Mahler-Festival Leipzig :
Symphonischer Weltgerichtshof

Von Gerald Felber
Lesezeit: 4 Min.
Andris Nelsons dirigiert das Gewandhausorchester Leipzig bei Mahlers „Auferstehungssymphonie“.
Beim Gustav-Mahler-Festival in Leipzig zeigen sich Andris Nelsons und das Gewandhausorchester den zu Gast geladenen Münchner Philharmonikern deutlich überlegen.

Gustav Mahlers Jahre in Leipzig – zwei Spielzeiten zwischen 1886 und 88 – waren für den Mittzwanziger einschneidend wichtig. Gegen Ende der beiden Jahre schrieb er hier seine 1. Symphonie und arbeitete sich an das verschachtelte Konstrukt der folgenden drei „Wunderhorn“-Symphonien heran; Weichenstellungen, aus denen alles hervorging, was dann seinen prägenden Einfluss auf die folgenden Musikergenerationen ausmachte. Dennoch hat Mahler, anders als Bach, Mendelssohn oder Schumann, von denen viele Werke unlösbar mit Leipzig verwoben scheinen, dort keinen Heimvorteil. Wohl gab es Persönlichkeiten wie Václav Neumann und Herbert Kegel, die ihn schon zu DDR-Zeiten kompetent und erfolgreich ins Bewusstsein der Hörer einpflanzten, doch Franz Konwitschny, Kurt Masur und Herbert Blomstedt, zusammen fast ein halbes Jahrhundert an der entscheidenden Schaltstelle als Gewandhaus-Kapellmeister zugange, haben den großen Charismatiker allesamt zwar nicht ignoriert, aber auch nicht systematisch gepflegt.

Das änderte sich, als 2005 mit Riccardo Chailly ein ausgewiesener Mahler-Experte das Amt übernahm. Seiner Initiative war 2011 auch das erste Mahler-Festival in Leipzig zu danken. Wenn nun bei dessen aktueller Neuauflage Andris Nelsons – nach einem lockeren Präludium mit den „Drei Pintos“ (F.A.Z. vom 17. Mai) sowie Lieder- und Kammermusikabenden – mit der „Auferstehungssymphonie“ als Erster richtig in die Vollen ging und dann zwischen dem 26. und 29. Mai mit drei Aufführungen der „Symphonie der Tausend“ auch den entsprechend gewaltigen Schlusspunkt setzen wird, ist die Konstellation die gleiche wie bei vielen anderen Repertoire-Fortspinnungen des nun im fünften Jahr amtierenden aktuellen Chefs: eigene Akzente zu setzen, ohne dabei alle Traditionen umzustürzen.

Das ist in diesem Falle, wenn man die Himmelfahrts-Aufführung der 2. Symphonie als bilanzierende Synthese der bisherigen Mahler-Aktivitäten Nelsons’ (bisher vor allem mit den Wiener Philharmonikern) betrachtet, rundum gelungen. Und im Direktvergleich mit den einen Abend später gastierenden Münchner Philharmonikern unter Tugan Sokhiev konnte man sich überdies der Frage nähern, wie jene Qualität des lettischen Dirigenten, die jeweils besonderen Eigenheiten eines Ensembles und seiner Tagesverfassungen optimal auszuspielen, hier im Zusammentreffen seines ebenso traditionsgesättigten wie eigenwilligen Orchesters mit dem ausdruckswütigen Ekstase-Extremisten des „Fin de Siècle“ funktionieren konnte.

Blieben doch die Münchner, ein fabelhafter, hoch reaktionsgeschmeidiger Klangkörper, in ihrem Gewaltritt durch die 4. Symphonie und das „Lied von der Erde“ bei aller delikaten Feinzeichnung oft blass, hatten ihre „Hinhörpunkte“ am ehesten in Passagen kostbar erlesener, jugendstilig verfeinerter Lyrik (so im langsamen Satz der G-Dur-Symphonie), erreichten aber fast nie jene Betriebstemperatur, bei der man auch als kritischer Hörer in hilflos bewunderndem Staunen sozusagen nur noch die weiße Fahne hissen kann. Es scheint, dass Sokhiev das auch gar nicht wollte, sondern mit seinen Musikern so etwas wie einen vorgefertigten Schaltplan durcharbeitete: gut geölt, aber Abgründe nicht einmal streifend.

Leise, beklemmend intensiv – der MDR-Rundfunkchor

Das Gewandhausorchester war demgegenüber ungleich wuchtiger, körperlicher, gewiss auch unausgewogener – und man darf sogar sagen: brutaler. Doch dann eben auch „brutal gut“ – vor allem über die Ecksätze hin mit eisigen, stählern harten Paukenhieben oder apokalyptisch dröhnenden, ihre dampfend eingespeichelten Reißzähne weisenden Blechbläserattacken. Dem kontrastierten in diesem Wechselbad der Extreme immer wieder Momente einer ins Unendliche ziehenden Stille: wenn die Musik im ersten Satz durch bukolische Traumverlorenheiten wandert, die Fernbläserchöre in den Saal wehen und beim großen Weltgericht nach allen Verwandlungen, schmetternden Appellen und Aufbrüchen nur noch die karge Verlorenheit einzelner Vogelstimmen übrig bleibt, ehe der – später zu orgelnder Klangmacht aufwachsende – MDR-Rundfunkchor leisest und mit fast beklemmender Intensität Klopstocks Auferstehungshymne anstimmt.

Zum Teil liegen solche Unterschiede natürlich in den Stücken selbst, doch es war eben auch eine grundandere Klang- und Vermittlungsphilosophie. Wenn die Perfektion der Münchener – manchmal durchaus Staunen machend wie im durchdringenden Tirilieren der Holzbläser um den „Trunkenen im Frühling“ – oft ein wenig abgezirkelt wirkte, so zeigten die Leipziger, dass das Gegenteil solch gepflegter Disziplin nicht Anarchie und Willkür, sondern auch eine gespannt wache Freiheit sein kann.

Der fast potpourrihafte, federnd leichtfüßige Wiener Ton, mit dem Sokhiev das doppeldeutige Kinderspiel am Beginn der Vierten überfing, war originell, aber kaum eindringlich und schwer in geschlossene Entwicklungsbögen zu fassen. Freilich stellte auch Nelsons den Kopfsatz der Zweiten zunächst eher als Folge bald düster wuchtiger, bald zart verträumter, sich schwergewichtig im Raum drängender Tableaus nicht unbedingt als geschlossene dramatische Handlung hin – und strahlte trotzdem direkter, weniger umwegig ins emotionale Zentrum.

Wenig erinnerungsträchtig agierten die in sämtlichen Werken beider Abende so wichtigen Solostimmen. Christiane Karg sang den paradox zartfröhlichen Todes-Fiebertraum der 4. Symphonie mit inniger, aber vor allem zur Mittellage hin nicht besonders farbstarker Schlichtheit, Gerhild Romberger füllte ihre Alt-Soli in der Auferstehungssymphonie eher still-verhalten und fand in Nikola Hillebrand einen etwas aktiveren, aber auch nicht wirklich überschwänglichen Gegenpart. Bei den Tenorsätzen des „Liedes von der Erde“ hatte Andreas Schager, weithin textunverständlich, gepresst und angestrengt artikulierend, schlicht einen enttäuschenden Tag, während seine Alt-Partnerin Ekaterina Gubanova manch schönen Legato-Bogen entfaltete, doch in der Grundanlage eine fast phlegmatisch wirkende, kaum ausstrahlende Statik verbreitete; noch eine kleine Enttäuschung mehr bei diesem Abend ohne große Wirkungstreffer.