Sieghard Neckel und Greta Wagner (Hrsg.): Leistung und Erschöpfung :
Gesellschaftsfähige Depression

Von Martina Lenzen-Schulte
Lesezeit: 2 Min.
Das „Burn-out-Syndrom“ wird gerne als Volkskrankheit bezeichnet, dabei gibt es noch immer keine rein medizinische Diagnose. Der Band „Leistung und Erschöpfung“ beleuchtet Antworten aus anderen Disziplinen.

Das Nachdenken über diese Erkrankung führt seit einer Reihe von Jahren zu einer wahren Publikationsflut: „Burn-out“ ist einerseits auf dem Weg zur Volkskrankheit, andererseits immer noch keine rein medizinische Diagnose - deshalb hat die Medizin nicht das Deutungsmonopol darüber. Auch andere Disziplinen haben dazu substantielle Beiträge vorzuweisen, wie der vorwiegend von Soziologen bestückte Band „Leistung und Erschöpfung“ belegt.

Gleich mehrere Beiträge variieren den Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“, dessen Tun nicht mehr mit der Stechuhr überwacht werden muss, sondern quasi durch kapitalistische Gehirnwäsche manipuliert wurde. Derart ideologisch befeuert, hält er die Ziele des Unternehmens für seine eigenen und wird Subunternehmer in Sachen Ego-Ausbeutung. Wer vor dreißig Jahren die Diskussionen um das Streben nach Selbstverwirklichung gerade auch am Arbeitsplatz erlebte, reibt sich verwundert die Augen, wenn er liest, dass genau hierin schon die heutige Burn-out-Arbeiterschaft angelegt war.

Reaktion auf die Beschleunigung des Lebens

Der Beitrag des Berner Historikers Patrick Kury ragt heraus, weil er noch weiter zurückgeht und die Verwandtschaft zu früheren Konstrukten freilegt: Die Neurasthenie des neunzehnten Jahrhunderts war die Reaktion auf die Beschleunigung des Lebens - auch im buchstäblichen Sinn angesichts der qualitativ neuen Fortbewegungsmittel. Die „Managerkrankheit“ boomte von 1950 an und thematisierte insbesondere die Arbeitslast der Eliten. Aber Kury weist überdies nach, dass nicht nur Müdigkeit und Überforderung ein Burn-out kennzeichnen. Hinzu kommt nämlich eine „zynische, distanzierte und negative Grundhaltung zu Menschen, gegenüber denen man im Beruf Verantwortung übernommen hat“.

Deshalb wurde die Diagnose Burnout auch zunächst den einschlägig engagierten und dann frustrierten Berufsgruppen wie Sozialarbeitern und Pflegekräften attestiert. Die differenzierte Betrachtung der wenig schmeichelhaften Schlagseiten macht plausibel, warum das Burn-out-Syndrom letztlich nur bedingt als gesellschaftsfähige Variante der Depression oder als Entschuldigung für bloße Unlust an der Arbeit taugt.

Es wird auch viel Schindluder mit behauptetem Burn-out getrieben: Nicht zuletzt kann man lernen, dass nicht hinter jedem Burn-out-Outing der intellektuellen oder sonstigen Prominenz ein innovativ-kreativer Entschleunigungseffekt stecken muss. Der subtile Beitrag der Wiener Soziologin und Mode-Forscherin Monica Titton führt an zwei aus der Presse bekannten Beispielen vor, dass derart intendierte Werbung für die eigene Person nicht bei allen verfängt.