Ehemaliger Grenzstreifen: Geographie und Gefühl

Wegen der Wiedervereinigung benutzt Gerhold Brill keinen Tacker mehr. Er nimmt inzwischen Büroklammern, die kann er mehrmals verwenden, und das spart Geld. Brill ist Bürgermeister einer hessischen Gemeinde an der Grenze zu Thüringen, die Gemeinde ist arm, seit dem Mauerfall bekommt sie keine besondere Förderung mehr, und Brill hat schon oft von den Büroklammern erzählt, er weiß, an welcher Stelle die Zuhörer Zeit zum Denken brauchen. Er wartet kurz, bevor er versucht, die Gedanken wieder einzufangen. „Aber nicht, dass es am Ende heißt, der Bürgermeister von Meinhard, der spricht nicht gut über die Wende“, sagt Brill, der Bürgermeister von Meinhard, ein Parteiloser, und dann spricht er nicht gut über das, was die Wende aus seiner Gemeinde gemacht hat. Das Leben auf der anderen Seite Der Ortsteil Hitzelrode gehört dazu. Früher gab es hier drei Kneipen, heute ist nur eine geblieben: Helgas Eck, aber das macht nur noch freitags auf. Das Dorf direkt vor der ehemaligen Grenze, in dem heute 230 Menschen leben, war einmal Kurort, bis sich die Gemeinde die dafür nötigen Luftmessungen nicht mehr leisten konnte und sowieso kaum noch Herbergen existierten. Früher, als es Deutschland noch zweimal gab, kamen viele Tagesgäste, und es war schwierig, überhaupt einen Kurplatz zu bekommen, so beliebt war die gute Luft und war die Ruhe. Dann übernachteten ein paar Jahre lang Unternehmer und Hoffnungsreisende auf ihrem Weg in den Osten, heute sind es nur noch ein paar Wanderer. Volkerode liegt in Thüringen, auf der anderen Seite der einstigen Grenze. Früher war das mitten im Fünfkilometerstreifen vor den DDR-Sperranlagen, was bedeutete, dass dort gar niemand Fremdes übernachten durfte. Die Einheimischen mussten nachts ihre Obstleitern anketten. Die DDR-Führung hatte Angst, dass sich mit ihnen jemand über den Grenzzaun davonmachen könne. Manchmal passierte das, und dann stand in den Zeitungen im Westen, Flüchtlinge hätten „die sowjetzonalen Sicherheitshindernisse überquert“ und um Asyl gebeten. Alle in Volkerode sind froh, dass die Zeit vorbei ist. Aber heute brauchen sie Glück, um eine Arbeit zu finden in Kassel oder in Bad Hersfeld. Eine Kneipe gibt es nicht, aber manchmal trinken sie ein paar Biere zusammen in den Räumen der Freiwilligen Feuerwehr. Suche nach einer Zukunft Volkerode und Hitzelrode sind sich heute ähnlicher denn je. Sie gehören jetzt beide zur selben deutschen Kategorie: Provinz, weit weg von den großen Städten, verlassen von den Jungen, eine Stunde bis zur nächsten Autobahn. Das, was Volkerode und Hitzelrode geblieben ist, haben sie gemeinsam: die Gobert, ein Höhenzug zwischen beiden Orten, und ein so schöner Flecken Erde, dass sie ihn im Westen „Hessische Schweiz“ getauft haben. 16 Premiumwanderwege. So viele gibt es in der Region um Hitzelrode und Volkerode, und vor dieser Information gibt es kein Entkommen. Sie steht überall, und wer sie nicht gesehen hat, den weisen die Leute auf sie hin. „Sanfter Tourismus“ nennen sie im Westen das, was ihre Hoffnung ist: das Wandern. Das ist es es aber auch, was die Leute in Hitzelrode und Volkerode schon seit 20 Jahren voneinander trennt. Ernst Roth stammt aus Volkerode, aus dem Osten also, und als es die Grenze noch gab, ist Roth gar nicht erst losgewandert: Er wäre ohnehin nicht weit gekommen, ohne Sondergenehmigung noch nicht einmal bis zu der kleinen Kapelle am Fuße der Gobert, des Höhenzugs zwischen Hitzelrode und Volkerode. Seit die Grenze offen ist, wandert er dauernd auf die Gobert, allein schon, weil es möglich ist. Funkpause zwischen den Orten Im Dezember 1989 haben die Volkeroder und die Hitzelroder den Grenzzaun aufgeschnitten. Sie redeten über gemeinsame Wanderwege, über den Tourismus, über die neue Freiheit. Sie versprachen sich, dass es von nun an zu Ehren der Grenzöffnung jedes Jahr eine Winterwanderung geben sollte. In einem Jahr sollten das die Volkeroder organisieren, in dem anderen die Hitzelroder. 1995 kommt Roth kurz vor Weihnachten von einer längeren Kur nach Hause zurück. Heiligabend geht er in der Kirche, danach erfährt er es: „Hitzelrode macht es nicht“, erzählen sie ihm. Im Westen hatten sie das Versprechen gebrochen, ohne Bescheid zu sagen. „Seitdem reden wir nicht mehr miteinander“, sagen sie in Hitzelrode. „Das hat sich eben schon wieder ein bisschen auseinander gelebt“, sagt in Volkerode Ernst Roth, als ginge es um eine in glücklicheren Tagen hoffnungsvolle Ehe. Und der Kolonnenweg, auf dem er steht, auf dem früher die Soldaten der Nationalen Volksarmee patrouillierten, ist wieder eine DL, wie einst der Sprachgebrauch beim Bundesgrenzschutz war: eine Demarkationslinie. Probleme im Westen Dabei sind sich die Leute in Hitzelrode und Volkerode nicht feind, es ist nur einfach so, wie sie es selbst sagen: Sie reden nicht miteinander. Kann das wirklich nur am Wandern liegen? Auf die Frage antworten sie nicht direkt. Aber man kann ihnen einfach zuhören. „Die feiern jetzt zur Wende, und wir im Grenzbereich sollen mitfeiern“, sagt Gerhold Brill, der Bürgermeister der hessischen Gemeinde Meinhard, zu der Hitzelrode gehört. „Für uns hat die Einheit. . .“ Brill unterbricht sich. „Hat nichts gebracht, darf ich gar nicht sagen, das ist zu negativ.“ Er setzt neu an: „Für uns im kommunalen Bereich hat die Grenzöffnung sehr viele Schwierigkeiten mit sich gebracht, gerade finanzieller Art.“ Erst gab es keine Zonenrandförderung mehr, dann keine Betriebe mehr, und heute gibt es immer noch keine Autobahn. Wendeverlierer am Grenzestreifen Im Westen glauben sie, dass sie selbst vom tieferen Westen vergessen worden sind. Sie sind der Meinung, dass die Wendegeschichte noch nicht auserzählt worden ist, oder dass man bisher ein Kapitel vergessen hat, eines, das davon erzählt, dass die wahren Wendeverlierer weder im Osten noch im Westen leben, sondern direkt am Grenzstreifen. „Wenn die A 44 gleich nach der Wende zügig gebaut worden wäre“, sagt Brill, „dann hätten wir vielleicht auch die Vorteile gehabt, die Hersfeld hat.“ Dort arbeiten bei Amazon mehr als 3000 Menschen. In der Gemeinde Meinhard ist der größte Arbeitgeber ein Gummiboothersteller mit 400 Mitarbeitern, der gegen die Konkurrenz aus China kämpft. „Die Zukunft“, sagt Brill, und bringt den Satz zu Ende, wie ihn auch ein Bürgermeister in einem der ärmeren Länder in Südeuropa zu Ende bringen würde, „das ist der Tourismus.“ Die vergessene Region 16 Premiumwanderwege. Sogar Gerold Schwarz redet davon, aber bei ihm ist ein bisschen Spott dabei. Schwarz könnte der Mann sein, auf den eine vergessene Region gewartet hat. Geboren im Grenzgebiet in Thüringen, zog er nach der Wende in die Welt, leitete teure Hotels für große Ketten. 2013 kam er zurück ins einstige deutsche Grenzgebiet, dieses Mal auf die hessische Seite, und versucht seither, ein Hotel auf Schloss Wolfsbrunnen groß zu machen. Das Schloss nahe der Grenze ist ein märchenhafter Bau, der zu seiner Entstehungszeit um 1900 aussehen sollte, als stamme er aus der Renaissance, und der heute, frisch saniert und mit dem Geld eines russischen Investors teuer eingerichtet, so aussieht, als gehöre er nicht in diese Gegend. Vielleicht wolle nicht jeder Tourist die 16 Premiumwanderwege ablaufen, sagt Schwarz, und da ist wieder der Spott. Vielleicht wolle er wenigstens Tretboot fahren auf dem Werratalsee. Aber das geht nicht, weil es keinen Verleih gibt, nur die „Werratalnixe“, eine Fähre. Im Sommer ist der See so grün vor Algen, das keiner darin baden will. Und im Herbst liegt er vergessen da, wie ein großer Spuckefleck, um den keiner herumlaufen will. Schwarz findet, in Hessen habe man alles verschlafen, was man habe verschlafen können. Jahrelang habe man zugeschaut, wie ein Betrieb nach dem anderen in den Osten zog. In der Gemeinde Meinhard gibt es inzwischen 26.000 Übernachtungen im Jahr. Das findet der Bürgermeister nicht schlecht, Gerold Schwarz findet es zu wenig. „Thüringen stellt sich da besser an, die haben sich ganz gut profiliert“, sagt er. Gerold Schwarz hat diese Geschichte noch nicht so oft erzählt, er weiß nicht, dass die Zuhörer jetzt Zeit zum Denken brauchen. Wenn das stimmt, dann profiliert sich Thüringen auf dem selben Stück Natur, auf dem sich auch Hessen profilieren könnte. Wieso tun sie sich nicht zusammen, hüben und drüben? Die Frage versteht Gerold Schwarz nicht, auch wenn sie ihm mehrmals gestellt wird. Er redet über sie hinweg, redet über seine Pläne und darüber, wie sie in Mecklenburg-Vorpommern den Tourismus vorangebracht haben. Und deshalb ist auch er nicht der Mann, auf den die vergessene Region gewartet hat. Er ist einfach nur ein Mann aus der Region, der die Seiten gewechselt hat. Die „drüben“ haben besser Jeder in Volkerode und jeder in Hitzelrode würde sich dagegen wehren, dass 25 Jahre nach dem Mauerfall einer über die Gegend herumerzählt, da oben gebe es auch ohne Zaun noch eine Grenze. Sie würden auf die Zettel zeigen, die in den Grenzorten aushängen, und die die Feierlichkeiten zum Jubiläum bewerben. Aber sie alle erzählen einem irgendwann dann doch davon, warum die es „drüben“ besser haben. Und der Fahrer des Fleischerwagens, der im Osten die alternden Gemeinden versorgt, fährt nur dann in den Westen, wenn die Straßen gesperrt sind und es nicht anders geht. Ernst Roth, der Wanderer aus dem Osten, der Mann aus Volkerode, gehört nicht zu denen, die sich lange beklagen. Er zuckt die Achsel und macht los. Seitdem die Hitzelroder 1995 die Winterwanderung nicht wie abgemacht organisiert haben, organisieren sie Ernst Roth und die anderen vom Wanderverein Volkerode allein. Rund 300 Leute kommen da jedes Jahr, manche von weit her. Aus Hitzelrode, drei Kilometer zu Fuß entfernt, ist keiner dabei.