1. Startseite
  2. Wirtschaft

Ganz schön viel Kohle

KommentareDrucken

Spuren im Land: Braunkohle-Tagebau Garzweiler vor der Kulisse des RWE-Kraftwerks Niederaußem im Rheinland.
Spuren im Land: Braunkohle-Tagebau Garzweiler vor der Kulisse des RWE-Kraftwerks Niederaußem im Rheinland. © dpa

Asthma, Bronchitis, Herzinfarkt - die Gesundheitskosten durch Kraftwerks-Abgase belaufen sich laut Studie EU-weit auf 43 Milliarden Euro jährlich. Die Industrie weist die Vorwürfe naturgemäß zurück.

Der aktuelle Kohle-Boom der EU ist nach einer neuen Studie nicht nur aus Klimaschutz-Gründen bedenklich, sondern auch wegen der dadurch steigenden Gesundheitskosten. Die Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke trägt danach bei vielen Bürgern zu Krankheiten wie Asthma, Bronchitis und Herzinfarkt bei. Die Kosten durch vorzeitige Todesfälle, medizinische Behandlung und ausgefallene Arbeitszeit summierten sich EU-weit auf bis zu 42,8 Milliarden Euro pro Jahr, so das Fazit der Health- and Environment Alliance (Heal), eines europaweiten Verbundes von rund 70 Umwelt- und Gesundheits-NGOs aus 26 Ländern.

Abgase aus Verkehr, Heizungen und Kraftwerken belasten vor allem die Atemwege und das Herz-Kreislauf-System – unter anderem durch Feinstaub und flüchtige organische Substanzen (VOC). Zudem bildet sich in der Atmosphäre aus den ausgestoßenen Gasen Ozon. Die Heal-Studie analysierte nun erstmals EU-weit den Anteil der Gesundheitsschäden, die durch die Nutzung von Kohle zur Stromerzeugung und in Heizkraftwerken entstehen. Das seien unter anderem jährlich 18200 vorzeitige Todesfälle und 8500 neue Fälle von chronischer Bronchitis.

Neuere medizinische Studien wiesen zudem darauf hin, dass belastete Atemluft auch zu Frühgeburten oder geringerem Geburtsgewicht von Babys verantwortlich sein könnten. Pro Jahr würden in der EU vier Millionen Arbeitstage wegen der Erkrankungen, längerfristiger Arbeitsunfähigkeit und des vorzeitigen Ablebens nicht geleistet.

Große Gefahr

Die Luftbelastung ist besonders in Osteuropa hoch. Gut die Hälfte der geschätzten Kosten von 15,5 bis 42,8 Milliarden Euro entstehen in den drei „Kohleländern“ Polen, Rumänien und Deutschland. Heal gibt eine Kosten-Bandbreite an, die Höhe hängt davon ab, in welcher Weise das Kranksein in Geld umgerechnet wird. Polen ist mit bis zu acht Milliarden Euro pro Jahr Spitzenreiter, doch Rumänien und Deutschland liegen mit jeweils maximal sechs Milliarden Euro nicht weit dahinter. Auf den weiteren Plätzen finden sich Bulgarien, Griechenland und Großbritannien.

Die Organisation räumt ein, dass sich die Luftqualität in den EU-Staaten in den vergangenen Jahren verbessert hat – unter anderem durch Abgasreinigung in Kraftwerken. Trotzdem sei die Luftverschmutzung immer noch eine große Gefahr für die Gesundheit der EU-Bürger. „Unser Bericht bietet den wissenschaftlichen Nachweis, dass das Verbrennen von Kohle Auswirkungen auf die Gesundheit hat“, kommentiert Heal-Direktorin Genon Jensen, die auch Mitglied im Europäischen Komitee für Umwelt- und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist.

Der Epidemiologe Joachim Heinrich vom Deutschen Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit unterstützt die Stoßrichtung der Heal-Studie. „Sie basiert bei aller Unschärfe der derzeitigen Datenlage auf einer seriösen Abschätzung der Gesundheitskosten“, sagt er der FR. Es sei richtig, darauf hinzuweisen, dass nicht nur der Verkehr für die Schadstoffe in der Luft verantwortlich ist, sondern unter anderem auch der Ferntransport aus Kraftwerken eine Rolle spielt. „Die Debatte konzentriert sich derzeit zu sehr auf den Autoverkehr, die Industrie kommt zu gut weg.“ Das dürfe allerdings nicht als Plädoyer gegen Schadstoff-Reduktion im Verkehr verstanden werden, meint Heinrich, „ganz im Gegenteil“.

„Klagen nicht plausibel“

Beim Bundesverband Braunkohle (DEBRIV) trafen die Heal-Aussagen auf Unverständnis. Man werde die Studie noch im Detail analysieren. Für Kohlekraftwerke gebe es in der EU jedoch „strenge Grenzwerte“, sagte Verbandssprecher Uwe Maaßen der FR, die auch für Altlagen regelmäßig verschärft würden. Der Anteil der Kohlekraftwerke am Feinstaub betrage in Deutschland nur fünf Prozent. Der Fachverband der Kraftwerksbetreiber, VGB Power Tech, verwies auf eine eigene Studie von 2011. Darin heißt es, es bestünden bei Kohlekraftwerken „keine Hinweise auf spezifische Gesundheitsbeeinträchtigungen der anwohnenden Bevölkerung“. Klagen von Bürgerinitiativen über „das gehäufte Auftreten von Krebs- und Atemwegserkrankungen sowie Allergien sind … als nicht plausibel einzustufen“.

Jensen indes bezeichnete es als besonders problematisch, dass die Kohle-Nutzung in der EU derzeit nach Jahren des Rückgangs wieder ansteigt. In der Union werden laut Heal zur Zeit 50 neue Kohlekraftwerke gebaut oder geplant. Sie haben eine technische Lebensdauer von 40 bis 50 Jahren, werden also auch Mitte des Jahrhunderts noch am Netz sein. Auch in Deutschland steigt die Kapazität der Kohlekraftwerke trotz des Booms der erneuerbaren Energien an. So werden 2013 nach Daten der Bundesnetzagentur voraussichtlich so viele neue Kohlemeiler ans Netz gehen wie seit 20 Jahren nicht mehr.

Die Kohle-Kapazität steigt durch sie um 5300 Megawatt, während im Gegenzug nur alte Kraftwerke mit knapp 1000 Megawatt stillgelegt werden. Im vorigen Jahr lag der Anteil der Kohlekraft im Strommix bei 45 Prozent. 2011 waren es rund 44, 2011 rund 43 Prozent gewesen.

Jensen forderte, die EU solle die hohen Gesundheitskosten in ihrer Energiepolitik stärker berücksichtigen. Nötig sei ein baldmöglichster Ausstieg aus der Kohleverstromung. Erster Schritt müsse eine Moratorium für den Neubau von Kraftwerken sein.

Auch interessant

Kommentare