Zeitnot & Zeitwohlstand – Der Zeitmangel als Lebensgefühl

Zeitnot & Zeitwohlstand – Der Zeitmangel als Lebensgefühl

Der Druck unserer Zeit

Wir haben mehr Zeit denn je und leben doch in einem gefühlten Zeitmangel.

Was sind die Hintergründe?

Zeitnot – individuelles Gefühl oder soziales Phänomen?

Das 21. Jahrhundert scheint voller Paradoxien & Gegensätze zu stecken. Zu denen, die neuerdings diskutiert werden, zählen Zeitnot & Zeitwohlstand.

Die Zeit ist für uns nicht wirklich fassbar, verursacht aber trotzdem vielfältige Probleme. Zeit bemerken wir eigentlich nur dann, wenn wir in Zeitnot stecken oder sie bewusst genießen.

Wobei Zeitmangel das neue Lebensgefühl zu sein scheint: egal ob Schüler*in, Verkäufer*in oder Professor*in – überall scheint Zeitdruck und Beschleunigung zu herrschen. Viele Menschen beschreiben sich (auch längst vor Corona) als gehetzt, ausgebrannt und belastet.

Zeitmangel als Lebensgefühl

Karin Jurczyk, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, spricht von Zeit sogar als „zweite Wohlstandsdimension“:

„Zeitnot zählt zu den größten Problemen der Gegenwart, oft noch vor materieller Not – das belegen Studien.“ (1)

Sie ist nicht die erste und bestimmt nicht die letzte Stimme aus der Wissenschaft, die im sozialen Zeitzwang eine Folge der technischen und digitalen Dynamisierung sieht.

 

Zeitarmut – die gehetzte Gesellschaft

Aber was hat Zeit mit Armut oder Gerechtigkeit zu tun? In einer modernen Gesellschaft, die von Schnelllebigkeit geprägt ist, spielt die Verteilung von Zeit eine wichtig Rolle bei der Lebenszufriedenheit & Lebensqualität.

Übrigens genauso wie der sozioökonomische Status: vgl. gesundheitliche Ungleichheit – Armut & Depression

Das zeigt eine relativ frische Untersuchung aus Ecuador, die Quellen des menschlichen Glücks untersuchte. Die Forscher konnten 4 eigenständige Ebenen ausmachen, die für Lebensqualität und Gesundheit wichtig sind:

  • Zeit für selbstbestimmte Arbeit,

  • Zeit für Muße und Bildung,

  • Zeit für soziale Beziehungen

  • Zeit für Teilhabe am öffentlichen Leben.

Bei allen Ebenen ist frei verfügbare, selbstbestimmte Zeit das tragende Element.

 

Nicht jeder in Deutschland hat gleich viel Zeit

Im Gegenteil, sie ist sogar sehr ungleich und ungerecht aufgeteilt – sowohl zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten als auch zwischen den Geschlechtern. Nehmen wir zum Beispiel die Familienarbeit, die zum Großteil immer noch von Frauen übernommen wird.

„Noch nie litten so viele Menschen unter Stress, Leistungsdruck und Zeitarmut wie heute. Die rapide steigenden Zahlen von Depressionen, Burnout und Stress zeigen, wie sehr die subjektiv wahrgenommene Lebensqualität abgenommen hat.“ (Robert Schütte, Politikwissenschaftler).

Zeitarmut ist nach einhelliger Expertenmeinung eine Ursache dafür, dass die Gesundheit und die Lebensqualität in unserer Gesellschaft schwindet. Dabei wäre mehr Zeit eine langfristige Waffe gegen Dauerstress, Krankheitsentwicklung & Unzufriedenheit (4).

Und wie sehr wir uns nach frei verfügbarer Zeit sehnen, zeigt der Wunsch viele Menschen nach mehr Zeit außerhalb von Arbeit und Verpflichtungen.

 

Zeitwohlstand anstatt Besitz – die Lösung?

Dass zwischen Wohlstand, Gesundheit & Lebenszufriedenheit eine Verbindung besteht, wissen wir alle. Doch bislang haben wir Wohlstand immer als materiell angesehen. Das war aber nicht immer so.

In der Antike galt noch der Grundsatz des guten Lebens als gelungenes Handeln. Es ging nicht um ein besseres Leben, das sich ständig steigern muss, sondern um ein gutes Leben – das vernünftige Leben in der sozialen Gemeinschaft. Mit dem Siegeszug der Aufklärung setzte sich dagegen die Idee durch, dass Glück Privatsache sei und an materielles Wachstum gekoppelt.

Je mehr die Menschen haben, desto glücklicher sind sie – so die einfache Logik. Doch Untersuchungen zeigen, dass eine materielle Absicherung der Lebensverhältnisse allein nicht zu mehr Lebenszufriedenheit führen.

Zahlen, wie steigende BIPs oder der Kontostand sind eben keine Maßeinheit für ein gutes Leben. Sie sind kein Selbstzweck, der uns Menschen erfüllt, sondern nur ein Mittel zum Zweck, ein gutes, glückliches Leben aufbauen zu können.

Die materiellen und zeitlichen Bedürfnisse von Menschen müssen also in gleichem Maße berücksichtigt werden. Und dafür soll „Zeitwohlstand“ einen Ansatzpunkt bieten.

 

Das Regime der Arbeitszeit

Seit langem herrscht in unserer Gesellschaft das Ideal der Selbsterfüllung durch (Erwerbs-)Arbeit: Identität, soziale Teilhabe, Existenzsicherung – zu all dem kann Arbeit beitragen.

Für die meisten Menschen tut sie das aber nicht: Viele empfinden ihren Job als Notwendigkeit, als reinen Lohnerwerb. Das eigene Leben beginnt erst nach der Arbeit, mit der Freizeit.

Doch die Grenzen weichen immer mehr auf: Effizienz und Optimierung, beides Prinzipien des Wirtschaftssektors, haben auf alle Lebensbereiche übergegriffen. Doch zwischen (Selbst-)Optimierung und Selbstverwirklichung liegt ein großer Unterschied.

 

Zeitwohlstand hat 4 Komponenten

  • genügend Zeit (quantitativ)

  • ausreichend gemeinsame Zeit

  • selbstbestimmte Zeit

  • entdichtete Zeit (qualitativ)


 

Russell: „Der Weg zum Glück liegt in einer organisierten Arbeitseinschränkung.“

Dass Arbeit nicht dem Menschen zum Glück gereiche, stellte der britische Philosoph Bertrand Russell bereits 1932 fest. Und das mitten in der Weltwirschaftskrise 1929, in deren Folge die Arbeitslosigkeit im Land auf gut 30 % anwuchs.

Russell verstand das ökonomische Chaos als Folge einer tief verwurzelten und falschen Einstellung zur Arbeit, die er als Aberglaube bezeichnete. Diese Lobeshymnen auf die harte, ehrliche Arbeit würden von der herrschenden Klasse stammen, welche die Unterschicht ausnutze.

Vgl. Klassismus in Deutschland – Ein Kampf gegen Arme statt Armut

Russell möchte den Wert der Arbeit aber nicht an falschen moralischen Vorstellungen ausrichten, sondern nachdem beurteilen, was sie zu einem erfüllten Leben beiträgt. Ein System, in welchem ein Teil der Bevölkerung überarbeitet & unglücklich sei, ein anderer arbeitslos & unglücklich, scheint niemandem gerecht zu werden, wie er richtig bemerkte.

Stattdessen bräuchten die Menschen eine strikte Kürzung der Arbeitszeit, so dass die Freizeit nicht zur Erholung von Arbeit herhalten müsse, sondern für Muße in kreativer Tätigkeit und selbstbestimmter Bildung. Vgl. Bildungsexpansion ist nicht die Lösung

 

Zeitnot als soziales Problem

Viele halten Zeitnot für eine individuelle Angelegenheit.

Der Gedanke, sich einfach von allen Zeitzwängen zu befreien und selbstbestimmt die Zeit zu verwenden, liegt nahe. Geht aber an der Lebenswirklichkeit vorbei.

Als Menschen in einer Gemeinschaft müssen wir uns an zeitliche Strukturen halten: Arbeitszeiten, Fahrtzeiten, Öffnungszeiten, Familienzeit, Urlaubszeiten u.s.w. Die kann keine*r ignorieren, der oder die am sozialen & gesellschaftlichen Leben teilhaben möchte.

Vgl. auch Zeit, Zeitgefühl, Zeitsinn – Philosophie der Zeitlichkeit

Gerade weil die Arbeitszeit so eine zentrale Rolle im Leben einnimmt, geht es hier um eine sozial-politische Angelegenheit:

„Wer an Burnout erkrankt, sollte wohin gehen: Zur Psychotherapie? Oder zur Gewerkschaft?

Dass die meisten zu Antwort eins tendieren, zeigt, wie weit die Individualisierung sozialer Probleme fortgeschritten ist.

Dabei ist die Diagnose „Burnout“ individuell, aber das Problem – z.B. zu großer Leistungsdruck oder eine zu knappe Personaldecke – ein Soziales.“ (Schütte, 5)

Vgl. auch: Depression: gestörtes Zeitgefühl – Zeitverlust oder Stillstand

 

Ausblick: Zeitnot & Zeitwohlstand

Wir brauchen ein neues Zeitgefühl! Nicht nur in quantitativer Hinsicht, sondern auch in qualitativer. Zeit ist nicht Geld, das wir wie ein Objekt verlieren oder gewinnen können. Produktive Zeit ist nicht wertvoller als Leerläufe oder Mußestunden.

Hier ist ein Umdenken gefragt – aber nicht nur bei jedem einzelnen.

Die Politik muss hier notwendig parallel zur Gesellschaft agieren:

  • Teilzeitarbeit fördern,

  • Mindesturlaub erhöhen,

  • Fahrtzeiten auf Arbeitszeit anrechnen etc.

wären nur ein paar Ideen der führenden Experten für Zeitpolitik.


Quellen:

1) Karin Jurczyk: Zeitnot – Stoppt die Rushhour des Lebens!
2) Jakob Pallinger: Anthropologe: Wir arbeiten zu lange und in unnötigen Jobs
3) DgfZP (Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik e. V.)
4) Robert Schütte: Zeitwohlstand für alle! – Warum Burnout & Überlastung in den Fokus progressiver Politik rücken müssen (Discussion Paper, Das Progressive Zentrum)
5) Hans-Jürgen Burchardt: Zeit für das gute Leben: Was, wenn sich unser Wohlstand nicht nur am Materiellen bemessen würde?
6) Jürgen P. Rinderspacher: Zeitwohlstand – Kriterien für einen anderen Maßstab von Lebensqualität (Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES) der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster/Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik (DgfZP))
7) Bertrand Russell: Lob des Müßiggangs

Tamara Niebler (Inkognito-Philosophin)

Hey, ich bin Tamara, studierte Germanistin, Philosophin (M. A.) & freie Journalistin. Hier blogge ich über meine Erfahrungen mit Depressionen & Angst sowie über Philosophie & soziale Ungleichheit.

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