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Documenta 15 und Antisemitismus: Schatten und auch etwas Licht

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Die Keramik-Bananen des Kollektivs Britto Arts Trust thematisieren das Aufhübschen und Normieren von Lebensmitteln.
Die Keramik-Bananen des Kollektivs Britto Arts Trust thematisieren das Aufhübschen und Normieren von Lebensmitteln. © Lisa Berins

Documenta, Woche zwei: Der Skandal schwelt, viele jedoch scheinen das vor Ort gar nicht mitzubekommen.

Kassel – Zwischen Tomaten und Pflücksalat scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Mahbubur Rahman – Typ Surfer mit langem, leicht grauem Haar und verspiegelter Sonnenbrille – steht hinter der Bambus-Bar und lächelt. „Wir teilen Essen“, sagt er zu einer Frau mit Rucksack. Sie ist verschwitzt durch den Gemüsegarten gekommen und wird in diesem Moment Teil des Pak Ghor; einer Art bengalischer Freiluft-Wohnküche, in der Menschen über das Essen zusammenfinden sollen. „Wir teilen Essen. Und Liebe“, sagt Rahman, Gründer des Kollektivs Britto Arts Trust aus Bangladesch, während er Gemüsesuppe über den Tresen reicht. Zur Mittagszeit sind etwa 15 Leute spontan Gäste des Kollektivs geworden. Sie sitzen auf dem Boden der Bambus-Architektur, tauschen sich über die Kunst aus, die sie auf der Documenta gesehen haben, über ihre Herkunft, löffeln Eintopf. Kunsturlaub in Kassel. Es könnte so schön sein. Wenn da nicht dieser dunkle Schatten über der Weltkunstausstellung läge.

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Mahbubur Rahman (m.) vom Kollektiv Britto Arts Trust. © Berins

Documenta 15 in Kassel: An Britto Arts Trust gingen die Antisemitismusvorwürfe vorbei

Britto Arts Trust ist eines der 14 Kunst-Kollektive, die zur Documenta eingeladen wurden. In verschiedenen Installationen in und vor der Documenta-Halle beschäftigt es sich mit Lebensmitteln als Existenzgrundlage, als Kulturgut, politisches Instrument. Als die Anfrage der Documenta kam, waren die Überraschung und die Freude groß, berichten die Mitglieder von Britto Arts Trust. Dass sie einmal an dieser Ausstellung teilnehmen würden, die sie selbst bisher als Besucher gesehen hatten – unvorstellbar. Von der Diskussion, die seit Monaten in Deutschland geführt wird, über Antisemitismusvorwürfe gegen eine palästinensische Künstlergruppe, über eine mögliche BDS-Nähe – davon hat Britto Arts Trust nicht viel mitbekommen. Jetzt ist da aber schon so ein komisches Gefühl, sagt Rahman. Das Großbanner „People’s Justice“ der indonesischen Gruppe Taring Padi stand nur ein paar Meter von der Documenta Halle und nicht weit vom Gemüsegarten mit Freiluftküche enfernt. Kurz nach der Eröffnung der Documenta wurde das Plakat abgebaut, wegen seiner antisemitischen Bildsprache. Der Eklat habe „die positive Atmosphäre schon sehr runtergezogen“, sagt Rahman. „Das hat den Flow zerstört.“

Wandgemälde aus Filmszenen mit Bezug zum Thema Essen. Foto: Berins
Wandgemälde aus Filmszenen mit Bezug zum Thema Essen. © Berins

Am Mittwochabend hat es nach langem Hin und Her ein erstes Gespräch der Beteiligten – allerdings nicht aller – über den Antisemitismus auf der Documenta und mögliche Konsequenzen gegeben. Zur Erinnerung: Das indonesische Kuratorenteam Ruangrupa hatte vor Eröffnung der Ausstellung eine kurzfristig angesetzte Gesprächsreihe ebenso kurzfristig wieder abgesagt. Sie hätte vielleicht einiges klären können. Jetzt kommt eine Podiumsdiskussion, die von der Bildungsstätte Anne Frank mit der Documenta direkt um die Ecke des Fridericianums initiiert wurde, eigentlich zu spät. Die Fronten sind verhärtet, die Verantwortung wird auf politischer Ebene hin und her geschoben. Auf dem Podium sitzt auch Meron Mendel, der Leiter der Bildungsstätte. Er hatte lange daran glauben wollen, dass sich die Vorwürfe in Luft auflösten, und wurde dann durch die Abbildung eines Soldaten mit Schweinsgesicht, Davidstern und „Mossad“-Helmaufschrift auf dem bekannten Großplakat von Taring Padi eines Besseren, oder gerade nicht Besseren belehrt. Heute spricht Mendel von einem antisemitischen „Unfall“, von dem man aber lernen könne.

Documenta 15 in Kassel: Aus Bedenken wurde ein Skandal

Andere wären froh, wenn es jemals einen Flow gegeben hätte. Aus den Bedenken im Vorfeld der Ausstellung, einer bösen Vorahnung, ist mittlerweile ein handfester Skandal geworden, dessen Sprengkraft enorm ist – in Bezug auf einen Diskurs über Postkolonialismus und Antisemitismus, über Kunstfreiheit und über Zensur, und für die Kunstausstellung an sich.

Das sieht Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor des Zentralrats der Juden in Deutschland, fundamental anders. Auch er ist an diesem Abend auf dem Podium. Er kritisiert nicht nur, dass seine Gesprächsforderungen vor der Documenta weggebügelt wurden, sondern auch, dass der Zentralrat eine längst überwunden gehoffte „Wächterfunktion“ wieder aufnehmen musste. Er sieht eine „tiefe Vertrauenserschütterung“.

Die in Indien geborene und an der Dresdner TU lehrende Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan soll an diesem Abend die Perspektive des Globalen Südens vertreten, und wehrt sich hauptsächlich gegen den Vorwurf, dass postkoloniale Debatten oft in Antiisraelismus und Antisemitismus enden. Dhawan spricht – auf Englisch – von einer „Intersektionalität des Hasses“ und von der „Faulheit der Politik“, wenn man zu einer Zensur der Kunst übergehe.

Bei einem Rundgang auf der Documenta ist der Skandal abgesehen von der großen Leere an der Stelle, wo einst das Taring-Padi-Plakat stand, nur für Eingeweihte sichtbar: Auf eine Mauer hat jemand mit Kreide ein Statement gekritzelt „All art matters“. Im Fridericianum versuchte kürzlich jemand, ein Buch über Schwarzen Aktivismus und Palästina zu zerstören, weshalb jetzt extra Personal zur Bewachung in der Nähe des Regals steht. Im WH22, wo das palästinensische Kollektiv The Question of Funding noch immer die umstrittenen Bilder der Guernica-Gaza-Serie ausstellt und wo Ende Mai eingebrochen wurde, passt ein freundlicher Security-Mann auf.

Aber sonst? Ein Documenta-Guide berichtet, dass auf seinen Touren nur sehr wenige nach dem Antisemitismus-Vorfall fragen, und wenn, dann sind das ausnahmslos Deutsche. In der Straßenbahn hört man fröhliche spanische und französische Gespräche. Nächste Station: Hallenbad Ost.

Documenta 15 in Kassel: Es sind erstaunlich viele Besucherinnen und Besucher da

Vor dem Gebäude sind bunte Papp-Figuren aufgestellt, die mit provokanter Bildsprache vieles kritisieren, auch den Kapitalismus: Symbolisch wird er in einigen Werken als Anzug tragende Schweinefigur dargestellt, der Dollarnoten aus den Taschen fallen. Im Innern des alten Schwimmbades riecht es nach Räucherstäbchen. Es sind erstaunlich viele Besucherinnen und Besucher da, wahrscheinlich, um die als „Wimmelbilder“ bezeichneten Werke von Taring Padi mit eigenen Augen zu sehen. Um vielleicht weitere kritische Motive zu entdecken.

Man muss tatsächlich lange suchen in dieser Fülle der Darstellungen. Die Werke könnten von den detailreichen Fresken der italienischen Renaissance inspiriert sein, oder von mexikanischen Murals, schwer zu sagen. Ihre Botschaften sind jedenfalls nicht zu entziffern. Sie sind politisch, vielleicht mit versteckter Message. Das Kollektiv hatte sich 1998 als aktivistische Künstlergruppe während der Reformasi-Ära gegründet und sich seitdem dem Protest gegen empfundene Ungerechtigkeit verschrieben.

Vor dem Hallenbad hocken drei Mitglieder von Taring Padi auf einer Art Rikscha zusammen und musizieren. Es ist ein Lied über Hass, wie ein Mitglied erklärt. Darüber, dass Hass nicht gut sei. Über ihre Kunst treffen sie eher allgemeine Aussagen; sie nähmen Bezug auf viele Dinge, die in der Welt schief liefen. Dann verweisen sie auf die Erklärung, die sie vergangene Woche abgegeben haben, und in der sie sich dafür entschuldigen, dass ihr Werk „People’s Justice“ so viele Menschen beleidigt habe. Im historischen Kontext Deutschlands habe ihre Bildsprache eine „spezifische Bedeutung“ bekommen. „Wir sind dabei zu lernen“, sagt Taring-Padi-Mitglied Yusuf, während er sich eine Zigarette dreht. Das Gespräch zeichnet das Kollektiv mit einer GoPro-Kamera auf – ohne vorher zu fragen.

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Mitglieder des Kollektivs Taring Padi beim Musizieren. © Berins

Das Problem sei, so sieht es am Abend Adam Szymczyk, der Künstlerische Leiter der vergangenen Documenta, ein Übersetzungsproblem. Nicht nur von Sprache, sondern von Kultur an sich. Auf dem Podium spricht er für die Documenta, deren Generaldirektorin Sabine Schormann nicht aufs Podium steigt.

Documenta 15 in Kassel: Wichtige Fragen hängen in der Luft

Es sei nicht zu entschuldigen, dass sich Künstlerinnen und Künstler nicht mit dem Kontext des Landes, in dem sie ausstellten, auseinandersetzten, insistiert Doron Kiesel – die Notwendigkeit einer Kontextualisierung betont auch Meron Mendel. Weitere, wichtige Fragen hängen in der Luft: Was folgt? Wie umgehen mit möglichen weiteren antisemitischen Bildern? Wie darüber debattieren? Wie muss eine Documenta neu organisiert werden, damit so ein Eklat sich nicht wiederholt? Wer darf wie und wie viel Einfluss auf die kuratorische Arbeit nehmen? Hortensia Völckers, künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, verteidigt trotz des „großen Schadens für die Kulturlandschaft“, den der Antisemitismus-Skandal angerichtet habe, das Prinzip der Autonomie der Institutionen, die von der Stiftung gefördert werden.

Autonomie und Souveränität auf der documenta fifteen, das sieht so aus: Ein bengalischer Gemüsegarten wächst im Schatten von aggressiver, grenzüberschreitender Protestkunst. Und wer sagt, dass nicht morgen wieder alles anders sein kann, neue Botschaften auftauchen, auf dieser sich ständig verändernden und sich niemals im Endzustand befindenden documenta fifteen? Ein „Safe Space“ für alle sei da nun mal nicht möglich, findet Meron Mendel. So ist es. Und manchmal ist so ein Schatten ja auch hilfreich, nicht nur beim Gemüseanbau. Er kann helfen zu sehen, was sonst von der Sonne überblendet würde. (Lisa Berins)

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