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Selbstoptimierung im Neoliberalismus: Sind wirklich wir alle gefragt?

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Auf etlichen Demonstrationen wird derzeit gegen die AfD und bekanntgewordene Pläne von millionenfacher Abschiebungen demonstriert. Nun melden sich Unternehmerinnen und Unternehmer zu Wort und warnen: ohne Migration kein Wohlstand in Deutschland.
So sinnvoll Slogans sein mögen, ist die Frage, um wie viele politische Themen sich einzelne Personen gleichzeitig kümmern können und sollen. AfD © IMAGO/Markus Matzel

Der neoliberale Universalappell lautet: Zusätzlich zu unserem Job sollen wir jedes Thema, das politisch zu verhandeln wäre, in Heimarbeit lösen.

Jetzt sind alle gefragt! Wir alle müssen schauen, wie wir jeder für sich, Tag für Tag, im Alltag etwas verändern können. Schon beim Einkauf sollten wir große Wachsamkeit zeigen. Aber auch in Gesprächen, beim Arzt oder in der Sauna sollten wir sofort intervenieren, sofern etwas passiert.

Doch dabei dürfen wir nicht stehen bleiben. Wir müssen unsere Gewohnheiten hinterfragen, jede einzelne, und sie zügig verändern, um neue, bessere Gewohnheiten zu bilden. Die wir dann natürlich auch wieder hinterfragen müssen! Wir sollten die Nachrichten kritisch reflektieren, uns beständig fortbilden, aber natürlich auch ganz viel Zeit für uns selbst schaffen, um die gewonnenen Erkenntnisse bei Sport, Ernährung und im Gespräch mit den Lieben zu Hause einfließen zu lassen.

Nachrichten kritisch reflektieren, aber immer der Selfcare-Disziplin bewahren

Dabei sollten wir uns natürlich nicht überfordern, sondern mit unseren Kräften haushalten, im Sinne einer konsequenten Selfcare-Disziplin, deren Grundlagen wir penibel einhalten. Für jeden potenziellen Selfcare-Verstoß sollten wir eine Aktennotiz anfertigen, um sie rücksichtslos durchzusetzen! Dadurch haben wir die nötige Kraft, um an Diskursen teilzunehmen, Gesprächsangebote zu machen, uns zu vernetzen und nicht zuletzt die Anforderungen an lebenslängliches Lernen zu erfüllen.

Konnten Sie mit den oben genannten Grundsätzen etwas anfangen? Ich habe sie aus etwa eintausend Interviews mit Expertinnen und Experten destilliert, die mir in den letzten Jahren untergekommen sind, zu allen möglichen Themen: Corona, Ernährung, Ukraine, Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gehaltsverhandlungen, Katzenhaltung, Elektromobilität und Mietpreisbremse.

Selbstoptimierung im Neoliberalismus - so wird man „Expert:in“

Seit ich diesen geheimen Subtext im Genre „Expertengespräch“ entdeckt habe, fällt es mir sehr leicht, zu fast jedem beliebigen Thema selbst als Experte aufzutreten. Man muss lediglich auf diese Dinge hinweisen. Erstens: Das Thema geht uns alle an. Zweitens: Aber bloß nicht als Kollektiv, nicht als Menschen, die sich irgendwie zusammenschließen oder politisch handeln! Sondern als Individuen, die sich im Hinblick auf das Thema noch nicht ausreichend selbst optimiert haben.

Drittens: Wir alle müssen das Thema stärker in unseren Alltag einbauen, und zwar neben allen anderen Themen, die wir ebenfalls stärker in unseren Alltag einbauen müssen. Viertens: Das beste Buch zum Thema stammt von mir.

Der Expert:innen-Vierschritt gilt auch im Politiker:innen-Gespräch

Dieses archetypische Expertengespräch gibt es auch in der Variante Politikergespräch. Erstens: Alle Expert:innen sagen uns, dass dieses Thema uns alle angeht! Zweitens: Die Politik muss sich Vorwürfe gefallen lassen, kann aber nichts machen. Deswegen sind wir jetzt alle gefragt. Drittens: Wir fordern schon länger, das Thema stärker in den Alltag der Bürger:innen einzubauen, etwa über Awareness-Kampagnen. Viertens: Der beste Wahlkampf zum Thema stammt von mir.

Als eine finale Schwundstufe von Wissenschaft und Politik im Spätkapitalismus etabliert sich diese Art neoliberaler Universalappell: Zusätzlich zu zehn Stunden Arbeit am Tag, Hausarbeit und chronischer Erschöpfung sollen wir praktisch jedes Thema, das eigentlich politisch zu verhandeln wäre, als Heimwerker:innen behandeln, als eines, das wir nach Feierabend im je eigenen Tüftelkeller lösen müssen. Man stelle sich vor, man riefe Klempner:innen an, die uns sagen, dass Wasserrohrbrüche uns alle angehen.

Leo Fischer ist Autor, Stadtrat in Frankfurt (Ökolinx) und war Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“.

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