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Alltägliche Gewalt und das Wunder der Literatur

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Fernanda Melchor, 1982 im mexikanischen Bundesstaat Veracruz geboren.
Fernanda Melchor, 1982 im mexikanischen Bundesstaat Veracruz geboren. © Privat

„Saison der Wirbelstürme“: Fernanda Melchor erzählt hochliterarisch und brutal von der verzweifelten Lage in einem mexikanischen Kaff.

Hier wird eine unbewohnbare Lebenslage beschrieben, ein Alltag gewordenes Desaster, das die Figuren herumschleudert, ohne dass sie vorankommen würden. Wer gerade nicht geschleudert wird, kommt allerdings ebenfalls nicht voran, sondern hängt schlapp in der Ecke. Man kann schlapp in der Ecke hängen und trotzdem außer Atem sein. Die mexikanische Autorin Fernanda Melchor verfügt über die sprachlichen Mittel für den aufgewühlten Stillstand, keine neuen Mittel, aber wirkungsvoll ausgeführt: Suaden, Tiraden, Schimpfkanonaden, unendliche, multiperspektivische Sätze, scheinbar zwanglos mitten aus dem Gequassel und dem nichts voranbringenden Geschehen gegriffen.

Zum Beispiel gehen die Frauen dann lediglich heimlich zur „Hexe“, die in ihrer Küche hockt und den Klagenden geduldig, gleichmütig oder mit der Neugier der Einsamen zuhört, „den Träumen von verstorbenen Angehörigen und dem Streit mit denen, die noch lebten“, und auch das Folgende ist nur ein Bruchteil des Satzes, „und fast immer ging es um Geld oder den Ehemann oder dieses Hurenpack von der Landstraße, und ich weiß nicht, warum sie mich immer verlassen, wenn ich am glücklichsten bin, sie heulten, wozu das alles, sie schluchzten, lieber sterbe ich gleich, und mit dem Zipfel ihres Kopftuchs wischten sie sich das Gesicht ab, das sie verhüllten, sobald sie die Küche der Hexe verließen, man wusste ja nie, so wie die Leute im Dorf tratschten, sonst hieß es noch, dass man zur Hexe ging, weil man sich an jemandem rächen wollte, dass man das Flittchen, das einem den Mann abluchsen wollte, mit einem Fluch belegte, denn an Intrigantinnen fehlte es nie“, dabei – heißt es noch etliche Zeilen später – wollte man sich womöglich „bloß eine Weile in der Küche etwas von der Seele reden, den Kummer loswerden, den Schmerz, der ihnen hoffnungslos in der Kehle zappelte“.

Allerdings hilft das nichts gegen den Kummer und den Schmerz, obwohl in diesem Buch ohne Unterlass geredet wird. Außerdem ist die „Hexe“ nun das Mordopfer, das ein paar herumstromernde Kinder – spielen sie oder ist ihre zur Schau gestellte Mordlust in Verbindung mit ihren selbstgebastelten Steinschleudern ein Fall für die Polizei? – in der ersten Szene des Buches im Schilf finden. Schlangen haben ein Medusenhaupt aus ihr gemacht. Da die Kinder nicht wissen können, was ein Medusenhaupt ist, sehen sie lediglich einen in der Bruthitze schrecklich verwesenden und angefressenen Leichnam. Das eine ist so übel wie das andere.

Die Männer sind unnütz, die Prostituierten können immerhin ihre Familien ernähren

Es ist eine veritable Filmszene, mit der Melchor, 1982 geboren, ihren zweiten Roman beginnen lässt, der 2017 auf Spanisch herauskam und nun auf einmal auch ins Englische, Französische und Italienische übersetzt wurde (und beim Haus der Kulturen der Welt in Berlin jetzt auf der Shortlist für den Internationalen Literaturpreis 2019 steht). „Saison der Wirbelstürme“ will auch aufsehenerregend sein, das ist kein stilles Buch. Die Übersetzerin Angelica Ammar war nicht zuletzt bei der Suche nach exquisit groben, für unterschiedliche Generationen gebräuchlichen Schimpfwörtern gefordert, im Besonderen, aber nicht nur für Frauen. Von „dumme Gans“ über „Aas“ bis „Fotze“ sozusagen, aber das reichte natürlich noch lange nicht. Vor allem aber musste sie sich im Gestrüpp der Sätze bewähren – tatsächlich mehr ein Gestrüpp als ein Labyrinth –, was vorzüglich gelang.

Auch im Namen des elenden Provinzkaffs La Matosa, Schauplatz der Handlung, taucht das Gestrüpp auf. Die Sätze wuchern, die Handlung selbst ist ein Knäuel, in dem es nicht wirklich vor und zurück geht. Die „Hexe“ ist ermordet worden, nach und nach und manchmal gleichzeitig kommen die zu Wort, die sie kannten, die mit in die Mordtat gezogen wurden, manchmal auch einfach Leute, die ebenfalls hier leben. Ihr Leben fristen. Die Prostituierten können immerhin ihre Familien ernähren. Die Männer sind noch unnützer. Die scheinbar mäandernden Erzählungen laufen wie von ungefähr immer wieder auf das Verbrechen zu, dramaturgisch ist das meisterlich gemacht.

„Saison der Wirbelstürme“ bringt Form und Inhalt dermaßen in Übereinstimmung, dass es fast schon zu geschmeidig erschiene, wenn Melchor nicht eine so brutale Erzählerin wäre. Schon zeigen sich Rezensenten erschrocken darüber, dass sie ihren erbarmungswürdigen Protagonisten so kalt gegenüberstehe, ihnen so wenig Zuneigung entgegenbringe. Das stimmt. Melchor wirbt nicht um Verständnis oder Mitleid, sie berichtet vom Leben in einer mexikanischen Provinz (die gewiss auch in einem anderen Land liegen könnte), sie berichtet lebhaft, nüchtern und nicht ohne Galgenhumor davon, was passiert, wenn Menschen keine Perspektive haben, wenn ein Gemeinwesen im Zusammenbruch begriffen ist und Polizisten Verdächtige foltern, „ohne sich viel um Journalisten, Fotos oder die Scheißmenschenrechte zu scheren“.

Über die 13-jährige, deren Alltag aus Gewalt besteht, kommt das Wunder der Literatur

Die Gefolterten nehmen das hin wie das Wetter – sie wissen, dass ihnen niemand helfen wird, und so ist es auch –, wobei die Folter nicht der Überführung der Täter dienen soll, sondern einer Schatzsuche. Die „Hexe“ ist tot, aber sie soll in ihrem Haus oder sonstwo ein Vermögen gehortet haben. Zur praktisch nicht mehr reflektierten Gewalt gesellt sich eine grenzenlose Naivität. Die Naivität wird interessanterweise nicht verächtlich gemacht. Es mag schon sein, dass Melchor ihre Figuren nicht liebenswert zeichnet, aber sie verrät sie nicht. Die Menschen sind so, wie ihr Leben sie gemacht hat.

Aber dann findet Norma, 13, die sich um eine wachsende Zahl plärrender Geschwister kümmern muss, von ihrem derzeitigen Stiefvater regelmäßig vergewaltigt wird und nun selbst schwanger ist (aber das weiß sie noch nicht), ein Märchenbuch am Wegesrand. Pflichtvergessen setzt sie sich auf die Straße und liest die schaurige Geschichten von den beiden buckligen Männlein in einem Rutsch. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das Wunder der Literatur über sie kommt (und die Erinnerung an den Magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur über die Leserin). Abgesehen davon lernt sie etwas Nützliches über ihren Körper. Das lesende Kind, dem Gewalt angetan wird und dem ein gewalttätiges Märchen das Eintauchen in eine andere Welt und zugleich Informationen bietet: Diesen Anblick – Melchor nutzt weiterhin die filmischen Qualitäten ihres Schreibens – wird man schwerlich vergessen.

Norma, von der Mutter inzwischen rausgeworfen, hat übrigens bei dem tablettenabhängigen Nichtsnutz Luismi vorerst Unterschlupf gefunden, schweigt aber, „denn wenn sie ihm erzählte, was wirklich passiert war, dann würde er merken, was für ein schrecklicher Mensch sie war, und er würde es bereuen, ihr geholfen zu haben ...“. Nein, Melchor schreibt nicht, dass Opfer sich schuldig fühlen und dass das eine zusätzliche Katastrophe und der beste Täterschutz ist. Sie traut lesenden Menschen zu, selbst Schlüsse zu ziehen.

Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme. Roman. A. d. Span. v. Angelica Ammar. Wagenbach 2019. 240 S., 22 Euro.

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