Beatles
The Beatles im Jahr 1969.
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Weihnachten steht vor der Tür – und zwei Beatles können sich nicht mehr wehren. John Lennon und George Harrison sind tot; ebenso George Martin, der große Arrangeur. Der machte die Band mit ihren unsterblichen Songs und Melodien dank genialer Arrangements und struktureller Eingriffe speziell auch im Tempobereich erst wirklich groß.

Im Rahmen einer großangelegten Wiederveröffentlichung der legendären Songsammlungen "Rotes Album" (1962–66) und "Blaues Album" (1967–70) wurde also ein dringender Anlass gesucht, wie man das dem Christkind oder dem Weihnachtsmann, der Mama und dem Papa – oder auch dem Firmgöd – am besten verkaufen könnte. Die jetzt am 10. November auf den Markt gelangenden Doppelalben von 1973, als damals legendäre Eintrittskarten in die Welt der einflussreichsten Band aller Zeiten wurden aktuell zwar mit insgesamt 21 zusätzlichen Hits zu Dreifachalben aufgebläht. Allerdings haben sich die vier lustigen Pilzköpfe aus Liverpool bekanntlich 1970 aufgelöst und seither nichts Neues mehr produziert.

Halt, das stimmt natürlich nicht. Rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft 1995 und jenem von 1996 erschienen anlässlich der historisch-kritischen Werkschauen "Anthology 1 & 2" die nachbehandelten Lieder "Free As a Bird" und "Real Love". Sie stammen aus dem Papierkübel John Lennons Ende der 1970er-Jahre, als dieser laut George Harrison seine sieben Songwriter-Zwetschken nicht mehr ganz beieinander hatte. Lennon versuchte, die letzten Reste Esprit für sein schließlich finales Album "Double Fantasy" zusammenzukratzen.

The Beatles

Der unerwartete Fund der mit Klavier eingespielten Songskizzen wurde 1994 jedenfalls von Lennon-Witwe Yoko Ono an Paul McCartney weitergereicht. Der im Wesentlichen immer talentiertere Songschreiber des Duos Lennon/McCartney erkennt natürlich einen Heiligen Gral, wenn er ihn sieht. Vor allem, wenn er dank bombensicher kalkulierbarer Tantiemen von einem Heiligen Geldschein umkränzt wird – und das Goderl des Ego bezüglich des Genialischen auch noch im hohen Alter gekrault wird. Sorry to say, es gibt etliche und auch genug glühende Fans der Beatles, die diese Geschäftemacherei mit Resteverwertung eher abstößt. Ein Grenadiermarsch schmeckt schließlich mit frischen Zutaten auch besser als mit vertrockneten Wurstzipfeln.

Raketenwissenschafter

Gemeinsam mit einem Team von Raketenwissenschaftern, das eigens zum besseren Putzen und Bearbeiten der staubigen und bröseligen sowie knisternden und rauschenden Tonbänder mittels Schrumpf-Beamen auf ein Zehntel ihrer ursprünglichen Körpergröße eingedingst wurde, gelang Paul McCartney damals Mitte der 1990er-Jahre schließlich das Unmögliche. Mit modernster Technik wie einem Metronom, Tonhöhengeneratoren, sehr viel Geld, einem Streichorchester und raumfüllenden Computern sowie der Hilfe von Produzent Jeff Lynne vom Electric Light Orchestra entstanden in diversen geheimen Geheimlabors mit "Free As a Bird" und "Real Love" zwei zu imposanter barocker Größe aufgeblasene Meisterwerke der heiter-melancholischen Ambitionslosigkeit und Laschheit. Die Marketingabteilung der Plattenfirma der Beatles ging vor Freude durch die Decke.

TheBeatlesVEVO

Aus diesem alten Paket von 1994 stammt jetzt auch der etwas doppeldeutig als "allerletzter Song der Beatles" angekündigte und am Donnerstag, 2.11.2023, um 15 Uhr mitteleuropäischer Zeit mit großem Getöse in die Welt gebrachte Titel "Now and Then". Der war in der ursprünglichen Demoaufnahme Lennons mit Dampfturbinentechnik vor 30 Jahren offenbar nicht zu retten. Der 2001 verstorbene George Harrison spielte zwar damals noch Gitarrenspuren dafür ein, möglicherweise aber vertraute man dem Hitpotenzial des Lieds nicht ganz.

Wie man jetzt unter Begleitung einer zwölfminütigen Dokumentation namens "Now and Then – The Last Beatles Song" auf Youtube mitverfolgen kann, ist es für ein Genie wie Paul McCartney nicht gut, wenn man zu oft Genie zu ihm sagt. Es ist zu befürchten, dass er daran glaubt. Ringo Starr hält sich auf der neuen Aufnahme zurück und trommelt. Die Hauptarbeit bezüglich Tonbandputzen und Musikschreiben erledigt ein Programm der künstlichen Intelligenz. Die gewohnt seligmachenden Beatles-Chorgesangsharmonien wurden von der KI und einem von Regisseur Peter Jackson, der 2021 die Beatles-Doku "Get Back" produzierte, mitentwickelten Programm aus alten Originalaufnahmen wie "Eleanor Rigby" oder "Because" und "Here, There and Everywhere" gezogen.

Technik ohne Magie

Das alte wackelige Demotape Lennons kann man längst im Internet hören. Die Neuaufnahme der melancholischen, bittersüßen und zart depressiven Liebesballade klingt ähnlich wie "Free As a Bird" nun ein wenig spukig und hohl wie aus einem Geisterhaus heraus mit Tonnen an Studiotechnik aufgeblasen: "I know it's true, it's all because of you / And if I make it through, it's all because of you / And now and then, if we must start again / Well we were not sure, that I love you." Alles, was die Beatles einst ausmachte, ist da. Es fehlt aber etwas. Die Technik kann die alte Magie nicht ersetzen. Schon gar nicht in einem schwachen, monotonen und über Gebühr produzierten Lied. Hat sich der Aufwand also gelohnt? Nein, leider nicht.

Hoffentlich nehmen sich das die vor 30 Jahren auf ein Zehntel ihrer Größe eingeschrumpften Raketenwisschenschafter nicht zu sehr zu Herzen. (Christian Schachinger, 2.11.2023)