Bürgerkriegsgefahr :
Übergangszeiten sind gefährlich

Von Alexander Gallus
Lesezeit: 4 Min.
Wenn der Mob vor der Tür steht: Szene von der Tribüne des Repräsentantenhauses am 6. Januar 2021
Eine gespaltene Gesellschaft ist ein Risikofaktor. Eine amerikanische Politologin analysiert, unter welchen Umständen normale politische Konflikte in Gewalt umschlagen können.

Vor dreißig Jahren eröffnete Hans Magnus Enzensberger in einem langen Essay „Aus­blicke auf den Bürgerkrieg“. Nach dem Ende des Kalten Krieges sah er allerorten die Gefahr solcher Konflikte, die dadurch bestimmt waren, sich „von innen heraus zu entzünden“. Er blickte nicht nur auf einen bewaffneten Mob in fernen Weltregionen und Staaten nichtdemokratischer Prägung, sondern auch in den Metropolen des Westens. Der zeitdiagnostisch bewanderte Beobachter hob zweierlei hervor: erstens, dass es sich bei diesem, wie er meinte, „molekularen“ Bürgerkrieg vor der eigenen Haustür um einen „endogenen Prozess“ und nicht um einen „eingeschleppten Virus“ handele; zweitens, dass die damit verbundene Eskalationsgefahr groß sei und ein „Flächenbrand“ drohe.

Das schrieb Enzensberger 1993 als eindringliche Mahnung. Wie wir dreißig Jahre später wissen, trat das Chaos nicht ein und gehören blutige Straßenkämpfe nicht zu unserer Alltagserfahrung. Gleichwohl sieht sich die amerikanische Politikwissenschaftlerin Barbara F. Walter veranlasst, für die Vereinigten Staaten – aber nicht nur für sie – vor einer wieder gesteigerten Bürgerkriegsdynamik zu warnen. Emblematisch dafür sind die Ereignisse vom 6. Januar 2021, als ein aufgebrachter Mob das Kapitol in Wa­shington stürmte.

Walter, die an der kalifornischen Universität von San Diego Internationale Be­ziehungen lehrt, forscht seit Längerem über Bürgerkriege und gehört der staatlich geförderten „Political Instabi­lity Task Force“ an. Der Anspruch ihres Buches, das es auf die Bestsellerliste der „New York Times“ geschafft hat, ist nicht in erster Linie ein tagesaktueller, sondern ein grundsätzlicher. Besser noch: Sie will beides miteinander verbinden und mithilfe ihrer Forschungen etwas über den Zustand der gegenwärtigen De­mokratie aussagen, um zu deren Be­standssicherung beizutragen.

Klar und logisch aufeinander aufbauend

Dem Leitbild einer Politikwissenschaft gemäß, die ein systematisches Anliegen verfolgt und Gesetzmäßigkeiten herausfinden will, begeistert sich die Autorin im Grunde nicht für das Individuelle, sondern für das Typische und Grundsätz­liche. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass sie ihre Kapitel jeweils mit der plastischen Schilderung von Einzelfällen beginnt, bevor sie diese anhand von skalierten Indizes quasi mathematisch ge­wichtet und einsortiert. Sie hantiert souverän mit verschiedenen Kennziffern der Demokratiemessung wie dem Polity- oder V-Dem-Index. Sie tut das sprachlich geschickt und vermeidet einen abschreckenden sozialwissenschaftlichen Jargon. Zu begrüßen ist auch, dass sie die Politikwissenschaft „mit ihrer strukturierten Me­thode“ für die „Analyse geschichtlicher Abläufe“ einsetzen will. Das gelingt ihr durchaus, ob sie über den Nordirlandkonflikt, Vorgänge im zerfallenden Jugo­slawien, Südafrika am Ende des Apartheidregimes, den Irak nach Saddam Husseins Herrschaft oder Umbrüche in My­anmar schreibt. Individuelle Abweichungen und kontingente Momente interessieren sie dabei weniger, vielmehr nutzt sie historische Konstellationen als „Fälle“, um „Muster“ zu identifizieren.

Es sind diese Muster und (Risiko-)Faktoren – manchmal spricht sie auch von „Drehbüchern“ –, die Walter reizen, die sie identifiziert, nachvollzieht und gelegentlich anhand ihrer Modellbildung in­szeniert. Klar und logisch aufeinander aufbauend arbeitet sie Kapitel für Kapitel heraus, was alles zusammenkommen muss, um eine Bürgerkriegssituation zu begründen. Besonders gefährdet seien Staaten, die sich in einem höchst beweglichen Übergangsbereich zwischen Demokratie und Autokratie befinden, der sogenannten Anokratie (deren Definition leider undeutlich bleibt). Werde diese durch „Faktionen“ geprägt, also durch eine identitär verfestigte und gespaltene Ge­sellschaft, wachse das Bürgerkriegsrisiko weiter. Politik mutiere dann zu einem System, in dem sich die Bürger nicht länger „um das Wohl des Landes als Ganzes sorgen“, sondern lediglich „um die Mitglieder der eigenen Gruppe“. Status­verluste einzelner Gesellschaftsschichten und ein sich ausbreitendes Gefühl schwindender Hoffnung auf eine systemimmanente Reform spitzten die Lage wei­ter zu.

Sie bevorzugt die düsteren Töne

Extremistische „Konfliktentrepreneure“, im Zeitalter der Migration insbesondere solche ethnonationalistischer Couleur, suchen Spannungen gezielt zu verschärfen. Walter sieht hier nicht zuletzt die global vernetzte Alt-Right-Bewegung am Werk. Deren geistige Brandstiftung sei umso gefährlicher, als ihr das Internet und speziell die sozialen Medien neuar­tige Foren populistischer Wirksamkeit er­öffnet hätten. Gatekeeper klassischer Medien und Parteiorganisationen könnten so umgangen werden. An die Stelle von Kämpfen um das bessere Argument und geordneten Programmdiskussionen sei ein gefährliches Spiel mit Empörung und Angst getreten, das eine „Spirale der Verunsicherung“ antreibe.

So sehr Walter ihre Erkenntnisse aus Studien zu Ländern außerhalb der west­lichen Hemisphäre gewonnen hat, zielt ihr in weiten Teilen empirisch-analytisch angelegtes Buch doch genau auf den Westen und an erster Stelle auf die USA seit der Trump-Ära. Die beiden Schlussabschnitte, die 2028/29 ein Bürgerkriegsszenario in amerikanischen Städten entwerfen und Überlegungen zu dessen Vermeidung anstellen, erhalten einen em­phatischen, persönlichen, mindestens zeit­kritischen Anstrich. Es gelte den Rechtsstaat zu stärken, das Wahlrecht zu re­formieren und die Qualität staatlicher Dienstleistungen ebenso wie soziale Ab­sicherungsmaßnahmen zu verbessern. Zudem seien soziale Medien zu regulieren, auch um eine „Null-Toleranz-Haltung gegenüber Hassbotschaften“ wirksam umsetzen zu können. An dieser Stelle fragt man sich, ob die Autorin nicht über das Ziel hinausschießt und an­gesichts ihres Warnrufs zum Schutz der Freiheit allzu leichtfertig die Beschränkung von Freiheitsrechten fordert.

Walter hat ein in weiten Teilen kenntnisreiches Buch zu einer wichtigen Angelegenheit – dem Schutz unserer Demokratie – verfasst. Sie neigt nicht zu Schwarzmalerei, und doch bevorzugt sie die düsteren Töne. Das beginnt mit der Verwendung des von ihr nicht sonderlich scharf gefassten, in jedem Fall aber ein erhebliches Maß an Dramatik suggerierenden Terminus des Bürgerkriegs selbst. Dagegen unterschätzt sie bewahrende Kräfte einer politologisch freilich schwer messbaren Demokratietradition (zumal der langen amerikanischen) ebenso wie die Wehrhaftigkeit und den Anti-Chaos-Reflex des institutionellen und proze­duralen Gefüges demokratischer Verfassungsstaaten.

Barbara F. Walter: Bürgerkriege. Warum immer mehr Staaten am Abgrund stehen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2023. 320 S., 26,– €.