Ein Linienrichter zeigt eine Abseitsposition an.

Foto: IMAGO/Michael Weber IMAGEPOWER

Ein emotionaler, in der Nachspielzeit fixierter 1:0-Sieg gegen den Rivalen Rapid. Sturm-Trainer Christian Ilzer hatte allen Grund zur Freude – war aber sichtlich aufgebracht. "Wir kriegen ein Tor aberkannt, das absolut regulär war", sagte er nach dem Frühjahrsauftakt bei Sky. "Da wird es noch spannend in dieser Saison, wenn das so weitergeht."

Was war passiert? Tomi Horvat schlenzte den Ball von der Strafraumgrenze ins linke Eck. Emanuel Emegha stand zeitgleich im Strafraum im Abseits. So weit sind sich alle einig. Die Frage ist: Hat er Rapid-Goalie Niklas Hedl die Sicht auf den Ball versperrt? Dann wäre das Abseits strafbar. Oder geht Emeghas Verhalten als passives und damit nicht strafbares Abseits durch? Schiedsrichter Walter Altmann sah sich die Szene nach Hinweis des Video Assistant Referee an und erkannte das Tor ab. Ilzer reagierte erbost und sah Gelb.

Es ist der dritte große Vorfall im neuen Jahr, in dem das passive Abseits für Aufsehen sorgte. Bereits im Manchester-Derby und in der Cup-Partie LASK – Klagenfurt sorgte die Regel für verwirrte Gesichter. Dieser Artikel soll erklären, wie es dazu kam, welche schwierigen Abwägungsfragen das Regelwerk in Abseitsfragen mit sich bringt und warum es auch schwer wird, dies künftig zu ändern.

Sicht versperren

Fangen wir von vorne an: Die Abseitsstellung eines Spielers – also wenn er sich mit irgendeinem Teil des Kopfs, des Rumpfs oder der Beine in der gegnerischen Hälfte (ohne die Mittellinie) befindet und er der gegnerischen Torlinie näher ist als der Ball und der vorletzte Gegenspieler – stellt noch per se kein Vergehen dar. Sie ist laut Artikel elf des Fußballregelbuchs des International Football Association Board (siehe unten) erst dann strafbar, wenn dieser Spieler "aktiv am Spiel teilnimmt". Daraus kann man im Umkehrschluss ableiten, dass passives Abseits nicht bestraft wird. Dieser Begriff steht nicht explizit im Regelbuch, hat sich aber umgangssprachlich durchgesetzt. Der Fachterminus dafür lautet grundsätzliches Abseits.

Um aktiv zu sein, gibt es zwei Varianten. Der Klassiker: Der Spieler berührt den Ball und schießt womöglich ein Tor – es wird nicht zählen. Die andere Variante: Er berührt nicht den Ball, aber beeinflusst einen Gegner. Das ist etwa möglich, indem er

Der Passus trifft in erster Linie die Torhüter. Der Wortlaut macht deutlich: Die Regel hat einen gewissen Interpretationsspielraum. Während man mithilfe der im TV eingeblendeten berühmt-berüchtigten zwei Linien mittlerweile eindeutig feststellen kann, ob ein Angreifer dem Tor näher war als ein Verteidiger, ist die Frage, ob jemand einen Gegner beeinflusst, eine rein subjektive.

Das bewiesen auch Ilzer und Altmann, die sich nach dem Spiel einen kleinen Schlagabtausch vor dem Mikrofon lieferten. Der Schiedsrichter argumentierte: "Emegha macht eine Bewegung durch das Sichtfeld des Torhüters. Er muss fast ausweichen, um den Schuss nicht zu blocken." Daher: kein Tor. Ilzer hielt dagegen: "Ich habe das auch aus der Hintertorkamera gesehen. Emegha läuft durchs Sichtfeld, ist aber niemals im Schussfeld drinnen. Der Schuss geht zwei Meter an Emegha vorbei, und Niklas Hedl hätte den nie und nimma halten können – egal ob ein Emegha durchs Bild springt oder nicht."

Hedl selbst sprach von einer Sichtbehinderung, konnte aber auf die Schnelle nicht sagen, ob Emegha oder Mitspieler dafür verantwortlich waren. Nach Ansicht des Standbilds sagte er: "Wenn ich das so sehe, ist das eine Abseitsstellung für mich."

[Hier geht's zum Video: Aberkanntes Sturm-Tor gegen Rapid] (Szene ab Minute 1:24)

Für Thomas Steiner hat Altmann richtig entschieden. Der 59-Jährige ist Mitglied des Schiedsrichterkomitees der Bundesliga-Elite im Österreichischen Fußball-Bund (ÖFB). Er ist zuständig dafür, die Spiele der ersten und zweiten Bundesliga sowie im ÖFB-Cup mit Schiedsrichtern zu besetzen. "Emegha steht in Abseitsposition und rennt durch Hedls Sichtlinie. Daher zählt der Treffer zu Recht nicht."

Gegenargument eins: Hedl hätte, so Ilzer, den Ball auch ohne Emegha nicht gehabt. Der Schuss war zu gut platziert. "Völlig unerheblich", sagt Steiner. Es gehe darum, dass Emegha Hedls Chancen, den Ball zu halten, verschlechtert habe. Daher könne man nicht mehr von grundsätzlichem (passivem) Abseits sprechen.

Gegenargument zwei: Im Moment der Schussabgabe steht Emegha im Abseits, aber nicht in Hedls Sichtlinie. Diese quert er erst danach. Steiner stellt zunächst klar: Weder das Schussfeld noch das Sichtfeld seien entscheidend, es gehe laut Regelwerk um die Sichtlinie. "Die ist dort, wo ich den Blick hinfokussiere. Im Normalfall auf den Ballführenden", sagt der ORF-Schiedsrichterexperte. "Als Horvat schoss, stand Emegha im Abseits. Ob er dann eine Zehntelsekunde früher oder später die Sicht behindert, ist egal. Er ist durch die Sichtlinie gerannt."

Gegner beeinflussen

Ein Abseitsspieler kann auch einen Gegner beeinflussen, indem er

Und hier wären wir beim Spiel LASK gegen Klagenfurt. Ein LASK-Akteur will den Ball in die Tiefe spielen. Ein Kärntner will blocken, fälscht den Ball in den Strafraum ab. In diesem Moment steht Marin Ljubičić im Abseits. Der Kroate rennt dem Ball nach. Er berührt den Ball nicht. Teamkollege Thomas Goiginger kommt von hinten und flankt zur Mitte. In der Folge entsteht ein Tor, das letztlich gegeben wird. Korrekte Entscheidung?

Ljubičić steht im Abseits. Aber ist es strafbar?
Foto: Screenshot/ORF

Schlüsselfrage eins: Ist es erheblich, dass der Ball in die Tiefe zuletzt vom Klagenfurter berührt wird? Kommt drauf an, wie die Juristen sagen. Im Regelbuch heißt es: "Ein Spieler verschafft sich keinen Vorteil aus seiner Abseitsstellung, wenn er den Ball von einem gegnerischen Spieler erhält, der den Ball absichtlich spielt." Was heißt absichtlich?

Früher war darunter der reine Wortlaut zu verstehen, also ob jemand einfach den Ball berühren will. Das führte dazu, dass das Siegtor im Nations-League-Finale 2021 korrekt war. Der Spanier Eric García wollte einen französischen Steilpass verhindern und grätschte zum Ball. Er erwischte diesen zwar, konnte aber dessen Richtung nicht mehr entscheidend ändern. Der Ballkontakt war absichtlich, deshalb durfte Kylian Mbappé dahinter trotz Abseitsstellung treffen.

Frankreich – Spanien. Szene ab Minute 4:14.
Fédération Française de Football

Das sorgte für Diskussionen, also änderten die Regelhüter die Auslegungsweise. "Absichtlich heißt nunmehr, dass man den Ball kontrolliert spielen kann", erläutert Steiner. Kriterien hierfür sind etwa, wie nah Abseitsspieler und Verteidiger beieinanderstehen oder wie viel Zeit der Verteidiger hat, um sich zu orientieren. Wenn man so wie García eine verzweifelte Grätsche improvisiert, hat man keine Kontrolle. Ebenso wenig, wenn man wie der Klagenfurter aus kürzester Distanz angeschossen wird.

Schlüsselfrage zwei: Bleibt Ljubičić danach grundsätzlich (passiv und nicht strafbar) im Abseits oder greift er aktiv ins Spiel ein (strafbar)? Für Steiner ganz klar grundsätzlich. "Er hat keinen Gegenspieler irritiert oder daran gehindert, den Ball zu spielen."

Gegenargument eins: Ljubičić kann nicht passiv sein, er rennt ja zum Ball! "Das ist unerheblich", sagt Steiner. "Entscheidend ist, ob er damit einen Gegner beeinflusst. Thorsten Mahrer hat aber keine Anstalten gemacht, mit Ljubičić oder Goiginger in den Zweikampf zu wollen."

Beeinflusst Ljubičić seine Gegner? Im Bild rennt er zum Ball. Hinter ihm eilt bereits Teamkollege Goiginger heran.
Foto: Screenshot/ORF

Gegenargument zwei: Ljubičić holt einmal sogar zur Flanke aus, und Mahrer zuckt daraufhin kurz. Ebenfalls unerheblich für Steiner. "Mahrers Position hat sich dadurch nicht geändert." Es wäre anders gewesen, wenn der Verteidiger zu seinem Kontrahenten hingelaufen und auf Ljubičićs Flankenandeutung hin stehen geblieben wäre.

Steiner fokussiert sich mit Mahrer auf jenen Spieler, der hätte beeinflusst werden können. Das helfe, um ein Gespür zu bekommen. "Viele Spieler reagieren instinktiv richtig", sagt er. "Wissen Sie, wie oft ich früher als Schiedsrichter nicht gewusst habe, ob Eckball oder Abstoß zu geben ist? Dann habe ich auf die Spieler geschaut. Die gehen in ihre Positionen zurück, ohne darüber nachzudenken. Wenn der Verteidiger nicht aus dem Strafraum geht, sondern drinnen bleibt, weiß ich, dass Eckball zu geben ist. Umgekehrt: Wenn ich Corner geben will, aber alle Spieler aus dem Strafraum gehen, gebe ich Abstoß, da werde ich mich nicht einmischen. So ist es auch bei der LASK-Szene."

Der beteiligte Schiedsrichter Christian-Petru Ciochirca äußerte sich nach dem Spiel ebenfalls. "Grundsätzlich ist es einfach so, dass das Hinlaufen ja keine Beeinflussung des Gegners ist", erklärte er dem "Kicker". Ljubičić habe "keinen Gegenspieler am Laufweg gehindert oder Ähnliches. Er läuft Richtung Ball, und sein Mitspieler kriegt dann den Ball. Mahrer wird nicht daran gehindert, dass er zum Ball kommt, sondern er entscheidet sich dagegen, zum Ball zu laufen."

Die Rashford-Kontroverse

Dass ein Abseitsspieler, der zum Ball rennt, nicht automatisch auch aktiv ins Spiel eingreift, hat zuletzt Marcus Rashford ausgereizt. Ein United-Kollege hatte den Ball im Manchester-Derby in die Spitze gespielt. Rashford stand im Abseits. Er wird, so viel vorweg, den Ball nie berühren. Aber beeinflusst er seine(n) Gegner trotzdem? Er rennt dem Ball immerhin circa 15 Meter bis zur Strafraumgrenze nach. Dort schießt dann der mitgeeilte Bruno Fernandes ins Tor. Der Treffer wird anerkannt. Zu Recht?

[Hier geht's zum Video: Manchester-United-Tor gegen City] (Szene ab Minute 1:39)

Das mehrheitliche Bauchgefühl in sozialen Medien war: Nein. Diesmal sieht auch Steiner "eher ein strafbares Abseits. Die beiden involvierten City-Verteidiger Kyle Walker und Manuel Akanji gehen nicht in den Zweikampf, weil sie Rashford irritiert", sagt er. Das sei der Unterschied zur LASK-Szene. "Sie drehen kurz vorher fast ab, weil er im Weg steht."

Auch die Schiedsrichterexperten "Collinas Erben" sehen das so. "Rashford dribbelt gewissermaßen mit dem Ball, ohne ihn zu berühren, wird also eindeutig aktiv, deutet sogar einmal kurz ein Ausholen an. Aus meiner Sicht eine Beeinflussung der Verteidiger in deren Möglichkeit, den Ball zu spielen, und damit strafbares Abseits", schrieben sie auf Twitter. "Auch der Torwart konnte sich nicht sicher sein, wer denn nun schießen würde, die Verteidiger ebenso."

Kein Zweikampf

Käse gegessen? Nicht ganz. Stichwort: Interpretationsspielraum. Man kann durchaus Argumente finden, die für einen regelkonformen United-Treffer sprechen. ESPN-Regelexperte Dale Johnson sagt zwar, dass Abseits die bessere Entscheidung gewesen wäre. Aber als Schiri Stuart Attwell den Treffer gab, habe der VAR nicht eingreifen können, weil es keine klare Fehlentscheidung gewesen sei. Johnson dekliniert das Regelbuch durch. "Nur weil man zum Ball rennt, heißt das nicht, dass man aktiv ist. Man muss einen Gegner beeinflussen", sagt er. Rashford mache das nicht, weil die City-Verteidiger zu weit weg stehen und so nie in einen Zweikampf mit ihm kommen. Rashford holt zum Schuss aus? Genauso gut könne man sagen, er bremse seinen Lauf ein.

Ist Rashford eindeutig aktiv geworden und hat so die Möglichkeit des Gegners, den Ball zu spielen, eindeutig beeinflusst? Johnson denkt zwar, dass sich City-Goalie Ederson möglicherweise anders verhalten hätte, wenn Rashford nicht da gewesen wäre. Aber in der Theorie sei es für Ederson trotzdem leicht möglich gewesen, den Ball zu spielen.

In einem anderen Beispiel, bei Bryan Mbeumos Tor gegen Newcastle, wäre das nicht der Fall gewesen. Hier zieht Abseitsspieler Ivan Toney seinen Fuß im letzten Moment zurück, um den Ball auf Mbeumo durchzulassen. Sein unmittelbar hinter ihm stehender Gegenspieler ist dadurch irritiert – also in der Möglichkeit, den Ball zu spielen, sichtbar beeinflusst. Das Tor wurde zu Recht aberkannt.

Newcastle – Brentford. Szene ab Minute 0:38.
Brentford Football Club

Howard Webb, Chef der Vereinigung Professional Game Match Officials Limited (PGMOL), die für die englischen Referees zuständig ist, fasste Rashfords Tor im Manchester-Derby bei Sky wie folgt zusammen: "Man kann nicht sagen, dass Attwells Entscheidung falsch war, weil die Regeln einen Interpretationsspielraum zulassen. Aber die Mehrheit der Fußballfans hätte erwartet, dass es Abseits ist. Und es kann sein, dass bei der nächsten derartigen Szene auch auf Abseits entschieden wird." Für CBS-Regelexpertin Christina Unkel habe Rashford seine Gegner indes körperlich nicht beeinflusst.

Für CBS-Expertin Christina Unkel war Rashfords Tor korrekt.

Interpretationsspielraum

Das Regelbuch lässt also einen gewissen Interpretationsspielraum zu. Und ebendieser sorgt regelmäßig für Diskussionsstoff. So auch bei Sturm-Coach Ilzer. "Man muss das wieder vereinfachen, denn natürlich ist es auch für die Schiedsrichter schwierig. Aber es gibt keine Einigkeit. In spielentscheidenden Situationen muss man jedoch einfach das Einhorn sehen. Da geht es nicht, dass der eine so sagt und der andere so", wird er von Laola 1 zitiert.

Selbst Schiedsrichter Altmann sagte: "Bei der LASK-Situation bin ich, wenn ich ehrlich bin, nicht ganz glücklich, wie man das immer auslegt. Aber die Regeltechnik gibt das so vor, und ich bin der, der die Regeltechnik umsetzen muss."

Für Steiner ist ein Interpretationsspielraum nicht problematisch. Weil die Frage ist: Was wäre die Alternative? Die radikale Variante wäre, "dass jede Abseitsposition automatisch strafbar ist. Aber die Regelhüter und Fans wollen ja mehr Strafraumszenen sehen."

Variante zwei: Das Ifab könnte vorgeben: Wenn ein Stürmer wie bei LASK und Manchester United eindeutig zum Ball läuft, gilt das automatisch als Beeinflussung und als strafbares Abseits. Für Steiner hätte dies aber auch seine Tücken. "Was heißt eindeutig? Ein Schritt oder fünf Schritte?", fragt er. "Und wenn dann der Abseitsspieler seinen Gegenspieler aber eigentlich gar nicht beeinflusst, regen sich dann erst recht alle auf: 'Warum wachelt der Linienrichter da Abseits? Ist der deppert?'" Es würde dann eben andere Diskussionen auslösen, dafür würden weniger Tore fallen. Man werde es nie jedem recht machen können. "Wäre das Sturm-Tor anerkannt worden, hätte sich Rapid beschwert: 'Hallo, der steht im Abseits und rennt durch!'", sagt Steiner.

"Es wird immer Graubereiche geben. Und die liegen halt im Auge des Betrachters, werden unterschiedlich wahrgenommen", sagt der 59-Jährige. "Schiedsrichter sind auch nur Menschen. Und das ist gut so." Er wünscht sich mehr Respekt für die Frauen und Männer mit der Pfeife. "99,8 Prozent der Leute, die in Foren reinschreiben, wie unfähig alle Schiris sind, könnten kein U12-Spiel leiten." (Andreas Gstaltmeyr, 18.2.2023)

Weiterlesen

Sturm schlägt Rapid in der Nachspielzeit

LASK nach Sieg gegen Klagenfurt im Cup-Semifinale

United setzt sich im Manchester-Derby 2:1 durch – Liverpool verliert