Bei uns hier am Hegelplatz ist es etwas eng. Ist jetzt nicht schlimm, muss keiner stehen, der das nicht will, aber ich kann verstehen, dass der eine oder andere gerne ein wenig mehr Platz hätte. In der Schweiz, wo ich herkomme, spricht man in diesem Zusammenhang von „Dichtestress“. Im Schweizer Mittelland geht es im Grunde genommen zu wie in einer verschärften Variante des Hegelplatzes. Kaum trittst du aus deinem Haus, stehst du vor dem Haus deines Nachbarn, der dir ein überfreundliches „Sali. Bi grad uf em Sprung!“ zuruft, aus der durchaus realen, weil quasi physikalisch bedingten Angst, du könntest ihm zu nahe treten.
Und wenn du nicht vor dem nächsten Haus stehst, stehst du vor dem nächsten Hügel, denn der Dichtestress ist der Schweiz gleichsam in die Landschaft eingeschrieben. Das ist der Grund, warum so viele Schweizer auf der nordfriesischen Insel Amrum Urlaub machen: Wenigstens einmal im Jahr brauchen sie das Gefühl von Weite, und es hat sich herumgesprochen, dass sich dieses Gefühl nirgendwo besser einstellt als auf dem Kniepsand im Norden der Insel, wo entsprechend die (relative) Dichte an Schweizern am höchsten ist. Man kann diese Sehnsucht verstehen: In der Schweiz wird jedes Jahr eine Fläche in der Größe von rund 2.700 Fußballfeldern überbaut. Und das in einem Land, das nicht viel größer als Belgien ist.
Die Maiensäße
Dennoch hat letztes Wochenende in einer Art Stockholm-Syndrom eine große Mehrheit der Bevölkerung eine Volksinitiative der Jungen Grünen abgelehnt, die der Zubetonierung und Zersiedelung Einhalt gebieten wollte. Neue Bauzonen sollten nur dann noch geschaffen werden dürfen, wenn anderswo eine Zone aufgehoben wird. Zwei Drittel des Stimmvolks waren gegen diesen Vorstoß. Nun kann man sagen: Wird halt das Mittelland zugebaut. Eine einzige „Agglo“ von Genf bis Romanshorn. Und vielleicht – so in der progressiven Utopie – wird aus der Agglomeration sogar mal Stadt, wenn endlich die Vorbehalte gegen Hochhäuser aufgehoben werden, und zur Erholung geht es dann in die Berge.
Warum auch nicht? Aber da droht nun neues Ungemach. Und nun müssen auch die deutschen Leser aufhorchen, jedenfalls die, die gerne in diesen Bergen Urlaub machen. Nicht vom Tisch sind nämlich Pläne zur Umnutzung der rund 400.000 Ställe und Maiensäße, die man wahlweise mit Heidi oder auch einer unentfremdeten alpinen Landwirtschaft assoziieren kann. Künftig schaut der Tourist dann also womöglich aus seinem umfunktionierten Maiensäß auf einen anderen Touristen, der aus seinem umfunktionierten Maiensäß schaut. Und das ist dann auch nicht so anders als hier in Berlin, wo der eine aus dem Hostel auf den anderen in seinem Hostel blickt.
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