihr «lange, heisse, lechzende Küsse», «gerade wie ein Verliebter». Zugleich weint er laut und haltlos, «wie ein Kind».

Peter von Matt insistiert auf dem Skandalösen dieser Kussszene, in der Erotisches und Infantiles zusammenschiessen, und zugleich auf ihrem Charakter einer echten Versöhnung. Psychoanalytisch inspirierte Deutungen, die die Szene als Inzest deuten oder gar als «zweite Vergewaltigung», verwirft er. Bei aller Freiheit der Lektüre hat der Interpret, so von Matt, keinen Freibrief, sich alles Mögliche, unter Vernachlässigung wichtiger Textsignale, herbeizufantasieren. Sonst könne man auch ein lesbisches Verhältnis von Maria Stuart und Elisabeth behaupten; «weder Maria noch Elisabeth hätten davon eine Ahnung, nur der Germanist wüsste es».

Nein: Die Szene muss als ganze angenommen werden, mit allen widersprüchlichen Aspekten, auch wenn das unseren Verstand empört. Kleists Personen handeln auf eine Weise, die wir nicht nachvollziehen können – und dennoch vollkommen folgerichtig. Zugleich zeigt von Matt anhand dieses Texts, wie fremd uns Versöhnung in der Literatur geworden ist – wegen «Kitschverdachts» – und «wie abgründig die elementaren Akte der Versöhnung tatsächlich sind und dass auch dieses Glück nicht ohne Not zu haben ist».

Ein Oberthema, kein Schema

Aus jedem Kapitel der «Sieben Küsse» gehen, im Zuge einer so subtilen wie sublimen Interpretation von Werken Gottfried Kellers, Franz Grillparzers, Anton Tschechows, Virginia Woolfs, F. Scott Fitzgeralds, Marguerite Duras'und eben Kleists, Erkenntnisse über Grundsätzliches hervor: über die Bedeutung des Unbedeutenden, die Ästhetik der Moderne, das Wesen der Literatur, die Conditio humana. Das ergibt keine Summe, eher eine Quintessenz, die ein fast 80-jähriger Literaturforscher aus lebenslanger Erfahrung im Lesen, Verstehen, Erklären gewonnen hat. Jedes Mal gelingt es ihm, alles herauszuholen, was in einem literarischen Text steckt, ohne sein Geheimnis zu zerstören.

Jeder Kuss ist einzigartig, die Verdichtung des Verlangens nach Glück, das die jeweilige Figur als ekstatischen Moment erlebt.

Wie in den Büchern «Liebesverrat», «Verkommene Söhne, missratene Töchter» oder «Die Intrige» stehen die untersuchten Texte unter einem Oberthema, werden aber nie in ein Schema gepresst. Denn die Wahrheit in der Literatur ist immer konkret und individuell. Und jeder Kuss ist einzigartig, die Verdichtung des Verlangens nach Glück, das die jeweilige Figur als ekstatischen Moment erlebt – aber eben nur als Moment, denn Glück ist kein Zustand und nicht von Dauer.

Der arme Spielmann in Grillparzers gleichnamiger Novelle erlebt dies, als er seine geliebte, aber unerreichbare Barbara durch die Glasscheibe einer Tür küsst – und von Matt führt aus, wie diese Glasscheibe den Helden von der Welt der Erfolgreichen trennt, aber auch von uns Lesern. Mrs Dalloway, in Virginia Woolfs Roman, trägt die Erinnerung an einen fast zufälligen Kuss in sich wie einen «glühenden Diamanten» – ein «Lebensjuwel», wie der Autor in gleichwertiger Benennungskunst schreibt –, was ihr ermöglicht, ihre Rolle zu spielen und in dieser Distanz sie selbst zu sein. Daher die «magische Präsenz», die alle anderen Gestalten in diesem Roman so beeindruckt. Der blutige Kuss, den ein Mann seiner Geliebten gibt, die er eben erschossen hat, führt der Heldin in Marguerite Duras' «Moderato cantabile» vor, was ihrem Leben fehlt: eine Leidenschaft von solcher Intensität, in der Liebe und Tod, Glück und Unglück zusammenschiessen.

Die besondere Sympathie des Autors gilt Anton Tschechow, dessen leidenschaftliche Zuwendung jedem einzelnen Individuum galt, vor allem den unscheinbaren. So einer, der Hauptmann Rjabovic, erhält in einem dunklen Zimmer einen Kuss, der gar nicht für ihn bestimmt war, aber aus dem er einen Sommer lang ein eigenartiges Glücksgefühl zieht. Tschechow ist ein Menschenfreund wie sein Interpret, und denselben liebevollen, aber unbestechlichen Blick wie der Schriftsteller auf seine ­Figuren wirft Peter von Matt auf die Literatur, auf vieldeutige, unausdeutbare, unvergessliche Szenen, Passagen und Sätze.