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„Konkurrenz, Neid und Egoismus sind nicht mehr die Grundlagen“

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Auch eine Utopie, die im Jahr 2020 erst selten Wirklichkeit geworden ist: Schreinern im Kollektiv.
Auch eine Utopie, die im Jahr 2020 erst selten Wirklichkeit geworden ist: Schreinern im Kollektiv. © PantherMedia / guruxox

Im Jahr 2048 leben wir anders zusammen, handeln und wirtschaften solidarisch. Ein fiktives Interview mit zwei Menschen aus einer Zeit, die noch fern scheint, für die aber schon jetzt die Weichen gestellt werden können.

Wer sind Jona und Sam, die hier als Interviewpartner*innen erscheinen? Ehrlich gesagt: Es gibt sie nicht, und noch dazu sprechen sie aus der Zukunft. Nina Treu und Kai Kuhnhenn haben sie erfunden, um ihre Vision von der Gesellschaft des Jahres 2048, die sie schon zum Jahreswechsel in der FR umrissen hatten, konkret und anschaulich zu machen.

Sam, Du bist 2020 geboren und wirst jetzt 28 Jahre alt. Stell Dir bitte mal einen Menschen vor, der im Jahr Deiner Geburt in Deutschland lebt. Wie würdest Du ihm oder ihr Dein direktes Lebensumfeld beschreiben – Deine Wohnung, Deinen Stadtteil?

Sam : (überlegt kurz) Puh, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, was sich alles geändert hat. Für mich fühlt sich alles voll normal an. Ich wohne in Leipzig Lindenau, ganz wichtig für das Viertel ist der Ort, an dem wir jetzt sind – der sogenannte Lebensmittelpunkt. Hier gibt es Essen für alle, Grundnahrungsmittel zum Mitnehmen, eine Gemeinschaftsküche mit leckerem warmem Essen zweimal am Tag. Und das ist auch der Ort, an dem neue Leute ankommen, die ins Viertel ziehen, also unser Willkommenszentrum. Hier finden unsere wöchentlichen Treffen der Nachbarschaftsräte statt und wir entscheiden, wie Sorgearbeit unter uns aufgeteilt wird. Ich wohne hier um die Ecke in einer großen WG. In dem Haus sind viele verschiedene Wohnungen in unterschiedlichen Größen und die Leute wechseln immer mal rum, je nach Bedarf. Gerade hat eine junge Familie mit einem älteren Paar, das in einer 4-Zimmer-Wohnung mit einer guten Freundin gewohnt hat, getauscht.

Jona, Du bist 1992 geboren, warst also 2020 so alt wie Sam jetzt. Damals erschien in einer gedruckten Zeitung (so etwas gab es damals noch) ein Ausblick auf die Zukunft, in dem es hieß: „Sinn, Selbstbestimmung und Solidarität sind die Begriffe, die 2048 mit ,Arbeit‘ verbunden werden.“ Wie und was hast Du damals gearbeitet?

Jona: Also wenn Du „Arbeiten“ sagst, dann meinte mensch damals nur die Lohnarbeit. Das war ein typischer Schreibtischjob, für ein Marketingbüro. Ich hab da viel gemacht, was heute kaum noch eine Rolle spielt. Zum Beispiel die Finanzen verwaltet, Rechnungen geschrieben, Bahnfahrten gebucht – und alles auf Zuruf, in einem klassisch hierarchischen Betrieb.

Und wie sieht das heute aus?

Jona: Heute mache ich Budgets, aber für eine Schreinereikooperative. Da geht’s nicht so sehr um Geld, sondern um das, was wir produzieren wollen, welche Rohstoffe und welche Zeit wir dafür brauchen. Das Ganze natürlich ohne Hierarchien – alle, die da tätig sind, entscheiden zusammen. Und außerdem arbeite ich selbst auch im handwerklichen Teil des Betriebs mit. Kann mir meine Zeit also aufteilen zwischen Büro-, Werkstatt- und Sorgearbeit für die Nachbarschaft.

Nina Treu.
Nina Treu. © Konzeptwerk/L . McKown

Wie ist die Bezahlung? Wer bezahlt Dich und woher kommt das Geld dafür?

Jona: Tja, also Geld spielt heute kaum noch eine Rolle. Meine „Hauptbezahlung“ besteht darin, dass ich hier im Viertel auf die ganze Infrastruktur und die gemeinschaftlichen Ressourcen zugreifen kann. Essen, wie Sam schon sagte, Proberaum und Instrumente für meine Old-School-Hip-Hop-Kombo, Wohnraum, ein vielseitiges kulturelles Angebot … Ich kann kostenlos den Nahverkehr nutzen und auch mal meine Verwandten in den Vogesen besuchen. Mein Betrieb ist Teil des Commons-Sektors, das heißt eine Bezahlung in Form von Geld bekomme ich nicht. Ich trage also bei, statt zu tauschen. Aber für alle gibt es eine Grundsicherung vom Staat, von der ich mir sowas wie alte Hi-Hop-Platten in einem Spezialladen kaufe.

Wie funktioniert die Ökonomie insgesamt? Woher kommt das, was die Gesellschaft für Infrastruktur, Wohnen, Sorgearbeit und vieles andere braucht?

Jona: Während früher vor allem über Märkte entschieden wurde, wer was bekam, ist das heute nur noch für einen kleinen Teil der Wirtschaft der Fall. Alles, was wir für die Grundversorgung brauchen, wird im Commons-Sektor, in Kollektiven oder in gesellschaftlichen, regional verwalteten Organisationen hergestellt. Nur noch Produkte, die über den Grundbedarf hinausgehen, werden in Gemeinwohlunternehmen hergestellt. Die regionalen demokratischen Räte vermitteln einerseits den Kollektiven, was gesellschaftlich gebraucht wird, andererseits stellen sie sicher, dass die verbleibenden Unternehmen am Markt wirklich gemeinwohlorientiert handeln und sich dieser Sektor nicht ausweitet.

Ganz ehrlich: Menschliche Eigenschaften wie Egoismus, Konkurrenzdenken oder Neid konnte doch auch die große Transformation der vergangenen drei Jahrzehnte nicht beseitigen.

Jona: Natürlich bin ich neidisch, wenn ich sehe, wie gut manche meiner Kolleg*innen in der Schreinerei mit der 3D-Fräse umgehen können, während bei mir immer vieles krumm wird. Als Rapper*in geht’s mir auch um persönliche Anerkennung und das Wettstreiten mit anderen. Aber diese Dinge, also Konkurrenz, Neid und Egoismus, sind jetzt auf Randbereiche geschoben und nicht mehr die Grundlagen des Zusammenlebens und Wirtschaftens. Entscheidend ist doch, welche menschlichen Eigenschaften das System fördert – und das ist

Kai Kuhnhenn.
Kai Kuhnhenn. © Konzeptwerk/L . McKown

jetzt Solidarität, Vielfalt und Bedürfnisorientierung.

Nina Treu und Kai Kuhnhenn arbeiten beim Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig. Das Konzeptwerk steht für eine neue Wirtschaft: von allen, für alle, ökologisch und sozial. 

Sie sind Teil eines Projektteams zu Utopien „Zukunft für alle – gerecht. ökologisch. machbar.“ In dessen Rahmen haben sie 2019 mit mehr als 150 Vordenker*innen Zukunftswerkstätten durchgeführt (siehe FR vom 31.12.2019), deren Ergebnisse sie dieses Jahr veröffentlichen. Außerdem organisieren sie für den 25. bis 29. August 2020 einen großen Utopie-Kongress in Leipzig. 

Am Donnerstag, 20. Februar, präsentieren Nina Treu und Kai Kuhnhenn ihre Ideen in der Veranstaltungsreihe „Der utopische Raum“. Der Vortrag beginnt um 19 Uhr im Osthafenforum im Frankfurter Medico-Haus, Lindleystraße 15 (gegenüber Haus Nummer 11). Der Eintritt ist frei. 

Die Reihe „Der utopische Raum“ wird von der Stiftung Medico International in Kooperation mit der Frankfurter Rundschau und dem Institut für Sozialforschung organisiert. (FR)

Sam, Du hast studiert. Gibt es überhaupt noch Abschlussprüfungen? Und wer hat die Inhalte Deines Studienfachs bestimmt?

Sam: Ja, es gibt so was wie eine Abschlussprüfung – das ist aber eher ein Gespräch mit meinem Jahrgang und den Lernbegleiter*innen. Es geht dabei darum, gemeinsam zu reflektieren, was wir gelernt haben und wie wir das in der Welt außerhalb der Uni anwenden wollen. Wenn ich das richtig verstehe, gab es 2020 so etwas wie Zugangsbeschränkungen – hieß das „numekus rausus“? – und getrennte Fächer, und die Leute machten entweder Mathe, Sport oder – gab es so was wie Erdwirtschaftslehre? Jedenfalls ist das Lernen jetzt an allen Bildungsorten, also nicht nur an der Uni für die Älteren, sondern auch an Bildungsorten für Jüngere, an den Interessen der Lernenden orientiert. Wir werden von erfahrenen Menschen begleitet und gehen ganz viel raus in die Praxis, zum Beispiel in den Betrieb von Jona oder in eine Recyclingfabrik.

Und was machst Du jetzt mit Deinem Wissen?

Sam: Ich begeistere mich sehr für Reisen und internationalen Austausch, deshalb will ich in einer internationalen Werft für Solarsegelschiffe in Marokko tätig werden. Ich hatte schon einen Videoaustausch mit denen und reise bald mit der Bahn und dem Schiff da hin. Viele von meinen Freund*innen bleiben erstmal hier und bringen sich ein, zum Beispiel als Gruppenprozessbegleiter*in, als Tramfahrer*in oder Gärtner*in.

In den Jahren vor 2020 war viel von kolonialer Weltwirtschaft, Klimaungerechtigkeit und „imperialer Lebensweise“ die Rede. Wie ist heute das Verhältnis Europas zu anderen Weltregionen?

Sam: Ja, die Klimakatastrophe war ein Wendepunkt. Europa ist ja seit 2030 klimaneutral, trotzdem sind die Folgen immer noch dramatisch. Aber wir gehen damit solidarisch um – die Diskussion um die Ursachen und Folgen der Klimakrise hat Menschen gelehrt, was globale Gerechtigkeit bedeutet. Heute wirtschaften Menschen in dem, was früher die „reichen Länder“ waren, nicht mehr auf Kosten der anderen und beuten Natur und Menschen aus. Alle Menschen der Welt dürfen frei reisen und dort leben, wo sie wollen. Die Ressourcen, die wir brauchen und nicht vor Ort haben, fragen wir bei Kollektiven, Koordinationsstellen oder Regionalverwaltungen in anderen Teilen der Welt an. Damit wir zu diesem gerechten Austauschsystem kommen konnten, mussten in den 2030er Jahren soweit ich weiß erstmal viele Ressourcen, also auch Geld, weltweit umverteilt werden. Es gibt einen noch immer andauernden Entschuldungsprozess.

Sind Ressentiments, Rassismus, Sexismus, Klimawandel-Leugnung und anderes einfach so verschwunden? In Geschichtsbüchern heißt es, dass solche Einstellungen Anfang des 21. Jahrhunderts bei rund 20 Prozent der Menschen verankert waren.

Sam: Natürlich sind Diskriminierung und Ausgrenzung nicht einfach so verschwunden. Das ist ein dauerhaftes Ringen. Sehr viel leichter wurde es aber durch die Vergesellschaftung der Betriebe und die damit einhergehende Grundsicherung und Umverteilung. Und dadurch, dass heute alle Menschen die gleichen effektiven Rechte und Beteiligungsmöglichkeiten haben. Es gab in den 2020er Jahren eine große Bildungs- und Kommunikationsoffensive, bei der Menschen aus verschiedenen Orten, Schichten, Sozialisationen ins Gespräch gekommen sind und anfingen, ihre Bedürfnisse auszuhandeln. Ich habe jetzt noch viele Diskussionen mit meinem kleinen Bruder, der noch immer nicht verstanden hat, dass weiße Männer jahrhundertelang große Privilegien genossen haben und wir aufpassen müssen, dass das nicht wieder passiert.

Jona, Du warst schon in 2020er Jahren aktiv und Teil der Transformation. Kannst Du uns schildern, wie es damals dazu kam?

Jona: 2020 kam uns die Gesellschaft tief gespalten vor. Uns war damals nicht klar, dass es zwar ein Aufbäumen rechter, nationaler, regressiver Kräfte gab, dass sich aber ein großer gesellschaftlicher Konsens herausbilden würde, der ein grundlegend anderes, aber solidarisches System wollte. Damals hat sich an wahnsinnig vielen Orten gleichzeitig etwas getan. Die Klimaproteste, zum Beispiel von Fridays for Future, haben sich zusammengetan mit queer-feministischen und anti-rassistischen Kämpfen. So richtig ab ging’s erst, als es eine globale Vernetzung gab und ein paar Jahre später die Massenstreiks aus den feministischen Streiks der Frauenkampftage hervorgingen.

Aber die Wirtschaft des Jahres 2020 war eine kapitalistische. Die Unternehmen und Parteien werden sich doch gewehrt haben!

Jona: Klar, aber wir waren halt mehr. So viele Menschen aus so unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Und in gewisser Weise war die Klimakrise ein Katalysator, weil sie aufgezeigt hat, wie marode der Kapitalismus war, wie unfähig, auf die Krise zu reagieren. Es wurde klar, dass der Widerstand so groß war, dass das Geschäftsmodell der Fossilen nicht mehr zukunftsfähig ist. Die Kurse der Unternehmen an der Börse sind zusammengebrochen, und die Arbeiter*innen haben die Konzerne übernommen und mit der Zeit in Einheiten überführt, die sie als Gruppe wie eine Genossenschaft handhaben können.

Sam, wie sieht es international aus?

Sam: Den Umverteilungsprozess, von dem Jona sprach, gab es überall, das war wie beim Domino. Dementsprechend ist es nicht nur hier gerechter, sondern auch in allen anderen Teilen der Welt. Natürlich sind die Bedingungen in verschiedenen Ländern noch immer unterschiedlich, allein wegen der Geografie, aber auch wegen Infrastrukturen, die über Jahrhunderte aufgebaut wurden – oder eben nicht.

Interview Stephan Hebel

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