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Von Dieben und Terroristen

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Der Verteidigungskrieg Israels sorgt nicht nur für Opfer auf beiden Seiten, sondern beeinflusst die Politik vieler Staaten und befeeurt die Debatte an vielen Orten über innere Sicherheit. (Menahem Kahana/afp)
Der Verteidigungskrieg Israels sorgt nicht nur für Opfer auf beiden Seiten, sondern beeinflusst die Politik vieler Staaten und befeuert die Debatte an vielen Orten über innere Sicherheit. © afp

Was verbindet einen Diebstahl von Autoreifen mit dem Angriff der Hamas auf Israel? In beiden Fällen ist die ontologische Sicherheit berührt. Die Kolumne.

Eine weiße Sportlimousine mit fein gewebtem Cabriodach stellt in dieser Umgebung, unweit des Lietzensees, keine Seltenheit dar. Im Vorbeigehen hätten wir das Fahrzeug fast nicht bemerkt. Dann aber gingen wir ein paar Schritte zurück, um uns dessen zu vergewissern, was wir gesehen zu haben glaubten. Das Auto war völlig unversehrt, fast schien es zu schweben. Fein säuberlich aber waren alle vier Räder entfernt worden. Die Backsteine, auf denen es aufgebockt war, waren vermutlich die einzige Investition zu diesem nächtlichen Raubzug.

Bei einem Fahrzeug dieser Preisklasse erbringt die Beute locker einen fünfstelligen Betrag, und wir stellten uns vor, dass der Diebstahl mit der logistischen Präzision eines kurzen Boxenstopps bei der Formel 1 durchgeführt worden war. Wir konnten kaum anders, als die Tat ein wenig zu bewundern.

Aufgrund der Erfahrung von Nachbarn und Freunden wissen wir, dass bandenmäßig betriebener Autodiebstahl sich inzwischen darauf beschränkt, wertvolle Einzelteile bevorzugter Modelle zu entfernen. Lichtanlagen von Audi, die elektronischen Eingeweide von BMW. Über 100 Vorfälle in einer Nacht sind keine Seltenheit, der materielle Schaden wiegt weniger schwer als der Aufwand, das Auto wieder fahrtüchtig zu machen.

In der Sekuritätsgesellschaft versteht man sich darauf, solche Fälle unter Kosten moderner Urbanität zu verbuchen. In bestimmten Milieus lösen sie sogar Schadenfreude aus und werden als Akte der Subversion betrachtet. Obwohl die Täter oder Täterinnen im Falle einer Störung zweifellos auf den Einsatz von Gewalt vorbereitet sind, fasziniert an diesen Massenentnahmen wertvoller Autoteile eine scheinbare Gewaltlosigkeit.

Der hinter dem Anblick des räderlosen Automobils vermutete Vorgang ließe sich unter dem Begriffsgeflecht der ontologischen Sicherheit beschreiben. Zwar dürfte dem Besitzer oder der Besitzerin ein gehöriger Schrecken in die Glieder gefahren sein beim Anblick des Autos, dann aber folgen die Verständigung der Polizei, der Werkstatt und die Aktivierung der Mobilitätsgarantie. Die Freude am Fahren ist vorübergehend nicht erreichbar. Mühelos kann als zivilisatorischer Fortschritt aufgefasst werden, dass sich Verbrechen wie diese fast ohne Angsterzeugung vollziehen. Zum Kapitel urbaner Gewaltkriminalität gehören sie allemal.

Die Angriffe der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober auf Kibbuzim in der Nachbarschaft von Gaza sind zuletzt häufig als schlimmstes Verbrechen gegen Juden seit dem Holocaust beschrieben worden, wiederholt fiel das Wort Zivilisationsbruch.

Für den Historiker Dan Diner stellte der Holocaust nicht deshalb einen solchen dar, weil nach 1933 mit Gewalt und unvorstellbarer Brutalität gegen zivilisatorische Normen verstoßen wurde. Vielmehr zerbrachen alle Gewissheiten, denen man zuvor gefolgt war und folgen konnte. Diner knüpfte dabei an Vorstellungen des britischen Soziologen Anthony Giddens an, für den ontologische Sicherheit eine lebensweltliche Voraussetzung ist, um vertrauens- und handlungsfähig bleiben zu können.

Es geht nach dem Blutrausch der Hamas und dessen geopolitischen Folgen nicht nur um die erschreckende Alltagserfahrung, dass Juden sich gerade auch in Deutschland wieder der Angst ausgesetzt sehen. Das monströse Phänomen der ontologischen Unsicherheit betrifft alle.

Harry Nutt ist Autor.

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