Goethes Spätwerk :
Ein altersradikaler Schriftsteller

Von Wolfgang Matz
Lesezeit: 4 Min.
Hat Goethe zuletzt jede Erwartung an Markt, Leserschaft und Kritik ignoriert? Ernst Osterkamp legt faszinierende Lektüren zum Spätwerk des Dichters vor.

„Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser“, ein Satz des alten Goethe ins Ohr der Interpreten! Inkommensurabel aber ist nicht nur das einzelne Werk dieses laut Wieland „genialischen, aber das Publikum gar zu sehr verachtenden Urhebers“, vielmehr auch die wahrhaft unfassliche Weite seines Schaffens von den Naturwissenschaften bis zur Poesie, dann aber auch innerhalb der literarischen Werke selbst.

Ernst Osterkamp, Professor emeritus der Humboldt-Universität zu Berlin, illustriert das in seinen „Lektüren zu Goethes Spätwerk“ mit dem Gedankenspiel, ob man, ohne den Namen des Verfassers zu kennen, hinter den „Wahlverwandtschaften“, dem „West-östlichen Divan“, „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ so ohne Weiteres ein und denselben Autor erraten würde. Wohl kaum. Und so stellt er konsequent die Frage nach der Einheit in der Vielheit dieses unerhörten Kosmos in die Mitte einer Darstellung, die von Anfang bis Ende fesselt.

Zunächst jedoch wird man Osterkamp widersprechen: „Ein Biograph Goethes kann sich dieses Problem leicht vom Halse schaffen, indem er es in eine lebensgeschichtliche Erzählung überführt: in die Geschichte einer Abfolge von Werken. Damit wird aber eine produktive Irritation narrativ beseitigt, die sich bei der Lektüre von Goethes Spätwerk immer wieder einstellt: diejenige durch die Gleichzeitigkeit der großen Werke seines Alters, die den Begriff des Kosmos überhaupt erst nahelegt.“ Ein Biograph, der diesen Namen verdiente, hat ja gerade das zur Aufgabe: nicht einfach alles aufzulisten, was chronologisch sowieso der Fall ist, vielmehr die intellektuelle Figur eines Autors trotz aller verstörenden Vielgestaltigkeit als ein Ganzes zu durchdringen.

Die Spannung zwischen der wissenschaftlichen „Farbenlehre“ und dem symbolischen „Faust“, zwischen der Lebenssynthese „Dichtung und Wahrheit“ und den kunstvoll fragmentierten „Wanderjahren“ ist weder durch Chronologie noch einfach durch intertextuellen Abgleich zu begreifen, sondern am Ende nur durch das Verständnis für eine intellektuelle Gestalt, deren Subjektivität so Einzigartiges hervorzubringen vermochte.

Strategien eines einsamen Mannes

Tatsächlich tut Osterkamp nichts anderes. Seine fünfzehn Kapitel umkreisen dieses Spätwerk in wiederholten Spiegelungen: hier in der Konzentration auf ein autobiographisch-fiktionales Werk wie die „Marienbader Elegie“ oder eine Figur wie Fausts Helena, dort auf wahrhaft detektivischer Spurensuche nach besonders sprechenden der typisch-merkwürdigen Goethe-Wörter. Was Osterkamp aus dem so seltenen wie schönen Verb „gruneln“ herausliest, ist nicht weniger als der lebendige Kern von Goethes Naturphilosophie, und dass sogar das Zählen uns poetisch Neues lehren kann, beweist er anhand der wunderlichen Inflation des Adjektivs „wunderlich“ in der ersten, kaum gelesenen Fassung der „Wanderjahre“. Die neunzig großartigen Seiten „Krieg und Vers in Goethes Werk 1806-1814“ sind allein für sich schon ein ganzes Buch!

Fest zusammengehalten werden die Einzelstudien durch das erste und das letzte Kapitel – zwei überaus einnehmende, jeder Biographie würdige Porträts des Künstlers als alter Mann: „Einsamkeit und Altersbewusstsein“ bildet jene Engführung, aus der die Werkkapitel erst recht verständlich werden; „Das letzte Jahr – Die Künste im Leben eines Mannes, der den Tod nicht statuierte“ zeichnet einen Vereinsamten, der dem wachsenden Bewusstsein vom nahenden Ende mit zweierlei begegnet: mit dem selbsterteilten Auftrag, das Lebenswerk unter Dach und Fach zu bringen, und in der noch einmal gesteigerten Beschäftigung mit den Künsten, „um sich durch eine Summe von Präsenzerfahrungen, wie sie ihm so allein noch die Kunst vermitteln konnte, so intensiv wie möglich – und das heißt: als gebe es den Tod nicht – im Leben zu verankern“. Schöner und intensiver wäre es nicht zu sagen.

Das Cover zu Ernst Osterkamps Goethe-Studien
Das Cover zu Ernst Osterkamps Goethe-StudienVerlag

Das entscheidende Datum für die späte, letzte Revision seiner Lebensarbeit ist der Abschluss von „Faust – Der Tragödie zweiter Teil“. Nach zwei Jahrzehnten Unterbrechung ist im Sommer 1831 auch dieses bis heute inkommensurable Werk geschafft. Jetzt aber fällt Goethe die radikalste Entscheidung: Er legt das versiegelte Manuskript in den Schrank, lässt es unveröffentlicht bis zu seinem Tod.

Die Gegenwart wurde ihm fremd

In der Perspektive dieses singulären Entschlusses schärft Osterkamp noch einmal höchst aufschlussreich seine Interpretation. Ab wann eigentlich spricht man vom späten Goethe? Osterkamp definiert ihn lebensgeschichtlich über sein Verhältnis oder besser: sein Nicht-Verhältnis zum Publikum, über den wachsenden Isolationsprozess in einer fremd werdenden Gegenwart. Goethe verweigert die Publikation des zweiten „Faust“, weil er bei den „ernsten Scherzen“ dieses lebenslangen Hauptwerks nicht noch einmal jenes Miss- und Unverständnis miterleben will, das schon fast alle späten Werke getroffen hatte, die „Wahlverwandtschaften“, die „Wanderjahre“, den „Divan“.

So entsteht das Bild eines altersradikalen Schriftstellers, der nunmehr konsequent jede Erwartung von Markt, Leserschaft und Kritik ignoriert, dabei nichts anderem mehr folgt als der Logik seines Lebens, seines Schaffens, seiner Poesie. Ist uns diese Fragestellung nicht bekannt? In Ernst Osterkamps großem Buch beweist sich zum Schluss erneut, dass jede ernsthafte Befassung mit historischer Literatur zwangsläufig auch eine Perspektive eröffnet, die etwas über die gegenwärtige zu sagen hat. Selten genug bringen die Produkte der akademischen Germanistik dem literarischen Leser Gewinn; hier handelt es sich um einen solchen Glücksfall.

Ernst Osterkamp: „Sterne in stiller werdenden Nächten“. Lektüren zu Goethes Spätwerk.
Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2023. 476 S., geb., 79,– €.