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Zentralgestirn der Aufklärung

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Großartige Sängerin: Karita Mattila.
Großartige Sängerin: Karita Mattila. © JP Maurin / Opéra de Lyon

Die in Paris lebende finnische Komponistin Kaija Saariaho hat der Gefährtin von Voltaire die Oper "Émilie" gewidmet; die Auftragsarbeit der Opéra de Lyon wurde jetzt dort uraufgeführt. Von Hans-Jürgen Linke

Émilie schreibt. Die Feder kratzt nicht, sie klingt eher weich und schabend, das dürfte historisch einigermaßen korrekt sein. Und dies ist die eigentliche Ouverture: das flüchtige Schaben des Gänsekiels, während im Publikum die üblichen Kämpfe gegen den Spätwinter-Husten verloren werden.

Der Klang der Feder ist kein illustrierendes Geräusch, er transportiert eine vehemente Lebensäußerung: die Selbstbehauptung der Émilie Marquise du Châtelet, Zeitgenossin und Lebensgefährtin unter anderem Voltaires. Sie hat Newton ins Französische übersetzt und gilt als erste Frau in den modernen europäischen Naturwissenschaften.

Die in Paris lebende finnische Komponistin Kaija Saariaho hat ihr die Oper "Émilie" nach dem monodramatischen Libretto in neun Bildern von Amin Maalouf gewidmet; die Auftragsarbeit der Opéra de Lyon wurde jetzt dort uraufgeführt.

Das Schreibgeräusch ist zugleich die Begleitmusik einer tiefen, unvermeidlichen Einsamkeit, und die hat Bühnenbildner Francois Girard so umgesetzt, dass Émilies kleiner Schreibtisch im Zentrum einer großen, altertümlichen astronomischen Maschine steht, die die Bewegung der Planeten simuliert: Émilie ist in diesem System die Sonne, durch ihren Schreibtisch geht die Achse aller Bewegung. Die Planeten tragen Namen von Männern: den ihres Gatten, den Namen Voltaires, den des Gardeoffiziers Saint-Lambert, von dem sie ein Kind erwartet.

Kräfte, die zwischen Körpern wirksam sind

Émilie hat Vorahnungen, das ist auch der Titel des ersten Bildes: Sie ahnt ihr bevorstehendes Ende und intensiviert unter diesem Eindruck ihre Übersetzungsarbeit, aber auch die Äußerungen ihrer Leidenschaft für Saint-Lambert, für das Philosophieren mit Voltaire, für die Physik und Mathematik.

Die naturwissenschaftlichen Fragen sind in Maaloufs präzisem poetischen Libretto ganz lebenspraktische Fragen: Fragen nach Anziehung und Abstoßung, nach den Kräften, die zwischen Körpern wirksam sind, nach Strahlen und Farben und deren Wirkung, nach Hitze und Kälte, nach der Lösung von kleinen und großen Rätseln.

Die Sonne ist Masse- und Energiezentrum ihrer eigenen Leidenschaft für die umgebenden Planeten: Das ist Aufklärung, ein reichhaltig analogisierendes Verständnis der Naturwissenschaften. In was für emotional verarmten Zeiten leben wir doch heute!

Karita Mattila, dramatisch-lyrische Sopranistin, ist Émilie, und der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass Kaija Saariaho die Oper ihr auf den Leib geschrieben hat.

Karita Mattila hat eine Art, sich auf der Bühne zu bewegen, die ohne jede darstellerische Pointierung prägnant und glaubhaft wirkt, die mit kleinsten Gesten und ausdruckreichsten Haltungen den physiologischen Subtext der Geschichte zu erzählen vermag.

Und Mattilas überaus wandlungsreiche Stimme, die ohne jeden metallischen Beiklang, ohne zu forcieren in jeder Lage die Dynamik und die Strahlkraft genauestens zu dosieren weiß, ist das ideale Instrument dieser Aufführung: eine enorme Leistung an physischer Omnipräsenz, die weder in den tiefsten Tiefen der Geheimnisse noch in den höchsten Höhen des Triumphs und der Furcht noch in den leistesten Selbsteinflüsterungen der Verzweiflung etwas anderes erkennen lässt als reine darstellerische Leidenschaft und ausgereifte Kompetenz.

Die Musik: mehrschichtig und subtil

Vielleicht war auch die Gänsekiel-Ouverture schon Teil der Komposition Saariahos, der nicht in die Partitur Eingang gefunden hat. Die Musik ist eher als Teil des Dramas konzipiert, nicht als dessen Träger also, und daher insgesamt erstaunlich wenig spektakulär. Sie transportiert Stimmungen und gibt sehr genaue Grundierungen für die dramatischen Situationen. Sie ist nicht melodisch orientiert, sondern klanglich und dynamisch; sie bleibt stets mehrschichtig und subtil, zeichnet untergründige Bewegtheiten und deren Gegensätze und Reibungen, kommentiert zuweilen oder gibt sich vorausahnend und arbeitet also vorbildlich psychologisch und manchmal ein wenig illustrativ. Es ist eine Musik, die wie ohne eigene Masse daherkommt, die dem Drama und den Inhalten den Vortritt lässt und alles beleuchtet, sich aber vor der Darstellerin nicht in den Vordergrund drängen will.

Die berührende Qualität der Musik entsteht einzig aus ihrer atmosphärischen Klarheit. Gleichwohl ist nicht gestalterische Bescheidenheit ihr vorherrschender Gestus, sondern Umsicht und klare Gedanken sowie ein handwerklich ungemein versiertes Wissen um Wirksamkeit und Prägnanz: ein unauffälliges, wie Licht im Raum anwesendes, wie allgegenwärtige Gravitation wirkendes, also alles andere als kleines Kunstwerk.

Francois Girards Regie beschränkt sich auf die Personenführung in der Installation des Bühnenbildners Francois Séguin, und das Lyoneser Opern-Orchester zeigt unter der Leitung von Kazushi Ono eine sensible Vertrautheit mit Saariahos feinsinnigen Klangwelten, große dynamische Disziplin und die souverän beherrschte Fähigkeit, Bögen zu ziehen und zu halten, Klänge auszukosten, ausschwingen und durchaus auch eruptiv entstehen zu lassen.

Eine Inszenierungs-Arbeit also, die große Geschlossenheit und eine inspirierte Art von Sachdienlichkeit erkennen lässt und die Frage in den Raum stellt, was mit dieser Oper geschehen kann, wenn sie ohne die Protagonistin Karita Mattila gesungen in die Hände eines zeitgenössischen Regietheaters gerät.

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