Albert Speer :
Es besteht kein Zweifel, ich war zugegen

Von Gina Thomas, London
Lesezeit: 3 Min.
Zugegen oder nicht zugegen? Albert Speer
War Albert Speer dabei, als Himmler die Ermordung aller Juden ankündigte? In London sind jetzt unbekannte Briefe des Hitler-Architekten aufgetaucht. Die Korrespondenz vertieft und ergänzt das zwiespältige Bild von Hitlers Architekt.

Am 27. März kommt beim Londoner Auktionshaus Bonhams eine seltsame Korrespondenz zum Aufruf. Es sind gut hundert Briefe, die Hitlers Rüstungsminister Albert Speer mit der Witwe eines belgischen Widerstandkämpfers wechselte, der von den Deutschen erschossen wurde. Hélène Jeanty Raven, Ninette genannt, hatte Speer 1971 erstmals geschrieben und ihm später das Buch „La peine de vivre“ (1952) geschickt, das sie über ihre Kriegserfahrungen geschrieben hatte.

Ihr Bericht hat Speer offenbar sehr berührt, denn es entwickelte sich zwischen den beiden eine intime, wenn auch äußerst angespannte Freundschaft. Ninettes sanguinisches und mitunter hysterisches Temperament befremdete Speer, und immer wieder standen die beiden vor der Frage, ob sie die Beziehung fortsetzen sollten.

„Wer wird mir glauben?“

Ein Brief, den Speer im Dezember 1971 an Hélène Jeanty schrieb, wird besonders hervorgehoben. Darin vermerkt er: „Es besteht kein Zweifel. Ich war zugegen, als Himmler am 6. Oktober 1943 ankündigte, dass alle Juden umgebracht werden würden.“ Dieser Brief datiert aus den Tagen, in denen die Lektüre des Artikels des Harvard-Professors Erich Goldhagen, „Albert Speer, Himmler und die Endlösung“, in der amerikanischen Zeitung „Mainstream“ Speer zutiefst beunruhigt hatte. Der belgischen Freundin berichtet er, er habe die Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg durch seinen Anwalt unverzüglich über diese angebliche „Enthüllung“ benachrichtigt, und der Direktor habe versichert, dass diese Beschuldigung Goldhagens in den „zwanzig Jahren“ Haft inbegriffen gewesen seien, zu denen Speer beim Nürnberger Prozess verurteilt worden war.

Voller Reue erzählt Speer, er sei mehr als verzweifelt, weil seine Adressatin es mit jemandem zu tun habe, der offenbar nichts als ein Schwindler sei. „Wer wird mir glauben, dass ich dies unterdrückt habe, dass es leichter gewesen wäre, dieses alles in meinen Erinnerungen zu schreiben, wie Schirach es getan hat? Aber schildert das ganze Buch nicht zwischen den Zeilen diese Wahrheit? Wie viele Jahre arbeitet das in meinem Unterbewusstsein?“

Aufgebracht und unsicher

Einige Monate später ist Speer besseren Mutes. Am 28. Juli meldet er, das Dokument im Bundesarchiv in Koblenz, auf das sich Goldhagen stützte, „ist nicht so negativ wie angekündigt“. Es habe den Anklägern in Nürnberg wahrscheinlich schon vorgelegen. Der Leiter der Zentralstelle in Ludwigsburg habe Speers Anwalt mitgeteilt, die Angelegenheit werde wohl keine weiteren Folgen haben. Joachim Fest schildert in den Aufzeichnungen seiner zahlreichen Gespräche mit Speer („Die unbeantwortbaren Fragen“, Rowohlt 2005), wie dieser ihn wegen des Goldhagen-Artikels angerufen habe. Speer sei sehr aufgebracht gewesen, aber auch unsicher, „und der ganze süddeutsche eingefärbte Gleichmut, der manchmal den Eindruck erweckte, er spräche von einer eher fremden Sache, die ihn nur am Rande betreffe, war wie mit einem Schlage dahin“.

Der Artikel mache ihn „fassungslos“, habe Speer am Telefon mehrfach wiederholt. Mit seiner Erregung habe er klargemacht, dass es wirklich um die „Kardinalfrage“ seines Lebens ging. In diesem Gespräch sagte Speer, er habe ein zuverlässiges Erinnerungsvermögen, aber seit der Attacke Goldhagens, sei ihm der Verdacht gekommen, „ich könne mir selbst nicht mehr glauben“. Er wolle beweisen, dass er nicht zugegen gewesen sei, schon, um „sich selber wieder trauen zu können“. Speer brachte in der Folge zwei Zeugen vor, die in eidesstattlichen Erklärungen versicherten, er sei vor der Rede Himmlers abgereist.

„Es steht alles im Buch“

Gitta Sereny, die das Buch „Albert Speer: Sein Ringen mit der Wahrheit und das deutsche Trauma“ (1995) verfasste, erklärt gegenüber dieser Zeitung, sie habe immer angenommen, dass Speer von Himmlers Posener Rede gewusst habe; enge Freunde von ihm waren an jenem 6. Oktober 1943 anwesend und man könne sich schlechterdings nicht vorstellen, dass die Eröffnungen Himmlers nicht Gegenstand der Gespräche waren. Ihr gegenüber habe Speer indes stets angegeben, zwar in Posen bei der Tagung, jedoch nicht bei Himmlers Rede zugegen gewesen zu sein. Überrascht ist Sereny vor allem über die Adressatin von Speers Briefen, von der sie trotz ihrer Kenntnis von Speers Korrespondenz noch nie gehört hat.

In einem weiteren Brief an Ninette berichtet Speer von einem Anruf seines Verlegers Wolf Jobst Siedler, unmittelbar nachdem die Goldhagen-Geschichte hochgekommen war. Er zitiert Siedler: „Aber ich weiß garnicht, was Sie wollen. Es steht alles im Buch.“ Obwohl diese Korrespondenz ein Licht wirft auf eine Freundschaft Speers, über die in der Öffentlichkeit bislang nichts bekannt war, und obwohl die Briefe, die Speer und Hélène Jeanty über zehn Jahre hinweg meist in französischer Sprache gewechselt haben, unser Bild Speers vertiefen, gilt auch nach der Lektüre weiterhin jene Einschätzung Siedlers von damals.