Über Berlin und Wien :
Ohne die preußischen Parvenus ging’s halt nicht

Von Stephan Wackwitz
Lesezeit: 4 Min.
Jung-Wiener im Posenwettstreit: Hugo von Hofmannsthal (stehend links), Arthur Schnitzler, Richard Beer-Hofmann und Felix Salten (im Uhrzeigersinn) mit Begleiterinnen im Wiener Prater, um 1894
Wie moderne Lebensweisen zu Beginn des letzten Jahrhunderts als Wiener Phänomen in Berlin erfunden wurden: Zwei Bücher widmen sich der deutschen und der österreichischen Hauptstadt.

„It was the best of times, it was the worst of times“ – mit diesem Paradox beginnt Charles Dickens’ Roman „A Tale of Two Cities“. In ihm geht es zwar um Paris und London zur Zeit der großen Revolution von 1789. Und doch kommt einem der Satz in den Sinn bei der Lektüre von „Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde“ von Jens Wietschorke, einem in München lehrenden Kulturwissenschaftler, und „Berlin 1918–1989: Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte“ von Sinclair McKay, einem Literaturkritiker des Londoner „Spectator“. Denn Wien und Berlin – die beiden Metropolen der europäischen Moderne des vorigen Jahrhunderts – sind auf unterschiedliche Weise mit guten wie schlechten Zeiten als Konsequenz grundlegender Umstürze bedacht worden.

Die aus soziologischen und kulturellen Motiven gemischte Gesellschaftsformation der „Moderne“ bescherte ihren Wiener und Berliner Protagonisten wie deren Feinden – und nicht zuletzt den Frauen – ungeahnte künstlerische und lebensweltliche Freiheiten und Chancen. Aber sie beinhaltete auch beträchtliche Risiken. Jens Wietschorke arbeitet instruktiv heraus, wie moderne Kunstformen und Lebensweisen zu Beginn des letzten Jahrhunderts sozusagen als Wiener Phänomen in Berlin erfunden wurden. Berlin galt als die protestantisch rationale Stadt; Wien sah man in Berlin und auch in der Habsburgerme­tropole selbst als gemütlich katholisch – sympathisch, kulturell produktiv, aber insgesamt auch ein wenig von gestern. Es gibt wohl kaum eine vollständigere Sammlung der Vorstellungen, Albträume, Klischees, Phantasien und Illusionen, die in Wien und Berlin über die jeweils andere Stadt im Schwange gewesen sind, als Wietschorkes Buch.

Lauter, schneller, erfolgsorientierter, vulgärer

Eine Schlüsselfigur im Pingpongspiel kultureller Zuschreibungen zwischen den beiden Städten ist der aus Wien stammende Kritiker Hermann Bahr, der als Talentscout des Berliner S. Fischer Verlags die Autoren des Jung-Wien – Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Felix Salten – gegen den Naturalismus, der damals auf den progressiven Theatern und in den tonangebenden Buchhandlungen des kaiserlichen Berlin dominierte, in Stellung brachte und ihnen damit große Auftritte verschaffte. Denn, auch das ist Wietschorkes Buch zu entnehmen, die Wien-Berlin-Dialektik beinhaltete auch das Paradox, dass einerseits nur Resonanz in der preußischen Hauptstadt Bücher, Bilder und Theaterstücke zu Weltereignissen machen konnte, andererseits aber die eigentlich innovativ modernen Inhalte – die Psychoanalyse, der Empiriokritizismus um Ernst Mach, die verschiedenen Kunst-Sezessionen – in Wien auf den Weg gebracht wurden.

Jens Wietschorke: „Wien – Berlin“. Wo die Moderne erfunden wurde.
Jens Wietschorke: „Wien – Berlin“. Wo die Moderne erfunden wurde.Reclam Verlag

Wien war die gemächlichere, ältere und altmodischere, aber auch die ideenreichere Metropole – nicht zuletzt, weil ihr über Jahrhunderte die vielfältigen Anregungen Süd- und Ostmitteleuropas zugeflossen waren. Berlin war, so will und wollte es die Wien-Berlin-Folklore, lauter, schneller, erfolgsorientierter, vulgärer. Aber eine dauerhafte und ausstrahlende Wirkung war nur dort möglich.

Die Feier kultureller Kreativität und Resilienz

Mit dieser Präponderanz Berlins hängt es zusammen, dass auch die totalitären Angriffsbewegungen gegen die Moderne dort zuerst und am gewaltsamsten hervortreten konnten, welche die künstlerische Moderne Wiener wie Berliner Provenienz für lange Jahre aus Kontinentaleuropa verbannten. Erst mit den siegreichen westlichen Armeen kehrte sie wieder zurück und auch nur in eine Hälfte Europas. Allerdings hat es auch in Ostberlin eine prekäre und durch die Staatsideologie immer bedrohte Spielart der kulturellen Moderne gegeben, in der Literatur ebenso wie in der Architektur oder in der bildenden Kunst. Deren Widersprüche, Kämpfe und Paradoxien bleiben in beiden Büchern unterbelichtet wie im Bewusstsein der Gebildeten und auch der Kulturwissenschaftler überhaupt.

Die farbige und widerspruchsvolle Geschichte von Aufstieg, Fall, amerikanischer Rettung und bundesrepublikanischem Fortgang der Berliner kulturellen Moderne ist das Generalthema des Buchs von Sinclair McKay. Sein Berlin-Buch unterscheidet sich von anderen Biographien dieser Stadt erstens durch seine durchgehende Individualisierung von Geschichte mithilfe der Ergebnisse der Oral-History-Bewegung, die er vor allem den Aktivitäten und Veröffentlichungen der Berliner Organisation „ZeitZeugenBörse“ verdankt. Zweitens aber setzt er den narrativen Schwerpunkt auf die Feier jener kulturellen Kreativität und Resilienz, die Berlin auch in den finstersten Zeiten nie ganz verlassen hat.

Sinclair McKay: „Berlin“. 1918–1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte.
Sinclair McKay: „Berlin“. 1918–1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte.HarperCollins Verlag

Immer wieder macht McKay historische Wendungen, kulturelle Tendenzen und Ereignisse an individuellen Schicksalen fest. Unter seinen Oral-History-Zeugnissen finden sich Erinnerungen ganz unbekannter Personen, aber auch Auszüge aus Hildegard Knefs Autobiographie – einem weithin unterschätzten Klassiker der Nachkriegsliteratur – spielen durchgehend eine prominente Rolle.

Arm, aber sexy

McKays erzählerisches Prinzip, immer wieder konkrete Personen im Strom seiner Erzählung auftauchen zu lassen, bringt literarische Effekte hervor, die an Walter Kempowskis „Echolot“ erinnern. Zu den Höhepunkten seines Buchs gehört die Schilderung des nebligen Vorabends der Schlacht an den Seelower Höhen im April 1945: die Angst und das Sinnlosigkeitsgefühl der notdürftig ausgebildeten jungen Rekruten am Vorabend ihrer absehbaren Vernichtung in der Endkatastrophe eines längst aussichtslos gewordenen und von Anfang an verbrecherischen Krieges. Oder das Bild eines zwölfjährigen Kindersoldaten, der seinen sinnlosen Posten an einer Berliner Panzersperre verlassen hatte und aufgehängt wurde mit einem Schild um den Hals, auf dem in Kinderschrift zu lesen war, er sei zu feige gewesen für das Vaterland.

Die Gegenwartsdimension dieses „Tale­ of Two Cities“ bleibt in beiden Büchern weitgehend außerhalb des Blickfelds. Sinclair McKays Erzählung endet überhaupt mit dem Fall der Mauer. Wie sich die Bilder Berlins und Wiens vor unseren Augen verändern – und unter manchen Aspekten geradezu umdrehen­­ –, verdiente eine gesonderte Darstellung: des Wandels der ehemals für ihre Rationalität und Durchschlagskraft berühmten Seelenlosigkeitsmetropole Berlin zur ineffektiv-verträumten Lifestyle-Hochburg („arm, aber sexy“) und des ökonomischen Aufstiegs des ehemals liebenswert zurückgebliebenen Wien zur Drehscheibe eines Ost-West-Wirtschaftswunders. Die Faszination der ungleichen Stadtschwestern, auch das ist bei der Lektüre dieser beiden Bücher zu lernen, ist ungebrochen und weist in interessante zukünftige Zeiten.



Jens Wietschorke: „Wien – Berlin“. Wo die Moderne erfunden wurde. Reclam Verlag, Stuttgart 2023. 345 S., Abb., geb., 26,– €.
Sinclair McKay: „Berlin“. 1918–1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte. Aus dem Englischen von Elisabeth Schmalen und Johanna Wais. Harper Collins Verlag, Hamburg 2023. 512 S., Abb., geb., 28,– €.