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„Annette, ein Heldinnenepos“: Weiß man je, warum man etwas tut?

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Annette, immer voranstürmend.
Annette, immer voranstürmend. © Felix Holland

Das Freie Schauspiel Ensemble bringt Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“ auf die Bühne.

Im Oktober 2020 erhielt Anne Weber den Deutschen Buchpreis für „Annette, ein Heldinnenepos“. Das stets wache – und politische, aber nicht auf eine zeigefingerhafte Art politische – Freie Schauspiel Ensemble in Frankfurt bringt die Geschichte der 1923 geborenen, im März 2022 gestorbenen Anne Beaumanoir, die meist Annette genannt wurde, auf die Bühne, eine Lebensgeschichte, die nicht so uneingeschränkt heldisch ist, wie es der Titel vermuten lassen könnte, ein Engagement, das das impulsive, idealistische Voranstürmen öfters über ein moralisches Abwägen stellt. Ein Epos sei keine Hagiographie, sagte Weber dazu bei der Preisverleihung.

Beaumanoir war 17, als sie begann, die Botin zu machen für die Résistance, bald war ihr das „Abwarten und Radfahren“ zu wenig. 1942 wird sie Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. 1944 unternimmt sie in Paris eine „unautorisierte Rettungsmission“ (übt also „Widerstand gegen den Widerstand“, schreibt Anne Weber), kann zwei jüdische Jugendliche letztlich bei ihren Eltern in Sicherheit bringen. Nach 1945 nimmt sie ihr Medizinstudium wieder auf, wird Neurologin, heiratet den Arzt Jo Roger, bekommt Kinder. Und, das nächste leidenschaftlich verfolgte Anliegen Anne Beaumanoirs, unterstützt den algerischen Unabhängigkeitskampf, in Frankreich damals „die algerischen Ereignisse“ genannt. Sie macht wieder die Kurierin. Für die FLN, die Nationale Befreiungsfront, transportiert sie Koffer voller Geld. Die FLN hat es den in Frankreich lebenden Algeriern abgepresst, wie sie es den in Algerien lebenden Algeriern abpresst.

Regisseur Reinhard Hinzpeter setzt einmal mehr auf szenische Schlichtheit und die sprecherische Sorgfalt und Kraft des FS-Ensembles. In Himbeerrot sind Michaela Conrad, Bettina Kaminski, Ives Pancera gekleidet (Kostüme: Pancera, Carin Wagner), sie bewegen sich auf Tarnfarben-Folien (diese sind nicht am Boden befestigt, so dass man bisweilen Angst hat, die drei stolpern nicht nur, sondern könnten stürzen). Abwechselnd sprechen sie, wenden sich direkt ans Publikum, und sind anfangs ein enges Annette-Knäuel; Kaminski schält sich am ehesten als Anne Beaumanoir heraus, aber eine dauerhafte Rollenzuweisung gibt es nicht, der Text (Fassung: Hinzpeter) fluktuiert. Dazu expressive Körpersprache.

Die Schattenbereiche, die Ambivalenzen in Annettes Leben entstehen mit der nicht hinterfragten, anders als ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei nie von ihr revidierten Entscheidung, sich auf die Seite der FLN zu stellen – und auch dann „solidarisch“ zu bleiben, als sie längst mitbekommen hat, dass die algerischen Unabhängigkeitskämpfer auch Zivilistinnen und Zivilisten foltern und töten, regelrecht hinrichten oder mittels Bombenanschlägen ermorden (19 000 sollen es gewesen sein). Denn endlich ist wieder etwas los in ihrem Leben. Außerdem: Weiß man je, warum man etwas tut? Fragt sich Annette, fragt Anne Weber.

Das FSE zeigt ein schmuckloses, dennoch über zwei Stunden (plus Pause) tragendes „Heldinnenepos“. Auf Theater-Chichi wie (Live-)Video wird verzichtet, auch gesungen oder ultrabeiläufig gesprochen wird nicht. Stattdessen konzentriert man sich auf den Text – und siehe, das gute alte Theaterwunder passiert: Vor dem inneren Auge sieht die Zuschauerin, wie Annette mit den jüdischen Jugendlichen angstvoll durch Paris läuft, kaum fassen kann, dass ein auf dem Rad vorbeifahrender deutscher Soldat sie nicht wahrnimmt; wie sie darauf brennt, kämpfen zu dürfen, aber als „zu mickrig“ befunden wird; wie sie in eine weitere Schlacht zieht, in Kauf nimmt, dass ihre Kinder ohne Mutter aufwachsen. Klar, hinterher ist man immer klüger. Doch unwahrscheinlich, dass diese Frau sich anders entscheiden würde.

Freies Schauspiel Ensemble im Titania, Frankfurt: 23., 24., 31. März. 1., 21., 22., 28., 29. April. www.freiesschauspiel.de

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