Hans Günter Hockerts 80 :
Katholische Widerständigkeit, streng empirisch

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Aus dem deutsch-luxemburgischen Grenzland über Trier, Saarbrücken und Bonn nach München: Hans Günter Hockerts
Seine Dissertation über die „Sittlichkeitsprozesse“ gegen Geistliche unter Hitler bleibt im Licht jüngster Skandale ergiebig: Der Historiker Hans Günter Hockerts, liberaler Meisterschüler von Konrad Repgen, wird achtzig Jahre alt.

Die bayerischen Regierungspräsidien stellten während der Hitlerdiktatur monatliche Berichte über die Stimmung im Volk zusammen, auf der Grundlage von Angaben von Polizisten und freiwilligen Spitzeln, die von nachgeordneten Ämtern gesammelt wurden. Im Bericht für Mai 1937 erfasste das Regierungspräsidium für Oberbayern die Resonanz einer großen Rede in der Berliner Deutschlandhalle, in der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die katholische Kirche attackiert hatte, aus Anlass einer Serie von Strafprozessen gegen Priester und Ordensleuten wegen widernatürlicher Unzucht (Paragraph 175 des Strafgesetzbuchs) oder unzüchtiger Handlungen an Zöglingen (Paragraph 174). Den Bericht eines Bezirksamts gab das Münchner Regierungspräsidium in indirekter Rede wieder: „Es erwecke fast den Anschein, dass die Prozesse bei manchen Leuten eine Änderung in ihrer Einstellung zur Kirche nicht herbeizuführen vermögen.“

Hans Günter Hockerts zitiert diese Stelle in einer Fußnote seiner Untersuchung über „Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/1937“, die 1969 von der Universität des Saarlands als Dissertation angenommen wurde und 1971 mit dem Untertitel „Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf“ in der Schriftenreihe der Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern erschien. Subtil interpretiert Hockerts die „übertrieben vorsich­tige Wendung“ aus dem Bericht nach München als Ausdruck der Verlegenheit des Beamten, der die Erwartungen seiner Vorgesetzten und vor allem deren politischer Herren offenbar richtig verstanden habe: Die Kampagne gegen den „Sexualsumpf“ der Klöster und kirchlichen Pflegeanstalten beruhte auf der Prognose, man müsse nur drastisch genug behaupten, dass Verurteilungen wegen „widernatürlicher“ Taten keine Einzelfälle seien, sondern das Naturwidrige der katholischen Sexualmoral enthüllten, dann würden die Gläubigen den Bischöfen massenhaft von der Fahne gehen. Zu den modernen Elementen im Gedankengut der Nationalsozialisten gehörte ein robuster Antiklerikalismus.

Im Gedächtnis ein moralischer Sieg

Da die Schmutzkanonade zweimal so plötzlich wieder eingestellt wurde, wie sie begonnen hatte, ging der Ausgang der Skandalprozessserie ins volkskirchliche Gedächtnis als moralischer Sieg ein. Die uner­schütterlich kirchentreue Einstellung schrieb man sich als Widerständigkeit zugute, was die Fachsprache alltagshistorischer Forschung mit „Resistenz“ übersetzte. Dieses Wort verwendet auch Hockerts schon, aber der Schüler Konrad Repgens, der 1962 nach Saarbrücken berufen worden war und fünf Jahre später an seine Bonner Alma Mater zurückkehrte, prüfte die Wirkung der Propaganda streng empirisch. Die ideenpolitische Pointe des mit aller methodisch gebotenen Vorsicht erhobe­nen Befundes von Hockerts mag man so formulie­ren: Zum Verhängnis wurde dem Propagandafeldherrn Goebbels der Zug der Weltanschauung der Nationalsozialisten, den sie selbst in religionskultureller Aneignung ihres Feind­bilds „fanatisch“ nannten, die Entschlossenheit zum Einsatz aller Mittel.

2022 hat Hockerts in einem Aufsatz sein Erstlingswerk einer selbstkritischen Lektüre im Lichte der jüngsten kirchlichen Skandalgeschichte unterzogen. Dass er damals die bischöfliche Akzeptanz der Strafurteile als Zeugnis des Willens zur Rechtstreue bewertete, stellt sich ihm heute als zwiespältig dar; 1969 fehlte ihm der Blick dafür, dass dieses Kapitel des „Kirchenkampfes“ ein Teil der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung war. Schon in der Doktorarbeit widerstand Hockerts aber der Versuchung, die katholische Unempfänglichkeit für die NS-Indoktrination im Sinne einner Widerstandslegende zu überhöhen, wie es der Repgen-Schule und der jahrzehntelang von Repgen geleiteten Kommission für Zeitgeschichte bisweilen vorgeworfen worden ist.

Hockerts stellte es als offen hin, ob das Kirchenvolk einem Kurs der Konfrontation gefolgt wäre, wie ihn im Episkopat die Bischöfe von Berlin und Münster vertraten. Und er stellte mit Verweis auf seinen Kollegen Helmut Heiber vom Institut für Zeitgeschichte einen ernüchternden Vergleich an: Solidarisierung mit Geistlichen führte zum Abbruch der antikirchlichen Attacken – entsprechende Solidarität mit Juden gab es nicht.

An der Universität Bonn wurde Hockerts 1977 mit einer Arbeit über „Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland“ habilitiert. Nachdem er in der Dissertation untersucht hatte, inwieweit Habitus, Denkungsart und Sozialformen der Katholiken sie zur Negation der antichristlichen Gesellschaftsveränderung im Hitlerstaat befähigt hatten, wandte er sich nun positiven politischen Wirkungen der katholischen Soziallehre zu. Auch zu diesem Thema gab es schon recht festgefügte Vorstellungen im katholischen und kirchenfreundlichen Geschichtsbewusstsein, und wieder leistete Hockerts empirische Pionierarbeit. So erbrachte er einen wesentlichen Beitrag dazu, dass die Adenauerzeit vom Gegenstand verklärender Erinnerung zum Objekt wissenschaftlicher Forschung wurde.

Auch seine 2018 erschienene Geschichte der Fritz-Thyssen-Stiftung, eine für die heutige arbeitsteilige Institutionengeschichte typische Auftragsarbeit, gehört in diesen Zusammenhang: Konrad Adenauers persönliches Engagement für die Gründung der Stiftung, die sich hauptsächlich der Förderung der Geisteswissenschaften widmet, deutete Hockerts als Versuch des christdemokratischen Bundeskanzlers, seine Ideen von der Sozialbindung des Eigentums sichtbar wirksam werden zu lassen.

Hockerts stammt aus der deutsch-luxemburgischen Grenzregion, legte in Trier das Abitur ab und war um 1968 im Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) aktiv, gehörte also zu den „anderen“ Achtundsechzigern, von denen einige als ideenpolitische Stichwortgeber Karriere in den Unionsparteien machten. 1981 erhielt er eine Professur an der Münchner Universität. Nach einer Station in Frankfurt kehrte er 1986 als Ordinarius für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte nach München zurück. Er zog eine große Schar von Schülern an, die ihn als methodisch strengen, aber in der Sache liberalen Lehrer rühmen. Das Thema der sozialpolitischen Erweiterung der Politikgeschichte übernahm die erste Generation der Hockerts-Schule von ihrem Gründer. Hans Günter Hockerts, der sich in München nachhaltig für die Rückwirkung der zeithistorischen Forschung auf das öffentliche Gedächtnis engagiert, wird am heutigen Mittwoch achtzig Jahre alt.