Politische Bücher :
Verständnis für Orbán

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Vom mäßig erfolgreichen Liberalen zum Nationalkonservativen: Viktor Orbán
Der Politikwissenschaftler Werner Patzelt heißt nicht alles gut, was Ungarns Regierungschef macht. Doch der Zweck seines Buches „Ungarn verstehen“ ist klar.

Wer mit der politischen Entwicklung in Ungarn näher vertraut ist, dürfte schon im Vorwort hellhörig werden. Darin schreibt der Autor des Buches „Ungarn verstehen“, der Politikwissenschaftler Werner Patzelt, dass er unlängst neun Monate als „Senior Fellow“ am Mathias Corvinus Collegium (MCC) in Budapest verbracht hatte. Leider verrät er denjenigen Lesern, die mit den Verhältnissen nicht ganz vertraut sind, nicht gleich, dass es sich dabei um eine Eliteschmiede handelt, die der Regierungspartei Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán nahesteht. Und dass er, Patzelt, mittlerweile als Forschungsdirektor des MCC in Brüssel fungiert.

Insbesondere in den Passagen, in denen er sich an einem „deutschen Ungarnbild“ abarbeitet, steigt der Verfasser in sehr hiesige Schützengräben der Meinungsbildung hinab. Richtig ist seine Feststellung, dass in Ungarn die Selbstdarstellung als „Opfervolk“ das Geschichtsbild dominiert. Doch wenn er daraufhin schreibt, in Deutschland dominiere das Selbstbild eines „Tätervolkes“, ist das schlicht falsch. Keine ernst zu nehmenden Historiker und Akteure der Erinnerungskultur greifen solche Kategorien der Kollektivschuld auf. Beispiele führt Patzelt auch nicht für seine Aussagen auf, dass deutsche Medien entweder aus Kenntnisfreiheit oder wegen ihrer angeblichen Linkslastigkeit kein gutes Haar an Orbáns Regierung ließen. Wer das behauptet, sollte die Fehlleistungen wenigstens benennen können.

Kalkulierte Ambivalenz

Phasenweise weniger Störgefühl stellt sich ein, wenn der Autor die Geschichte Ungarns und seiner politischen Entwicklung stärker deskriptiv beleuchtet. So zeichnet er Orbáns Entwicklung vom politisch nicht sonderlich erfolgreichen Liberalen zum Nationalkonservativen nach. Ebenso erklärt er, wie Orbán seit seiner zweiten Regierungsübernahme 2010 das Land auch durch den Einfluss im vorpolitischen Raum fest im Griff hat, zum Beispiel durch ihm treu ergebene Medien. Dem ist schwerlich zu widersprechen. Sogar Kritik erlaubt sich Patzelt – etwa an einer Erinnerungspolitik, die Ungarn stark als Opfer der deutschen Besatzung vor Ende des Zweiten Weltkriegs darstelle, aber kein Aufhebens davon mache, dass auch viele Ungarn am Holocaust mitgewirkt hätten.

Punktuelle Kritik sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Buch offensichtlich einen bestimmten Zweck verfolgt. Und der liegt darin, Verständnis für die Politik des ungarischen Regierungschefs wecken. Das scheint dem Verfasser zufolge besonders im bürgerlich-konservativen Milieu in Deutschland notwendig zu sein. Patzelt äußert die Auffassung, dass ein Mann wie der damalige Kommunist Gyula Horn, der von 1994 bis 1998 ungarischer Ministerpräsident war, wegen der Grenzöffnung von 1989 übermäßige Sympathien in den Unionsparteien genossen habe. Der Autor schreibt gar von einem „Horn-Kult“. Solche Interpretationen finden sich auch auf der Internetseite des mit dem MCC verbundenen Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit. Diesem dankt der Autor in seinem Vorwort für „Faktenzusammenstellungen“.

Patzelts Buch reiht sich ein in regierungsfreundliche PR, die gerade im deutschsprachigen Raum mit für die Größe Ungarns erstaunlichem Aufwand betrieben wird. Internetseiten wie „Ungarn heute“ oder das Magazin „The Hungarian Conservative“, das es an großen Bahnhofskiosken zu kaufen gibt, zeugen davon. Im Falle von Patzelts Buch zeigt sich: Die kalkulierte Ambivalenz, also die scheinbar neutrale Gegenüberstellung von Interpretationen, die in der Conclusio unter der Überschrift „Zweierlei Wahrheit?“ auf die Spitze getrieben wird, ist in einer liberalkonservativen Zielgruppe das erfolgversprechendere Mittel als überschwängliche Lobeshymnen. Orbán, dessen Fidesz-Partei 2021 aus der Europäischen Volkspartei ausgeschieden ist, hat nun vor allem ganz rechts Freunde. Doch das hat man, wie Patzelt andeutet, in Budapest immer noch nicht verwunden – und bemüht sich weiter, die letzten Brücken in den Hauptstrom vor dem Einsturz zu bewahren.

Hanebüchene Gegenüberstellungen

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Wem man recht gebe, sei eine „ganz persönliche Entscheidung“, schmeichelt der Autor dem Leser. Doch manche Gegenüberstellungen sind – man muss dies in der Klarheit aussprechen – schlicht hanebüchen. So etwa bei der Korruption, über die Patzelt schreibt: „Niemand bestreitet, dass es sie in Ungarn gibt.“ Für die einen sei das „verwerflicher Missbrauch öffentlicher Gelder“, und zwar „zum Zweck privater Bereicherung“. Doch es gebe auch eine andere Sichtweise: Um sich nicht von ausländischem Geld abhängig zu machen, könne ein „Netzwerk von wohlhabenden und einflussreichen Ungarn“ nötig sein. Welche der beiden Bewertungen man sich zu eigen mache: auch hier „die persönlich zu treffende Entscheidung“. Dass dies, ganz gleich, welcher Sichtweise man anhängt, das von den europäischen Steuerzahlern aufgebrachte EU-Geld zweckentfremdet, macht den Relativismus, den der Autor auf die Spitze treibt, umso fragwürdiger.

Wenn der Verfasser vor lautem „man kann es so oder so sehen“ doch eine Interpretation durchscheinen lässt, dann die: Orbáns Regierung orientiere sich eben am nationalen Interesse. Doch hier drängt sich eine andere Fragestellung auf, die Patzelt nicht beantwortet. Nämlich: Warum stand Ungarn in seiner Stimmungsmache gegen die Unterstützung für die Ukraine in der EU so allein da? Oder anders gefragt: Sind alle anderen einfach doof?

Werner Patzelt: Ungarn verstehen. Geschichte Staat Politik. Langen Müller Verlag, München 2023. 480 S., 35,– €.