Buch über Sadismus :
Vergiss die Peitsche nicht!

Von Maximilian Gillessen
Lesezeit: 5 Min.
Wenn Disziplinierungswut auf Lust am Exzess trifft: Marcel Antoine Verdiers Darstellung kolonialer Grausamkeit entstand im Jahr 1843.
Von der transatlantischen Sklaverei bis zu den NS-Vernichtungslagern: Iris Därmann untersucht den Sadismus als organisierte Gewaltpraxis – und erklärt, warum der Marquis de Sade ein bizarrer Abolitionist gewesen ist.

Schon früh ist der Name Donatien Alphonse François de ­Sade zu einem Synonym für die Lust am Leiden anderer geworden. Französische Wörterbücher verzeichnen den Gebrauch des Wortes „Sadismus“ seit den 1840er Jahren, aber es war vor allem der deutsche Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing, der ihm in der 1891 erschienenen sechsten Auflage seiner „Psychopathia sexualis“ zu fortdauernder Prominenz verhalf. Doch freilich nur um den Preis, den Sadismus auf ein individuelles Triebschicksal und das Werk Sades auf die Illustration eines klinischen Falls zu verkürzen. Die Sexualwissenschaft hatte den sadistischen Einzeltäter erfunden. Gegen diese Reduktion des Sadismus auf eine vermeintlich individuelle Pathologie wendet sich die neue Monographie von Iris Därmann.

In achtzehn lose verbundenen Kapiteln verfolgt die Berliner Kulturwissenschaftlerin zwei Argumentationslinien: Sadismus müsse zuerst als eine „organisierte Gewaltpraxis“ begriffen werden, die in unterschiedlichen historischen Konstellationen wiederkehre und von der transatlantischen Sklaverei bis zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern reiche. Zugleich möchte Därmann das gängige, von der Sexualwissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts geprägte Sade-Bild als eine symptomatische Entstellung entziffern: Weit davon entfernt, der Ausdruck einer individuellen Perversion zu sein, verweisen Sades literarische Phantasien auf die reale Institution der Sklaverei, die eine „neue, koloniale Gewaltlust“ hervorgebracht habe.

Wie eng Sklaverei, Kolonialismus, „Plantagenpornographie“ und sadesche Imagination miteinander verflochten sind, zeigt Därmann am Beispiel von John Gabriel Stedmans 1796 erschienenem „Narrative of a Five Years Expedition“, dem Reisebericht eines an der Niederschlagung des Sklavenaufstandes in Suriname beteiligten schottisch-niederländischen Söldners, der ein sentimental gefärbtes, aber drastisches Bild der in der Kolonie herrschenden Zustände zeichnet. Verstümmelungen und Hinrichtungen drohten nicht nur den revoltierenden Sklaven, vielmehr wurden selbst geringste Vergehen mit maßlosen Strafen geahndet.

Verfechter eines absoluten Egoismus

Stedmans Bericht schärfte in Europa das Bewusstsein für die unmenschliche Behandlung der Sklaven. Doch indem er die hemmungslose Gewalt gegen die entblößten schwarzen Körper mit „folgenloser Empathie“ schilderte, erlaubte er es seinen Lesern zugleich, sich lustvoll in die voyeuristische Rolle der Zuschauer der öffentlich exekutierten Strafen zu versetzen. So lieferten die „Gewalträume“ des Kolonialismus alle Zutaten für das Genre sadistischer Pornographie.

Iris Därmann: „Sadismus mit und ohne Sade“.
Iris Därmann: „Sadismus mit und ohne Sade“.Matthes & Seitz Verlag

Diese Analysen hat Därmann bereits in früheren Arbeiten entwickelt. Auch die überraschende Einsicht, dass sich der Illustrator der Werke Sades – möglicherweise sein ältester Sohn Louis-Marie – an den von William Blake und anderen Künstlern angefertigten Kupferstichen für Stedmans „Narrative“ orientiert hat. Was aber macht Sades endlose Kombinatorik der Unterwerfung zu einer „der wohl eindringlichsten literarischen Formen politischer Kritik“? Die verfremdende Inversion der Rollen. An die Stelle der schwarzen Sklaven – zumeist Frauen –, die bei Stedman dem despotischen Begehren weißer Gewalttäter ausgesetzt sind, rücken bei Sade ausnahmslos weiße Opfer. Das von ihm kreierte „Körpergenre“, so Därmanns nicht ganz überzeugende These, soll seine Leser in „koloniale Mittäter und Mitgenießende“ verwandeln. Hatten aber nicht schon die Traktate der Anti-Sklaverei-Bewegung unter der Maske der Empörung die Straf- und Schaulust ihrer Leser befriedigt?

Jedenfalls trat Sade, woran Därmann erinnert, als entschiedener Gegner der Sklaverei auf, so wie er sich auch weigerte, als Revolutionsrichter die während der Terreur üblichen Todesstrafen zu verhängen. Afrikanische Protagonisten erscheinen in seinen Büchern stets in der Rolle des Libertins. Als Verfechter eines absoluten Egoismus plädiert Sade für eine radikale Gleichheit zwischen den Menschen. Sein oft zitiertes Pamphlet „Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt“ fordert gar den – zeitlich begrenzten – Besitz eines jeden durch jeden, eine „punktuelle Versklavung“ also, die das Gewaltregime der kolonialen Sklaverei aufhebt, gerade indem sie es universalisiert. So erweist sich Sade als ein „bizarrer Abolitionist“.

Eine wesentliche libidinöse Ressource der Vernichtungspolitik

Der Peitsche, Insigne der Sklaverei und des Sadismus, hat Iris Därmann minutiös recherchierte Kapitel gewidmet, die durchweg mit Gewinn zu lesen sind. Gegen Foucaults These einer modernen, gleichsam körperlosen Disziplinarmacht zeigt sie, welche zentrale Rolle physische Gewalt – sei es in Fabrik, Kaserne oder Zuchthaus – bei der Abrichtung widerspenstiger Individuen spielte. Vor allem in der Schule waren Prügelstrafen mit Stock oder Peitsche bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein ein festes, vom Züchtigungsrecht legitimiertes Erziehungsmittel. Und in Frankreich bestand das elterliche „Recht auf Korrektur“ mittels Ohrfeige oder Schlag auf das nackte Gesäß noch bis 2019.

Drakonische, allein nach dem Ermessen der Kolonialbeamten verhängte Auspeitschungen gehörten zur selben Zeit in den „Schutzgebieten“ des Deutschen Reiches zu den alltäglichen Strafmaßnahmen. Das sogenannte Fehlverhalten einzelner Beamter provozierte in den 1890er Jahren immer wieder öffentliche Skandale. Als einen Auslöser der „antisadistischen Kriege“ der Herero und Nama gegen die deutsche Siedlergesellschaft und Militärmacht nennt Därmann neben der Peitschengewalt die zahlreich dokumentierten Vergewaltigungen einheimischer Frauen.

Das Siegel des Nationalsozialismus, so zitiert Därmann Jean Améry, der von SS-Leuten in der belgischen Festung Breendonk gefoltert wurde, ist kein „schwer zu fassender Totalitarismus“ gewesen, sondern der Sadismus. Tatsächlich gehörten Schlagstock und Peitsche „zur regulären Ausstattung“ der SS-Mitglieder. Öffentliche Peitschenstrafen wurden ebenso in den Ghettos wie in den Arbeits- und Vernichtungslagern exekutiert. Eine durch „permissive Gesetze“ beförderte sadistische Gewaltlust, das belegen alle Zeugnisse von Überlebenden der Schoa, die Därmann anführt, war keine Ausnahme, sondern eine wesentliche libidinöse Ressource der Vernichtungspolitik.

Wie ist dieser Parcours durch unterschiedliche Gewaltregime angesichts postkolonialer Debatten über die Zusammenhänge von Kolonialismus und Judenmord zu lesen? Zustimmend beruft sich Därmann auf Aimé Césaires berühmtes Diktum, das Unverzeihliche der nationalsozialistischen Verbrechen sei die Anwendung kolonialistischer Methoden auf europäischem Boden gewesen. Jedoch möchte sie damit weder einen kausalen Nexus noch eine bruchlose Kontinuität geltend machen. Lieber spricht sie in einem psychoanalytischen Vokabular von einer „durch die Arbeit der Verdrängung entstellten ‚Wiederkehr‘ des kolonialen Sadismus“ oder einer „Reaktivierung“ kolonialer Gewalt in den Konzentrationslagern.

Über welche konkreten – materiellen, diskursiven, institutionellen – Wege sich eine solche Reaktivierung vollzogen hat, lässt sie allerdings offen. So auch die Frage, worin genau das spezifisch Neue der mit der transatlantischen Sklaverei verbundenen Gewaltlust besteht. Prägte sie bereits die von Därmann auf nur wenigen Seiten behandelte Antike? Setzt sie sich in der Gegenwart fort? So unscharf der ausgehend von Sade entwickelte Begriff bleibt, so eindrucksvoll sind die historischen Parallelen, die Iris Därmann an seinem Leitfaden in ihrem überaus material-, aber auch voraussetzungsreichen Buch entwickelt.

Iris Därmann: „Sadismus mit und ohne Sade“. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 350 S., geb., 32,– €.