"Plötzlich war ich entzündet"

26.09.2006 | Stand 03.12.2020, 7:30 Uhr
Feridun Zaimoglu: „Ich habe das Buch wie im Fieberwahn geschrieben.“ −Foto: Foto: dpa

Ingolstadt/Kiel (DK) Der deutsch-türkische Schriftsteller Feridun Zaimoglu gilt als Chronist der kulturellen Wandlung. Am 10. Oktober liest er in Ingolstadt aus seinem neuen Roman "Leyla".

Was hat Sie bewogen, die Lebensgeschichte einer türkischen Frau zu schreiben?
Feridun Zaimoglu: Eines Morgens saß ich in einem Café in Kreuzberg. Als ich hinausschaute, erblickte ich eine Türkin der ersten Generation, im Laufe der Jahre deformiert durch das Tragen schwerer Einkaufstüten. In solchen banalen Situationen komme ich auf die abenteuerlichsten Gedanken. Wahrscheinlich war sie eine wunderschöne Frau, als sie nach Deutschland kam. Was hatte sie wohl für eine Vorgeschichte? Plötzlich war ich entzündet und das Elend fing an: anderthalb Jahre Recherchearbeit! 

Wie haben Sie für die Figur der Leyla recherchiert?
Zaimoglu: Ich wollte ums Verrecken diesen ganz bestimmten weiblichen Ton. Das führte mich an die Grenzen meiner Belastbarkeit und ich geriet in eine kalte Hölle. Ich besuchte zwei Dutzend Mütter türkischstämmiger Kumpel und wollte von ihnen wissen, wie eine Frau ihre Geschichte erzählt. Schließlich war ich drin. Dann habe ich das Buch wie im Fieberwahn innerhalb von dreieinhalb Monaten geschrieben. 

Warum ist Ihnen die Emanzipation der anatolischen Frauen ein echtes Anliegen?
Zaimoglu: Ich würde es nicht als Emanzipation bezeichnen. Auf dem Markt der vielen Entfaltungsmöglichkeiten in Deutschland sind Frauen angetreten, um Befreiung zu proklamieren durch den totalen Bruch mit der Vergangenheit, mit der Geschichte, mit Riten, Ritualen und Bildern. Meiner Meinung nach findet da eine Ideologisierung statt. Bei mir sind es die so genannten einfachen Frauen, die sich in winzigen Schritten kleine Freiräume freikämpfen. Ich wollte die Lebensgeschichte einer Frau schreiben und keine Kunstfigur erfinden, die herhalten muss für das Bild der Anatolierin, die mit der starken Tradition bricht. 

Die Türkei der 50er Jahre erscheint dem westeuropäischen Leser als ferne und fremde Kultur. Wie empfinden Sie das als jemand, der in Anatolien geboren und in Deutschland aufgewachsen ist?
Zaimoglu: Natürlich kenne ich gewisse fremde Bilder aus den frühen Erzählungen meiner Eltern. Aber wir waren ein türkischer Haushalt in Deutschland. Das Buch beschreibt eine für mich völlig fremde und archaische Welt: die Tradition, der Aberglaube, die Riten. Ich kann nicht sagen, dass ich davon unbeeindruckt bin. Das Fremde hat eine Urkraft, die sehr anziehend ist. Aber letztendlich bin ich doch deutsch-dekadent, das Archaische hingegen spielt mit der totalen Unterwerfung und Zugehörigkeit. Ich bin gern mal da, aber es war auch gut, das Ganze irgendwann wieder zu verlassen. 

In Ihrem Buch ist immer wieder von den "deutschen Regeln" die Rede. Für die Türken scheinen die fast schon eine mystische Bedeutung zu haben.
Zaimoglu: In einer archaischen Welt verschwimmen die Grenzen; überall herrscht Unzuverlässigkeit. Das Gute daran ist, dass der Mensch andere Kräfte über sich weiß und nicht Herr seines Schicksals ist. Soweit die Theorie. Im türkischen Alltag der 50er Jahre sieht das aber so aus, dass Männer sich dazu aufschwingen, andere wie Leibeigene zu halten und sich dabei auf das Gesetz zu berufen. Die deutschen Regeln sind das Gegenteil von Ausgeliefertsein in einer archaischen Welt. Deshalb sind die so positiv besetzt. Die haben immer noch Gültigkeit. In Deutschland zofft man sich zuweilen hart, aber dann ist es auch raus. Leider registriere ich derzeit eine Gegenreaktion, man spricht von Moral, von Leitkultur und einer starren gesellschaftlichen Verpflichtung. 

Die Stimmung in Deutschland hat sich angeblich aufgrund der viel diskutierten "Du bist Deutschland"-Kam- pagne deutlich verbessert. Könnten Sie sich vorstellen, sich an der für den Herbst geplanten Fortsetzung der Kampagne zu beteiligen?
Zaimoglu: Das ist wahrscheinlich die Übertreibung des Monats. Früher hat der Bundespräsident gesagt, es muss ein Ruck durch Deutschland gehen. In Zeiten der sozialen Erosion und ökonomischen Krise sind solche Durchhalteparolen immer Begleitkonzert. Das ist mir zu dumm. Immer dann, wenn ich eine gewisse Hysterie schnüffle, bin ich nicht dabei. 

Karten für die Lesung am 10. Oktober gibt es in der Vhs, bei Stiebert und in der Stadtbücherei.