Entlassungen in der Türkei

Klageweg für kaltgestellte Akademiker versperrt

Sicherheitskräfte der Polizei gehen am 10.2.2017 vor der Universität in der türkischen Hauptstadt Ankara bei einem Einsatz gegen Demonstranten vor, die gegen die Entlassung von 330 Akademikern protestieren.
Sicherheitskräfte vor der Universität in Ankara gehen im Februar 2017 gegen Demonstranten vor, die gegen die Entlassung von 330 Akademikern protestieren. © imago / Depo Photos
Von Christian Buttkereit · 08.03.2017
Seit dem gescheiterten Militärputsch wurden in der Türkei mehr als 100.000 Staatsbedienstete entlassen oder suspendiert. Darunter knapp 5.000 Dozenten und Professoren von Universitäten, die sich kaum trauen zu klagen, weil alles bei einer fünfköpfigen Kommission landet.
"Die Univeristäten gehören uns", skandieren Studenten und Akademiker vor der Istanbuler Marmara-Universität. Dann kam die Polizei und bereitete den Solidaritätskundgebungen für entlassene Professoren ein Ende. Ähnliche Szenen waren auch vor anderen Universitäten in Istanbul, Ankara und anderen Städten zu beobachten. Dass die Professoren und Dozenten gerade jetzt, wenige Wochen vor dem Referendum suspendiert würden, sei kein Zufall, sagt Several Ballıkaya von der Istanbuler Anwaltskammer:
"Es herrscht viel Druck auf alle die im Vorfeld der Volksabstimmung für ein Nein werben bzw. das Potential haben, unentschlossene Waehler von einem Nein zu überzeugen. Aber damit nicht genug: Wenn nach dem Referendum ein neues, auf der Gesinnung der Ja-Wähler basierendes Regime aufgebaut werden soll, dann ist darin für oppositionelle, kritische Geister kein Platz. Mit den massenhaften Entlassungen will man uns dies klar machen."
Seit dem Putschversuch Mitte Juli entließen die türkischen Universitäten 4.811 Professoren und Dozenten Nur wenige wurden seitdem wieder eingestellt. Zusätzlich wurden 2800 Zeitverträge nicht verlängert oder vorzeitig gekündigt. In den Hochschulverwaltungen wurden gut 1100 Mitarbeiter vor die Tür gesetzt. Sie alle sollen mit den Putschisten zumindest sympatisiert haben. Auch der angesehene Verfassungsrechtler Professor Ibrahim Kaboglu verlor seinen Lehrstuhl an der Istanbuler Marmara Universität:
"99 Prozent der türkischen Bevölkerung haben sich dem Putschversuch widersetzt. Wir auch - mit aller Kraft. Aber, wie man jetzt sieht, begegnen jene, die sich dem Putschversuch vom 15. Juli widersetzt haben, nun Repressalien."

Der Rechtsweg gegen die Entlassungen ist versperrt

Gut 300 der entlassenen Akademiker hatten 2016 einen Aufruf zum Frieden zwischen dem türkischen Staat und den Kurden unterzeichnet. In den Augen der Regierung ist das heute Terrorpropaganda. Jura-Dozent Mehmet Cemil Ozansü hat sich nicht einmal das zu Schulden kommen lassen. Trotzdem wurde er entlassen und sein Pass beschlagnahmt. Was ihm vorgeworfen wird, erfuhr er nicht etwa persönlich sondern durch eine amtliche Bekanntmachung:
"Im Amtsblatt wird als Grund für die Entlassung 'Mitgliedschaft in Terrororganisationen' sowie 'Nähe und Kontakt zu Terrororganisationen' aufgeführt."
Ozansü spricht von Willkür. Ebenso wie Professor Kaboglu würder er gerne gegen seine Entlassung klagen. Doch der Rechtsweg ist versperrt. Und zwar durch eine eigens für diesen Zweck gegründetete Kommisson, sagt Several Ballikkaya von der Anwaltskammer Istanbul.
"Eine fünfköpfige Kommission, die alle Einwände Türkei-weit behandeln soll, und zwar von der Entlassung eines Professors bis hin zur Schliessung eines Vereins. Eine Prüfung durch das Verfassungsgericht gibt es nicht - automatisch besteht deshalb auch nicht die Möglichkeit eines Prüfverfahrens durch den Europaeischen Gerichtshof für Menschenrechte. Denn dorthin darf sich ein Kläger erst wenden wenn der Rechtssweg im Heimaltland ausgeschöpft ist. Das dürfte aber unter anderem vom Arbeitstempo der Kommission abhängen, befürchtet Anwältin Ballikaya. Wenn die Kommission jetzt sofort ihren Dienst aufnehmen würde, hätte ein Betroffener vielleicht zehn Jahre später die Möglichkeit seine Ansprüche durch zu setzen. Allerdings beim Europaeischen Gerichtshof dann - wenn überhaupt."

Welchen Sinn hat die neue fünfköpfige Kommission?

Viele Fragen seien offen - etwa nach welchen Kriterien die Kommission entscheidet. Wie lange wird sie pro Fall benötigen? Sind ihre Mitglieder kompetent genug? Fünf Richter für tausende Einwände. Jura-Dozent Mehmet Cemil Ozansü befürchtet, die Kommission habe neben der Aufgabe, Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verhindern auch noch einen anderen Sinn:
"Aber sie ist meiner Meinung nach verfassungswidrig. Sie ist keine Einspruchs-Kommission, sondern eine Huldigungs-Kommission. Kollegen die der Regierung Treue schwören, sollen quasi amnestiert werden. Mit Rechtssprechung hat das nichts zu tun."
Für den europäischen Gerichtshof ist die Kommission ein zweischneidiges Schwert. Zum einen dürfte sie den Rechtsansprüchen des höchsten europäischen Gerichts kaum genügen. Zum anderen sähe sich der Gerichtshof ohne die vorgeschaltete Kommission einer kaum zu bewältigenden Flut von Verfahren ausgesetzt.
Für die Betroffenen bedeutet die Suspendierung in der Regel nicht nur das Ende der beruflichen Laufbahn. Auch wirtschaftlich ist es häufig das Aus. Das Einkommen fällt quasi über Nacht weg. Und damit auch die Lebensgrundlage. Viele Entlassene Akademiker sind auf die Unterstützung ihrer Familien angewiesen. Doch auch für die Universitäten sind die Entlassungen ein herber Schlag, sagt Sevilay Celenk. Die 50-Jährige hat ihren Lehrauftrag für Literaturwissenschaften an der Ankara Universität verloren:
"Die Wissenschaft wurde ihrer Zukunft beraubt. Es sind mehrere Generationen von Akademikern gleichzeitig entlassen worden. Ich gehöre zur mittleren Generation. Ich hätte noch zehn bis 15 Jahre gearbeitet. Aber es wurden auch wirklich wunderbare junge Assistenten entlassen, die einen herausragenden Job gemacht haben. Sie werden der Universitaet 20 bis 25 Jahre lang fehlen."
So berichten Studenten, dass seit dem Putsch von Forschung und Lehre kaum noch die Rede sein könne. Es würden zwar Prüfungen abgenommen aber eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Lehrstoff sei kaum noch möglich – und vielleicht auch gar nicht erwünscht.
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