1. Startseite
  2. Kultur
  3. Gesellschaft

300 Jahre Kant – Wie man zum Menschen wird

KommentareDrucken

In der Kant-Ausstellung der Bundeskunsthalle Bonn.
In der Kant-Ausstellung der Bundeskunsthalle Bonn. © imago stock&people

Immanuel Kant schrieb nicht allein über Erkenntnis und Ethik, er formulierte auch eine ganz eigenständige Philosophie der Erziehung.

Kant ist für viele Theorieelemente und Einsichten berühmt, etwa für die Widerlegung aller Gottesbeweise, für den kategorischen Imperativ und den Entwurf einer internationalen Friedensordnung. Selbst Philosophen vom Fach kennen aber die Theorie der Bildung und Erziehung kaum, obwohl sie bis heute von bleibender Bedeutung ist. Kants pädagogische Aktualität beginnt schon mit der familiären Herkunft: Die großen Philosophen der Neuzeit entstammen der gebildeten Mittel- oder Oberschicht, Kant hingegen aus einer Handwerkerfamilie. Man muss also nicht aus dem Bildungsbürgertum stammen, um zu einem Muster für Bildung zu werden.

Nicht minder aktuell ist sein weites, geradezu enzyklopädisches Verständnis von Bildung. Unser Philosoph kennt sich bestens in den folgenden Themen aus und schreibt über sie: über Naturforschung und Erkenntnistheorie, über Moral, Recht und Politik, über Religion, die Theorie des Schönen und des Erhabenen, nicht zuletzt, obwohl häufig übersehen, auch über Bildung und Erziehung.

Mehr als zehn Jahre hält Kant eine Vorlesung über Pädagogik. Diese beginnt mit einer grundsätzlichen Beobachtung: „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.“ (Kant denkt hier nicht an Haustiere, sondern an die in freier Wildbahn lebenden Tiere.) Die Begründung überzeugt: Dem Menschen fehlen angeborene Quasi-Mechanismen, sogenannte Instinkte, die wie „eine fremde Vernunft“ für alles sorgen. Diesen Mangel, so Kants pädagogische Anthropologie, muss eine Erziehung ausgleichen. Er nennt sie überraschenderweise weltbürgerlich oder kosmopolitisch, eine Bestimmung, die umso mehr überrascht, als Kant seine Heimatstadt Königsberg und seine nähere Umgebung nie verlässt. Auf diese Weise praktiziert er, was heute, in Zeiten eines dringenden Umwelt- und Klimaschutzes, ohne Frage vorbildlich ist: Er lebt einen ökologiefreundlichen Kosmopolitismus.

Zu dessen Leitzweck erklärt er die Aufklärung und gibt ihr eine provokative Bestimmung: Nimmt man den Ausdruck wörtlich, so ist die Aufgabe gemeint, Klarheit ins Unklare und Licht ins Dunkle zu bringen. Kant kennt diese theoretischen Leistungen an, hält sie aber für zweitrangig. Denn wichtiger als die entsprechenden Kenntnisse und Fertigkeiten ist eine moralisch-praktische Vorableistung. Unser Philosoph bringt sie in seiner berühmten Definition der Aufklärung auf den Punkt: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Folgerichtig komme es in der Erziehung „vorzüglich darauf an, daß Kinder denken lernen“, somit „den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d.i. in der eigenen Vernunft) suchen“.

Für diese Leitaufgabe sind nun als erstes nicht theoretische, sondern praktische Leistungen gefordert: eine charakterliche Anstrengung und vorab Courage. Weil diese Leistungen keinen überragenden Verstand voraussetzen, sondern von jedermann erbracht werden können, lehnt Kant hier eine beliebte Strategie ab, die Verantwortung für eigenes Fehlverhalten auf andere abzuschieben, auf die Eltern, die Lehrer oder „die“ Gesellschaft. Kant, der große Philosoph der Freiheit, betont die Eigenverantwortung jedes Menschen.

Des Näheren plädiert er für eine Erziehung in vier zunehmend anspruchsvolleren Stufen. Er beginnt mit einer Aufgabe, die man ungern anerkennt, mit Disziplinieren . Neugeborene Menschen pflegen zu schreien. Das aber, bemerkt Kant zu Recht, lockt im Fall junger Tiere etwa Wölfe an, für die die Jungtiere eine willkommene Beute sind, weshalb sie um ihres Überlebens willen ein Schreien besser unterlassen. Weil jungen Menschen aber diese Vorsichtsmaßnahme fehlt, benötigen im Unterschied zur Tierwelt nur sie „Disziplin oder Zucht“.

Der Philosoph Otfried Höffe.
Der Philosoph Otfried Höffe. © imago stock&people

Der einschlägige Aufgabenbereich ist allerdings weit umfangreicher. Weil Menschen, so Kant, anfangs einem „Despotismus der Begierden“ unterworfen sind, müssen sie, um eigenverantwortliche Personen zu werden, sich einem Prozess der Befreiung aussetzen. Bei dieser Emanzipation geht es aber nicht, womit sich gesellschaftspolitische Debatten oft ausschließlich befassen, um die Befreiung von ungerechten Lebensverhältnissen. Kant legt in seiner Pädagogik vielmehr auf eine Aufgabe wert, die für die charakterliche Menschwerdung unaufgebbar ist: Der Mensch muss sich von jenen inneren Zwängen freimachen, den tendenziell wilden Begierden und maßlosen Trieben, die den Gebrauch seiner ihn auszeichnenden Vermögen, Verstand und Vernunft, hindern.

Sinnenfeindlich soll die Erziehung allerdings nicht sein. Verboten ist lediglich das, was eine Entfaltung im Blick auf die „Zwecke der Vernunft“ verhindert: Man darf sich ihnen nicht sklavisch unterwerfen. Offensichtlich braucht es Disziplin freilich nicht bloß in den ersten Lebensjahren. Ohne sie und eine weitere zu Unrecht belächelte bürgerliche Tugend hätte unser Handwerkersohn sein gewaltiges Lebenswerk nicht zustande gebracht.

Zum Autor:

Otfried Höffe , geboren 1943 in Leobschütz, Oberschlesien, ist Professor emeritus für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Sein neues Buch: „Immanuel Kant heute. Person und Werk“. Marix Verlag, Wiesbaden 2023. 396 S., 34 Euro.

Ist der Heranwachsende von der Übermacht der Begierden freigeworden, beginnt der positive Erziehungsprozess. Dessen erste Stufe besteht in der Entwicklung von Kenntnissen und Fertigkeiten, die die selbstgesetzten Zwecke zu erreichen erlauben. Kant spricht von Kultivieren und nennt die dabei erworbene Kompetenz Geschicklichkeit. Von ihr heißt es in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“: „Weil man in der frühen Jugend nicht weiß, welche Zwecke uns im Leben aufstoßen dürften, so suchen Eltern vornehmlich ihre Kinder recht vielerlei lernen zu lassen und sorgen für die Geschicklichkeit im Gebrauch der Mittel zu allerlei beliebigen Zwecken.“ Außerdem empfiehlt Kant, die Entwicklung innerer Fähigkeiten dem Gebrauch von Werkzeugen vorzuziehen. Für die eigene Epoche rät er, statt sich nur nach der Uhr zu richten, die Zeit nach dem Sonnenstand zu bestimmen. Auch solle man, statt ein Boot zu benutzen, Schwimmen lernen. Auch heute dürfte es klüger sein, statt sich zu viel von Werkzeugen, etwa IT-Geräten und -programmen abhängig zu machen, lieber mehr eigene Kenntnisse und Fertigkeiten auszubilden.

Gewisse Geschicklichkeiten dürften zeitenübergreifend hilfreich sein. Kant nennt als Beispiele das Training des Gedächtnisses, Lesen und Schreiben sowie „alte Geschichte“, ferner Sprachen und vorab die sogenannte Muttersprache, weiterhin Kompetenz in Mathematik, den Naturwissenschaften und der „politischen Geographie“.

Einen besonderen Wert legt er auf einen „Katechismus des Rechts“. Dieser zielt auf „die Bildung der Kinder zur Rechtschaffenheit“ und auf das Unterscheidenlernen von Recht und Unrecht. Dazu gehöre etwa, schuldige Rechtspflichten von verdienstlichen Tugendpflichten zu unterscheiden. Aus diesem Grund darf man das Geld, das man einem Gläubiger zurückzuzahlen hat, nicht aus Mitleid einem Notleidenden schenken.

Auf der nächsten positiven Stufe, dem Zivilisieren , soll der Heranwachsende zum „civis“, zum Bürger, erzogen werden. Dabei ist nicht nur, nicht einmal primär der Staatsbürger gemeint, sondern der Mitmensch, der übrigens keineswegs seine eigenen Interessen vernachlässigen soll. In drei Teilstufen soll er zunächst lernen, „in die Gesellschaft zu passen“, sodann „beliebt zu sein“ und schließlich „Einfluß zu haben“. Wer das gelernt hat, versteht sein aufgeklärtes Selbstinteresse zu verfolgen. Er heißt klug und beherrscht zum Beispiel die „Kunst“, seine „Geschicklichkeit an den Mann zu bringen“, auch „andere zu durchforschen, sich selbst dagegen undurchdringlich zu machen“. Und im kaum vermeidbaren Wettbewerb agiert er nicht als Feind, sondern als „zivilisierter Konkurrent“.

Auf der höchsten, aber auch schwierigsten Stufe, dem Moralisieren , schließlich soll man zu einer rundum rechtschaffenen Person erzogen werden. Dies erfolge in Freiheit, weshalb man ein Kind „nicht strafen, sondern ihm mit Verachtung begegnen“ soll und „ihm sagen, daß man ihm in Zukunft nicht glauben werde“.

Seinem Leitbegriff, der Freiheit, treu, fasst Kant die verschiedenen Erziehungsziele in einem Leitziel zusammen: der Erziehung zu einem „frei handelnden Wesen“. Auf der ersten Stufe, dem Disziplinieren, wird man von der Eigen- und Übermacht der Begierden frei. Auf der zweiten Stufe, dem Kultivieren, lernt man mittels Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten selbstgesetzte Zwecke zu verfolgen. Auf der nächsten Stufe, dem Zivilisieren, wird das Zweckeverfolgen verschiedener Menschen miteinander verträglich. Und auf der höchsten Stufe, dem Moralisieren, lernt man, rechtschaffen zu leben. Hier praktiziert man die Autonomie, die Selbstgesetzgebung des Willens, und findet dabei seine Würde in sich selbst.

Auf der dritten Erziehungsstufe wird übrigens eine zweite anthropologische Besonderheit wichtig: Der Mensch ist nicht bloß „das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß“. Er ist auch „das einzige Tier, das arbeiten“ und das Arbeiten lernen muss. Infolgedessen darf die Erziehung sich nicht mit bloßer Bildung zufrieden geben. Sie muss sie um eine Ausbildung ergänzen, die den Menschen befähigt, aber auch verpflichtet, für seinen Lebensunterhalt selber aufzukommen – um im Zuge der Berufstätigkeit nicht bloß ökonomischen Zwang zu erleben, sondern seine Begabungen, einschließlich sozialer Fähigkeiten zu entwickeln und sowohl Selbstachtung als auch Achtung durch die Mitmenschen zu erfahren.

Auch interessant

Kommentare